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Beschreibung

Seelischen Störungen bei Kindern frühzeitig entgegensteuern Bei jedem fünften Kind eines Kindergartenjahrgangs besteht ein Risiko für psychische Auffälligkeiten, wobei Jungen deutlich häufiger als Mädchen betroffen sind. Durch eine möglichst frühzeitige Diagnosestellung kann das Kind gezielt unterstützt und in seiner weiteren Entwicklung gestärkt werden.  Dieses Lehrbuch hat sich zum Ziel gesetzt, die Kompetenz für eine fachkundige Behandlung von psychischen Störungen und Verhaltensauffälligkeiten in der frühen Kindheit zu erweitern. Nach einer kompakten Darstellung der kindlichen Entwicklung in den ersten sechs Lebensjahren werden mögliche klinische Störungen, stringent gegliedert nach Klassifikation, Prävalenz, Ursachen, Diagnostik und Therapie, dargestellt. Zu den behandelten Störungsbildern zählen z.?B. Autismus-Spektrum-Störungen, ADHS, Angst- und Zwangs-störungen, Affektive Störungen, Schlaf-, Ess- und Schreistörungen, Trauma-, Belastungs- und Deprivationsstörungen sowie Bindungs- und Beziehungsstörungen der frühen Kindheit.  Das Buch ist an der DC:0-5TM (Diagnostic Classification of Mental Health and Developmental Disorders of Infancy and Early Childhood) orientiert. Unterschiede zu kinder- und jugendpsychiatrischen Klassifikationsmanualen wie der ICD-10 bzw. ICD-11 oder dem DSM-5, die auf ältere Kinder und Jugendliche ausgerichtet sind, werden in den Störungsbildkapiteln des Buches erörtert. Im Unterschied zu den anderen -Klassifikationsmanualen werden in der DC:0-5TM zusätzlich der Beziehungskontext, körperliche Gesundheit und Erkrankungen, psychosoziale Stressoren und Entwicklungskompetenzen der Kinder und ihrer Familien erfasst, wodurch eine ganzheitliche Diagnostik ermöglicht wird.

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Seitenzahl: 832

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Rüdiger Kißgen

Kathrin Sevecke

(Hrsg.)

Psychische Störungen und Verhaltensauffälligkeiten in den ersten Lebensjahren

Lehrbuch zu Grundlagen, Klinik und Therapie

Unter Mitarbeit von

Dana Barthel

Carola Bindt

Elisabeth Bonatti

Ina Bovenschen

Sebastian Franke

Gunter Groen

Helmut Hollmann

Corinna Isensee

Rüdiger Kißgen

Volker Mall

Eva Möhler

Luise Poustka

Franz Resch

Franziska Schlensog-Schuster

Kathrin Sevecke

Silvia Stojanov

Christina Taferner

Ute Thyen

Kai von Klitzing

Lars O. White

Psychische Störungen und Verhaltensauffälligkeiten in den ersten Lebensjahren

Rüdiger Kißgen, Kathrin Sevecke (Hrsg.)

Programmbereich Psychiatrie und Psychotherapie

Univ.-Prof. Dr. phil. Rüdiger Kißgen

Universität Siegen, Fakultät II

Adolf-Reichwein-Str. 2

57068 Siegen, Deutschland

E-Mail: [email protected]

Univ.-Prof. Dr. med. Kathrin Sevecke

Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie,

Psychotherapie und Psychosomatik Hall

Milser Straße 10

6060 Hall in Tirol, Österreich

E-Mail: [email protected]

Wichtiger Hinweis: Der Verlag hat gemeinsam mit den Autor*innen bzw. den Herausgeber*innen große Mühe darauf verwandt, dass alle in diesem Buch enthaltenen Informationen (Programme, Verfahren, Mengen, Dosierungen, Applikationen, Internetlinks etc.) entsprechend dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes abgedruckt oder in digitaler Form wiedergegeben wurden. Trotz sorgfältiger Manuskriptherstellung und Korrektur des Satzes und der digitalen Produkte können Fehler nicht ganz ausgeschlossen werden. Autor*innen bzw. Herausgeber*innen und Verlag übernehmen infolgedessen keine Verantwortung und keine daraus folgende oder sonstige Haftung, die auf irgendeine Art aus der Benutzung der in dem Werk enthaltenen Informationen oder Teilen davon entsteht. Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt. Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

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Anregungen und Zuschriften bitte an:

Hogrefe AG

Lektorat Psychiatrie/Psychotherapie

Länggass-Strasse 76

3012 Bern

Schweiz

Tel. +41 31 300 45 00

[email protected]

www.hogrefe.ch

Lektorat: Susanne Ristea

Redaktionelle Bearbeitung: Elisabeth Dominik, Allendorf/Lumda

Herstellung: Daniel Berger

Umschlagabbildung: hannahargyle, Gettyimages

Umschlag: Claude Borer, Riehen

Satz: Claudia Wild, Konstanz

Format: EPUB

1. Auflage 2023

© 2023 Hogrefe Verlag, Bern

(E-Book-ISBN_PDF 978-3-456-96039-5)

(E-Book-ISBN_EPUB 978-3-456-76039-1)

ISBN 978-3-456-86039-8

https://doi.org/10.1024/86039-0000

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Zitierfähigkeit: Dieses EPUB beinhaltet Seitenzahlen zwischen senkrechten Strichen (Beispiel: |1|), die den Seitenzahlen der gedruckten Ausgabe und des E-Books im PDF-Format entsprechen.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

I Kindliche Entwicklung in den ersten sechs Lebensjahren

1 Pränatale Entwicklung und GeburtUte Thyen

1.1 Entwicklung des Gehirns in der frühen Kindheit

1.2 Interaktion zwischen Lebenswelten, Individuum und Gruppe

1.3 Interaktion von Lebenswelt und gesundheitlichen Chancen

1.4 Entwicklung der Sinnesfunktionen

1.4.1 Sehvermögen

1.4.2 Hörvermögen

1.4.3 Sensorische und sensomotorische Funktionen und Störungen

1.5 Motorische Entwicklung

1.6 Sprachentwicklung

1.7 Sozial-emotionale Entwicklung

1.8 Kognitive Entwicklung

1.9 Entwicklungstests zur alterstypischen Entwicklung

1.10 Psychosexuelle Entwicklung

1.11 Konzepte der Diversität

II Psychische Störungen in den ersten Lebensjahren und ihre Klassifikation

2 Psychische Störungen in den ersten Lebensjahren und ihre KlassifikationRüdiger Kißgen und Kathrin Sevecke

2.1 Klassifikation psychischer Störungen im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter

2.1.1 Internationale Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10)

2.1.2 Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen (DSM-5)

2.2 Klassifikation psychischer Störungen in früher Kindheit

2.2.1 Der Aufbau der DC:0-5 im Überblick

2.2.2 Diagnostik auf Basis der DC:0-5

2.2.3 Achse I: Klinische Störungen

2.2.4 Achse II: Beziehungskontext

(1) Dimensionen der Versorgung aufseiten der Bezugsperson

(2) Beiträge des jungen Kindes zur Beziehung

(3) Dimensionen der versorgenden Umgebung

2.2.5 Achse III: Körperliche Gesundheit und Krankheiten

2.2.6 Achse IV: Psychosoziale Stressoren

2.2.7 Achse V: Entwicklungskompetenzen

III Klinische Störungen der frühen Kindheit nach Achse I der DC:0-5

3 Autismus-Spektrum-StörungLuise Poustka und Corinna Isensee

4 Frühe Atypische Autismus-Spektrum-StörungCorinna Isensee und Luise Poustka

5 Aufmerksamkeitsdefizit-/HyperaktivitätsstörungSebastian Franke und Rüdiger Kißgen

6 Überaktivitätsstörung des KleinkindaltersRüdiger Kißgen und Sebastian Franke

7 Globale EntwicklungsverzögerungHelmut Hollmann

8 Störung der SprachentwicklungHelmut Hollmann

9 Entwicklungsbezogene KoordinationsstörungHelmut Hollmann

10 Sensorische VerarbeitungsstörungenVolker Mall

11 AngststörungenChristina Taferner, Elisabeth Bonatti und Kathrin Sevecke

11.1 Störung mit TrennungsangstChristina Taferner, Elisabeth Bonatti und Kathrin Sevecke

11.2 Soziale Angststörung (Soziale Phobie)Christina Taferner, Elisabeth Bonatti und Kathrin Sevecke

11.3 Generalisierte AngststörungChristina Taferner, Elisabeth Bonatti und Kathrin Sevecke

11.4 Selektiver MutismusChristina Taferner, Elisabeth Bonatti und Kathrin Sevecke

11.5 Störung mit Inhibition gegenüber NeuemChristina Taferner, Elisabeth Bonatti und Kathrin Sevecke

11.6 Andere Angststörungen der frühen KindheitChristina Taferner, Elisabeth Bonatti und Kathrin Sevecke

12 Affektive StörungenFranziska Schlensog-Schuster, Kai von Klitzing und Lars Otto White

12.1 Depressive Störung der frühen KindheitLars Otto White und Kai von Klitzing

12.2 Dysregulierte Ärger- und Aggressionsstörung Franziska Schlensog-Schuster

12.3 Andere affektive Störung der frühen KindheitFranziska Schlensog-Schuster, Lars Otto White und Kai von Klitzing

13 Zwangsstörungen und verwandte StörungenEva Möhler, Franz Resch und Rüdiger Kißgen

13.1 Zwangsstörung

13.2 Tourette-Störung

13.3 Motorische oder vokale Tic-Störung

13.4 Trichotillomanie

13.5 Pathologisches Hautzupfen (Dermatotillomanie)

13.6 Andere Zwangsstörungen und verwandte Störungen

14 SchlafstörungenSilvia Stojanov

14.1 Einschlafstörung

14.2 Durchschlafstörung

14.3 Partielle Aufwachstörung

14.4 Albträume der frühen Kindheit

15 Essstörungen der KindheitCarola Bindt

15.1 Essstörung mit Überessen

15.2 Essstörung mit Einschränkung der Nahrungsaufnahme

15.3 Atypische Essstörung

16 Schreistörung der frühen KindheitCarola Bindt

16.1 Exzessive Schreistörung

16.2 Andere Schlaf-, Ess- und Schreistörungen der frühen Kindheit

17 Trauma-, Belastungs- und DeprivationsstörungenDana Barthel, Gunter Groen, Rüdiger Kißgen, Eva Möhler, Franz Resch, Christina Taferner und Areej Zindler (in alphabetischer Reihenfolge)

17.1 Posttraumatische BelastungsstörungDana Barthel und Areej Zindler

17.2 AnpassungsstörungChristina Taferner, Eva Möhler und Franz Resch

17.3 Komplizierte Trauerstörung der frühen KindheitGunter Groen

17.4 Reaktive BindungsstörungRüdiger Kißgen

17.5 Soziale Bindungsstörung mit EnthemmungEva Möhler, Franz Resch und Rüdiger Kißgen

17.6 Andere Trauma-, Belastungs- und Deprivationsstörung der frühen KindheitEva Möhler, Franz Resch und Rüdiger Kißgen

18 Spezifische Beziehungsstörung der frühen KindheitIna Bovenschen

19 AusblickRüdiger Kißgen und Kathrin Sevecke

Anhang

Continuing Education (CE) Portal: Hinweis zu Kontrollfragen

Abkürzungsverzeichnis

Autor*innen

Sachwortverzeichnis

|9|Vorwort

Rasante Entwicklungen rund um das Wissen zur Erkennung und Behandlung psychischer Störungen der frühen Kindheit und insbesondere die Herausgabe der DC:0-5: Diagnostic Classification of Mental Health and Developmental Disorders of Infancy and Early Childhood (Zero to Three, 2016) haben weltweit zu einem verstärkten Interesse an dieser Thematik in Forschung und Klinik geführt. Wie umfangreiche epidemiologische Studien belegen, treten klinisch relevante Verhaltensauffälligkeiten und psychische Störungen in der frühen Kindheit mit einer Prävalenz von 14–26 % erstaunlich häufig auf. Für die Praxis im deutschsprachigen Raum ergibt sich aus diesem Wissen die verpflichtende Notwendigkeit, die bestehende Versorgungslücke für die Altersspanne der frühen Kindheit (0–6 Jahre) zu schließen und den Ausbau von Ambulanzen, Tageskliniken und stationären Angeboten mit Spezialisierungen für junge Kinder und ihre Familien zu forcieren.

