Psychotherapie und Neurobiologie - Jürgen Brunner - E-Book

Psychotherapie und Neurobiologie E-Book

Jürgen Brunner

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Beschreibung

Die neurobiologische Forschung beschäftigt sich aktuell mit den Auswirkungen von biographischen Erfahrungen auf das Gehirn. Die komplexe Interaktion von genetischen Faktoren und Umwelteinflüssen wird intensiv untersucht. Frühe Bindungserfahrungen, aber auch Vernachlässigung und Traumatisierungen hinterlassen molekulare Spuren und verändern nachhaltig die Genregulation. Eine Brücke zwischen Biographie und Biologie schlägt die moderne Epigenetik, die eine prominente Stellung im Buch einnimmt. Im Fokus steht der Ertrag neurowissenschaftlicher Erkenntnisse für die psychotherapeutische Praxis. Die häufige Überinterpretation von Bildgebungsstudien, der verbreitete neurobiologische Reduktionismus und mögliche Gefahren des neurobiologischen Paradigmas für die Psychotherapie werden offen diskutiert.

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Jürgen Brunner

Psychotherapie und Neurobiologie

Neurowissenschaftliche Erkenntnisse für die psychotherapeutische Praxis

Verlag W. Kohlhammer

»Psychologie als selbstständige Wissenschaft kann kaum bestehn. Denn die Phänomene des Denkens und Wollens lassen sich nicht gründlich betrachten, wenn man sie nicht zugleich ansieht als Wirkungen physischer Ursachen im Organismus: daher setzt sie Physiologie voraus, und diese Anatomie: sonst bleibt sie höchst oberflächlich […].«

Arthur Schopenhauer (1826)

 

 

 

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

 

 

1. Auflage 2017

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Grafiken 4, 8, 9, 18, 22: Angelika Kramer, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-029969-6

E-Book-Formate:

pdf:     ISBN 978-3-17-029970-2

epub:  ISBN 978-3-17-029971-9

mobi:  ISBN 978-3-17-029972-6

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

 

Inhalt

 

 

Geleitwort

Vorwort

1 Gegenseitige Annäherung von Psychotherapie und Neurobiologie

1.1 Freuds Zukunftsvision einer neurobiologisch fundierten Psychotherapie

1.2 Das spannungsreiche Verhältnis von Psychotherapie und Neurobiologie

1.3 Die moderne Epigenetik: Brücke zwischen Genetik und Umwelteinflüssen

1.4 Möglicher Nutzen der Neurobiologie für die Psychotherapie

1.5 Nachteile und Risiken des neurobiologischen Paradigmas für die Psychotherapie

1.6 Auf dem Weg zu einer Encephalotherapie?

1.7 Welche Erkenntnisse der Neurobiologie sind für die Psychotherapie besonders relevant?

2 Gen-Umwelt-Interaktion: die komplexe Interaktion zwischen genetischen Faktoren und biographischen Einflüssen

2.1 Umweltfaktoren beeinflussen das Depressionsrisiko stärker als die Genetik

2.2 Dysregulation der neuroendokrinen Stressachse nach Traumatisierung in der Kindheit

2.3 Nicht Gene oder Umwelt, sondern Gen-Umwelt-Interaktion

2.4 Ein Meilenstein zur Gen-Umwelt-Interaktion: Genetische Varianten des Serotonintransportergens beeinflussen die Verarbeitung von belastenden Lebensereignissen

2.5 Weitere genetische Risiko- und Resilienzfaktoren interagieren mit Kindheitstraumata

2.6 Fazit für die Praxis

3 Epigenetik: Frühkindliche Erfahrungen beeinflussen die Genregulation

3.1 Frühkindliche Belastungen hinterlassen psychobiologische Narben

3.2 Epigenetik: Bindeglied zwischen Biologie und Biographie

3.3 Traumata in der Kindheit verändern die Genregulation über epigenetische Mechanismen

3.4 Fazit für die Praxis

4 Bindung, Mentalisierung und Neurobiologie

4.1 Die basale Bedeutung von Bindung und Mentalisierung für die psychische Entwicklung

4.2 Biologie des Elternverhaltens und transgenerationale Weitergabe von Bindungsstilen

4.3 Regulation der Bindung durch Oxytocin und Arginin-Vasopressin

4.4 Biologische Grundlagen von Monogamie, Eltern-Kind-Bindung und Liebe

4.5 Fazit für die Praxis

5 Netzwerkmodelle und Psychotherapie-Effekte

5.1 Methodenkritische Einwände gegen Bildgebungsstudien

5.2 Netzwerkmodelle aus Bildgebungsstudien bei der Depression

5.3 Spekulative Wirkmechanismen von Psychotherapie und Psychopharmakotherapie nach dem Netzwerkmodell der Depression

5.4 Das neuronale Angstnetzwerk

5.5 Neurobiologische Effekte von Psychotherapie bei Angststörungen

5.6 Das Netzwerkmodell der posttraumatischen Belastungsstörung

5.7 Konsequenzen aus dem neurobiologischen Modell für die Trauma-Therapie

5.8 Fazit für die Praxis

6 Konsequenzen für die psychotherapeutische Praxis

6.1 Nachbeelternde Grundhaltung des Therapeuten bei Patienten mit Bindungs- und Mentalisierungsdefiziten

6.2 Komplementäre (motivorientierte) Beziehungsgestaltung

6.3 Ressourcenorientierung

6.4 Problemaktualisierung mit Bewältigungserfahrungen und Problemlösung verbinden

6.5 Vorbeugen ist besser als heilen

7 Literatur

8 Register

 

Geleitwort

 

 

Spätestens seit der Jahrtausendwende waren die Neurowissenschaften plötzlich »in« und wurden weit über den Kreis derer, die diese neurobiologische Wissenschaft betreiben, rezipiert und diskutiert. Zwei Faktoren, die zu dieser verblüffend starken Strömung beigetragen haben, waren die neuen technischen Möglichkeiten, mit den Mitteln der funktionellen Bildgebung dem Gehirn gewissermaßen beim Arbeiten zuzusehen – und die Erkenntnis, dass die Hardware des Nervensystems nach der Ausreifung nicht fest und unabänderlich vernetzt ist, sondern dass sie sich erfahrungsabhängig immer weiter verändern kann, also plastisch ist. Plötzlich war es auch unter Psychotherapeuten en vogue, sich für die Neurobiologie des Gehirns zu interessieren, nachdem es zuvor jahrzehntelang schon aus den vielzitierten »erziehlichen Gründen« Sigmund Freuds ein Unding war, dieses biologische Unterholz der Psyche gedanklich zu betreten.

