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Die meisten Psychotherapieverfahren und Beratungen finden in Form von Gesprächen statt. Dafür werden spezifische Kompetenzen benötigt, denn jede Intervention muss in Gesprächshandeln übersetzt werden. Der Prozess konstituiert sich über sprachliche und nichtsprachliche Kommunikation. Was eine gelingende psychodynamische Gesprächssteuerung ausmacht, wie sich eine neutrale Haltung kommunikativ realisieren lässt, wie es zu einer stabilen und kooperativen Gesprächssituation kommt und wann zu Störungen und Irritationen derselben, wird in diesem Buch anhand von zahlreichen Ausschnitten aus Erstgesprächen erläutert.
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Seitenzahl: 307
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Dieses Buch ist die überarbeitete Fassung einer Habilitationsschrift, die von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich angenommen wurde.
1. Auflage 2014
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Umschlag: Gestaltungskonzept Peter Horlacher
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-023060-6
E-Book Formate:
pdf: 978-3-17-024977-6
epub: 978-3-17-024978-3
mobi: 978-3-17-024979-0
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1 Einleitung
1.1 Psychotherapie als Gespräch
1.2 Psychodynamik und Kommunikation im Erstgespräch
1.3 Kompetenzen in der psychodynamischen Psychotherapie
1.4 Gesprächskompetenzen in psychodynamischen Erstgesprächen
1.5 Aufbau des Buchs
2 Psychodynamische Erstgespräche
2.1 Psychodynamische Psychotherapie
2.2 Das psychodynamische Erstgespräch
3 Gesprächsanalyse psychodynamischer Psychotherapie
3.1 Ethnomethodologische Konversations- und Gesprächsanalyse
3.2 Konversations- und gesprächsanalytische Untersuchungen von Psychotherapien
3.3 Konversations- und gesprächsanalytische Untersuchungen von psychodynamischen Psychotherapien
3.3.1 Nutzen der Gesprächsanalyse für das Verständnis psychodynamischer Therapien
3.3.2 Konversations- und Gesprächsanalysen von psychodynamischen Therapien: ein Überblick
4 Therapeutische Gesprächskompetenzen in Erstgesprächen
4.1 Gesprächssteuerung – Kontrolle – Dominanz: Machtverhältnisse zu Beginn psychodynamischer Erstgespräche
4.1.1 Metaphorik der Macht in psychoanalytischen Behandlungstheorien
4.1.2 Die Psychoanalyse als Gegenstand einer Machtkritik
4.1.3 Strukturelle Ungleichheiten in psychodynamischen Psychotherapien aus gesprächsanalytischer Sicht
4.1.4 Therapeutische Gesprächssteuerung in Erstgesprächen
4.1.5 Steuerungs- und Einflussmöglichkeiten von Patienten in Erstgesprächen
4.1.6 Kompetente Gesprächssteuerung im Erstgespräch
4.2 Abstinenz und Neutralität: Die therapeutische Haltung in psychodynamischen Erstgesprächen
4.2.1 Abstinenz und Neutralität in der Behandlungstheorie
4.2.2 Abstinenz und Neutralität als innere Haltung oder als Gesprächsverhalten?
4.2.3 Neutralität und therapeutische Gesprächskompetenz
4.2.4 Wie Patienten die therapeutische Neutralität im Erstgespräch auf die Probe stellen: wertende Beziehungsschilderungen
4.2.5 Wie lösen Therapeuten diese Gesprächsaufgaben? – Varianten analytischer Neutralität
4.2.6 Was zeichnet eine kompetente Handhabung der Neutralitätsregel aus?
4.3 Das Arbeitsbündnis aus gesprächsanalytischer Sicht: Kooperation in psychodynamischen Erstgesprächen
4.3.1 Arbeitsbündnis und Psychotherapieforschung
4.3.2 Kooperation und Kompetenz
4.3.3 Themenwechsel und Kooperation im psychodynamischen Erstgespräch
4.3.5 Kooperative Gesprächsaktivitäten von Therapeuten
4.3.6 Therapeutische Kooperationskompetenz
4.4 Irritationen und Störungen: Verständigungskrisen in psychodynamischen Erstgesprächen
4.4.1 Unterschiedliche Annahmen über Gesprächsaufgaben und direkte Fragen
4.4.2 Verständigungskrisen
4.4.3 Patienten unter Druck: Irritationen aufgrund der ungewohnten Verpflichtung zur differenzierten Beziehungsschilderung
4.4.4 Gravierende Störungen in Erstgesprächen
4.4.5 Verständigungskrisen, Irritationen, Störungen – Therapeutische Gesprächskompetenzen zur Krisenbewältigung
4.4.6 Mikrokrisen als »Now-Moments« der Begegnung in der therapeutischen Beziehung
4.5 Nichtsprachliches Verhalten in psychodynamischen Erstgesprächen
4.5.1 Nichtsprachliches Handeln als therapiegefährdendes Ausdrucksverhalten
4.5.2 Nichtsprachliches Verhalten, Interaktionssteuerung und Beziehungsregulierung
4.5.3 Gesprächsanalytische Untersuchung nichtsprachlichen Verhaltens
4.5.4 Das Blickverhalten bei der Eröffnung psychodynamischer Erstgespräche
4.5.5 Nichtsprachliche therapeutische Gesprächskompetenz
5 Psychodynamische Gesprächskompetenzen
5.1 Psychodynamische Gesprächskompetenzen für die Praxis
5.1.1 Gesprächssteuerung und Einflussmöglichkeiten
5.1.2 Therapeutische Haltung und Neutralität
5.1.3 Arbeitsbündnis und Kooperation
5.1.4 Störungen und ihre Bewältigung
5.1.5 Nichtsprachliches Verhalten
5.1.6 Psychodynamische Gesprächskompetenzen für die Praxis – ein Fazit
5.2 Psychoanalyse und Gesprächsanalyse
5.2.1 Kommunikation und Intention
5.2.2 Das psychodynamische Erstgespräch als kommunikatives Projekt
5.3 Kompetenzforschung und Gesprächsanalyse
5.3.1 Allgemeine Gesprächskompetenz
5.3.2 Spezifische Gesprächskompetenz
5.4 Psychotherapie als soziale Praxis
Literaturverzeichnis
Anhang: Transkriptionsregeln
Register
Was immer auch Psychotherapie ist – ob Körpertherapie, Psychodrama mit Rollenspiel, Konfrontation- oder Expositionstherapie: Psychotherapie ist immer auch Gespräch, jedenfalls sofern sie noch im unmittelbaren, direkten und persönlichen Kontakt stattfindet und nicht mittelbar in Form moderner Kommunikationstechnologie wie im Falle der Internettherapie. Meistens ist Psychotherapie vor allem ein Gespräch (Gesprächstherapie, bestimmte Formen kognitiver Verhaltenstherapie, psychodynamische Therapien). In den Behandlungstheorien und -techniken finden sich verschiedene sprachliche Interventionen und Empfehlungen zur Gesprächsführung, wie das aktive Zuhören und empathische Spiegeln in der klientenzentrierten Gesprächsführung, der sokratische Dialog in der rational-emotiven Therapie oder die Deutung in der Psychoanalyse. Besonders die schon von einer frühen Patientin Freuds als Talking Cure bezeichnete klassische Psychoanalyse sieht ihre Wirkung in Deutungen des Analytikers, die die Bewusstwerdung bisher unbewusster Konflikte des Analysanden ermöglichen sollte, indem sie zur Sprache kommen.