Eine frühzeitige Erkennung von Verhaltensauffälligkeiten bzw. psychischen Störungen bei Säuglingen, Klein- und Vorschulkindern ist von zentraler Bedeutung, wenn langfristige negative Folgen und eine Chronifizierung von Verhaltensauffälligkeiten verhindert werden sollen. Wie man aus zahlreichen Studien inzwischen weiß, persistieren frühe psychische Störungen oftmals und/oder verschlimmern sich im Laufe der Zeit. Im klinischen Setting ist stets dafür Sorge zu tragen, dass die Eltern bzw. die Hauptbezugspersonen in den diagnostischen Prozess und die anschließende Behandlung einbezogen werden. Es gibt keine andere Zeitspanne als die frühe Kindheit, in der die Beziehung des Kindes zu seinen Bezugspersonen vergleichbar bedeutsam wäre. Dies gilt auch für die Entstehung, Aufrechterhaltung und Behandlung der psychischen Symptomatik eines Kindes.

Das vorliegende Buch informiert im ersten Buchteil I über die normale kindliche Entwicklung in den ersten Lebensjahren. Die Vermittlung von Wissen über eine adäquat verlaufende Entwicklungsdynamik im Säuglings-, Kleinkind- und Vorschulalter halten wir für zwingend erforderlich, wenn es im Kontext psychischer Störungen darum geht, mögliche psychopathologische Entwicklungsprozesse angemessen wahrnehmen, beurteilen und einordnen zu können.

In Buchteil II „Psychische Störungen in den ersten Lebensjahren und deren Klassifikation“ erörtern wir u. a. die grundsätzliche Frage, ob man bereits Neugeborene, Säuglinge und Kleinkinder mit einer psychiatrischen Diagnose belegen sollte. Darüber hinaus zeigen wir auf, wie komplex und anspruchsvoll sich der Diagnostikprozess bei einer fraglichen psychischen Störung in der frühen Kindheit gestaltet. In der Folge stellen wir die DC:0-5 als multiaxiales Klassifikationssystem vor und skizzieren den Aufbau und die Nutzung der dort vorhandenen fünf Achsen.

Der dritte Buchteil III unseres Lehrbuches beschreibt „Klinische Störungen der frühen Kindheit“. Dieser Teil wurde an der Struktur der Achse I der DC: 0-5 Diagnostische Klassifikation seelischer Gesundheit und Entwicklungsstörungen der frühen Kindheit (Zero to Three, 2019) ausgerichtet. Die DC:0-5 ist das aktuell umfassendste und genaueste Klassifikationssystem zur |10|Diagnosestellung für die Altersspanne von 0 bis 5 Jahren. Es ist somit eine optimale Ergänzung zu den Klassifikationssystemen der Weltgesundheitsorganisation (International Classification of Diseases; ICD-10 bzw. ICD-11) und der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders; DSM-5). Diese Manuale eignen sich für die psychiatrische Klassifikation ab dem Schulalter, sind aber für die psychiatrische Klassifikation jüngerer Kinder nicht ausreichend sensibel. In unserem Buch werden in Buchteil III sämtliche 43 in der DC:0-5 enthaltenen, klinischen Störungen der frühen Kindheit vorgestellt. Die Struktur der einzelnen störungsbildbezogenen Unterkapitel folgt stets dem folgenden Aufbau: Definition und Klassifikation, Epidemiologie, Symptomentwicklung und Komorbidität, Ätiologie und Pathogenese, Diagnose und Differenzialdiagnostik, Behandlung und Prävention, Verlauf und Prognose, Forschungsdesiderate und Ausblick. Da zu manchen Störungsbildern (z. B. Autismus-Spektrum-Störung) zahlreiche Studien zur Genese, Epidemiologie und zum Verlauf vorliegen, Diagnostikinventare und Behandlungsmethoden bekannt sind, aber andere Störungsbilder erstmals für die frühe Kindheit in der DC:0-5 aufgenommen wurden (z. B. Tourette-Störung), unterscheiden sich die Kapitelumfänge teilweise erheblich. Unabhängig vom Bekanntheitsgrad oder dem Neuwert eines Störungsbildes ist die Intention dieses Buches, den aktuellen Forschungs- und Wissensstand auf dem Gebiet der psychischen Störungen in der frühen Kindheit kompakt zu präsentieren. Unser Ziel war es, die Kapitel so zu gestalten, dass sie für Kliniker*innnen, Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen, Fachleute jener Professionen, die sich mit Kindern bis zum Ende des Vorschulalters und deren Familien befassen, sowie Studierende der einschlägigen Disziplinen von Nutzen sind. Zugleich gehen wir davon aus, dass dieses Buch auch für die Forschung von Interesse sein wird, da es auf einer soliden theoretischen und wissenschaftlichen Grundlage konzipiert wurde. Schließlich denken und hoffen wir, dass wir mit diesem Buch auch einen Beitrag dazu leisten werden, auf Forschungslücken und bestehende Versorgungsdefizite in der klinischen Versorgung junger Kinder mit psychischen Störungen und deren Familien aufmerksam zu machen und somit eine Brücke zwischen Wissenschaft und Praxis zu schlagen.

Als wir mit den Vorarbeiten zu diesem Buch, ersten Verlagsabsprachen und der Rekrutierung unserer geschätzten Kolleginnen und Kollegen begannen, die die Ausarbeitung der einzelnen Kapitel übernommen haben, tauchten in der Presse erste Berichte zu dem Ausbruch einer neuen Lungenentzündung unbekannter Ursache in Wuhan/China auf. Natürlich war es zu Beginn des Jahres 2020 nicht ansatzweise absehbar, dass sich daraus die weltweite COVID-19-Pandemie mit Auswirkungen auf sämtliche gesellschaftliche Bereiche entwickeln würde. Auch wenn zwischenzeitlich erste Studien zu den Auswirkungen der Pandemie auf die Psyche von Kindern und ihren Familien initiiert wurden und Teilergebnisse vorliegen, wird erst die Zukunft zeigen, wie nachhaltig sich die damit verbundenen psychischen Belastungen auf die kindliche Entwicklung auswirken werden. Die Mehrheit unserer Autorinnen und Autoren ist in leitender Funktion oder als Mitarbeiter*in einer kinder- und jugendpsychiatrischen oder sozialpädiatrischen Universitätsklinik auch mit der COVID-19-Pandemie in Klinik und Forschung befasst. Daneben waren sie – ebenso wie die Kapitelautorinnen und -autoren aus dem nichtklinischen Bereich – entweder persönlich, im Familienkreis oder im Kreis der Kolleginnen und Kollegen von der Pandemie betroffen. Als Herausgeberteam wissen wir es daher sehr zu schätzen, dass alle Kolleginnen und Kollegen trotz der pandemiebedingten zusätzlichen Belastungen ihre Buchbeiträge fertiggestellt haben. Wir denken, dass dies keine Selbstverständlichkeit ist, und fühlen uns zu großem Dank verpflichtet.

Zu guter Letzt möchten wir uns herzlich bei unseren wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen |11|und Mitarbeitern an der Universität Siegen (Julia Austermühle, Christian Dittmann, Nino Jorjadze, Sarah Schneider, Artur Szegedi) und an der Universitätsklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik im Kindes- und Jugendalter in Innsbruck (Christina Taferner) für ihr Engagement und ihre Akribie bei dem Lektorat der Buchbeiträge bedanken.

Rüdiger Kißgen und Kathrin Sevecke

Bonn und Innsbruck im September 2022

Literatur

Zero to Three. (2016). DC:0-5. Diagnostic classification of mental health and developmental disorders of infancy and early childhood. Washington, D. C.: Zero to Three Press.

Zero to Three (2019). DC:0-5. Diagnostische Klassifikation seelischer Gesundheit und Entwicklungsstörungen der frühen Kindheit. Stuttgart: Kohlhammer.

|13|I  Kindliche Entwicklung in den ersten sechs Lebensjahren

|15|1  Pränatale Entwicklung und Geburt

Ute Thyen

Die Entwicklung des Kindes beginnt lange vor der Geburt. Während der Embryonalphase bis zur 9. Lebenswoche werden die Organe angelegt, die sich während der Fetalphase weiter differenzieren. Die Körperorgane können solide Gewebeverbände sein oder auch im ganzen Körper verteilte Funktionssysteme wie die Zellen des Blutes oder die den Körper umschließende Haut. Die genetische Ausstattung eines jeden Menschen hängt dabei von der Ausstattung der Eizelle und des Spermiums ab, aber sehr stark auch von dem Prozess der Vereinigung und Verteilung des genetischen Materials, des Arrangements der DNA-Stränge und der Aktivierung bzw. Deaktivierung bestimmter Genabschnitte, was lokalen, intrauterinen und epigenetischen Einflüssen unterliegt.

Menschenkinder werden typischerweise nach der vollendeten 40. Schwangerschaftswoche geboren, wobei es sich nur noch in drei Viertel aller Fälle um natürliche, vaginale Entbindungen handelt. Durchschnittlich werden in Deutschland 30 % aller Kinder per Kaiserschnitt entbunden (Statistisches Bundesamt, 2021). Eine zunehmende Zahl von Kindern kommt nach assistierter Reproduktion zur Welt und manche Kinder haben mehr als zwei Eltern im Sinne der leiblichen, sozialen und rechtlichen Elternschaft. Reproduktionsmedizinische Verfahren und das höhere Alter der Eltern tragen zu gehäuften Frühgeburten bei. Als Frühgeborene bezeichnet man Kinder, die vor der 37. Schwangerschaftswoche (d. h. mindestens 3 Wochen vor dem errechneten Termin) geboren werden. Dies betrifft etwa 8 % aller Neugeborenen. Ohne weitere medizinische oder pflegerische Unterstützung sind Frühgeborene etwa ab der 32.–34. Schwangerschaftswoche überlebensfähig. Durch die Entwicklung der modernen Neonatologie seit den 1980er-Jahren können auch extrem unreife Frühgeborene ab der 23. Schwangerschaftswoche heute überleben. Der Anteil der sehr oder extrem unreifen Frühgeborenen an allen Geburten beträgt 1–1,5 % (Berger et al., 2019).