Inzwischen ist die Begeisterung für die Neurobiologie merklich abgekühlt, die gleichen Autoren, die noch 2004 ein überoptimistisches »Manifest der Hirnforschung« veröffentlicht hatten, mussten 10 Jahre später eingestehen, dass ihre Hoffnungen auf die wissenschaftliche Aufklärung vieler Aspekte des menschlichen Erlebens und Verhaltens durch die Hirnforschung viel weniger realisierbar zu sein scheinen als damals angenommen. Auch die weitreichenden, jahrelang die Feuilletons füllenden Schlussfolgerungen, die Neurowissenschaftler aus ihren Modellen für menschliche Kernthemen wie Schuld und Freiheit gezogen haben, werden heute um einiges reservierter und differenzierter betrachtet.

Unterhalb dieser zunächst so hochfliegenden und jetzt wieder abebbenden Welle eines neurobiologischen »Hypes« gibt es aber durchaus einen stetig weiter anwachsenden Zuwachs an Erkenntnissen aus der neurobiologischen Forschung mit hoher Relevanz auch für Psychotherapeuten, z. B. zur Epigenetik belastender Lebensereignisse oder zur Biologie von Bindung und Mentalisierung. Andere Zugänge zur Neurobiologie, wie die funktionelle Bildgebung, werden in ihrer Bedeutung dagegen mittlerweile deutlich skeptischer beurteilt.

Es ist dies eine im besten Sinne ernüchterte, gute Zeit und eine gute Gelegenheit für ein Buch wie das hier von Jürgen Brunner vorgelegte. Und um es gleich zu sagen: Jürgen Brunner nutzt diese Gelegenheit in ausgezeichneter Weise für eine kenntnisreiche, differenzierte und ausgewogene Darstellung und Diskussion der wichtigsten Entwicklungen der Neurobiologie und ihrer Bedeutung für die Psychotherapie. Gestützt auf seine solide Ausbildung in einem Mekka der biologischen Psychiatrie, auf seine eigene psychotherapeutische Praxis und auch auf seine Erfahrungen in der Vermittlung dieses Wissens z. B. bei den Lindauer Psychotherapiewochen zeigt Brunner die Fähigkeit und den Mut, klare thematische Linien zu ziehen, die durchaus auch detailreich sind, aber ohne sich im Detail zu verlieren. Die einzelnen Themen werden mit ganz aktueller Literatur vorgestellt und immer auf ihre Relevanz für die Psychotherapie hin hinterfragt. Auch die historische und wissenschaftsphilosophische Einordnung dieser Themen gelingt ihm in sehr gut lesbarer Weise. Seine Darstellung des Nutzens, aber auch der möglichen Nachteile der Neurobiologie für die Psychotherapie ist letztendlich vor allem auch ein Plädoyer für eine moderne, aus alten Verkrustungen gelöste wissenschaftlich fundierte Psychotherapie. Nutzen also auch wir eine gute Gelegenheit: nämlich die, von einem Buch zu profitieren, in dem nicht ein neurobiologischer Experte den Psychotherapeuten sagt, wo es langgehen könnte oder sollte – sondern in dem uns einer, der selbst engagierter Psychotherapeut ist, vermittelt, warum ein besseres Verständnis für das neurobiologische Unterholz auch nach dem Abklingen der Welle für die eigene Arbeit viel gewinnbringender sein kann als wir lange gedacht haben.

 

München, im August 2016

Peter Henningsen

 

Vorwort

 

 

Die aktuelle neurowissenschaftliche Forschung zeigt eindrucksvoll, dass bestimmte genetische Risikokonstellationen nicht zwangsläufig zu einer psychischen Erkrankung führen. Belastende oder traumatische Lebensereignisse spielen eine wichtige Rolle bei der Pathogenese. Heute erforscht man intensiv die komplexe Interaktion zwischen genetischen Faktoren und biographischen Einflüssen. Im Fokus des neurowissenschaftlichen Interesses stehen die molekularen Auswirkungen frühkindlicher Erfahrungen. Neurowissenschaftler untersuchen, wie sich Interaktionserfahrungen in der Kindheit auf die Genregulation und auf neuronale Systeme auswirken. Man entschlüsselt auf subzellulärer Ebene die Mechanismen, wie Vernachlässigung, Missbrauch und Traumatisierung, aber auch Bindungserfahrungen dauerhafte psychobiologische Spuren hinterlassen. Die Brücke zwischen Biographie und Biologie schlägt die moderne Epigenetik. Dieses wichtige Forschungsgebiet nimmt im vorliegenden Buch eine prominente Stellung ein.

Im einführenden Kapitel ( Kap. 1) argumentiere ich gegen einen neurobiologischen Reduktionismus. Es ist mir ein Anliegen, nicht nur auf den Erkenntnisgewinn und den möglichen Nutzen der Neurobiologie für die psychotherapeutische Praxis hinzuweisen, sondern gerade auch mögliche Gefahren des neurobiologischen Paradigmas kritisch zu diskutieren. Die Themen Gen-Umwelt-Interaktion ( Kap. 2) und Epigenetik ( Kap. 3) werden entsprechend ihrer Aktualität und Relevanz ausführlich und aus einer transdiagnostischen Perspektive behandelt. Daran anknüpfend ( Kap. 4) werden aktuelle neurobiologische Befunde zu Bindung und Mentalisierung dargestellt. Psychotherapeutische Interventionen verändern nachhaltig das Gehirn ( Kap. 5). In diesem Kapitel zu neuronalen Netzwerkmodellen und Psychotherapie-Effekten habe ich den Fokus auf Störungsbilder gelegt, die in der psychotherapeutischen Praxis häufig vorkommen und zu denen es brauchbare Modellvorstellungen gibt, auch wenn diese spekulativ sind. Schwerpunkte sind Depression, Angst und Trauma. Dabei habe ich versucht, aus den vorliegenden Studien die Essenz zu destillieren und die mögliche Relevanz für die psychotherapeutische Praxis aufzuzeigen. Dieses Kapitel behandelt auch ausführlich methoden- und erkenntniskritische Einwände gegen Bildgebungsstudien. Abschließend ( Kap. 6) werden mögliche Konsequenzen neurowissenschaftlicher Erkenntnisse für die psychotherapeutische Praxis aus einer schulenübergreifenden Perspektive herausgearbeitet. Hierbei geht es um eine beelternde Grundhaltung, eine komplementäre/motivorientierte Beziehungsgestaltung, eine korrigierende und emotional verändernde Beziehungserfahrung sowie Ressourcen- und Lösungsorientierung als Ergänzung zur Problemaktualisierung. Bei den Schlussfolgerungen habe ich mich eng an Klaus Grawe orientiert, der mit seinem Buch Neuropsychotherapie Pionierarbeit geleistet hat.