Die behandlungstheoretischen Empfehlungen der verschiedenen Therapieverfahren beschäftigen sich mit der sprachlichen Kommunikation im Therapieprozess vor allem als bewusst und geplant eingesetzte, lernbare verbale Interventionsformen der Therapeuten. Basierend auf Theorien und Konzepten werden sie als heute zum Teil manualisierte Techniken verstanden, mit denen die Patienten behandelt werden.
Psychotherapie als Gespräch zu verstehen und zu untersuchen, geht darüber hinaus. In der internationalen Gesprächsforschung (Ten Have, 2004; Silvermann, 2006) unterscheidet man verschiedene Dimensionen, die für das Zustandekommen und den Ablauf von Gesprächen konstitutiv sind. Sie lassen sich nach Deppermann (2001, S. 8–9) wie folgt charakterisieren.
Gespräche sind
• prozesshaft: Sie entwickeln sich in der Zeit; sie sind flüchtig und offen; sie sind nur bedingt planbar.
• methodisch produziert: Die Teilnehmer benutzen kulturell verbreitete und erwartete Praktiken, um den Gesprächsablauf zu organisieren.
• pragmatisch orientiert: Sie dienen der Bearbeitung von Aufgaben und Zielen, individuellen oder gemeinsamen.
• sprachlich und nichtsprachlich konstituiert: Sie entstehen durch Aktivitäten auf verschiedenen Ebenen (Sprache, Stimme, Mimik, Gestik).
• interaktiv hergestellt: Sie werden aus dem Wechselspiel von Handlungen aufeinander bezogener Teilnehmer hervorgebracht.
Ein psychotherapeutisches Gespräch entsteht Zug um Zug aus sprachlichen und nichtsprachlichen Handlungen der Teilnehmer, die ihre jeweils eigene Form von Kommunikation interaktiv herstellen und sich dabei an Zielen und Aufgaben orientieren. Sie definieren und konstruieren ihre soziale Situation »Psychotherapie« im zeitlichen Verlauf als Produkt ihres gemeinsamen Handelns. Wie dies abläuft und was sie dabei tun, dass es zu einem psychoanalytischen oder einem kognitiv-verhaltenstherapeutischem Gespräch wird, lässt sich rekonstruieren, wenn man Therapiegespräche audiovisuell aufnimmt und die Prozesse gesprächsanalytisch untersucht. Die therapeutischen Techniken der verschiedenen Verfahren, die in Form sprachlicher Interventionen eingesetzt werden, müssen in Gesprächsverhalten übersetzt werden, um wirksam zu werden. Da der Gesprächsablauf immer Produkt aller Beteiligter ist, können sie auch nur gemeinsam eine Gesprächssituation realisieren, in der therapeutische Konzepte von Interventionen sprachlich Gestalt annehmen. Beispielsweise kann eine Deutung nur stattfinden, wenn ein Patient vorher Material berichtet hat, auf das sich die Deutung beziehen kann. Sie kann nur eine Wirkung entfalten, wenn sie für den Patienten in irgendeiner Weise anschlussfähig, verständlich, nachvollziehbar ist und sich als Thema etablieren lässt.
Psychodynamische Psychotherapien sind die ältesten und in der Praxis nach wie vor am häufigsten zur Anwendung kommenden psychotherapeutischen Verfahren.1 Sehr verallgemeinert gesprochen soll in psychodynamischen Psychotherapien die psychische Dynamik des Patienten zum Thema werden, indem sie in der Beziehung zum Therapeuten interpsychisch inszeniert, erfahrbar wie verbalisierbar und so der Veränderung zugänglich gemacht wird. Neben den allgemein gültigen Richtlinien gibt es besondere vorgegebene Rahmenbedingungen und Handlungsschemata der psychodynamischen Verfahren, die die Kommunikationsmöglichkeiten in der Therapiesituation beeinflussen. Beispielsweise verändert die behandlungstechnische Vorgabe des liegenden Settings in der klassischen Analyse die Möglichkeiten, nichtsprachliches Verhalten zur Kommunikationsregulierung und Gesprächsorganisation einzubeziehen. Oder eine Realisierung der behandlungstechnischen Maxime der Übertragungsanalyse, die das gegenwärtige Beziehungsgeschehen fokussiert, führt zwangsläufig zu einer Intensivierung von Metakommunikation – also der Kommunikation über die gerade stattfindende Kommunikation zwischen Therapeut und Patient.
Das Erstgespräch einer psychodynamischen Psychotherapie lässt sich als eigenständige Einheit betrachten, die gegenüber späteren Sitzungen spezifische Funktionen zu erfüllen hat:
• Es dient der Diagnostik und Indikationsstellung, was vor allem bedeutet, die grundsätzliche Eignung eines Patienten für ein analytisches Verfahren zu prüfen.
• Dem Patienten soll ein Raum zur Verfügung gestellt werden, in dem er seine Psychodynamik in Grundzügen bereits inszenierend zur Darstellung bringen kann.
• Der Patient soll die analytische Arbeitsweise von Anfang an erleben, um einen Eindruck davon zu erhalten, worauf er sich einlässt.
• Schließlich soll eine gegenseitige Beziehungsaufnahme stattfinden, um zu prüfen, ob beide zusammenpassen und Aussicht besteht, dass sich mit der Zeit ein stabiles Arbeitsbündnis entwickeln kann.
Es bestehen zahlreiche behandlungstheoretische Beschreibungen, in denen idealtypisch und oft normativ vorgegeben wird, wie ein psychodynamisches Erstgespräch abzulaufen hat, unterlegt mit einzelnen retrospektiv formulierten Fallbeispielen (Shapiro, 1984; Armstrong, 2000; Argelander, 1970; Eckstaedt, 1995). Es gibt aber kaum detaillierte empirische Untersuchungen, wie solche Erstgespräche realiter ablaufen und interaktiv hergestellt werden (Wilke, 1992). Allgemein gilt für Psychotherapien, dass oft schon der Verlauf der Erstgespräche darüber entscheidet, ob Patienten sich für eine Therapie motivieren lassen, ob sie die passende Therapieempfehlung erhalten und Hoffnung gewinnen, ihre Probleme lösen zu können. Gleichwohl sind all diese Prozesse, wie Eckert, Barnow, Richter (2010, S. 10) konstatieren, in der ersten Begegnung bisher noch nicht ausreichend erforscht.
In der psychoanalytischen Tradition der Beschäftigung mit dem Erstgespräch stand bisher die Inszenierung der inneren Psychodynamik des Patienten im Zentrum des Interesses. Das Gespräch soll so gestaltet werden, dass bereits im Erstkontakt eine nicht direkt beobachtbare und als konflikthaft gedachte psychische Realität aus dem sprachlichen und nichtsprachlichen Interaktionsverhalten erschlossen werden kann (Argelander, 1970; Laimböck, 2000; Wegner, 2000). Der Charakter des Gesprächs und die gemeinsame Kommunikation interessierten insofern, wie sie diesen Prozess ermöglichen oder behindern. Folgerichtig wurden vor allem normativ therapeutische Haltungen formuliert (Abstinenz, Neutralität, gleichschwebende Aufmerksamkeit), aus denen dann die passende Gesprächsführung des Therapeuten entstehen soll.