Unmittelbar nach der Geburt kommt es zur Umstellung sämtlicher Organsysteme, die sich an das extrauterine Leben anpassen müssen. Der Fetus im Mutterleib muss sich nicht über die Atemluft und Atmung Sauerstoff zufügen, da die Versorgung durch den Sauerstoffaustausch aus mütterlichem Blut in der Plazenta erfolgt. Mit der Trennung der Nabelschnur und daraus folgenden Änderungen in den Blutgasen wird die Eigenatmung des Kindes bewirkt. Die bis dahin als solides Organ liegenden Lungen werden durch die Aktivität des Zwerchfells und des Rippenkorbes ausgedehnt und mit eingeatmeter Luft gefüllt. Der Atemantrieb durch diesen Mechanismus bleibt ein Leben lang bestehen und führt zu einer bedarfsgerechten, regelmäßigen Atmung, ohne dass dafür eine willkürliche Steuerung notwendig ist. Ebenso stellt sich der vorgeburtliche Blutkreislauf um und durchfließt jetzt die Lunge, um den Sauerstoff aus der Atemluft aufzunehmen und zu den Organen zu transportieren. Das Neugeborene wird nun nicht mehr durch Nährstoffe wie Glucose über den Austausch in der Plazenta versorgt und muss selbst Nahrung aufnehmen. Unmittelbar nach Ablösung der Plazenta setzt bei der Mutter die erste Milchsekretion ein, die |16|durch eine anhaltend hohe Prolaktinsekretion und die Oxytocinausschüttung durch das Anlegen das Kindes an die Brust der Mutter unterhalten und gefördert wird. Das Neuropeptid Oxytocin unterstützt nicht nur die Entleerung der Milchgänge beim Saugen des Kindes (Let-down-Reflex), sondern unterstützt auch den Bindungsaufbau und vermindert sozialen Stress. Oxytocin spielt insbesondere in der Regulation von sozialen Beziehungen und bei der Vertrauensbildung eine wichtige Rolle. Neben den ernährungsphysiologischen Vorteilen sollte daher auch aus Gründen der Bindung zwischen Mutter und Kind das Stillen gefördert und unterstützt werden (Karall et al., 2020).

1.1  Entwicklung des Gehirns in der frühen Kindheit

Das Organ, das die längste Entwicklungszeit für die strukturelle Ausgestaltung und Reifung in Anspruch nimmt, ist das zentrale Nervensystem als Sitz sämtlicher neurologischer und psychischer Funktionssysteme sowie der hormonellen Steuerungszentralen. Während einer langen evolutionären Entwicklung haben sich jene Gehirnabschnitte vergrößert, die das für den Menschen typische lebenslange Lernen ermöglichen. Das menschliche Gehirn ist im Vergleich zu anderen Säugetieren bei der Geburt noch sehr unreif, was die Verknüpfung der Nervenzellen (Synapsen), die Geschwindigkeit der Informationsübertragung (Myelinisierung) und die Bereitstellung von Überträgerstoffen (Neurotransmitter) angeht.

Jede Nervenzelle (Neuron) kann mit Tausenden anderer Neurone verbunden werden. Die Bildung von Synapsen ist ein lebenslanger Prozess. Der Höhepunkt der Synapsendichte wird aber im ersten Lebensjahr erreicht. Dabei ist die Apoptose, d. h. der Untergang von nicht genutzten Verbindungen, ebenso wichtig wie der Erhalt von nutzbaren Verbindungen. Vermutlich handelt es sich um ein dynamisches, adaptives System. Dies erklärt, warum die Entwicklung von Säuglingen, die in einer stimulierenden, emotional stabilen und damit das Lernen fördernden Umgebung aufwachsen, und solchen, die stark deprivierenden oder chronisch belasteten Lebenssituationen ausgesetzt sind, auch unter gleichen genetischen Voraussetzungen (z. B. bei eineiigen Zwillingen) unterschiedlich sein kann (Thyen et al., 2012).

Die Erklärung für die alle anderen Lebewesen überragenden Fähigkeiten in der kognitiven und sozial-emotionalen Entwicklung liegt also in der Unreife des menschlichen Gehirns bei der Geburt. Die Unreife geht mit einer immensen Lernfähigkeit des menschlichen Gehirns einher, sodass die weitere Entwicklung durch extrauterine Umwelterfahrungen beeinflusst und gefördert wird. Zu den besonderen menschlichen Leistungen zählen die sprachliche Kommunikation, die Gedächtnisfunktionen, die Fähigkeit zum abstrakten Denken und die sozial-emotionalen Kompetenzen. Insbesondere die Möglichkeit des intentionalen Denkens führt zu einem Verstehen intentionalen Verhaltens bei anderen. Durch unsere Fähigkeit, anderen Personen mentale Zustände zuschreiben zu können („Theory of Mind“), erlangen wir ein Verständnis der Wechselseitigkeit des Verstehens und der Einnahmen einer dritten Personenperspektive (Fonagy et al., 2019). Schließlich kann sich daraus auch eine Wir-Intentionalität oder eine kollektive Intentionalität im Sinne des Common-Mind entwickeln. In diesem Lernprozess sind kognitive und sozial-emotionale Prozesse nicht voneinander zu trennen. Sind Kinder hinsichtlich sozial-emotionaler Erfahrungen depriviert, werden ihre kognitiven Entwicklungsprozesse beeinträchtigt. Die extrauterinen interaktiven Erfahrungen mit anderen Menschen haben insbesondere auf das Stressverarbeitungssystem, das Selbstberuhigungs- und Belohnungssystem sowie auf das Motivationssystem eine Auswirkung. Diese Erfahrungen beeinflussen regulierende Gene, die wiederum jene biologischen Prozesse beeinflussen, die an der Bildung neuronaler Bahnen und damit der Gedächtnisbildung beteiligt sind. Dies bedeutet, dass die bio|17|logische Ausstattung eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für den Erwerb höherer kognitiver und sozial-emotionaler Fähigkeiten ist. Allein das Zusammenwirken aus hochkomplexen neurobiologischen Differenzierungsprozessen und sozialen Interaktionen erlaubt es, das menschliche Potenzial zu entfalten (Thyen et al., 2012).

1.2  Interaktion zwischen Lebenswelten, Individuum und Gruppe

Interaktionen zwischen der biologischen Ausstattung, d. h. den Eigenschaften eines Menschen mit sozialen und emotionalen Erfahrungen, Sinneseindrücken und Lernprozessen, machen den Menschen zu dem, was er oder sie ist. Dieser Prozess ist nicht linear, sondern kann in wechselndem Tempo, fortschreitend oder zirkulär verlaufen. Stagnation oder Rückschritte können ebenso eintreten und eine positiv fortschreitende Entwicklung vorübergehend oder dauerhaft beeinträchtigen. Wir können durch verschiedene Einflussfaktoren behindert oder gefördert werden, wobei es keinen engen Zusammenhang zwischen dem Vorhandensein bestimmter Risiken und Ressourcen und den Entwicklungsparametern gibt. Neuere Theorien zur Auswirkung von Risiken und Schutzfaktoren diskutieren unterschiedliche Wirkmechanismen. So ist es möglich, dass bestimmte Einflüsse nur in kritischen bzw. sensiblen Entwicklungsphasen wirksam werden, die Effekte dann aber irreversibel sind. Ein Beispiel für einen irreversiblen Effekt bei der körperlichen Entwicklung ist die intrauterine Exposition von Alkohol. Die pränatale Exposition des Fetus mit der entwicklungstoxischen Substanz Alkohol, die ungehindert über die Plazenta übertritt, kann zu Fehlbildungen der Organe, mangelndem Gehirnwachstum und Störungen in der Synapsenbildung führen. Das Fetale Alkoholsyndrom (FAS) ist die häufigste Ursache von erworbenen Formen der geistigen Behinderung und oft auch einer sozial-emotionalen Behinderung. Ein weiteres Beispiel ist die schwere emotionale Vernachlässigung mit und ohne Gewalterfahrung im ersten Lebensjahr (z. B. verursacht durch unzureichende Zuwendung in einer Heimeinrichtung oder durch eine schwere mütterliche Depression ohne Kompensation durch andere Bezugspersonen), aus der irreversible Störungen der Bindungsentwicklung entstehen können (Braveman & Barcley, 2009; Shonkoff & Garner, 2012).

Risikofaktoren können synergistische oder sich potenzierende Einflüsse haben. Das Zusammentreffen von mehreren Risikofaktoren bei Menschen mit geringen sozialen und persönlichen Ressourcen führt in der Regel zu schlechteren Verläufen als bei solchen, die mit Belastungen aufgrund besserer persönlicher Ausstattung und sozialem Kapital eher umgehen können. Inwiefern eine quantitative Häufung im Zeitverlauf im Sinne eines kumulativen Risikos wirksam wird oder ein Schwellenwert oder eine Auswirkung eines bestimmten Faktors als Trigger zutreffend ist, hängt vermutlich von der Art des Faktors und der Kontextfaktoren ab. Das Zusammenwirken von Schutzfaktoren und Risikofaktoren ist weniger gut untersucht als die Auswirkung negativer Faktoren allein. Es scheint aber, dass Schutzfaktoren im Wesentlichen bei der Anwesenheit von Risikofaktoren wirksam werden. In jedem Fall ist für die zeitliche Beziehung zwischen Risiko, schützenden Faktoren und ihren Auswirkungen die Anwesenheit von Moderatoren oder Mediatoren über die Lebenszeitspanne von großer Bedeutung (Herrmann et al., 2016).

1.3  Interaktion von Lebenswelt und gesundheitlichen Chancen

Die durchschnittliche Lebenserwartung der 2012 geborenen Mädchen beträgt 83 Jahre, die der Jungen 78 Jahre. Dies sind bei beiden Geschlechtern 10 Jahre mehr als die Lebenserwartung bei Geburt in der Gruppe der heute 60-Jährigen. Allerdings sind die Chancen auf mehr |18|gesunde Lebensjahre mit guter Lebensqualität sehr ungleich und nicht gerecht verteilt (Kuntz et al., 2018). Verschiedenheiten der Lebenswelt können sich in einem Unterschied von 10 Jahren bei der Lebenserwartung zwischen den privilegiertesten und den benachteiligten Gruppen ausdrücken. Die Prävalenzen fast aller chronischer Gesundheits- und Entwicklungsstörungen bei Kindern sind in benachteiligten Bevölkerungsgruppen deutlich höher und der Zugang zu optimalen Behandlungsmöglichkeiten geringer. Der Einfluss der sozialen Determinanten auf die Gesundheitschancen wirkt sich bei Kindern aufgrund ihrer Abhängigkeit von Bezugspersonen und sozialen Kontextfaktoren besonders stark aus. Diese Gründe tragen zu der Forderung nach früh einsetzenden Maßnahmen der Gesundheitsförderung bei Eltern bereits während der Schwangerschaft und während der frühen Kindheitsjahre bei. Allerdings müssen fördernde Maßnahmen in eine gesundheitsfördernde Gestaltung der Lebenswelten eingebettet sein. Dies bedeutet, dass eine gesunde, entwicklungsfördernde Umwelt den Zugang zu Naturerfahrung, Kultur und Bildung und eine kinderrechtsbasierte Zukunftsplanung ermöglichen muss. Armutsrisiken hängen eng mit Familienstrukturen zusammen. So haben Alleinerziehende (meist Mütter) mit geringem Einkommen das höchste Risiko, in Armutsverhältnissen zu leben.