Das Buch soll in erster Linie praktizierende Psychotherapeuten in Praxis und Klinik ansprechen, aber auch Studierende sowie Ärzte und Psychologen in Aus- und Weiterbildung. Verhaltenstherapie und psychodynamische Verfahren werden ausgewogen berücksichtigt. Gerade die Beschäftigung mit der Neurobiologie hat mich in meiner Überzeugung bestärkt, dass die Überwindung antiquierter Therapieschulen überfällig ist. Die Zukunft gehört nach meiner Einschätzung einer integrativen, wissenschaftlich fundierten Psychotherapie.

Das Buch ist entstanden aus einer Veranstaltung, die ich 2015 erstmals auf den Lindauer Psychotherapiewochen durchgeführt habe. Zu danken habe ich Herrn Prof. Dr. Manfred Cierpka, Frau Prof. Dr. Verena Kast und Herrn Prof. Dr. Peter Henningsen, die diese Veranstaltung in das Programm aufgenommen haben. Mein besonderer Dank gilt dem Verlag W. Kohlhammer. Mit Herrn Dr. Ruprecht Poensgen ist die Zusammenarbeit ausgesprochen angenehm, anregend und ermutigend. Danken möchte ich auch Frau Dr. Annegret Boll für ihr umsichtiges, sorgfältiges und sprachsensibles Lektorat.

 

München, im Dezember 2016

Jürgen Brunner

 

1          Gegenseitige Annäherung von Psychotherapie und Neurobiologie

 

1.1       Freuds Zukunftsvision einer neurobiologisch fundierten Psychotherapie

Als junger Wissenschaftler beschäftigte sich Sigmund Freud (1856–1939) intensiv mit Neuroanatomie und Neurophysiologie. Er publizierte zu verschiedenen neurowissenschaftlichen Themen. Zu seinen frühen Forschungsgegenständen gehören beispielsweise die Spinalganglien und das Rückenmark, die Syringomyelie, die Wirkung des Kokains, die Hemianopsie, der Ursprung des Hörnervs und die Aphasie.1 Heute würde man sagen: Der Begründer der Psychoanalyse begann seine Karriere als Neurobiologe. Der frühe Freud hielt sogar eine neurobiologische Fundierung der Psychoanalyse prinzipiell für möglich. Er entwickelte früh ein Gespür für das innovative Potential der Neurobiologie und war davon überzeugt, dass der Erkenntnisfortschritt der Neurowissenschaften in der Zukunft wegweisend sei für das ätiologische Verständnis und die Behandlung psychischer Störungen.

Die methodischen Begrenztheiten der Neurowissenschaften in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts schätzte Freud allerdings realistisch ein. Daher nahm er an, dass die Neurowissenschaften zu seinen Lebzeiten eher wenig zur Entschlüsselung der menschlichen Psyche beitragen können. Dies dürfte ein wesentlicher Grund dafür gewesen sein, warum er selbst den neurobiologischen Ansatz nicht weiter verfolgte und rein psychologische Theorien entwickelte. Die Traumdeutung (1900) markiert seine Abkehr von der neurobiologisch orientierten Psychiatrie seiner Zeit. Freud ging einen eigenen Weg abseits des wissenschaftlichen Mainstreams. Er knüpfte vornehmlich an philosophische Theorien des Unbewussten an, die von Arthur Schopenhauer (1788–1860) und anderen Denkern entwickelt worden waren. Insbesondere der Einfluss Schopenhauers auf die Entwicklung einer Theorie des Unbewussten ist als hoch zu veranschlagen (Young und Brook 1994; Zentner 1995).

Zeitlebens hielt Freud seine psychoanalytischen Theorien nicht für in Stein gemeißelt. Vielmehr betrachtete er sie lediglich als vorläufige Hypothesen und heuristische Konzepte, die durch spätere naturwissenschaftliche Forschung modifiziert und sogar falsifiziert werden können. In Jenseits des Lustprinzips (1920) schreibt Freud (1999b, S. 65): »Die Mängel unserer Beschreibung würden wahrscheinlich verschwinden, wenn wir anstatt der psychologischen Termini schon die physiologischen oder chemischen einsetzen könnten. […] Die Biologie ist wahrlich ein Reich der unbegrenzten Möglichkeiten, wir haben die überraschendsten Aufklärungen von ihr zu erwarten und können nicht erraten, welche Antworten sie auf die von uns an sie gestellten Fragen einige Jahrzehnte später geben würde. Vielleicht gerade solche, durch die unser ganzer künstlicher Bau von Hypothesen umgeblasen wird.« Auch die heutige Psychotherapie als Wissenschaft ist gut beraten, wenn sie Freuds Auffassung teilt und offen ist für die Entwicklungen der Neurobiologie. Diese Neuerungen sind sowohl bei der Überprüfung und Modifikation bisheriger Konzepte als auch bei der Generierung innovativer Ansätze angemessen zu berücksichtigen. Zwangsläufig führt die Beschäftigung mit der Neurobiologie zu einem »Abschied von liebgewordenen psychoanalytischen Therapiefossilien« (Henningsen 1998, S. 86). Zu solchen Atavismen gehören etwa abstruse Auffassungen von Melanie Klein (1882–1960) über frühkindliche aggressive Phantasien, welche der neurobiologischen Tatsache widersprechen, dass derart komplexe affektive und kognitive Leistungen in frühen Entwicklungsphasen überhaupt nicht neuronal realisierbar sind (Henningsen und Kirmayer 2000).

Der späte Freud (1999a, S. 108) betonte im Abriss der Psychoanalyse (begonnen 1938 und unfertig geblieben) den hypothetischen und heuristischen Charakter der psychoanalytischen Konzepte und verwies auf das revolutionäre Potential der Neurobiologie in der Zukunft: »[…] uns beschäftigt die Therapie hier nur insoweit sie mit psychologischen Mitteln arbeitet, derzeit haben wir keine anderen. Die Zukunft mag uns lehren, mit besonderen chemischen Stoffen die Energiemengen und deren Verteilungen im seelischen Apparat direkt zu beeinflussen. Vielleicht ergeben sich noch ungeahnte andere Möglichkeiten der Therapie; vorläufig steht uns nichts besseres [sic] zu Gebote als die psychoanalytische Technik und darum sollte man sie trotz ihrer Beschränkungen nicht verachten.« Freud war also offensichtlich der Meinung, dass seine psychologischen Termini nur vorläufigen Charakter haben und in der Zukunft durch adäquatere naturwissenschaftliche Begriffe substituiert werden müssen. Damit waren seine eigenen psychologischen Konstrukte für ihn selbst lediglich heuristische Modelle und Metaphern, also nichts weiter als eine bloße façon de parler. Zugleich zeigt sich in Freuds Prophezeiung, die Sprache der Psychologie werde in der Zukunft in das Vokabular der Chemie übersetzt, seine tief verwurzelte materialistische Grundüberzeugung, sein metaphysischer Monismus (Kächele et al. 2012). Obwohl er selbst keine eigenen neurobiologischen Forschungen mehr durchführte, blieb sein Denken stets durch die Biologie und andere Naturwissenschaften seiner Zeit geprägt, was sich in seiner Terminologie und in seiner Metaphorik widerspiegelt.