Die neueren Entwicklungen innerhalb der Psychoanalyse führen dazu, kommunikative Prozesse vielmehr als gemeinsames Produkt von Therapeuten und Patienten zu begreifen. Das frühe monadische Denken, in dem ein Psychoanalytiker unabhängig und abstinent von außen die Dynamik zwischen den psychischen Instanzen im Inneren des Patienten deutet und bewusst macht, ist mehr und mehr einem intersubjektiven Verständnis gewichen, das alles, was im therapeutischen Prozess geschieht, als gemeinsame intersubjektive Konstruktion wechselseitiger Beeinflussung ansieht (Stolorow, Branchaft & Atwood, 1996; Mitchell, 2000; Altmeyer, 2011). Diese veränderte Sichtweise wurde zwar inzwischen hinlänglich mit ganz unterschiedlichen Konzepten und Begrifflichkeiten theoretisch beschrieben und anhand von Fallberichten aus Sicht der Analytiker erläutert, die empirische Analyse interaktioneller Prozesse des Therapiegeschehens steht aber noch am Anfang. Nachdem die Wirksamkeit psychodynamischer Therapien inzwischen belegt ist (Shedler, 2011), gilt das Verständnis dieser Prozesse als zentrales Forschungsdesiderat in der Psychoanalyse (Fonagy, 2010, zitiert nach Altmeyer, 2011, S. 110). Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung reicht es nicht mehr, psychodynamische Erstgespräche nur unter der einseitigen Perspektive normativ formulierter Anleitungen für ein therapeutisches Handeln zu betrachten, das günstige Bedingungen für die Beobachtung der Psychodynamik des Patienten schafft. Es sollte vielmehr darum gehen, die interaktionellen Konstruktionsprozesse, aus denen psychodynamische Erstgespräche im aufeinander bezogenen Handeln von Therapeuten und Patienten entstehen, zu untersuchen und zu verstehen.
Schon länger existiert eine Tradition linguistischer Erforschung von Psychotherapie (Labov & Fanshels, 1977; Koerfer & Neumann, 1982; Flader & Grodzicki, 1982; Egbert & Bergmann, 2004; Deppermann & Lucius-Hoene, 2005; Heritage & Maynard, 2006; Scarvaglieri, 2011; Gülich, 2012; Streeck, 2012). Allerdings verlief diese Forschung bisher unsystematisch und mit wenig wechselseitigen Bezügen. Die verschiedenen Autoren untersuchten unabhängig voneinander verschiedene Aspekte der Gespräche, wobei die Ergebnisse kaum integriert wurden (Scarvalgieri, 2011). Detaillierte Interaktionsprozesse mit qualitativen Forschungsmethoden gesprächsanalytisch zu untersuchen ist aufwendig, zudem dauern psychoanalytische Therapien oft sehr lange und liefern entsprechend viel Untersuchungsmaterial. Dies sind zwei Gründe, warum sich bisherige linguistische Arbeiten zur Psychoanalyse entweder auf einzelne Phänomene wie Schweigen, Hörersignale oder Deutungen konzentriert haben oder nur Einzelfälle als Datengrundlage heranzogen. Erstgespräche, die sich wie beschrieben als besondere und eigenständige Einheiten innerhalb einer psychodynamischen Psychotherapie betrachten lassen, bieten sich deshalb als klar abgrenzbarer Untersuchungsgegenstand an, um unterschiedliche Aspekte psychodynamischer Gesprächskompetenzen erfassen und integrieren zu können.
Es lassen sich zwei unterschiedliche Perspektiven auf psychodynamische Erstgespräche unterscheiden: Auf der einen Seite interessieren sich psychoanalytische Forscher vor allem für die Psychodynamik im Inneren des Patienten, die in der Begegnung sichtbar gemacht werden sollte, und vernachlässigen dabei den Gesprächscharakter und die gemeinsame Kommunikation. Auf der anderen Seite interessieren sich die sprachwissenschaftlichen Untersuchungen für die Besonderheiten dieses Gesprächstyps, untersuchen die beobachtbare Kommunikation und klammern die psychodynamischen und intentionalen Prozesse im Patienten aus. Die psychoanalytischen Abhandlungen nehmen somit vor allem das »Was« in den Blick, den Inhalt der Gespräche und die unbewusst wirksamen Motive des Patienten, während sprachwissenschaftliche Untersuchungen das »Wie«, die Form und die Kommunikation zwischen Therapeut und Patient beleuchten.
Seit einiger Zeit lässt sich in verschiedenen wissenschaftlichen und (wissenschafts-) politischen Kontexten wie zur Beschreibung von »good practice« in unterschiedlichen Berufsfeldern eine häufige und weit verbreite Verwendung des Kompetenzbegriffs beobachten. In den letzten 15 Jahren sind im Zuge der sogenannten »kompetenzorientierten Wende« vor allem in der Soziologie, der Pädagogik und der Psychologie zahlreiche Arbeiten erschienen, die sich der inzwischen häufig auch kritisch reflektierten Verwendung des Kompetenzbegriffs widmen (Pfadenhauer, 2010, S. 149). In den einzelnen Disziplinen existieren engere oder umfassendere Definitionen von Kompetenz (Pfadenhauer, 2010; Vonken, 2005), dabei lassen sich allgemein drei Komponenten des Kompetenzbegriffs bestimmen, von denen jeweils bestimmte Aspekte in den verschiedenen Definitionen mehr oder weniger betont werden: die Fähigkeit, die Bereitschaft und die Zuständigkeit zur Aufgabenbewältigung oder zum Handeln in einem bestimmten Kontext.
In der Psychologie fand der Kompetenzbegriff lange insbesondere in der differentiellen und der pädagogischen Psychologie Anwendung. Dort ist er vor allem im Kontrast zur Intelligenzmessung bestimmt als erlernbare »kontextspezifische Leistungsdispositionen« (Klieme, Maag-Merki & Hartig, 2007, S. 6).
Seit einigen Jahren erfährt der Kompetenzbegriff eine verstärkte Verwendung und hohe Wertschätzung, vor allem von Amerika ausgehend, mit dem Ziel, Fähigkeiten zu professionellem psychologischem Handeln zu definieren und zu messen. Eine Wende hin zu einer »Kultur der Kompetenz« (Roberts, Borden & Christiansen, 2005) wird gefordert. Die Amerikanische Psychologische Vereinigung (APA), hat eine Task Force ins Leben gerufen, um zu bestimmen, was die zentralen Kompetenzen professioneller Psychologen ausmacht und wie diese Kompetenzen gemessen werden können (APA Task Force, 2006). Eine ähnliche Entwicklung zeigt sich in der Medizin. In den USA und England (Lemma, Roth & Pilling, 2012) gab es Bestrebungen, Basiskompetenzen professionellen ärztlichen und psychologischen Handelns zu bestimmen. Besonders berufspolitische Entscheidungen haben diese vorangetrieben. Je allgemeiner die Definitionen von professionellen psychologischen oder medizinischen Kompetenzen sind, umso eher finden Aspekte von Kommunikation und Gesprächsführung Berücksichtigung (Rider & Keefer, 2006, S. 626).