Derzeit erleben wir eine zunehmende Diversität der Gesellschaft, insbesondere in der jüngeren Generation. Fast eine Dreiviertelmillion Menschen haben 2016 einen Asylantrag in Deutschland gestellt. Zu einem guten Drittel sind die Antragstellenden Kinder und Jugendliche, 10 % waren unter 4 Jahre alt. Hinzu kommen viele Kinder, die mit ihren Eltern aus europäischen und nichteuropäischen Ländern nach Deutschland kommen, um hier bessere Chancen für Bildung und Arbeitsmöglichkeiten zu finden. Der Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund liegt im Bundesdurchschnitt bei etwa 15 %, variiert aber erheblich zwischen verschiedenen Regionen und kann bis zu 50 % in großstädtischen Milieus erreichen.

Weiterhin entsteht eine wachsende Vielfalt von Familienformen. Der in diesem Kapitel verwendete Familienbegriff berücksichtigt die Pluralisierung unserer Gesellschaft und die Vielfalt heutiger Lebensformen. Familie kann als privater Lebenszusammenhang beschrieben werden, in dem Menschen verschiedener Generationen in verbindlichen Beziehungen füreinander sorgen. Der Anteil der nichtehelichen Lebensgemeinschaften mit Kindern hat rasch zugenommen und liegt derzeit bei etwa 11 %, der Anteil der Familien mit alleinerziehendem Elternteil bei etwa 19 %. Stieffamilien machen etwa 14 % aller Familien mit minderjährigen Kindern aus, wobei davon zwei Drittel der Familien von der leiblichen Mutter und einem Stiefvater gebildet werden. Wenige, aber eine wachsende Anzahl von Kindern, lebt mit gleichgeschlechtlichen Elternpaaren zusammen. Im Jahr 2017 waren dies etwa 14.000 Kinder unter 18 Jahren (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2021).

Das Konzept der „normalen“ im Sinne einer „normativen“ Entwicklung wird durch die skizzierte Diversität und Vielfalt obsolet, da unter „normal“ eine alterstypische Entwicklung zu verstehen wäre, die sich an normativen oder abweichenden kulturellen oder sozialen Lebensumständen ausrichten müsste. Da die Entwicklung junger Kinder sehr stark von einem inneren genetisch determinierten Entwicklungsprozess gesteuert wird, aber auch erheblicher Variabilität durch soziale Erfahrungen unterliegt, müssen Veränderungen in Entwicklungsprofilen zur Kenntnis genommen werden, die sich aus sich verändernden Bedingungen des Aufwachsens ergeben.

1.4  Entwicklung der Sinnesfunktionen

Einführend sei angemerkt, dass die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung unter kindergesundheit-info.de ein breites Online-Informationsangebot zur kindlichen Entwicklung bereithält.

|19|1.4.1  Sehvermögen

Ein neugeborenes Kind kann in den ersten Lebenstagen hell und dunkel sowie sehr kontrastreiche Schemen wahrnehmen. Helle Lichtquellen werden kurz fixiert und nach ein paar Tagen sieht man auch ein kurzes Verfolgen mit dem Blick. In den ersten Lebenswochen beginnt das Kind ausdauernder zu fixieren, es hat dabei eine Vorliebe für menschliche Gesichter oder entsprechende Schablonen. Der Punkt des schärfsten Sehens ist in etwa 40–50 cm Entfernung, sodass Eltern sehr häufig in intuitiver Weise in diesem Abstand mit den jungen Säuglingen kommunizieren. Dieser Abstand entspricht in etwa auch dem Abstand zwischen den Gesichtern von Müttern und Kindern während des Stillens. Die okzipitale Sehrinde des Großhirns reift relativ spät aus. So beginnt das räumliche Sehen erst mit etwa 4 Monaten. Erst mit etwa 8 Jahren ist das visuelle System ausgereift. Fällt bei einem Sehfehler oder dem schlechteren Visus eines Auges die Bildung synaptischer Verbindungen in den entsprechenden Arealen der Großhirnrinde aus, entsteht eine Amaurosis für das nicht dominante Auge (Seelenblindheit). Durch das Vermeiden von Doppelbildern bei Augenfehlstellungen wird der zentrale Seheindruck des schwächeren Auges unterdrückt. Dies ist die Begründung für eine möglichst frühzeitige Behandlung bei frühkindlichem Schielsyndrom. Kinder mit einer angeborenen Sehstörung können nicht oder nur schlecht fixieren. Hier kann ein Nystagmus ein erster Hinweis auf eine höhergradige Sehschwäche sein. Bei vermindertem Blickkontakt und dem Eindruck einer beeinträchtigten Interaktion des Säuglings mit den Bezugspersonen muss daher immer eine Überprüfung des Sehvermögens erfolgen.

1.4.2  Hörvermögen

Der Hörapparat eines Kindes mit Mittelohr, Innenohr und dem auditiven Verarbeitungssystem ist bei der Geburt bereits vollständig ausgebildet. Allerdings bedarf es weiterer neuronaler Reifungsprozesse, der Verknüpfung mit anderen sensorischen und insbesondere motorischen Arealen, um eine immer weitere Differenzierung des Hörvermögens zu ermöglichen. Das Hörvermögen und die Hörverarbeitung sind zentrale Voraussetzungen für die Entwicklung des Sprachverstehens und des aktiven Sprechens, sodass diese Sinnesfunktion auch maßgeblich die weitere kognitive Entwicklung beeinflusst. Bei einer sorgfältigen Nachuntersuchung der Neugeborenen mit auffälligem Neugeborenenhörscreening können nahezu alle angeborenen Innenohrschwerhörigkeiten so früh entdeckt werden, dass eine Versorgung mit Hörgeräten oder einem Cochlea-Implantat (CI) im Alter zwischen 3 und 6 Monaten erfolgen kann. Eine spätere Versorgung führt zu erheblichen, möglicherweise irreversiblen Beeinträchtigungen der Sprachentwicklung. Bei Kindern sollte auch eine einseitige Taubheit mit Hörgeräten oder CI versorgt werden, da andernfalls das Richtungshören, die Wahrnehmung im Raum und die Differenzierung von Lauten beeinträchtigt wird.

1.4.3  Sensorische und sensomotorische Funktionen und Störungen

Neben den beiden Sinnesfunktionen Sehen und Hören sind der Gleichgewichtssinn, der Riech- und Geschmackssinn sowie der taktile Sinn der Haut mit Schmerz-, Berührungs-, Wärme- und Kälteempfindung entscheidend bei der Gesamtentwicklung des Kindes. Die Haut bzw. die Lippen und die Schleimhaut des Mundes spielen somit eine wichtige Rolle in der frühen Entwicklung (orale Phase). Durch Berührungen, durch Küssen und Haut-zu-Haut-Kontakte zwischen dem Kind und seinen primären Bezugspersonen werden ab der Neugeborenenzeit in Verbindung mit dem Riechsinn das Empfinden von Nähe und die Bindungsbeziehung angebahnt (Krombholz, 2015).

|20|1.5  Motorische Entwicklung

Die motorische Entwicklung des Kindes beginnt bereits intrauterin mit noch überwiegend ungezielten, jedoch bereits differenzierten und fließenden Bewegungsmustern, den sogenanntenGeneral Movements (Weigand et al., 2019). Die größten Freiheitsgrade erfährt das Kind in der mittleren Schwangerschaft, während im dritten Trimenon die Bewegungsmöglichkeiten eingeschränkter sind. Unmittelbar nach der Geburt wird das Kind erstmals der Schwerkraft ausgesetzt. Die bereits erprobten Bewegungsmuster kommen erst nach einigen Tagen bis Wochen wieder zum Vorschein, wenn der aktive Tonus ausreicht, die Extremitäten und dann den Kopf von der Unterlage gegen die Schwerkraft zu heben und frei im Raum zu bewegen. Während dieser Zeit sind noch anthropologisch alte Muster (sogenannte Primitivreaktionen) zu beobachten, die sich in der Mehrzahl zum Ende des 3. Lebensmonats verlieren. Lediglich die plantaren Greifreflexe bleiben bis zum 9. Lebensmonat erhalten. Ähnliches gilt für Muster, die durch bestimmte Körperstellungen ausgelöst werden. Diese Muster haben, falls sie nicht aufgrund einer Schädigung des Gehirns persistieren, für die weitere Entwicklung keine wesentliche Bedeutung.

Die motorische Entwicklung verläuft bei etwa 9 von 10 Kindern in einer typischen Abfolge: Aus der Rückenlage gelingt zunächst das Drehen um die Rumpfachse, aus der Bauchlage das Robben, der Vierfüßlerstand und das Krabbeln. Aus dieser Position erfolgt selbstständiges Aufsitzen und Hochziehen zum Stand, schließlich seitliches Laufen an Gegenständen bis zum freien Laufen im Alter von spätestens 18 Monaten. Ungewöhnliche Entwicklungswege verlaufen über das frühe Aufsitzen und Rutschen auf dem Gesäß zum Hochziehen an Gegenständen oder über andere seltenere Varianten. Die motorische Entwicklung ist keinesfalls mit dem Erlernen des freien Laufens abgeschlossen. Die funktionellen Fähigkeiten in Balance, Gleichgewicht und Koordination sind erst im Schulalter ausgereift und verbessern sich auch dann noch in Quantität und Qualität. Allerdings ist die letztgenannte Entwicklung in hohem Maße von Motivation, Übung und Bewegungserfahrung abhängig.

Im Alter von 2 Jahren wird das Gangbild flüssiger und weniger breitbasig. Das Kind kann nun auf der Stelle hüpfen und beginnt mit dem Dreirad zu fahren. Im Alter von 3 bis 4 Jahren gelingt ein Einbeinstand von 5 Sekunden, im Alter von 5 bis 6 Jahren von 10 Sekunden. Werfen oder Schießen eines Balls wird ab dem 2. Lebensjahr zunehmend eingeübt, ab dem 4. bis 5. Lebensjahr sind Ballspiele in der Gruppe möglich. Weitere Verbesserungen der Kraft und Koordination sind dann weniger der neuronalen Reifung, sondern mehr der Ausdauer und dem Training zu verdanken (Michaelis et al., 2013).

Die feinmotorischen Fähigkeitenentwickeln sich über einen noch längeren Zeitraum als die grobmotorischen. Neben der feinmotorischen Koordination spielen für das Handgeschick auch die Teilleistungen wie visuomotorische Koordination und Perzeption eine besondere Rolle. Durch zunehmende Übung und situative Anpassung werden unökonomische Abläufe immer seltener und assoziierte Mitbewegungen anderer Körperteile geringer. Häufig auftretende Bewegungsabläufe können automatisiert werden und Raum geben für eine hochdifferenzierte Willkürmotorik (Michaelis et al., 2013).

1.6  Sprachentwicklung

Voraussetzung für den Spracherwerb sind ein gutes Hörvermögen sowie eine phonologische Bewusstheit. Daher muss bei Kindern mit Sprachentwicklungsverzögerungen durch eine sorgfältige pädaudiologische Untersuchung ausgeschlossen werden, dass das Kind schlecht hört, sei es durch eine eingeschränkte Weiterleitung der akustischen Signale im Mittelohr (Reizleitungsstörung) oder eine Innenohrschwerhörigkeit.

|21|Die Lautentwicklung im ersten Lebensjahr folgt einem entwicklungsgenetisch fest verankerten Programm, das zunächst unabhängig vom Hörvermögen ist. Dabei werden universell bei allen Kindern in den ersten Lebenswochen zunächst einzelne Vokale gebildet, im weiteren Verlauf folgen sogenannte Kehllaute und Blasreiblaute bis zum 6. Lebensmonat. Aus diesem sprachlichen Repertoire bilden sich bereits im 2. Lebenshalbjahr die Vokal- und Konsonantenverknüpfungen, die typisch für die Muttersprache sind. Diese Selektion von in der Muttersprache genutzten Phonemen hängt einerseits von einem intakten Hörvermögen, andererseits von vorsprachlicher Kommunikation mit Bezugspersonen ab. Prinzipiell können im ersten Lebensjahr von einem Säugling die Laute aller menschlichen Sprachen erlernt werden, ein späterer Erwerb einer weiteren Sprache geht mit Schwierigkeiten in der akzentfreien Aussprache bestimmter Laute einher. Auch die Syntax einer Sprache wird früh angelegt und nicht mehr „perfekt“ gelernt, wenn der Erwerb der zweiten Sprache jenseits des Grundschulalters beginnt.