1.2       Das spannungsreiche Verhältnis von Psychotherapie und Neurobiologie

Einige der ungeahnten Möglichkeiten, von denen Freud nur träumen konnte, stehen uns heute zur Verfügung. Die rasante Entwicklung der Psychopharmakologie ab den 1950er Jahren hat eine Reihe von »besonderen chemischen Stoffen« (Freud 1999a, S. 108) hervorgebracht, mit denen sich neurobiologische Abläufe und damit psychische Funktionen direkt beeinflussen lassen. Nebenbei bemerkt: Die Entwicklung der Psychopharmaka hat wichtige sozialpsychiatrische Reformen erst ermöglicht. Salopp formuliert: Die bedeutenden Psychiatriereformen, etwa eines Franco Basaglia (1924–1980), wären ohne die Entdeckung der Antipsychotika gar nicht möglich gewesen.

Psychoanalyse und Psychotherapie gingen bis zum Ende des 20. Jahrhunderts einen von der Psychiatrie unabhängigen Weg und entwickelten sich weitgehend unabhängig von den Neurowissenschaften. Dies führte zu unglücklichen dichotomen Polarisierungen und heute nicht mehr haltbaren ideologischen Grabenkämpfen zwischen biologischer Psychiatrie und Psychopharmakotherapie auf der einen Seite und Psychotherapie auf der anderen Seite. Die biologischen Psychiater warfen den Psychoanalytikern unwissenschaftliche Spekulation und eine Überbetonung biographischer Einflussfaktoren bei Vernachlässigung genetischer und biologischer Aspekte vor. Die Psychoanalytiker konterten und bezichtigten die biologisch orientierten Psychiater eines einseitigen biologischen Reduktionismus und kritisierten die Oberflächlichkeit und das mangelnde Verständnis für die intrapsychische und interpersonelle Dynamik bei übermäßiger Fokussierung der Biologie.

Die Fortschritte der neurobiologischen Methoden und der neurobiologisch inspirierten oder neurobiologisch fundierten Psychotherapieforschung machen heute eine Annäherung zwischen sprechender Medizin und somatischem Ansatz geradezu unausweichlich. Zu nennen sind die rasanten Fortschritte in der Bildgebung, so dass heute Einblicke in Gehirnfunktionen in vivo mittels funktioneller Kernspintomographie (fMRT) oder Positronen-Emissions-Tomographie (PET) möglich sind. Ein Meilenstein für die neurobiologische Psychotherapieforschung war die PET-Studie von Baxter et al. (1992), in der erstmalig nachgewiesen wurde, dass Psychotherapie objektivierbare neurobiologische Effekte hat. Konkret wurde gezeigt, dass eine erfolgreiche Verhaltenstherapie bei Zwangsstörungen eine Reduktion des Glucosemetabolismus in den Basalganglien (Nucleus caudatus) bewirkt. Dadurch war erstmalig der Nachweis gelungen, dass Verhaltenstherapie auf neurobiologischer Ebene wirkt. Die in der Pionierarbeit von Baxter et al. (1992) beschriebenen neurobiologischen Effekte einer Verhaltenstherapie wurden von anderen Autoren repliziert (Schwartz et al. 1996; Nakatani et al. 2003). Durch diese Befunde konnte erstmals buchstäblich vor Augen geführt werden, dass eine erfolgreiche Psychotherapie zu funktionellen Gehirnveränderungen führt, wodurch eine Normalisierung der neuronalen Aktivität bei Therapie-Respondern erreicht wird, deren Gehirnaktivität sich nach Psychotherapie an die von Gesunden angleicht.

In den letzten 20 Jahren wurden zahlreiche fMRT-Untersuchungen durchgeführt, die anhaltende neurobiologische Effekte verschiedener Psychotherapieverfahren bei unterschiedlichen Störungsbildern eindrucksvoll belegen. Diese Untersuchungen führten zu einer erheblichen wissenschaftlichen Aufwertung der Psychotherapie. Es war der Nachweis dafür erbracht worden, dass psychotherapeutische Interventionen nachhaltige und objektivierbare Veränderungen von neuronalen Funktionsabläufen und Gehirnstrukturen bewirken. Die Psychotherapie brauchte sich nun nicht länger vor der biologischen Psychiatrie zu verstecken. Heute besteht Konsens darüber, dass eine wirksame Psychotherapie neurobiologische Korrelate hat. »Change the mind and you change the brain«, so lautet griffig der Titel einer Publikation über die Bildgebungs-Korrelate einer verhaltenstherapeutischen Behandlung der Spinnenphobie (Paquette et al. 2003).

Eine wirksame Psychotherapie verändert nachhaltig das Gehirn, sowohl funktionell als auch strukturell. Vieles spricht heute dafür, dass Psychotherapie das Epigenom modifiziert und die Genexpression beeinflusst. Daraus resultieren Funktions- und Strukturveränderungen von Neuronen. Aufgrund neuerer wissenschaftlicher Erkenntnisse gilt das traditionelle Verhältnis von Psychotherapie und Neurowissenschaften als Widersacher heute als antiquiert, denn das Gehirn als organisches Substrat psychischer Phänomene wird durch Erleben, Denken, Fühlen, Handeln und durch psychotherapeutische Interventionen verändert. Umgekehrt führen materielle Veränderungen durch eine Psychopharmakotherapie oder andere biologische Interventionen zu Effekten auf der psychischen Phänomenebene.

Heute stehen sich biologische Psychiatrie, Psychopharmakotherapie und Psychotherapie weniger antagonistisch und unversöhnlich gegenüber als früher. Bei vielen Krankheitsbildern ist die Kombination von Psychopharmaka und Psychotherapie indiziert und leitlinienkonform. Die Neurobiologie hat den interdisziplinären Dialog befördert und einer fruchtbaren Integration Vorschub geleistet. Man vermutet heute, dass Psychotherapie und Antidepressiva über unterschiedliche neurobiologische Mechanismen wirken. Diese unterschiedlichen Wirkmechanismen könnten synergistische Effekte erklären. Beispielsweise wirkt eine kognitive Verhaltenstherapie wahrscheinlich über eine Stärkung des Frontalhirns. Dadurch kann die überschießende Aktivität des limbischen Systems herunterreguliert werden. Psychotherapie wirkt nach diesem Modell also top-down. Antidepressiva scheinen hingegen eher bottom-up zu wirken, indem sie direkt subcorticale limbische Strukturen beeinflussen.