Auch für psychodynamische Therapien gibt es inzwischen einige Ansätze, eine kompetente von einer weniger kompetenten Praxis zu unterscheiden (Tuckett, 2004;Lemma, Roth & Pilling, 2012; Sarnat, 2010; Will, 2006; Kahl-Popp, 2004). Der erste stammte von Tuckett (2004). Er unterscheidet drei Bezugsrahmen im Sinne von Kompetenzebenen:
1. Der teilnehmend-beobachtbare Rahmen (wie gelingt es dem Analytiker in Beziehung mit dem Patienten zu sein und Unbewusstes wahrzunehmen?)
2. Der konzeptuelle Rahmen (wie gut kann der Analytiker das Wahrgenommene psychoanalytisch-theoretisch konzeptualisieren?)
3. Der Interventionsrahmen (wie gelingt es, das Wahrgenommene und konzeptionell Verortete in Worte zu fassen und Deutungen zu formulieren?)
Sowohl Sarnat (2010), der etwas andere Begriffe verwendet, als auch Will (2006), der die drei Bereiche in verschiedene untergeordnete Kompetenzen aufteilt, greifen Tucketts (2004) Unterscheidung auf. Kahl-Popp (2004) nimmt eine eigene, wenn auch ähnliche Bestimmung psychoanalytischer Kompetenzen vor und unterscheidet ebenfalls drei übergeordnete Kompetenzarten, denen sie verschiedene Fähigkeiten zuordnet:
1. Persönliche Kompetenz (psychische Plastizität; Empathie und eine weitgehende bedingungslose Annahme des Patienten; Fähigkeit Nicht-Wissen auszuhalten und dies nicht schuldhaft zu verarbeiten; Vertrauen des Therapeuten in die Wirksamkeit seines Konzepts).
2. Beziehungskompetenz (Verantwortung des Psychotherapeuten für die therapeutische Beziehung; intuitive kommunikative Didaktik; Begründung eines dauerhaften therapeutischen Arbeitsbündnisses; Gestaltung eines heilsamen Settings als Kontext der psychotherapeutischen Beziehung).
3. Konzeptkompetenz (eine plausible Erklärung für die Beschwerden des Patienten; ein Vorgehen, das die Beschwerden des Patienten lindert oder heilt; Bedeutung des Konzepts für Therapeut und Patient).
Bei der Betrachtung der verschiedenen Bestimmungen von Kompetenzen fällt auf, dass kommunikative Kompetenzen oder die Kompetenz ein psychotherapeutisches Gespräch zu führen, nicht oder kaum als erwähnenswert angesehen werden. Zwar gebraucht Kahl-Popp (2004, S. 408) den Begriff »intuitive kommunikative Didaktik«, meint damit aber die »Fähigkeit, sich in der Interaktion intuitiv auf die Entwicklungsbedürfnisse von Menschen einstellen zu können«. In den anderen Konzeptionen wird zwar die Fähigkeit zur Intervention hervorgehoben, aber es geht dabei ausschließlich um die Kompetenz der Deutung. Wie die Begriffsbestimmung bei Will (2006, S. 55) zeigt, wird diese inhaltlich definiert: »Die Deutung fasst unbewusste Motivation in Worte und macht sie dadurch bewusst. « Die weiteren knappen Ausführungen zur Deutungskompetenz beschränken sich im Hinblick auf ihre sprachliche Produktion darauf zu fordern, »in einfacher und klarer Sprache zu formulieren« (ebenda, S. 55). Ansonsten dreht sich die Kompetenzdiskussion zur Deutung um Fragen des Prozess-Timings (was wird wann im Prozess gedeutet?), ob hinreichend Übertragungsprozesse interpretiert werden und ob gleichermassen emotional wie intellektuell treffende Aussagen getätigt werden (Tuckett, 2004, S. 43; Sarnat, 2010).
Nicht nur in den Kompetenzkonzepten für die psychodynamische Psychotherapie, sondern auch in verhaltenstherapeutischen (Weck et al., 2010; Katzantzis, 2003) und allgemeinen psychotherapeutischen Konzeptionen (Linden, Langhoff & Milew, 2007, S. 54) spielen bisher kommunikative Kompetenzen oder Gesprächskompetenzen keine oder nur eine nebensächliche Rolle. Bei den Versuchen, die verschiedenen besonderen Fähigkeiten für professionelles psychotherapeutisches Handeln zu bestimmen, werden die Ebene der sprachlich und nichtsprachlich vermittelten Kommunikation und Interaktion, die bei den allgemeinen Kompetenzkriterien für professionelles medizinisches oder psychologisches Handeln noch erwähnt werden, weitgehend ausgeblendet.
In den Sprachwissenschaften ist der Kompetenzbegriff durch Chomskys (1965) Unterscheidung von Kompetenz und Performanz populär geworden. Während Chomsky unter Performanz die situative Sprachanwendung versteht, bezeichnet er mit Kompetenz ein mental repräsentiertes System von Regeln und Prinzipien, das den Sprachteilnehmer in die Lage versetzt, beliebige Sätze einer Sprache zu formulieren und zu verstehen. Diesem Verständnis einer letztlich angeborenen Sprachkompetenz, dass von realen Gesprächssituationen abstrahiert, stellte Hymnes (1971) die kommunikative Kompetenz gegenüber, womit er die Fähigkeit zum kontextabhängigen Gebrauch einer Sprache in unterschiedlichsten Situationen bezeichnet. In der Linguistik sind seitdem verschiedene, ausdifferenzierte und integrative Konzeptionen von Sprachkompetenz als Fähigkeit eine Sprache sprechen und verstehen zu können, ausgearbeitet worden, die beide Aspekte verbinden (Knapp & Lehmann, 2007; Canale & Swain, 1980).
Der Gebrauch des Konzepts der kommunikativen Kompetenz hat sich bald von der Frage des Erwerbs und der Produktion einer Sprache abgelöst. Das Konzept der kommunikativen Kompetenz wird heute allgemeiner im Sinne der Fähigkeit zu erfolgreichem kommunikativem, das bedeutet symbolisch, sprachlich wie nichtsprachlich, vermitteltem sozialem Handeln in spezifischen Kontexten verwendet (Reichertz, 2010). Dabei bezeichnet »erfolgreich«, die Fähigkeit Ziele und Gesprächsaufgaben kommunikativ realisieren zu können.
Die empirische Gesprächsforschung tut sich bisher schwer mit dem Konzept der Kompetenz. Sie ist, wie Deppermann (2004) konstatiert, an der Beobachtung realen interaktiven Gesprächshandelns interessiert und somit auf die Faktizität und die Performanz ausgerichtet. Sie fragt danach, mit welchen Mitteln und nach welchen Regeln Gesprächspartner ihre Interaktion konstruieren. Kompetenz ist als Individuen zugeschriebener Potentialitätsbegriff aus Sicht der Gesprächsforschung ein nicht beobachtbares Konstrukt, das zudem ein normatives Verständnis davon voraussetzt, was als kompetentes und was als weniger kompetentes Gesprächsverhalten zu klassifizieren ist (Bendel, 2004). Die Suche nach Kompetenzkriterien erfordert eine Vorstellung davon, wie ein Gespräch im optimalen Fall ablaufen sollte und kann sich nicht darauf beschränken zu rekonstruieren, wie es normalerweise abläuft.