Zunehmend werden auch die für die Muttersprache typische Sprachmelodie und Syntax nachgeahmt. Dies führt zu dem Eindruck, das Kind spreche mit unverständlichen Worten. Gegen Ende des ersten Lebensjahres werden aus diesen Lautketten Doppelsilben herausgelöst, denen bei entsprechender Übung und Nachahmung Wortbedeutungen zugewiesen werden (z. B. „Mama“, „Papa“ und andere). Hat der Prozess der Verknüpfung von Silben mit Bedeutung einmal begonnen, wächst der Wortschatz im 2. Lebensjahr rasch an. Im Alter von 18 Monaten verfügt das Kind über 40–60 Worte mit Bedeutung, gegen Ende des 1. Lebensjahres beginnt das Kind, zwei Worte zu kurzen Sätzen zu verbinden (Sachse, 2015). Vorschulkinder lernen jeden Tag etwa 5–10 neue Worte, sie tun dies mit großer Freude und ohne erkennbare Mühe. Allerdings ist die sprachliche Entwicklung an das Zeitfenster der neuronalen Reifung und Verknüpfung gebunden: Wer mit 12 Jahren noch nicht sprechen gelernt hat, lernt es in aller Regel nicht mehr. Insbesondere durch die Interaktion mit Bezugspersonen, die sprachlichen Angebote und die Quantität der sprachlichen Interaktion nimmt die Sprachentwicklung einen individuellen Verlauf. Kinder erlernen keine Sprache, sondern erweitern ihre Kommunikations- und damit Interaktionsmöglichkeiten (Friederici, 2012, 2017). Da Spracherwerb anders als die motorische Entwicklung nur unter der Voraussetzung von gestalteter zwischenmenschlicher Beziehung gelingt, ist er in viel höherem Maße von psychosozialen Umweltfaktoren abhängig. Soziale Ungleichheit und schädigende psychosoziale Einflüsse wie insbesondere Gewalterfahrung und Vernachlässigung manifestieren sich bei jungen Kindern zuallererst beeinträchtigend in der Sprachentwicklung.

Das Sprachverständnis geht in der Regel über das aktive Sprechvermögen hinaus (Szagun, 2016). Im ersten Lebenshalbjahr können Säuglinge bereits Silben und Betonungsunterschiede wahrnehmen und zeigen eine Bevorzugung der Muttersprache. Im zweiten Lebenshalbjahr erkennen sie phonologische Strukturen, erkennen und verstehen Wörter. Im Alter von 18 Monaten verstehen sie bereits 150–200 Wörter und einfache Aufforderungen. Trotz einer gewissen Variabilität laufen die frühe Sprachentwicklung und die Entwicklung des Sprachverständnisses kulturübergreifend relativ ähnlich ab. Der weitere Spracherwerb ist hochgradig abhängig von sozialen und kulturellen Kontextfaktoren, einem intakten Hörvermögen und kognitiven Kompetenzen. Das rezeptive Aufnehmen von Sprache z. B. von Fernseher, Radio oder Computer führt zu keinerlei Förderung der frühen Sprachentwicklung, sodass Kinder unter 3 Jahren diesen Medien gar nicht ausgesetzt werden sollten. Interaktive Medien wie Tablet oder Smartphone können gegebenenfalls das Vorlesen eines Bilder- oder Liederbuches ergänzen oder ersetzen, sollen jedoch nur begleitet von erwachsenen Bezugspersonen eingesetzt werden.

|22|1.7  Sozial-emotionale Entwicklung

Die enorme sozial-emotionale Entwicklung des Menschen beruht auf der funktionellen Unreife des menschlichen Gehirns und der Reifung unter Einflussnahme externer Faktoren, insbesondere der interpersonellen Kommunikation und der gemeinsamen Handlungserfahrung mit anderen Menschen. Die wichtigsten Entwicklungsaufgaben bestehen in der Entdeckung und Wahrnehmung des eigenen Körpers und der Ausbildung einer Körperrepräsentanz. Dies geschieht insbesondere über die taktile und sensorische Sinnesfunktion. Ab dem ersten Lebenstag wird die Fähigkeit zur Kontaktaufnahme zu anderen Menschen, insbesondere zur Mutter als der ersten Bezugsperson entwickelt. Das Neugeborene hat bereits gute Fähigkeiten, auf eigene Bedürfnisse aufmerksam zu machen, die Aufmerksamkeit durch andere Menschen zu gewinnen wie zu binden und setzt dafür akustische, mimische und motorische Signale ein. Es stellt sich unmittelbar eine interpersonelle Kommunikation ein, die dazu führt, dass die Bezugsperson das Kind kompetent versorgen und beschützen kann. Dies ist die Grundlage für die Entwicklung einer stabilen und vertrauensvollen Beziehung als Voraussetzung für die Verwirklichung von Exploration und Entwicklungsfreude. Für die lebenslang wichtige Funktion, interpersonelle Beziehungen angemessen und positiv zu gestalten, muss das Kind bereits im ersten Lebensjahr lernen, die eigenen Affekte zu regulieren. Neue und ungewöhnliche nachgeburtliche Körpererfahrungen wie extrauterine Nahrungszufuhr, Temperaturschwankungen, akustische und visuelle Eindrücke führen zu Affekten und Wahrnehmungen, die das Kind noch nicht kennt und einordnen kann. Die Bezugspersonen haben die wichtige Rolle, das Kind in der Verarbeitung und Regulation dieser neuen Eindrücke zu unterstützen, aber die Bewältigung selbst muss dem Kind gelingen und stellt eine bedeutende positive Lebenserfahrung dar. Das gemeinsame Erleben dieses Gelingens führt zu einem starken affektiven Band zwischen dem Kind und seinen Bezugspersonen.

Im ersten Lebensjahr fällt es Kindern schwer, zwischen eigenen und fremden Gefühlszuständen zu unterscheiden, Affekte wirken unmittelbar ansteckend. Erst im zweiten Lebensjahr können eigene und fremde Affekte besser unterschieden werden und es gelingt eine zunehmende Distanzierung, auch wenn die gezeigte Anteilnahme zunächst stark egozentrisch ist und die Bedürfnisse anderer ignoriert werden. Dies ändert sich in der Folge mit zunehmender Empathiefähigkeit und drückt sich in zunehmendem prosozialem Verhalten aus. Bereits ab dem zweiten Lebensjahr begreift das Kind, dass auch andere Menschen Gefühle haben und sich Gedanken machen Diese Bewusstheit wird als Mentalisierung oder auch Theory of Mind beschrieben. Die Erkenntnis ist die Voraussetzung, um Mitgefühl und prosoziales Verhalten entwickeln zu können. Auf dieser Grundlage gelingt es, eigene Ziele zu entwickeln, miteinander zu gestalten, Unterstützung anzufordern, Hilfe anzunehmen und Fürsorge für andere zu zeigen. Die frühen Kompetenzen umfassen also Selbstwahrnehmung, Selbstregulation, soziale Wahrnehmung und Beziehungsfertigkeiten. Diese Fertigkeiten bilden die Grundlage aller Lernprozesse und einer gelingenden Lebensgestaltung (Fonagy et al., 2019).

1.8  Kognitive Entwicklung

Wie die Versuchsreihen von Andrew Meltzoff sowie Mechthild und Janusz Papousek zeigen, sind Säuglinge bereits in den ersten Lebensmonaten in der Lage, die elterliche Mimik zu imitieren. Ab dem 3. Lebensmonat können Gedächtnisfunktionen mit Bezug zum kurzzeitigen Arbeitsspeicher beobachtet werden. So kann ein Säugling einen neuen von einem bekannten Gegenstand unterscheiden, wenn dieser in einer Serie bekannter Gegenstände vorgezeigt |23|wird. In diesem Alter bemüht das Kind sich auch, soziale Kontakte herzustellen und die Aufmerksamkeit der primären Bezugsperson hervorzurufen, wie die Still-Face-Procedure von Tronick zeigen konnte. Eine zusammenfassende Darstellung dieser frühen Kompetenzen findet sich bei Dornes (2018).

In der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres wird die Fähigkeit zur Triangularität demonstriert: Das Kind zeigt ein Wechseln des Blicks zwischen der Bezugsperson und einem Objekt, womit gemeinsame Aufmerksamkeit erzeugt wird. Ab diesem Alter merkt sich das Kind auch Gegenstände, die außerhalb des Gesichtsfeldes geraten sind (Objektpermanenz), es findet verstecktes Spielzeug und schaut sich entfernenden Gegenständen hinterher. In der Regel geht dieser Entwicklungsabschnitt auch mit dem bekannten Fremdelneinher. Bekannte, vertraute Personen werden nun klar von Fremden unterschieden, die mehr oder weniger bei Kontaktversuchen abgelehnt werden.

Ab der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres ist weiterhin zu beobachten, dass Kinder große interindividuelle Unterschiede in ihrer Reaktion auf Umwelterfahrungen zeigen, was mit der Wahrnehmung eigener Affekte und der Affekte und Verhaltensweisen der Bezugspersonen zu tun hat. Der Säugling hat die begleitenden emotionalen Reaktionen der Bezugsperson in Bezug auf ein Objekt oder ein Ereignis verinnerlicht und reguliert seine Affekte entsprechend (Social Referencing) (Meltzoff, 2007).

Im zweiten und dritten Lebensjahr werden verschiedene Erfahrungen und Eindrücke zunehmend miteinander verknüpft. Ursachen für Ereignisse wollen verstanden werden, wobei das magische Denken noch überwiegt. Häufig wird Gegenständen noch ein Eigenleben zugeschrieben, die Elternfiguren sind mächtig und in der Lage, die Welt zu lenken. Das Kind bildet einfache Kategorien wie Gut und Böse und versteht erste Symbole. In sozialen Beziehungen sind erste Vergleiche möglich, obwohl das Kind zunächst noch wenig Kenntnis über soziale Erwartungen und Regeln hat. Erst im weiteren Verlauf wird zunehmendes Regellernen beobachtet sowie soziale Imitation und kreatives Spiel. Das Kind erlebt sich selbst als gestaltend und kann sich Geschichten und imaginierte Personen ausdenken. Die Mentalisierungs- und Reflexionsprozesse bedeuten die Fähigkeit, sich selbst und anderen geistige Vorgänge zuzuschreiben. Diese Funktionen entfalten sich in den Kleinkindjahren (Hédervári-Heller, 2011).