Psychotherapeutische Interventionen sind bei entsprechender Indikation oft mindestens so wirksam wie Medikamente. Häufig ist Psychotherapie einer Psychopharmakotherapie sogar langfristig überlegen. Daher stellt Psychotherapie bei vielen Indikationsbereichen die Therapie der Wahl dar (Brunner 2016a). Sowohl Psychopharmaka als auch Psychotherapie verändern nachhaltig neuronale Vorgänge. Die Neurobiologie ist also wirklich »ein Reich der unbegrenzten Möglichkeiten«, wie Freud (1999b, S. 65) es vor fast hundert Jahren formuliert hat. Wir blicken in eine spannende Zukunft und dürfen von der Neurobiologie in der Tat »die überraschendsten Aufklärungen« (Freud 1999b, S. 65) erwarten. Die Neurobiologie wird in der Zukunft auch die Psychotherapie verändern. Inzwischen haben wir neurowissenschaftlich begründete Hypothesen darüber, wie eine Psychotherapie das Gehirn nachhaltig verändert und umstrukturiert. Der stetige Zuwachs an neurobiologischem und störungsspezifischem Wissen dürfte dazu führen, dass bisherige nosologische und therapeutische Konzepte grundlegend modifiziert, einige sogar aufgegeben werden müssen. Dies war ausschlaggebend dafür, dass Klaus Grawe (2004) den Begriff Neuropsychotherapie einführte. Darunter verstand er eine neurowissenschaftlich inspirierte Psychotherapie (Grawe 2004, S. 372). Traditionelle pathogenetische Dichotomien wie genetisch versus umweltbedingt oder organisch versus psychogen/funktionell lassen sich vor dem Hintergrund des neurobiologischen Erkenntnisfortschritts heute nicht mehr aufrechterhalten. Psychotherapeuten und Psychopharmakologen führen heute keine unsinnigen Grabenkämpfe mehr; vielmehr werden synergistische Effekte beider Verfahren zunehmend beachtet. Man beschäftigt sich heute damit, wie bestimmte Substanzen die Effektivität einer Psychotherapie steigern (augmentieren) können. Unter dem Einfluss neurobiologischer Erkenntnisse hat Grawe aufgehört, in dogmatischen Therapieschulen des 20. Jahrhunderts zu denken. Er vermisst dadurch nichts, sondern ist überzeugt, dass die Konzepte herkömmlicher Therapieschulen keine brauchbare Basis mehr für die Psychotherapie darstellen (Grawe 2004, S. 443). Wahrscheinlich leistet die Neurobiologie einen wichtigen Beitrag zu einer Integration im besten Sinne, also zu einer wechselseitigen Annäherung zwischen zeitgemäßen verhaltenstherapeutischen und psychodynamischen Verfahren, aber auch zwischen Psychotherapie und biologischer Psychiatrie.

1.3       Die moderne Epigenetik: Brücke zwischen Genetik und Umwelteinflüssen

Forschungsergebnisse der letzten Jahrzehnte haben die Annahme bestätigt, dass genetische Faktoren bei häufigen psychischen Erkrankungen wie der Depression bedeutsam sind. Technischer Fortschritt hat dazu geführt, dass heute nicht mehr nur einzelne Kandidatengene, sondern das gesamte Genom mit Hochdurchsatzverfahren untersucht werden kann. Dieser genomweite Ansatz ist im Unterschied zur Untersuchung von Kandidatengenen nicht mehr hypothesengeleitet. Derartige genomweite Untersuchungen nehmen auch solche neurobiologische Systeme ins Visier, die man bisher noch nicht mit der Depression oder einer anderen psychischen Störung in Verbindung gebracht hat. Dadurch eröffnen sich neue Horizonte. Bisher ungeahnte Zusammenhänge können gesehen und neuartige Hypothesen zur Pathogenese generiert werden. Derartige genomweite Untersuchungen laufen derzeit, sind aber methodisch sehr aufwendig. Die Bedeutung der Genetik für die Ätiologie ist sicherlich nicht unwesentlich; allerdings ist der Einfluss der Genetik geringer als ursprünglich erwartet. Ursprünglich nahm man an, dass die Gehirnentwicklung überwiegend genetisch determiniert sei. Diese Auffassung gilt heute als obsolet. Inzwischen gilt es als gesichert, dass die Gehirnentwicklung das Ergebnis eines komplexen Wechselwirkungsprozesses zwischen Genetik und Umwelteinflüssen ist, wobei postnatale Einflüsse sich in der Struktur des Gehirns niederschlagen (Sullivan 2012). Nach einem modernen Konzept (Gröger et al. 2016) ist die Gehirnentwicklung das Resultat aus genetisch programmierten neuronalen Netzwerken und Adaptationsprozessen, die durch Umweltfaktoren angestoßen werden. Die funktionelle Gehirnreifung wird durch soziale Interaktionen und Erfahrungen maßgeblich beeinflusst. Die Plastizität des Gehirns hängt von Interaktionen und Umwelteinflüssen wesentlich ab. Die Entwicklung neuronaler Strukturen wird durch biographische Erfahrungen ganz entscheidend geprägt.

Heute nimmt man in grober Näherung an, dass beispielsweise das Depressionsrisiko nur zu etwa einem Drittel erblich und zu zwei Dritteln umweltbedingt ist (Saveanu und Nemeroff 2012). In den letzten Jahren wurden diese Umwelteinflüsse intensiver erforscht ( Kap. 2). So hat sich körperlicher und sexueller Missbrauch in der Kindheit als ein wesentlicher Faktor erwiesen, der den Verlauf einer Depression beeinflusst und für die optimale individuelle Therapieplanung von Bedeutung ist. Es zeigte sich, dass Frauen, die in der Kindheit missbraucht wurden, von Psychotherapie stärker profitieren als von einer Psychopharmakotherapie (Nemeroff et al. 2003). Bei ihnen verbessert die zusätzliche Gabe eines Antidepressivums das Therapieergebnis nicht wesentlich. Inzwischen ist bekannt, dass Traumatisierungen in der Kindheit lebenslange psychobiologische Narben (scars) im limbischen System und im präfrontalen Cortex hinterlassen. Der Neuroanatom und Nobelpreisträger Camillo Golgi (1843–1926) postulierte bereits 1869, dass funktionelle Narben im Gehirn die organischen Ursachen für psychische Erkrankungen seien (Bock et al. 2014). Die molekularen Mechanismen dieser funktionellen Narbenbildung werden heute intensiv erforscht.

Misshandlung und Missbrauch in der Kindheit führen zu breitgefächerten epigenetischen Veränderungen ( Kap. 3). Damit sind Veränderungen der Genexpression/Genregulation gemeint, die durch Umwelteinflüsse hervorgerufen wurden, die aber nicht die Gensequenz verändern. Die Genregulation kann durch frühkindliche Erfahrungen dauerhaft modifiziert werden (Raabe und Spengler 2013; Jawahar et al. 2015).