Trotzt dieses Widerspruchs gibt es in der empirischen Gesprächsforschung Ansätze, ein Konzept von Gesprächskompetenzen zu entwickeln. Letztere wird eher als die »Fähigkeit zur verständigungsorientierten, interaktiven Kooperation« verstanden und weniger als »die Fähigkeit zum individuell erfolgreichen Kommunizieren« (Deppermann, 2004, S. 25). Teilweise wird der Begriff Gesprächskompetenz im Singular im Sinne einer allgemeinen Kompetenz zur Führung von Gesprächen überhaupt verwendet, die verschiedene Dimensionen von untergeordneten Fähigkeiten umfasst (Becker-Mrotzek, 2009). Brendel (2004) schlägt stattdessen vor, von situations- und kontextspezifischen Kompetenzen zu sprechen, die zur Bewältigung von Gesprächsaufgaben in einem bestimmten Gesprächstyp gebraucht werden. Im Folgenden wird in diesem Sinne von psychodynamischen Gesprächskompetenzen gesprochen.
Die Grundidee des gesprächsanalytischen Zugangs zur Kompetenz ist, die notwendigen Kriterien für die Kompetenzbeurteilung möglichst weitgehend in Form von deskriptiven Normen (Fiehler & Schmitt, 2004; Deppermann, 2004) aus der empirischen Analyse realer Gespräche heraus zu gewinnen. Erst wenn man für einen bestimmten Gesprächstyp, etwa ein Beratungsgespräch, verschiedene reale Gesprächsverläufe untersucht hat, lässt sich rekonstruieren, ob ein spezielles Gesprächsverhalten für die Erreichung von Zielen, für die Lösung spezifischer Gesprächsaufgaben oder für eine bestimmte interaktive Wirkung auf den Gesprächspartner erfolgsversprechender ist als andere. Dafür muss aber zunächst geklärt werden, welches die Zielsetzungen und die zu lösenden Probleme eines Gesprächs sind. Diese ergeben sich aus dem Aufeinandertreffen der Ziele und Aufgaben eines besonderen Gesprächstyps mit den Grundeigenschaften von Gesprächen, wie sie oben referiert wurden, die bestimmte typische Möglichkeiten für Problemstellungen mit sich bringen (Deppermann, 2004; Fiehler & Schmitt, 2004).
Deskriptiv zu ermittelnde Normen sind daher kontextspezifisch und an bestimmte Gesprächstypen gebunden. Gleichwohl ergeben sich die normativen Urteile niemals vollständig aus der empirischen Analyse, sondern erfordern weitere normative Bezugssysteme. Beispielsweise braucht es Entscheidungen über die Ziele eines Gesprächs und was eine kompetente Zielerreichung ausmacht. Auch die Definition der Gesprächsprobleme und ihrer optimalen Lösung ergibt sich nicht ohne weiteres aus der Beobachtung.
Wie steht es bisher um eine Konzeption von therapeutischen Gesprächskompetenzen für psychodynamische Erstgespräche? Wie lässt sich der aktuelle Forschungsstand vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen skizzieren?
1. Es gibt normative und idealtypische Konzeptionen, wie ein psychodynamisches Erstgespräch verlaufen sollte.
2. Diese Konzeptionen werden aus den psychodynamischen Behandlungstheorien funktional begründet.
3. Die Verhaltensanweisungen an den Therapeuten begründen sich aus den Zielen und Funktionen und geschehen in Form von behandlungstechnischen Konstrukten wie Arbeitsbündnis, Abstinenz, Neutralität oder gleichschwebende Aufmerksamkeit.
4. Es gibt erste Ansätze, um Kompetenzen psychodynamischer Psychotherapeuten zu definieren. Diese Kompetenzen sind bisher nicht speziell auf psychodynamische Erstgespräche zugeschnitten.
5. Die bisherigen Definitionen von Kompetenzen vernachlässigen, dass die Therapie als Gespräch abläuft und jedes behandlungstechnische Element in Form von sprachlichen und nichtsprachlichen Handlungen realisiert werden muss.
6. Jede Bestimmung von psychodynamischen Kompetenzen, die Gesprächskompetenzen unberücksichtigt lässt, ist deshalb unvollständig.
7. Aussagen zu psychodynamischen Gesprächskompetenzen sollten auf Basis empirischer Analysen realer Gesprächsverläufe getroffen werden, die es ermöglichen, im Kontext spezifischer Gesprächsziele, -aufgaben und -probleme deskriptive Normen heranzuziehen, um kompetentere von weniger kompetenten Gesprächshandlungen zu unterscheiden.
In diesem Buch werden therapeutische Gesprächskompetenzen für psychodynamische Erstgespräche erarbeitet. Dabei bedarf es eines transdisziplinären Brückenschlags zwischen Psychoanalyse, spezieller psychodynamischer Behandlungstheorie und -technik auf der einen sowie empirischer Gesprächsforschung auf der anderen Seite. In der empirisch gestützten Konzeptualisierung psychodynamischer Gesprächskompetenz werden beide Disziplinen integriert, was aus folgenden Überlegungen heraus für beide Seiten eine Innovation darstellt:
A) Dass psychodynamische Therapieverfahren wirksam sind, ist inzwischen hinreichend belegt: Welche interaktionellen Prozesse dabei stattfinden, ist hingegen noch kaum untersucht. Es steht an, die Outcome-Forschung um eine Prozessforschung zu ergänzen, wobei qualitative Forschungsmethoden an Bedeutung zugenommen haben. Die im Rahmen der Arbeit vorgenommenen empirischen Gesprächsanalysen psychodynamischer Erstgespräche leisten einen innovativen Beitrag zu einer qualitativen Prozessforschung psychodynamischer Psychotherapien. Die Tradierung von Freuds berühmter Formulierung des Junktims von Heilen und Forschen hatte zu einem Verständnis von psychoanalytischer Prozessforschung geführt, wonach der Psychoanalytiker im therapeutischen Prozess forschend Beobachtungen macht und sie im Nachhinein in Fallberichten formuliert, wodurch die psychoanalytische Theoriebildung im Hinblick auf die Metapsychologie wie die Behandlungstechnik weiterentwickelt und ausdifferenziert wurden. Daraus ist im Laufe der Zeit ein inzwischen unübersichtlicher Pluralismus an Konzepten entstanden, den Fonagy (2010, zitiert nach Altmeyer, 2011, S. 110) mit dem Versuch erklärt, die hohe Komplexität des Geschehens im Therapieprozess begrifflich zu fassen und zu erklären. Letztlich hat dies aber zu einer großen Theoriekrise der Psychoanalyse geführt. Anstatt weiterhin vor allem neue, aus der Behandlungstheorie abgeleitete Konzepte zu entwickeln, so fordert Fonagy (ebenda), sollten die Interaktionen zwischen Analytiker und Analysand detailliert beschrieben werden. Diese Entwicklung führt von einer Prozessforschung, die aus den Beobachtungen des Analytikers im Behandlungsverlauf und deren nachträglicher Protokollierung aus seiner zwangsläufig intentionalen Sicht besteht, hin zu einer Prozessforschung, die auf der Basis von audiovisuellen Aufnahmen und Transkripten die beobachtbaren interaktionellen Prozesse, also das Gesprächsverhalten der Beteiligten analysiert. Dies impliziert zwangsläufig das Generieren eines empirisch fundierten Wissens über wechselseitige Beeinflussung durch sprachliches und nichtsprachliches Verhalten und daraus resultierende typische interaktionelle Konstellationen (Muster des Sich-zueinander-Positionierens). Dieses Wissen zu vermehren ist für das gegenwärtig in der Psychoanalyse vorherrschende intersubjektiven Paradigma, das sich auf die Identität und das Selbstverständnis des Analytikers auswirkt, von besonderer Bedeutung:
»Intersubjektiv orientierte psychoanalytische Identität sollte sich von dem Ziel leiten lassen, zu verstehen, wie die Gestaltung des beidseitigen Materials zu einer Szene das Erleben im Hier und Jetzt organisiert. Das impliziert eine nichtautoritäre, selektiv offene Haltung gegenüber dem Patienten, welche die Bereitschaft einschließt, in angemessener Form die eigene Beteiligung am Prozess zu erkennen zu geben. « (Ermann, 2011, S. 168)
B) Wie beschrieben gibt es zwar bereits eine längere linguistische Tradition der gesprächsanalytischen Untersuchung psychoanalytischer Gespräche, in der aber wenig systematisch und ohne wechselseitige Rezeption (Scarvaglieri, 2011) ganz unterschiedliche Gesprächsphänomene beschrieben wurden. Die bisherige Forschung trug zwar bei zu einem Verständnis davon, worin sich dieser Gesprächstyp von Alltagsgesprächen unterscheidet, vermied aber weitestgehend Aussagen über bessere oder schlechtere therapeutische Praxis. Sie lässt sich mit Brendel (2004) einer gesprächsanalytischen Grundlagenforschung zuordnen, die die Besonderheiten eines bestimmten institutionalisierten Gesprächstyps rekonstruiert.
Das Ziel, psychodynamische Gesprächskompetenzen für Erstgespräche zu bestimmen lässt sich hingegen als anwendungsorientierte Gesprächsforschung (Brendel, 2004) verstehen. Der zwar geforderte, aber bisher selten formulierte Anspruch, Gesprächskompetenzen aufgrund deskriptiver Normen zu bestimmen, die aus realen Gesprächen gewonnen wurden, bedeutet somit eine Erweiterung der bisherigen Gesprächsforschung zur Psychoanalyse. Dies umso mehr, weil die Fokussierung auf Erstgespräche eine umfassendere und systematischere Untersuchung zulässt. Die Bestimmung von Gesprächskompetenzen hat in der empirischen Gesprächsforschung bisher eher Projekt- und Möglichkeitscharakter (Deppermann, 2004) und kann so weiter erprobt und problematisiert werden.
Die hier vorgestellte transdisziplinäre Untersuchung von psychodynamischen Gesprächskompetenzen erfordert eine Erweiterung des traditionellen psychoanalytischen Vorgehens, da nicht vom idealtypischen oder optimalen, sondern vom realen Prozess ausgegangen wird. Umgekehrt führt sie bezogen auf die empirische Gesprächsforschung dazu, nicht mehr nur reale Gesprächsverläufe nachzuvollziehen, sondern sich über bessere Lösungen Gedanken zu machen. Verkürzt könnte man formulieren, die Psychoanalyse wird weniger normativ und die Gesprächsforschung normativer. Wobei sich bei genauerer Betrachtung zeigt, dass die postulierte Wertneutralität der empirischen gesprächsanalytischen Grundlagenforschung letztlich nicht durchzuhalten ist. Denn auch sie rekurriert beispielsweise bei der Beschreibung von Gesprächsverläufen auf Begriffe mit metaphorisch bedeutsamen und normativen Implikationen aus dem mechanisch-technischen Bereich wie Reparatur, Störung, Regel oder Muster und verfolgt zumeist unausgesprochen das normative Ideal eines reibungslosen und effizienten Gesprächs (Bendel, 2004, S. 74).
Die empirisch fundierte Bestimmung von Gesprächskompetenzen für psychodynamische Erstgespräche setzt neben der Kenntnis der Ziele und Aufgaben, wie sie sich aus der Behandlungstheorie und -technik ergeben, die Analyse realer Erstgespräche voraus. Die Untersuchung greift zurück auf den Korpus von psychodynamisch orientierten Erst- und Abklärungsgesprächen, die zwischen 1992 und 2006 an der Abteilung für Klinische Psychologie, Psychotherapie und Psychoanalyse des Psychologischen Instituts der Universität Zürich audiovisuell aufgenommen und zunächst nach den Regeln der Ulmer Textbank (Mergenthaler, 1992) und anschließend entsprechend der jeweiligen Fragestellung gesprächsanalytisch (Selting et al., 1998) nachtranskribiert wurden.
Es wurden fünf verschiedene Problembereiche und Aufgabenstellungen in psychodynamischen Erstgesprächen ausgewählt, die einerseits für die Zielsetzung und Funktionalität aus Sicht der Behandlungstheorie zentral sind und andererseits auf Grundeigenschaften und Problemstellungen von Gesprächen allgemein verweisen (Deppermann (2004):
1. In Erstgesprächen soll der Therapeut aus psychodynamischer Sicht einen intendierten, aus der Behandlungstheorie abgeleiteten Ablaufplan realisieren. Aus Sicht der Gesprächsforschung sind psychodynamische Psychotherapien Formen institutionalisierter Kommunikation, die sich durch Asymmetrien zwischen Therapeuten und Patienten in der Rollen- und Aufgabenverteilung wie in ihren Einflussmöglichkeiten im Gespräch auszeichnen. Für das Verständnis des Verlaufs von Erstgesprächen und um Wissen gesprächspraktischer Handlungsspielräume zu generieren, ist zu identifizieren, wer welche Steuerungs- und Beeinflussungsmöglichkeiten im psychodynamischen Erstgespräch besitzt und wie sie üblicherweise eingesetzt werden (Kap. 4.1).
2. In psychodynamischen Erstgesprächen soll die psychische Realität des Patienten exploriert und seine innerlich repräsentierte Welt der Objektbeziehungen partiell in der Begegnung mit dem Analytiker aktualisiert und inszeniert werden. Die behandlungstheoretische Diskussion dreht sich dabei traditionell um die angemessene therapeutische Haltung, um dieses Ziel zu erreichen. Im Mittelpunkt stehen dabei die Konzepte der Abstinenz und der Neutralität. Wenn eine neutrale therapeutische Haltung eine Exploration psychischer Realität ohne moralisches Urteilen ermöglichen und dadurch maßgeblich zum Gelingen eines psychodynamischen Erstgesprächs beitragen soll, reicht es nicht, wenn es bei einer inneren neutralen Einstellung des Therapeuten, bei der Intention neutral zu sein, bleibt. Vielmehr muss sie in Form eines neutralen kommunikativen Handelns interaktionell Wirkung entfalten. Die Frage ist, ob therapeutische Neutralität in psychodynamischen Gesprächen realisiert wird, welche Varianten neutralen therapeutischen Handelns zu finden sind, wie sie hergestellt werden und welche Folgen sie haben. Aus Sicht der Gesprächsforschung stellt sich die Frage, ob überhaupt und wenn ja, wie ein wertneutrales und nicht-urteilendes Sprechen realisiert wird und welche interaktionellen Folgen dies im Gesprächsverlauf hat (Kap. 4.2).