Das Vorschulalter ist von zunehmenden kognitiven Fähigkeiten gekennzeichnet, das Kind will die Welt verstehen. Es kann jetzt einfache Funktionen und Sequenzen nachvollziehen, Analogien und semilogische Schlüsse werden zunehmend genutzt. Mengenunterscheidungen kommen hinzu und lassen Verständnis für Quantitäten zu. Das Kind zeigt wachsende Kenntnis über soziale Erwartungen und soziale Rollen. Auch entwickelt sich in diesem Alter ein sehr ausgeprägtes dichotomes Geschlechtsrollenverhalten, das vermutlich die erworbene Geschlechtsidentitätim Handeln und Verhalten erleben lässt. Innerhalb der Gruppe verfügen Kinder über ein reziprokes Rollenverständnis, entwickeln einen basalen Gerechtigkeitssinn und zeigen prosoziales Verhalten. Zeitliche Dimensionen werden zunehmend verstanden und damit greifen auch Belohnungssysteme, die mit Antizipation und einer positiven Erwartung einhergehen.

Unter Lernen versteht man den individuellen (oder kollektiven) Erwerb von geistigen, körperlichen, sozialen oder emotionalen Kenntnissen, Fähigkeiten oder Fertigkeiten. In der frühen Kindheit handelt es sich um einen beiläufigen Prozess, für den das Kind ein förderndes Umfeld, aber keine organisierten Bildungsangebote benötigt. Der Entwicklungs- und Lernerfolg kann am Verhalten und den Kompetenzen des Kindes beobachtet werden. In der späteren Kindheit wird das Lernen zu einem absichtlichen Prozess, der durch spezifische Unterrichtsangebote und Lehrer*innen unterstützt wird. Der Lernerfolg kann am Wissenserwerb beobachtet und überprüft werden. Unter Bildung versteht man Lernen, das den subjektiven |24|Sinn und die Bedeutsamkeit für das Individuum berücksichtigt. Bildungsdimension in der frühen Kindheit sind

(1)

Beziehungsbildung,

(2)

Exploration: Aneignung der Welt,

(3)

Erwerb von kulturellem Wissen,

(4)

Persönlichkeitsbildung sowie

(5)

Kommunikation und Sprache.

Die moralische Entwicklungdes Kindes und Menschen bedarf der Interaktion von kognitiven und emotionalen Prozessen und muss im zwischenmenschlichen Verhalten erlebt und erprobt werden. Die Fähigkeit zur Perspektivübernahme als kognitive Leistung ist die Voraussetzung jeder moralischen Entwicklung. Piaget und später Kohlberg gingen davon aus, dass bei Kindern unter 7 Jahren lediglich eine heteronome Moral besteht. Diese beinhaltet von Autoritäten vorgegebene, unveränderbare Regeln, deren Verletzungen Konsequenzen nach sich ziehen. Die wesentliche Kritik an dieser Annahme richtet sich dagegen, die moralische Entwicklung als ein rein kognitives Konstrukt zu betrachten, in dem die Fähigkeit zum logischen Denken vorausgesetzt wird. Alternative Theorien halten die Befähigung zur Empathie und Perspektivübernahme für zentrale Aspekte der Moralentwicklung, die daher schon viel früher einsetzen kann. Die daraus entwickelte Fürsorgeethik unterscheidet sich erheblich von der früheren Gerechtigkeitsethik als Grundlage der moralischen Entwicklung. Es fehlt jedoch an belastbaren wissenschaftlichen Daten zu einer frühen moralischen Entwicklung von Kindern bis zum Schulalter (Lohaus et al., 2010).

1.9  Entwicklungstests zur alterstypischen Entwicklung

Das Konzept der Meilensteine der körperlichen, geistigen und seelischen Entwicklung hat einen normativen Ansatz (Baumann & Adam, 2017). Anhand der Beobachtungen jeweils sehr großer Kohorten von offenbar gesunden Kindern werden bezüglich der interessierenden Parameter Daten gesammelt. Mithilfe einer ausreichend großen Datenmenge können durchschnittliche Werte und Standardabweichungen für die Erfüllung einer bestimmten Leistung oder Verhaltensweise für einen bestimmten Altersbereich oder eine Altersgruppe berechnet werden. Diese Art der Darstellung erfolgt in der Regel über Perzentilen mit einem durchschnittlichen Wert und der Darstellung von ein und zwei Standardabweichungen. Insbesondere kontinuierlich verteilte, stetig zunehmende Parameter wie Körpergewicht, Körperlänge und Kopfumfang, aber auch Skalen- oder Gesamtwerte von Entwicklungstests werden so dargestellt. Während ein Meilenstein dem Median der getesteten Bevölkerung entspricht, können auch Grenzsteine beschrieben werden, die in einem bestimmten Alter von 95 % aller Kinder erreicht werden. Als Normbereich wird die Altersspanne vom jüngsten zum ältesten Kind festgelegt, in dem die benannte Fähigkeit beherrscht oder gezeigt wird. Die Entwicklung des medianen Alters wird als das Alter definiert, zu dem 50 % der Kinder den Meilenstein der Entwicklung erreicht haben. Auch bei seelischen oder kognitiven Entwicklungsstufen kann eine solche Herangehensweise gewählt werden, wobei hier die Festlegung eines bei allen Kindern eindeutig zu beobachtenden und zu dokumentierenden Entwicklungsschrittes aufgrund der reichen Variationen der kindlichen Entwicklung häufig nur mit größerer Schwierigkeit erfolgen kann. In diesem Kapitel werden daher ausgewählte typische Entwicklungsschritte nach Michaelis et al. (2013) in Tabelle 1-1 vorgestellt. Es handelt sich dabei um die Grenzsteine der Entwicklung für gesunde Kinder, d. h., 95 % aller Kinder zeigen die beschriebenen Verhaltensweisen oder Kompetenzen.

Tabelle 1-1:  Grenzsteine der Entwicklung für die ersten 6 Lebensjahre nach Michaelis et al. (2013)

Alter in Monaten

Grobmotorik

6

Rückenlage: Bei wachem Kind in Ruhe und Bewegung insgesamt symmetrische, jedoch auch wechselnde Körperhaltungen und Bewegungen der Arme und Beine

Bauchlage: Anheben des Kopfs, Abstützen auf die vorderen Anteile der Unterarme, Hände geöffnet

9

gut koordiniertes Fortbewegen auf dem Boden (z. B. Kriechen, Krabbeln, Bärengang);

selbstständiges, flüssiges Drehen von Rückenlage zu Bauchlage und umgekehrt

12

Freies Sitzen mit geradem Rücken und sicherer Gleichgewichtskontrolle ohne Abstützen mit den Händen;

mit Festhalten (Wand, Möbel) gelingen Stehen und einige Schrittchen gut

18

Freies Gehen, zeitlich unbegrenzt;

noch erlaubt: etwas breitbeinig, nicht ganz aufrecht, Arme noch etwas breit, um die Balance zu halten;

Treppen werden bewältigt mit Nachstellschritt und Festhalten am Geländer oder an der Hand Erwachsener

24

Gegenstände können beugend oder hockend ohne Verlust des Gleichgewichts vom Boden aufgehoben werden;

Rennen mit sicherem Gleichgewicht, Hindernisse werden umgangen

36

Beidbeiniges Hüpfen von einer untersten Treppenstufe mit sicherer Gleichgewichtskontrolle möglich;

Rennen mit deutlichem Armschwung und Umsteuern von Hindernissen;

plötzliches, promptes Anhalten gelingt ohne Gefährdung des Gleichgewichts

48

Dreirad oder ähnliche Fahrzeuge werden zielgerichtet und sicher bewegt: Kind tritt Pedale, lenkt gleichzeitig und umfährt Hindernisse;

Treppenhoch-steigen mit Wechselschritt ohne Festhalten möglich

60

Treppen werden beim Hoch- und Herabsteigen mit Beinwechsel sicher und freihändig bewältigt;

größere Bälle (Durchmesser etwa 20 cm), zugeworfen aus etwa 2 m Entfernung, können mit Hilfe der Hände, Arme und des Körpers sicher aufgefangen werden

72

Sicheres Stehen auf linkem und rechtem Bein für etwa 10 Sek.;

flüssiges und sicheres Hüpfen auf dem rechten und dem linken Bein, 8- bis 10-mal;

fängt Ball sicher mit beiden Händen und wirft gezielt (etwa Fußballgröße)

Alter in Monaten

Feinmotorik

6

Aktives Übernehmen eines kleinen Gegenstandes oder Spielzeugs von einer Hand in die andere;

gezieltes Greifen mit daumenseitig betontem Faustgriff (radialer Faustgriff)

9

Scherengriff: Kleine Gegenstände werden zwischen gestrecktem Daumen und gestrecktem Zeigefinger gehalten;

gezieltes Greifen mit der ganzen rechten und linken Hand (Faustgriff)

12

Gezieltes Greifen kleiner Gegenstände mit unvollständigem Pinzettengriff (mit gebeugtem Daumen und Zeigefinger, noch nicht mit den Fingerspitzen);

gezieltes Greifen mit den Fingern der rechten und der linken Hand

18

Sicherer, präziser Pinzettengriff;

Gegenstände, in der Hand gehalten, werden auf Bitte oder Aufforderung hergegeben

24

Malstift wird mit Faustgriff oder „Pinselgriff“ (mit den ersten drei Fingern) gehalten;

Kind kann eingewickelte Bonbons und kleinere Gegenstände auswickeln

36

Dünne Buch- oder Zeitschriftenseiten werden sorgfältig einzeln umgeblättert;

benutzt sicheren Drei-Finger-Spitzgriff (Daumen, Zeige- und Mittelfinger) zur präzisen Manipulation kleiner Gegenstände

48

Hält Mal- oder Zeichenstift korrekt mit den Spitzen der ersten drei Finger;

„Kopffüßler“ oder Männchen, auch Objekte, wie Haus, Baum, Blume, Auto, können – wenn auch oft noch etwas unbeholfen und unvollständig – gemalt werden

60

An einer geraden Linie auf dem Papier entlang kann mit einer Kinderschere weitgehend genau geschnitten werden;

einzelne Buchstaben, Zahlen oder der Name können mit großen Buchstaben geschrieben werden (auch seitenverkehrt erlaubt)

72

Gegenstände wie Haus, Baum, Männchen, Autos können erkennbar gemalt werden;

Kind kommt beim Basteln mit Falten, Ausschneiden, Kleben (auch mit Tesafilm) zurecht;

Mal- und Schreibstift ruht auf dem Mittelfinger, Führung durch Daumen und Zeigefinger (normaler schulischer Schreibgriff)

Alter in Monaten

Sprache

6

Spontanes, monologisches, variationsreiches Lautieren ohne Lippenschlusslaute;

dialogisches Lautieren („Babydialoge“): Kind antwortet auf freundliches Ansprechen mit eigenem Vokalisieren

9

Spontanes Vokalisieren längerer Silbenketten, vorwiegend mit a- und e-Vokalen und Lippenverschlusslauten (ba-ba-ba-ba oder da-da-da-da und ähnliche Reihungen);

dialogisches präverbales Lautieren, wenn Kind freundlich angesprochen wird

12

Deutlich artikulierte Silbenverdoppelungen wie ga-ga, ba-ba, da-da und Ähnliches;

Mama und/oder Papa werden korrekt und gezielt verwendet

18

Lebhafte Lautbildung („Pseudosprache“), dialogisches „Reden“ mit Bezugspersonen;

Symbolsprache (z. B. Wauwau für Hund, namnam für essen, heia für schlafen) und/oder Ein-Wort-Sprache (z. B. nug „genug“; ham „haben“)

24

Ein-Wort-Sprache: mindestens 20 richtige Worte, außer Papa und Mama;