Kindliche Traumatisierungen bewirken, dass bestimmte Genabschnitte nicht mehr abgelesen werden, also blockiert sind. Dies geschieht beispielsweise durch Anlagerung von Methylgruppen an DNA-Abschnitte, die den entsprechenden Genabschnitt stumm schalten. Wenn beispielsweise das Gen für den Glucocorticoid-Rezeptor durch epigenetische Veränderungen blockiert wird, ist die natürliche biologische »Stressbremse« (Rüegg 2011, S. 49) ausgeschaltet. Daher kommt es bis ins Erwachsenenalter hinein zu einer überschießenden Reaktion des Stresshormonsystems. Derartige epigenetische Befunde erlauben bereits in Ansätzen ein molekulares Verständnis dafür, wie traumatische Erfahrungen transgenerational weitergegeben werden können (Gröger et al. 2016).

Inzwischen weiß man aber auch, dass nicht nur schwerwiegende und dramatische Traumatisierungen durch körperlichen oder sexuellen Missbrauch fatale Folgen für die psychische Entwicklung und für die Prädisposition zu verschiedenen psychischen Erkrankungen haben können. Gerade auch subtilere Formen der Bindungstraumatisierung wie emotionale Vernachlässigung und mangelnde Feinfühligkeit der Eltern können erhebliche negative Auswirkungen haben ( Kap. 4).

Die von John Bowlby (1907–1990) begründete Bindungsforschung und das Konzept der Mentalisierung sind durch neurobiologische Forschungen in den letzten Jahren in ihrer grundlegenden Bedeutung weitgehend bestätigt und ausdifferenziert worden. Rendon (2008) hält mit Blick auf die Bindungsforschung eine Annäherung zwischen Psychoanalyse und Neurobiologie nicht nur für wünschenswert, sondern geradezu für notwendig.

Neuere Forschungen haben gezeigt, dass positive Bindungserfahrungen, emotionale Zuwendung und das Markieren, Spiegeln und Regulieren von Affekten des Kindes durch eine wichtige Bindungsperson epigenetische Veränderungen bewirken, die für eine gesunde psychische Entwicklung unabdingbar sind.

Gerade die Bindungsforschung in Kombination mit neurobiologischen Entdeckungen hat in den letzten zehn Jahren einen enormen Erkenntniszuwachs bewirkt ( Kap. 4). Diese Fortschritte geben heute Anlass zu einer Modifikation und Weiterentwicklung älterer psychoanalytischer Hypothesen. Moderne Konzepte zur lebensgeschichtlichen Entwicklung der Persönlichkeit, wie sie von Gerd Rudolf vertreten werden, tragen dem Erkenntnisfortschritt der Neurobiologie und der Bindungsforschung Rechnung. Die entwicklungspsychologische Theorie zur Genese struktureller Störungen von Gerd Rudolf (2013b) ist kompatibel mit aktuellen neurowissenschaftlichen Befunden. Erfreulich ist, dass wesentliche Fortschritte der Bindungsforschung und der Neurobiologie auch von primär verhaltenstherapeutischen Autoren wie Klaus Grawe rezipiert und in der Theoriebildung berücksichtigt werden. Es wäre wünschenswert, dass die Neurobiologie den bereits begonnenen Prozess der Annäherung verschiedener Therapieschulen begünstigt. Vielleicht leistet die Neurobiologie einer modernen integrativen Psychotherapie Vorschub, was sehr zu begrüßen wäre.

Neurowissenschaftliche Forschungen geben keineswegs Anlass zu einem neurobiologischen Fatalismus oder therapeutischen Nihilismus, wie vielfach befürchtet wird. Das Gehirn bleibt bis ins Erwachsenenalter plastisch, so dass Entwicklungsdefizite und sogar die Folgen von frühen Traumatisierungen auch später noch partiell korrigiert oder zumindest modifiziert werden können. Heute gibt es erste Studien, in denen der Nachweis dafür erbracht wurde, dass Psychotherapie über eine Veränderung der Genregulation wirkt und dadurch neuronale Funktionen und die Struktur des Gehirns nachhaltig verändert.

1.4       Möglicher Nutzen der Neurobiologie für die Psychotherapie

Freud (1999b, S. 65) hat die Sprengkraft der Neurobiologie bereits vor knapp 100 Jahren hellsichtig antizipiert, denn er hielt es für möglich, dass durch sie »unser ganzer künstlicher Bau von Hypothesen umgeblasen wird«. Die Neurobiologie hat in der Tat ein nicht zu unterschätzendes Potential im Hinblick auf eine grundlegende Revision ätiologischer und nosologischer Konzepte und Theorien. In der Zukunft lassen sich durch die Neurobiologie wahrscheinlich Endophänotypen definieren und neuartige Diagnosekategorien bilden, die für die Differentialindikation und für die Beurteilung der Prognose relevant sein werden.

Bestimmte biologische Parameter könnten die Prädiktion von Therapieeffekten und dadurch die Differentialindikation verbessern. In die Neurobiologie werden weitreichende Hoffnungen für die Zukunft der Psychotherapie gesetzt. Von der Neurobiologie erhofft man sich ein besseres Verständnis der Mechanismen psychotherapeutischer Interventionen, um dadurch bereits existierende Therapieverfahren optimieren zu können. Eine Zukunftsvision ist, dass sogar konzeptuell neuartige Ansätze entwickelt werden, die durch die Neurobiologie inspiriert sind. Das wäre eine echte Neuropsychotherapie nach der Definition Grawes. Allerdings ist eine konkrete Umsetzung neurowissenschaftlicher Erkenntnisse in neuartige Therapiekonzepte heute noch nicht wirklich greifbar. In Anlehnung an Horaz kann man sich durchaus fragen, ob der Berg kreißt, aber nur eine lächerliche Maus geboren wird (Schiepek et al. 2011b).2 Jedenfalls ist eine Neuropsychotherapie, die diesen Namen verdient, heute eher noch eine Zukunftsvision als ein bereits existierendes Konzept. Neurobiologische Methoden könnten eingesetzt werden, um den Erfolg einer psychotherapeutischen Intervention auch auf neurobiologischer Ebene darzustellen. So ließen sich Patienten mit einem persistierenden Risikoprofil detektieren, die zwar auf psychopathologischer Symptomebene remittiert sind, aber weiterhin noch neurobiologische Auffälligkeiten zeigen. Bei ihnen wäre eine längere Fortsetzung der Therapie über die Symptomremission hinaus ratsam, denn eine zu frühzeitige Beendigung der Behandlung könnte zu einem Rückfall führen.