3. Ein wichtiges Ziel psychodynamischer Erstgespräche besteht darin, den Grundstein für eine gute therapeutische Zusammenarbeit zu legen. Hierfür hat sich sowohl in der psychoanalytischen Behandlungstheorie wie in der Psychotherapieforschung das Konzept des Arbeitsbündnisses bewährt. Aus Sicht der Gesprächsforschung sind wechselseitiges Verstehen, das Bemühen um gegenseitiges Verständnis und letztlich kooperatives Handeln Bedingungen für eine gelingende stabile Zusammenarbeit und das Erreichen der Gesprächsziele. Insbesondere am Beispiel der Themenentwicklung und von Themenwechseln wird der Frage nachgegangen, ob und in welcher Weise Therapeuten und Patienten im Erstgespräch kooperieren (Kap. 4.3).
4. Erstgespräche haben eine ganz besondere Bedeutung, sie sind in bestimmter Weise heikel. Therapeut und Patient sind sich noch fremd, bringen ihre je eigenen Erwartungen und Erfahrungen mit in das Gespräch. Ob und wie das Erstgespräch verläuft, besonders, wie der Patient die Zusammenarbeit erlebt und bewertet, hat weitreichende Folgen: Fühlt sich der Patient verstanden und erlebt den Therapeuten als kompetenten Gesprächspartner oder bleibt er missverstanden? Kommt es zu einer Fortsetzung der Zusammenarbeit, kann eine erfolgreiche Klärung des Anliegens erfolgen, ein passender Therapieplatz vermittelt, gar eine langfristige psychoanalytische Behandlung angebahnt werden oder mündet es in einem enttäuschten Abbruch? Für eine psychodynamische Gesprächskompetenz ist deshalb wichtig, ein handlungsleitendes Wissen darüber zu erwerben, wann und wie es im Erstgespräch zu Verständigungskrisen, Irritationen oder schweren Störungen in der Kommunikation kommen kann. Es wird untersucht, ob in den vorliegenden Erstgesprächen solche, die Interaktion belastende und auf die Probe stellende interaktionelle Phänomene zu finden sind, wie sie zustande kommen und wie sie sich gegebenenfalls reparieren lassen. Störungen und ihre Reparatur sind ein klassisches Thema der Gesprächsforschung (Kap. 4.4).
5. Psychodynamische Erstgespräche konstituieren sich durch sprachliches und nichtsprachliches Handeln. Nichtsprachliches Handeln ist schwierig und sehr aufwendig interaktionell zu untersuchen. Solche Studien werden zwar häufig gefordert, aber kaum realisiert, obwohl im Lichte neuerer Behandlungs- und Veränderungstheorien im impliziten Körpergedächtnis gespeicherte, präverbale und nicht-symbolisierte Erfahrungen der Patienten im Fokus therapeutischen Handelns stehen sollten. Über sie wird zunächst nicht gesprochen, sie werden vielmehr nicht sprachlich, sondern körperlich-handelnd mitgeteilt und führen zu entsprechenden nichtsprachlichen, körperlichen Formen sich zueinander zu positionieren und miteinander zu interagieren. Am Beispiel des Blickverhaltens zu Beginn von Erstgesprächen wurde eine erste Pilotstudie zu nichtsprachlichem Verhalten durchgeführt und das Wechselspiel zwischen sprachlichem und nichtsprachlichem Verhalten untersucht. Die dabei zu lösenden Probleme aus Sicht der Gesprächsforschung sind die parallele Beachtung und Integration verbalen und non-verbalen Verhaltens (Kap. 4.5).
Zu fünf zentralen Aufgaben- und Problemstellungen psychodynamischer Erstgespräche (Gesprächssteuerung, Neutralität, Kooperation, Irritation und Störung, nichtsprachliches Handeln) werden aufgrund gesprächsanalytischer Untersuchungen deskriptive Normen entwickelt, die für eine Beurteilung von kompetenterem oder weniger kompetentem psychodynamischem Gesprächsverhalten in Erstgesprächen herangezogen werden können.
Das Buch beginnt mit einer kurzen, aktuellen Bestimmung psychodynamischer Psychotherapie und erläutert die besondere Bedeutung des Erstgesprächs (Kap. 2.1–2.2). Im dritten Teil wird die aus der Ethnomethodologie stammende gesprächs- und konversationsanalytische Methodik in ihrer praktischen Relevanz erläutert, gefolgt von einem Überblick über bisher erfolgten konversations- und gesprächsanalytischen Studien zur Psychotherapie allgemein und speziell zu psychodynamischen Verfahren (Kap. 3).
Anschließend werden die fünf erläuterten Problem- und Aufgabenstellungen psychodynamischer Erstgespräche untersucht (Kap. 4). Zum Schluss werden die Ergebnisse im Hinblick auf die Frage einer psychodynamischen Gesprächskompetenz integriert und auch gemeinsam mit dem methodischen Vorgehen kritisch diskutiert (Kap. 5).
Bei diesem Buch handelt es sich um eine überarbeitete Fassung meiner Habilitationsschrift, die von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich angenommen wurde. Die Gesprächsausschnitte, die in diesem Buch verwendet werden, stammen von der Abteilung für Klinische Psychologie, Psychotherapie und Psychoanalyse des Psychologischen Instituts der Universität Zürich. Über viele Jahre hinweg gab es dort eine psychotherapeutische Praxisstelle2. Von Anfang an waren dort Beratung und Therapie, Forschung und Lehre sowie die psychotherapeutische Weiterbildung der Mitarbeiter miteinander verknüpft. Zum Großteil fanden psychologische Beratungen und Abklärungen sowie die Vermittlung von Therapieplätzen statt, die in der Regel zwischen einer und fünf Sitzungen umfassten, aber auch längerfristige Psychotherapien. In der Regel waren die Assistenten, Oberassistenten und wissenschaftlichen Mitarbeiter, sofern sie sich in einer psychotherapeutischen Weiterbildung befanden oder diese abgeschlossen hatten, auch an der Praxisstelle tätig. Somit unterschieden sich die Mitarbeiter hinsichtlich ihres Weiterbildungsstandes und ihrer Berufserfahrung beträchtlich. Dies entspricht den meisten Beratungsstellen oder Ambulanzen, an denen oft Ärzte oder Psychologen in Weiterbildungen die Beratungen durchführen. In regelmäßigen Indikationsbesprechungen mit der Leitung der Praxisstelle oder einem externen Supervisor wurden die einzelnen Patienten besprochen.