Zwei-Wort-Sätze wie Mama komm werden gut verständlich ausgesprochen

36

Drei- bis Fünf-Wort-Sätze: Kombinationen von Nomina, Hilfsverben, Präpositionen, Adjektiven;

keine auffälligen Aussprachefehler

48

Kleine Ereignisse und Geschichten werden in weitgehend korrekter zeitlicher und logischer Reihenfolge berichtet, meist noch mit „… und dann … und dann“-Verbindungen;

keine auffälligen Aussprachefehler

60

Ereignisse und Geschichten werden in richtiger zeitlicher und logischer Reihenfolge wiedergegeben, oft noch mit kurzen Sätzen und einfacher, jedoch korrekter Grammatik;

keine auffälligen Aussprachefehler

72

Korrekte Sechs- bis Acht-Wort-Sätze:

grammatikalische Strukturen, auch kleine Nebensätze, werden sicher beherrscht;

Erlebtes wird flüssig in richtiger zeitlicher und logischer Reihenfolge berichtet und spontan oft aus eigener Sicht kommentiert;

keine auffälligen Aussprachefehler

Alter in Monaten

Kognition

6

Objekte und Spielzeuge werden mit beiden Händen ergriffen, in den Mund gesteckt, benagt;

sich langsam vor den Augen bewegende Gegenstände werden aufmerksam und mit parallel geführten Augen verfolgt

9

Kennt tägliche Abläufe gut (Essen, Baden, Wickeln, Ausgehen, kleine Spielchen), stellt sich darauf ein und macht mit (Skripts);

kleine Gegenstände und Spielzeuge werden wechselweise in eine Hand genommen, mit einem oder mehreren Fingern konzentriert betastet und in ihren Qualitäten genau taktil geprüft, gelegentlich auch noch mit dem Mund

12

Objekte, vor den Augen des Kindes mit einem Tuch bedeckt, werden vom Kind durch Wegziehen des Tuchs wieder gefunden;

ahmt kleine Gesten und Mimik nach (z. B. Winke, winke; Backe, backe Kuchen)

18

Rollenspiele mit sich selbst, z. B. nachahmendes Spielen wie Füttern, Windeln, Schlafen legen und Ähnliches im Spiel mit Puppen und/oder Stofftieren;

Kind zeigt bei Befragen in einem Bilderbuch auf ihm bekannte Gegenstände, Tiere, Pflanzen, Tätigkeiten

24

Bauklötzchen oder Ähnliches werden gestapelt (mindestens 3);

konzentriertes Einräumen/Ausräumen (Spielzeug, Gegenstände) von Behältern/Schubladen über etwa 10 Min., dabei genaues Betrachten, Betasten einzelner Objekte

36

Malen und Kritzeln; auch wenn noch wenig gestaltend gemalt wird, kommentiert das Kind (wenn gefragt), -wen oder was es malt oder gemalt hat;

konzentriertes, anhaltendes Spielen für mindestens 30 Min. mit Puppen, Autos, Bausteinen, Lego, Playmobil und Ähnlichem

48

Viele W-Fragen (warum, wieso, wo, wann, woher?);

gleiche Gegenstände verschiedener Größe können unterschieden und benannt werden (z. B. große und kleine Tomaten, große und kleine Bauklötzchen)

60

Grundfarben werden erkannt und benannt (blau, grün, rot, gelb, schwarz, weiß);

kennt Oberbegriffe: Tiere, Pflanzen, Nahrungsmittel, Kleidungsstücke, Fahrzeuge, Jahreszeiten (können mit einem Wimmelbilderbuch erfragt werden)

72

Kreis, Dreieck, Quadrat werden (vorgemalt oder als Schablone gezeigt) erkannt und benannt;

spielt mit Lego oder anderen Bauelementen konstruktiv, aber auch nach Vorlagen;

malt Mennschen: Details können noch undifferenziert sein; vorhanden sein müssen: Kopf, Augen, Nase, Mund, Oberkörper, Arme, Beine

Alter in Monaten

Soziale Kompetenz

6

Kind hält stabilen, nicht nur momentanen Blickkontakt;

Kind lächelt auf das zugewandte Gesicht vertrauter und fremder Personen

9

Unterscheidet sicher zwischen bekannten und unbekannten Personen; bei Fremden oft keine Fremdelreaktion;

freut sich über die Anwesenheit von Kindern

12

Kind beginnt selbst einen Kontakt mit (Bezugs-) Personen, führt ihn fort oder beendet ihn;

zeigt mit Zeigefinger oder durch Blickhinwendung auf Spielzeug, Personen, Tiere, um mit Bezugsperson gemeinsames Interesse zu teilen (Triangulierung)

18

Interessiert sich für das Spielen anderer Kinder;

noch kein kommunikatives Zusammenspielen, jedoch paralleles Nebeneinanderspielen;

„Nein“ wird verstanden und meist auch befolgt

24

Durch Ziehen an der Hand oder an der Kleidung versucht das Kind, eine Bezugsperson an den Ort zu bewegen, zu dem es gerne möchte;

sucht selbst aktiven und kommunikativen Austausch mit anderen Kindern

36

Gemeinsames Spielen mit anderen Kindern über mindestens 10–20 Min., mit sprachlicher Kommunikation und Austausch von Gegenständen;

hilft gerne mit, sofern bei häuslichen Tätigkeiten möglich

48

Versteht Spielregeln, auch dass andere Kinder, die sich beteiligen, an der Reihe sind;

ordnet sich angemessen in ihm bekannte Kindergruppe ein, versucht, nicht zu dominieren, sich zu verweigern oder zu isolieren

60

Kind kann Spielzeug, Süßigkeiten und Ähnliches zwischen sich und anderen gerecht teilen;

lädt andere Kinder zu sich ein (z. B. zum Kindergeburtstag), wird selbst eingeladen

72

Spielt mit anderen Kindern differenzierte Rollenspiele; übernimmt dabei das „Skript“ seiner Rolle (z. B. Räuber und Polizei, Familie, Nachspielen eines Erlebnisses);

mit Spaß und Eifer bei gemeinsamen Kreis-, Wett- und Rennspielen

Kind hat zeitweise (mindestens über mehrere Wochen) besten Freund oder beste Freundin

Alter in Monaten

Emotionale Kompetenz

6

Antwortet mit Lautieren, Blickkontakt, lebhafter Mimik, Arm- und Beinbewegungen auf freundliches Ansprechen und Anschauen durch vertraute Personen;

nur gelegentliche Schreiattacken, bei denen sich das Kind innerhalb von 10–20 Min. durch Herumtragen, Zureden, Wiegen beruhigen lässt

9

Meist emotional balanciertes, ausgeglichenes Kind;

bei bestimmten täglichen Abläufen (Skripts, s. kognitive Entwicklung) reagiert Kind emotional mit Freude oder mit Unwillen (z. B. auf Flasche, Windeln, Schlafengehen)

12

Freut sich über Blickkontakt, Berühren, Streicheln, Anlehnen, Schmusen;

Trennung von Bezugsperson (z. B. Mutter geht Einkaufen) wird toleriert oder emotional negativ realisiert (Enttäuschung, Weinen, Verunsicherung, Schreien), obwohl Kind in der Zwischenzeit von gut bekannter Person betreut wird

18

Kind kann sich für 1–2 Std. von Bezugsperson trennen, wenn die Betreuung durch eine ihm gut bekannte Person erfolgt (z. B. Babysitter);

versichert sich in neuen Situationen und Unternehmungen mit wiederholten Blickkontakten, ob sein Vorhaben von der Bezugsperson gebilligt oder missbilligt wird

24

Bei täglichen Ärgernissen lässt sich das Kind meist innerhalb von 3 bis 5 Min. beruhigen;

kann sich für etwa 15–20 Min. alleine beschäftigen, wissend, dass sich die Mutter in räumlicher Nähe (anderes Zimmer, Küche) befindet, jedoch nicht sichtbar ist

36

Kind kann ohne Bindungsperson für einige Stunden bei ihm bekannten Personen bleiben (auch außerhalb seines Zuhauses);

bei erfreulichen Ereignissen zeigt Kind mit Mimik und lebhaften Bewegungen seine Freude, bei Ärger die entsprechende Mimik und Körpersprache

48

Im täglichen Ablauf meist emotional ausgeglichen; keine anhaltenden, überschießenden Hyperaktivitäten; kein auffälliges Trotzverhalten oder Verweigerungen;

kann gelegentlich bei gut bekannter Familie alleine übernachten

60

Bei Kummer, Müdigkeit, Erschöpfung, Krankheit, Stress wird immer noch enger Körperkontakt mit Bindungspersonen gewünscht und gesucht;

Kind kann auch über beschämende, frustrierende, unerfreuliche Erlebnisse und Ereignisse berichten

72

Kind kann sich für mehrere Tage von Bindungspersonen trennen, wenn es während dieser Zeit von gut bekannten und akzeptierten Personen betreut wird;

Kind kann seine positiven und negativen Emotionen bei alltäglichen Ereignissen meist selbst regulieren;

gewisse Toleranz auch bei Enttäuschungen;

Kind kann sich gut in die positiven oder negativen Emotionen eines anderen Kindes, einer anderen Person einfühlen, freut sich mit oder versucht zu helfen, zu trösten („Theory of Mind“)

Alter in Monaten

Ich-Entwicklung

6

Kind wendet seine Aufmerksamkeit aktiv dem zu, was in seiner nächsten Umgebung geschieht;

auf den Arm genommen nutzt das Kind seine aufrechte Haltung aktiv, um einen Überblick über seine nähere Umwelt zu gewinnen

9

Kind zeigt individuelle Eigenheiten, die beachtet werden wollen (z. B. sehr ruhig, sehr lebhaft, visuell sehr aufmerksam, sehr auf bestimmte Personen bezogen, eher zurückhaltend, gute/r bzw. schlechte/r Esser*in oder Schläfer*in);

liebt es, „dabei zu sein“ (Teilhaben am Leben der Familie)

12

Betrachtet sich gerne in einem Spiegel, ohne sich zu erkennen;

Kind hat gelernt, dass es mit seinem Verhalten das Verhalten seiner Bezugspersonen verändern kann; es versucht, durch Charme oder Widerstand bestimmte Wünsche und eigene Vorstellungen durchzusetzen

18

Schaut gerne in einen Spiegel, erkennt sich selbst oder noch nicht;

kann seinen eigenen Willen zum Ausdruck bringen, verbal mit „nein“ oder „ja“ oder mit entsprechender Gestik und/oder Mimik

24

Erkennt sich selbst in einem Spiegel;

lehnt Hilfen gelegentlich vehement ab, obwohl es beabsichtigte Tätigkeit noch nicht meistern kann, möchte selbst probieren

36

Nennt sich selbst mit seinem Vor- oder Rufnamen;

erkennt sich auf Fotos, Bildern, Filmen

48

Kind weiß, dass es ein Mädchen oder Junge ist; zeigt jedoch noch nicht immer geschlechtsspezifisches Rollenverhalten (z. B. im Spiel);

redet von sich selbst in 1. Person Singular („Ich“)

60

Weiß, dass es Mädchen oder Junge ist, zeigt das auch in seinem Verhalten;

verfügt über Selbstbewusstsein (z. B. nimmt gerne Telefonanrufe an; erzählt gerne von sich und seinen eigenen Qualitäten, begründet und verteidigt die eigene Meinung)