Interessant und zukunftsträchtig sind Studien an Menschen, die zeigen, dass bestimmte Substanzen die Wirksamkeit einer Psychotherapie spezifisch verstärken können. Eine derartige Augmentierung einer Psychotherapie durch bestimmte Pharmaka wird als psychobiologische Therapie (psychobiological therapy) bezeichnet (Meyer-Lindenberg et al. 2011). Zu nennen ist beispielsweise die Kombination von Oxytocin-Nasenspray und Psychotherapie bei sozialer Angststörung. In der Psychotherapie könnte Oxytocin eingesetzt werden zur Förderung von Vertrauen, Bindung, Empathie und Interesse an sozialen Interaktionen. Mögliche Einsatzgebiete wären Depression, Autismus-Spektrum-Störungen, Borderline-Störung, schizoide Persönlichkeitsstörung, soziale Phobie, ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsstörung, Schizophrenie und mangelnde Empathie und Feinfühligkeit bei Müttern mit Bindungsproblemen. Interessant ist auch, dass D-Cycloserin über eine Beeinflussung der glutamatergen Neurotransmission Lernvorgänge begünstigt und dadurch die Wirksamkeit von Expositionstherapien erhöht.

Die moderne Epigenetik verändert nicht nur unser Verständnis von biographischen Einflussfaktoren, auch die Vorstellungen zur Wirkweise von Medikamenten müssen ergänzt und teilweise revidiert werden. Neuere Befunde zur Epigenetik haben gezeigt, dass Psychopharmaka nicht nur Auswirkungen auf Neurotransmittersysteme haben, sondern auch die Genregulation beeinflussen.

Die Wirkmechanismen von Antidepressiva sind also wesentlich komplexer als ursprünglich angenommen und erschöpfen sich keineswegs in einer simplen Wiederaufnahmehemmung von Serotonin, Dopamin oder Noradrenalin. Heute ist bekannt, dass Antidepressiva an verschiedenen neurobiologischen Systemen wirken. Zu nennen sind das Neurotrophin-System, die Neuroneogenese (Neubildung von Nervenzellen im Hippocampus) sowie neuroendokrinologische und neuroimmunologische Veränderungen. Dass Antidepressiva insbesondere bei schweren Depressionen wirken, steht außer Frage. Wie komplex Antidepressiva allerdings auf molekularer Ebene wirken, ist bis heute nur bruchstückhaft erforscht. Ein tieferes Verständnis neurobiologischer Zusammenhänge könnte neuartigen Behandlungsansätzen den Weg bahnen.

Bei einigen Patienten mit Affinität zu technischen Fortschritten und Innovationen könnten neurowissenschaftliche Ergebnisse die Therapieakzeptanz und die Motivation für eine Psychotherapie fördern. So könnten Patienten mit Skepsis und Vorbehalten gegenüber psychologischen Krankheitskonzepten eher den Weg in eine Psychotherapie finden.

Neurobiologische Konzepte zur Ätiologie und Pathogenese psychischer Erkrankungen könnten sowohl Patienten als auch deren Angehörige entlasten. Man erhofft sich eine bessere Akzeptanz und Toleranz von psychischen Erkrankungen in der Gesellschaft. Es wird angenommen, dass die Neurobiologie einen Beitrag zur Destigmatisierung und Enttabuisierung leisten könnte.

Der Nachweis, dass psychotherapeutische Interventionen Auswirkungen auf Gehirnprozesse haben, fördert die wissenschaftliche Legitimation und das Renommee der Psychotherapie (Henningsen 2009). Dies geht einher mit einer stärkeren Anerkennung der Psychotherapie als Wissenschaft und als effektive Behandlungsmethode. Dies bedeutet einen nicht zu unterschätzenden Statusgewinn für die Psychotherapie in der Gesellschaft und im Gesundheitswesen. Die verbesserte Reputation und der Prestigegewinn stärken die Position der Psychotherapie in der Gesundheitspolitik. Wahrscheinlich ist das allerdings ein Pyrrhussieg für die Psychotherapie. Denn eine solche Aufwertung der Psychotherapie durch die Neurobiologie ist insofern zwiespältig, als die vermeintliche Legitimation auf der impliziten Annahme basiert, dass die eigentlich gültige Erklärung der Wirkung von Psychotherapie auf neurobiologischer Ebene erfolgen muss und eine rein psychologische Erklärung a priori weniger wert wäre. Eine solche implizite Validitätshierarchie zugunsten der Neurowissenschaften ist nicht nur unangebracht, sondern beruht auf reduktionistischen Vorannahmen (Henningsen 1998).

Nach Walter und Müller (2011) ist eine Neuropsychotherapie wegen ihrer naturwissenschaftlichen Orientierung gegenüber den Prinzipien einer evidenzbasierten Medizin (EBM) grundsätzlich aufgeschlossen. Walter und Müller argumentieren für die Notwendigkeit einer stärkeren Evidenzbasierung in der Psychotherapie, da Alternativen zur EBM das Autoritätsprinzip oder das Marktprinzip seien. Walter und Müller (2011) sind der Ansicht, dass ein Verzicht auf Evidenzbasierung in der Psychotherapie ethisch nicht zu rechtfertigen sei.

Psychotherapeuten können durch neurobiologisches Wissen mehr Verständnis für den Patienten aufbringen. Die Neurobiologie könnte beim Therapeuten Empathie und Geduld fördern. Die Einsicht in neurobiologisch mitbedingte Defizite und Fähigkeitseinschränkungen kann den Psychotherapeuten vor Ungeduld, Frustration, Hilflosigkeit, Ärger, Enttäuschung, Entmutigung und negativen Reaktionen bewahren (Grawe 2004, S. 29 ff.). Aus der Einsicht in neuronal mitbedingte Fähigkeitseinschränkungen resultiert auch eine aktivere therapeutische Haltung. Der Therapeut muss die Initiative ergreifen und die Verantwortung für den Therapieprozess übernehmen. Daraus ergeben sich zentrale Therapieziele wie Ressourcenaktivierung, Unterbrechen von Grübeln, aktiver Aufbau positiver Aktivitäten und Förderung von positiven emotionalen Erfahrungen in und außerhalb der Therapiesituation.

1.5       Nachteile und Risiken des neurobiologischen Paradigmas für die Psychotherapie

Das neurobiologische Paradigma birgt auch Risiken für die Psychotherapie. Die Neurobiologie könnte zum dominierenden Erklärungsansatz psychischer Störungen avancieren. Das hätte zur Folge, dass individuelle und soziale Faktoren ausgeblendet würden. Wie es in der biologischen Psychiatrie bereits gängige Praxis ist, würden psychische Krankheiten auch in der Psychotherapie auf Gehirnkrankheiten reduziert. Eine Neurobiologisierung der Psychotherapie wäre eine unzulässige Simplifizierung. Die Subjektivität des Individuums und der verstehende Zugang kämen dabei zu kurz.