Entsprechend der Ausrichtung des Lehrstuhls war auch die Praxisstelle psychodynamisch orientiert, obwohl während vieler Jahre auch Verhaltenstherapeuten angestellt waren und methodenintegrative und zum Teil störungsspezifische Beratungen und Therapien stattfanden. Die Praxisstelle stand grundsätzlich allen Personen innerhalb und außerhalb der Universität Zürich offen, mit Ausnahme von Psychologiestudenten. Am früheren Standort der Abteilung im Stadtzentrum war die Praxisstelle mit einem Videolabor verknüpft. Seit den 1970er Jahren bis 2006 wurden viele Beratungsgespräche, sofern die Patienten einverstanden waren, auf Video- oder Tonband aufgenommen. So entstand ein umfangreiches Videoarchiv, das in Forschung und Lehre eingesetzt wurde. In den letzten beiden Jahrzehnten lag der Schwerpunkt im Bereich Narrationsforschung von Psychotherapie (Luder & Schnell, 2010; Luder, Neukom & Thoman, 2000).
Die in diesem Buch verwendeten konversationsanalytischen Transkripte sind meistens auf der Basis von bereits bestehenden Verschriftlichungen von den Lizentiandinnen und Lizentianden aus meiner Forschungsgruppe Qualitative Psychotherapieforschung erstellt worden, die an die Abteilung für Klinische Psychologie, Psychotherapie und Psychoanalyse des Psychologischen Instituts der Universität Zürich angebunden war. Die Aufnahmen und die Transkripte wurden mit Zustimmung der Patienten angefertigt. Die gesprächsanalytischen Untersuchungen in Kapitel 4 sind durch viele Anregungen aus der gemeinsamen Projektarbeit und den Lizentiatsarbeiten meiner ehemaligen Studentinnen und Studenten beeinflusst, was jeweils im Einzelnen gekennzeichnet und zitiert ist. Ihnen allen bin ich deshalb an erster Stelle zum Dank verpflichtet: Andreas Rutishauser, Rebecca Saladin, Elfrun Spohr, Pamela Walker, Roland Weber und Vania Zschokke. Für die Möglichkeit, diese Projektgruppe während mehrerer Jahre durchführen zu können, ihr immerwährendes Interesse an der Diskussion von Therapietranskripten, viele wertvolle Anmerkungen zu diesem Buch, aber vor allem für ihre langjährige Unterstützung und Ermutigung, diese Arbeit fertigzustellen, danke ich ganz besonders Frau Professor Brigitte Boothe. Ohne eine partielle Freistellung von meinen therapeutischen Leitungsfunktionen in der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen hätte ich nicht die Zeit finden können, die Habilitationsschrift zum Abschluss zu bringen. Dafür danke ich Dr. med. Dipl. Psych. Gerhard Dammann, Chefarzt und Spitaldirektor, Professor Dr. med. Isa Sammet, Leitende Ärztin Psychotherapie, Dipl. Psych. Angela Liesner, Stationspsychologin, sowie dem ganzen Team der Station für Adoleszenzpsychiatrie und -psychotherapie. Dr. phil. Hanspeter Mathys und Dr. Claus Knoth schließlich danke ich für die kritische Lektüre des Textes und ihre Verbesserungsvorschläge.
1 Zur Verwendung der Begriffe »Psychoanalyse« und »Psychodynamische Psychotherapie« vgl. Kapitel 2.1.
2 Die Leitung lag bis Anfang 2013 bei Professor Brigitte Boothe, initiiert wurde sie von Professor Ulrich Moser.
Psychodynamische Psychotherapie ist heute der auch international gebräuchliche Oberbegriff für die aktuellen Weiterentwicklungen der von Sigmund Freud begründeten Psychoanalyse (Beutel et al., 2010; Shedler, 2011, S. 265), die im klinischen Kontext als Persönlichkeits-, Krankheits- und Behandlungstheorie charakterisierbar ist. Bei diesen Verfahren geht es um die Bearbeitung von unbewussten Konflikten und strukturellen Störungen der Persönlichkeitsentwicklung in einer therapeutischen Beziehung, unter besonderer Berücksichtigung von Übertragung und Gegenübertragung. Sie verfügen über ein elaboriertes, sich in stetem Wandel befindliches Theoriegebäude zur menschlichen Entwicklung sowie zur Entstehung und Behandlung von psychischen Erkrankungen. Seit ihrem Entstehen vor über 100 Jahren sind innerhalb der Psychoanalyse eine Vielzahl von Theorien und behandlungstechnischen Modellen konzipiert worden, die aufgrund klinischer Erfahrungen und empirischer Forschungsergebnisse weiterentwickelt oder widerlegt worden sind (Neukom, Grimmer & Merk, 2011).
Die Psychoanalyse hat sich neben der sozialrechtlichen Differenzierung inzwischen in eine Vielzahl unterschiedlichster Behandlungsformen und Terminologien verästelt (Beutel et al., 2010). Dies hat teilweise zu einer regelrechten Sprachverwirrung geführt. Die Unterschiede zwischen Bezeichnungen wie »psychoanalytische« oder »psychoanalytisch orientierte Psychotherapie«, »psychodynamische« oder »psychodynamisch orientierte Psychotherapie«, »Psychoanalyse« und »Tiefenpsychologie« sind kaum mehr nachzuvollziehen.3 Der Wissenschaftliche Beirat Psychotherapie (WBP, 2005a, 2005b), der in Deutschland die Wissenschaftlichkeit und Wirksamkeitsnachweise psychotherapeutischer Verfahren beurteilt, kommt zum Schluss, dass es keine wissenschaftliche Grundlage für die Unterscheidung in verschiedene psychoanalytische Verfahren gibt. Er schlägt deshalb vor, nur noch den Begriff »Psychodynamische Psychotherapie« für alle psychoanalytischen Behandlungsverfahren zu verwenden und definiert ihn folgendermaßen:
»Die Psychodynamische Psychotherapie (PP) gründet auf der Psychoanalyse und ihren Weiterentwicklungen. Die Behandlungsprinzipien der PP bestehen in einer Bearbeitung lebensgeschichtlich begründeter unbewusster Konflikte und krankheitswertiger psychischer Störungen in einer therapeutischen Beziehung unter besonderer Berücksichtigung von Übertragung, Gegenübertragung und Widerstand. Dabei wird je nach Verfahren stärker im Hier und Jetzt oder im Dort und Damals gearbeitet, die Stundeninhalte sind je nach Verfahren strukturierter (Technik: Fokussierung) oder unstrukturierter (Technik: freie Assoziation) und der Therapeut greift jeweils auf eine stärker aktive oder eher zurückhaltende Interventionstechnik zurück. « (WBP, 2005b)
In Deutschland werden zwischen 50 und 65 Prozent aller Behandlungen in der ambulanten Praxis mit diesen Verfahren durchgeführt; im stationären Bereich dürfte der Anteil ähnlich hoch sein (Beutel et al., 2010; WBP, 2005a; Brandl et al., 2004). In der Schweiz lag der Anteil der analytischen Verfahren im Bereich Psychotherapie im Jahr 2007 bei 44 Prozent und damit deutlich höher als der jeder anderen Therapiemethode (Schweizer, Camenzind & Schuler, 2007). Diese Verhältnisse zeigen, dass den psychoanalytisch orientierten Behandlungsverfahren eine hohe Versorgungsrelevanz zukommt.