72

Sucht Anerkennung und Akzeptanz von Gleichaltrigen, will dazu gehören;

kann etwas besonders gut, pflegt diese Fähigkeit, ist darauf stolz;

freut sich auf Schule, möchte gerne Schulkind sein und lernen oder geht bereits gerne zur Schule

Alter in Monaten

Selbständigkeit

6

Kennt Vorbereitungen zur Nahrungsaufnahme und verfolgt sie mit sichtbarem Interesse und lebhaften Bewegungen;

signalisiert deutlich Unbehagen bei Hunger, Langeweile, Müdigkeit, nassen Windeln

9

Hält mit beiden Händen Flasche selbst beim Trinken, dreht Flasche selbstständig bei nicht optimalem Milchfluss;

versucht durch eigene Initiativen (Anlachen, Lautieren) Kontakt und Zuwendung von Personen zu gewinnen

12

Unentwegtes, positiv motiviertes Ausprobieren erworbener oder neu zu erwerbender motorischer und feinmotorischer Fähigkeiten;

trinkt selbst, oft noch mit etwas Hilfe, aus Tasse und Becher

18

Socken und/oder Kopfbedeckungen werden gezielt angezogen bzw. ausgezogen;

nimmt selbstständig einen gefüllten Becher und trinkt, ohne zu kleckern

24

Isst selbstständig mit einem Löffel, wenn auch noch nicht immer perfekt;

kennt erreichbare Licht- und Geräteschalter, deren promptes Funktionieren wiederholt und immer wieder von Neuem ausprobiert wird

36

Kann selbstständig mit Löffel und Gabel essen;

Kind ahmt typische Tätigkeiten seiner Bindungspersonen in Rollenspielen nach

48

Tagsüber sichere Blasen- und Darmkontrolle;

kann sich weitgehend selbst an- und auskleiden, gelegentliche Hilfen erforderlich

60

Vollständige Blasen-Darm-Kontrolle, kommt auf der Toilette selbst zurecht;

sicheres Handhaben von Gabel und Messer, richtet sich selbst Brote, Müsli, Getränke

72

Waschen, Duschen, Kämmen, Zähneputzen weitgehend ohne Hilfe möglich;

kleidet sich alleine an, Schuhe werden seitenrichtig angezogen;

bewältigt vertraute Wege alleine (z. B. Kindergarten, Schule, Nachbarn, kleine Besorgungen), überquert dabei selbstständig Straßen unter Beachtung der Verkehrsregeln

Körperbewusstsein:

Kleinere Körperteile können auf Befragen gezeigt und benannt werden: Finger, Zähne, Knie, Ellenbogen, Nase, Ohren, Kinn;

Rechts-Links-Unterscheidung auf Befragen sicher möglich: Wo ist das rechte Ohr? Wo ist das linke Bein? Welches ist die rechte, die linke Hand?

Schaukeln und Balancieren (z. B. Kinderspielplatz, auf Mäuerchen, auf liegenden Baumstämmen im Wald) gelingen sicher und ohne Ängstlichkeit

Prinzipiell kann aufgrund der Eigenschaften und Ziele eines Testinstrumentes zwischen Screeningverfahren, standardisierten Entwicklungstests mit bevölkerungsbezogenen Normwerten und differenzierten spezifischen Unter|33|suchungsverfahren zur Abklärung von Funktionsstörungen und der Ätiologie unterschieden werden. Zu den im Vorschulalter am häufigsten eingesetzten Screeningverfahren gehören die Münchner Funktionelle Entwicklungsdiagnostik (MFED)(Hellbrügge, 1994) und der Entwicklungstest für Kinder von 6 Monaten bis 6 Jahren (ET 6-6-R) vonPetermann und Macha (2015). Die MFED für das 1.–4. Lebensjahr wird derzeit im Rahmen eines Forschungsprojektes des Lehrstuhls für Sozialpädiatrie der Technischen Universität München überarbeitet und normiert. Die Denver-Skalen (Flehmig et al., 1973) sind veraltet und sollten aufgrund unzureichender Normierung nicht mehr eingesetzt werden. Der ET 6-6-R kommt bei Kindern zwischen 6 Monaten und 6 Jahren zur Anwendung, er wurde 2015 in revidierter Form herausgebracht (Petermann & Macha, 2015). Dieser Test wird sehr häufig im Bereich der Frühförderung und der Sozialpädiatrie eingesetzt. Das Instrument ist sprachgebunden und kann bei Kindern, die über geringe Kenntnisse der deutschen Sprache verfügen oder ausgeprägte Sprachentwicklungsstörungen haben, nicht eingesetzt werden.

Als konfirmatorische Testinstrumente oder -batterien in den ersten 6 Lebensjahren sind zu empfehlen die Bayley Scales of Infant and Toddler Development - Third Edition (Bayley III)von Bayley (2015), der SON-R 2-8 – Non-verbaler Intelligenztest vonTelegen et al. (2018), der eine sprachfreie Testung ermöglicht, die Movement Assessment Battery for Children – Second Edition (M-ABC-2) vonHenderson et al. (2015) sowie die Wechsler Preschool and Primary Scale of Intelligence – Fourth Edition (WPPSI-IV) von Wechsler (2018).

1.10  Psychosexuelle Entwicklung

Wegen der Besonderheit der psychosexuellen Entwicklung und der Weichenstellung für die Entwicklung zum Mädchen und Jungen bzw. zur Frau und zum Mann werden nachfolgend die genetischen und embryologischen Prozesse zusammengefasst, die zur Ausstattung mit einer weiblichen oder männlichen Gonade (innerem Geschlechtsorgan) gehören. Nach der Phase der Organanlage in der Embryonalphase entsteht eine bipotente Gonade und die primäre Anlage sowohl weiblicher als auch männlicher Anlagen für die inneren Geschlechtsorgane (Müller’sche und Wolff’sche Gänge).

Bei Individuen mit einem 46,XY-Chromosomensatz steuern Entwicklungsgene, die u. a. auf dem Y-Chromosom liegen, die Differenzierung der primären Gonade zum Hodengewebe, das wiederum Hormone produziert. Diese Hormone führen zu einer Rückbildung der weiblichen Anlagen und einer Ausdifferenzierung des Hodens in samenbildende Zellen und androgenproduzierende Zellen. Durch die Wirkung von Androgenen an den äußeren Geschlechtsorganen erfolgt eine weitere Differenzierung des äußeren Geschlechts in Hodensack, der Vorsteherdrüse und des Penis. Dieser Prozess ist von zahlreichen genetischen und hormonellen Steuerfunktionen abhängig, sodass es bei Störungen zu mangelnder oder ausbleibender Vermännlichung der Geschlechtsorgane der Betroffenen kommt. Für die Entwicklung zum weiblichen Geschlecht (46,XX) müssen die männlichen Anlagen zurückgebildet und Eierstöcke und Eileiter, Gebärmutter und obere Vaginalanlage angelegt werden. Für die Differenzierung des weiblichen äußeren Genitals, werden weniger aktive Steuerungsprozesse verlangt, sodass die Entwicklung zum weiblichen Geschlecht gelegentlich als der Default-Mechanismus der Natur bezeichnet wurde.

Die genetischen und hormonellen Prozesse der Determinierung und Differenzierung führen zu einem biologischen Geschlecht (sex), welches bei einer typischen Entwicklung eindeutig männlich oder weiblich ist, manchmal aber auch davon abweicht und je nach Kontext als untypische Geschlechtsentwicklung, Intersexualität oder Störung der Geschlechtsentwicklung bezeichnet wird. Davon unterschieden wird die psychosexuelle Entwicklung, die |34|im englischen Sprachgebrauch mit dem Begriff genderbezeichnet wird. Bei dieser Entwicklung handelt es sich vor dem Hintergrund des biologischen Geschlechts um einen komplexen Entwicklungsprozess, der durch kulturelle, kognitive, affektive und rechtliche Aspekte beeinflusst wird. Verschiedene psychologische Konstrukte beschreiben die psychosexuelle Entwicklung vom Neugeborenen bis zum erwachsenen Menschen:

Unter Geschlechtsrollenverhalten (gender role) wird das Verhalten oder die Selbstaussage einer Person verstanden, die damit anderen oder sich selbst zeigt, in welchem Ausmaß sie männlich oder weiblich ist. Das Geschlechtsrollenverhalten ist kulturell geprägt und zeigt seine stärkste Ausprägung im Sinne einer Konformität zum eigenen Geschlecht im Vorschulalter. Trotz offener und geschlechtsfairer Erziehung kann man in diesem Alter sehr starke Präferenzen für Spiele, Kleidung und eine ausgesprochene Neigung zu gleichgeschlechtlichen Freund*innen beobachten. Es kann vermutet werden, dass dadurch die Entwicklung der Geschlechtsidentität zunehmend gesichert wird. Ein vermeintlich untypisches Geschlechtsrollenverhalten (z. B. Puppenspiele bei Jungen) ist in keinem Fall eine Entwicklungsauffälligkeit. In seltenen Fällen zeigt sich eine untypische biologische Geschlechtsentwicklung oder im Verlauf eine Störung der Geschlechtsidentität. Dies liegt vor, wenn trotz scheinbar eindeutigen männlichen oder weiblichen Geschlechtes das Kind überzeugt ist, dem anderen Geschlecht zuzugehören. Bei entsprechenden Diagnosen im Kindes- und Jugendalter wird häufig rückblickend ein entsprechend auffälliges Verhalten im Vorschulalter beschrieben.

Unter der Geschlechtsidentität (gender identity)wird das Fortdauern und die Einheit der eigenen Identität als männlich oder weiblich verstanden. In den ersten beiden Lebensjahren ist die psychosexuelle Entwicklung von Körpererkunden, fremd- und autoerotischen Wahrnehmungen sowie dem Entdecken und der Kontrolle von Ausscheidungsfunktionen gekennzeichnet. Bis zum Ende des zweiten Lebensjahres entsteht eine stabile Geschlechtsidentität, d. h., das Kind kann die Fragen „Bist du ein Junge oder ein Mädchen?“ und „Wenn du groß bist, wirst du eine Mutter oder ein Vater?“ eindeutig beantworten. Die Geschlechtsidentität wird im Selbstbewusstsein erlebt und im Verhalten erfahren.

Störungen der Geschlechtsidentität des Kindesalters (ICD-10: F64.2) beginnen in der frühen Kindheit. Sie sind durch ein ständiges Unbehagen mit dem zugefallenen Geschlecht und dem Wunsch, dem anderen Geschlecht anzugehören, charakterisiert. Bei Erwachsenen wird diese abweichende und bisher ätiologisch ungeklärte Variante der psychosexuellen Entwicklung nach ICD-10 (Weltgesundheitsorganisation, 2011) als Transsexualismus (ICD-10: F64.0) bezeichnet. Es besteht eine Überzeugung der Nichtzugehörigkeit zum eigenen anatomischen Geschlecht und der Wunsch nach chirurgischer oder hormoneller Behandlung. Unterschieden davon wird eine Sexuelle Reifungskrise (ICD-10: F66.0). Sie tritt als vorübergehendes Phänomen während der Pubertät auf und signalisiert eine Unsicherheit hinsichtlich der Geschlechtsidentität oder der sexuellen Orientierung, die mit Ängsten oder einer Depression einhergeht. Die sexuelle Orientierung entwickelt sich unabhängig von Geschlechtsrollenverhalten und Geschlechtsidentität und bezeichnet die Präferenz des Geschlechts eines Sexualpartners (Thyen et al., 2012; Thyen & Konrad, 2018).

1.11  Konzepte der Diversität