Patienten könnten sich als hirnorganisch krank abgestempelt fühlen (Stoffwechselstörung des Gehirns). Dadurch fühlen sie sich in ihrer Individualität nicht ausreichend gesehen und vom Therapeuten unverstanden. Wenn der Patient vom Therapeuten nur noch als homo cerebralis (Hagner 1997) oder als homo neurobiologicus (Roth 2003, S. 560) gesehen wird, bedingt das eine übermäßige Objektivierung und Biologisierung des Patienten, die negative Auswirkungen auf die therapeutische Haltung haben kann. Im Extremfall ist eine kalte, distanzierte und unempathische Haltung des Therapeuten zu befürchten. Walter und Müller (2011) weisen allerdings darauf hin, dass eine stärker objektivierende Haltung vielleicht sogar erstrebenswert sein kann, da in einer therapeutischen Beziehung die Balance zwischen Einfühlung und Distanz naturgemäß schwierig ist. Der Blick auf die Neurobiologie könnte nach Einschätzung von Walter und Müller (2011) die professionelle Grenzziehung erleichtern. Das wäre protektiv gegen Grenzüberschreitungen in der Therapie, die nicht selten sind. Sexueller, finanzieller und emotionaler (narzisstischer) Missbrauch stellt ein zentrales ethisches Problem in der Psychotherapie dar.

Einige Patienten könnte eine Technisierung und Vernaturwissenschaftlichung der Psychotherapie abschrecken. Hier ist zu bedenken, dass derartige Entwicklungen in der sogenannten Schulmedizin zu einer technisierten, stummen Medizin geführt haben. Die Folge davon ist, dass viele Patienten sich von ihren Ärzten nicht ausreichend gesehen und verstanden fühlen. Dies treibt Patienten in die Hände von teilweise dubiosen Anbietern. Allein in Deutschland werden jährlich 9 Milliarden Euro pro Jahr für Komplementär- und Alternativmedizin ausgegeben (Spielberg 2007).

Bei Patienten könnte eine Überbetonung neurobiologischer Faktoren bei der Pathogenese einen negativen Einfluss auf die Selbstwirksamkeitserwartungen haben. Dadurch könnten viele Patienten eine passiv-rezeptive Haltung einnehmen und vom Therapeuten als Experten erwarten, dass er direktiv und aktiv geeignete Interventionen durchführt, welche die neurobiologischen Defizite normalisieren.

Die Betonung neurobiologischer Aspekte kann mit dem Odium der Unheilbarkeit behaftet sein. Das könnte Resignation, Fatalismus und Pessimismus befördern. Es wäre allerdings auch ein positiver Einfluss auf die Motivation des Patienten denkbar. Bestimmte neurobiologisch mitbedingte Faktoren wie Impulsivität könnte man wie ein Handicap ansehen, das besonderer Bemühung und Übung bedarf. Nach diesem Modell muss man sich mehr als andere anstrengen, um ein biologisch bedingtes individuelles Defizit zu kompensieren.

Im Wissenschaftsbetrieb führen übersteigerte Erwartungen an die Neurobiologie dazu, dass andere aussichtsreiche Forschungsgebiete vernachlässigt werden. Bildgebungsstudien beispielsweise absorbieren viele Steuergelder und Drittmittel, wobei der Erkenntnisgewinn vieler fMRT-Studien für ein vertieftes Verständnis von Netzwerken und neuronalen Prozessen oft gering ist. Aus Bildgebungsbefunden werden nicht selten zu weitgehende Schlussfolgerungen abgeleitet.

Es findet nicht selten eine simplifizierende Zuordnung komplexer Konstrukte wie Bindung und Liebe zu einzelnen aktivierten Hirnarealen statt. Das hat der Bildgebungsforschung den Vorwurf der Neo-Phrenologie eingebracht. Das Geld, das in Bildgebungsstudien gesteckt wird, fehlt für gute Psychotherapiestudien. Sehr gut konzipierte und wissenschaftlich aussagekräftige Psychotherapiestudien wären dringlicher und wichtiger als die Produktion von bunten Bildern und Artefakten.

Oft wird von Verfechtern der Neurobiologie das Argument vorgebracht, biologische Erklärungen könnten Betroffene und Angehörige insofern entlasten, als dadurch das Stigma der schuldhaften Verfehlung genommen würde. Wenn die Anorexia nervosa als »Hirnkrankheit« und »Krankheitsprozess im Hypothalamus« (Swaab 2013, S. 182 ff.) angesehen wird, müssen sich Eltern keine Gedanken über Schieflagen und toxische interpersonelle Prozesse im System Familie machen. Eine derartige Entlastung von Angehörigen ist allerdings problematisch, denn dadurch wird die Motivation zu wahrscheinlich dringend indizierten familientherapeutischen Interventionen unterminiert. Das Beispiel der Anorexie verdeutlicht die negativen Effekte einer unzulässigen und einseitigen Komplexitätsreduktion durch eine Überbetonung der Neurobiologie. Ähnlich ist es mit der Depression. Wenn eine Depression auf eine Stoffwechselstörung des Gehirns reduziert wird, kann man aufrechterhaltende Konstellationen wie Partner- oder Arbeitsplatzkonflikte und problematische prädisponierende Persönlichkeitsstile mühelos ausblenden und die Behandlung auf somatische Optionen wie Psychopharmaka, Elektrokonvulsionsbehandlung oder Tiefenhirnstimulation beschränken. Eine vordergründige Entlastung des Patienten durch die Übergewichtung der Neurobiologie wäre für den Behandler vielleicht bequem, da er sich nicht auf die interpersonelle Dynamik einlassen müsste und auch nicht dysfunktionale Einstellungs- und Verhaltensmuster des Patienten durch empathische Konfrontation angehen bräuchte. Allerdings wäre eine solche oberflächliche Entlastung langfristig für den Patienten und das Gesundheitssystem fatal. Die These, biologische Erklärungen würden zur Destigmatisierung und Enttabuisierung psychischer Störungen beitragen, ist nicht sehr überzeugend, denn biologisch bedingte Normabweichungen sind häufig ähnlich negativ konnotiert wie moralisches Fehlverhalten. Walter und Müller (2011) weisen auf die medizinhistorische Tatsache hin, dass im Gefolge der Säkularisierung moralische Devianz zunehmend als angeborene Krankheit uminterpretiert wird. Das lässt sich für den Suizid nachweisen, der ursprünglich als Sünde verurteilt, später aber medikalisiert und psychiatrisiert wurde. Nach Walter und Müller (2011, S. 648) »besteht eine historische Verbindung zwischen der Verdammungsmetapher der protestantischen, vor allem der calvinistischen Ethik und dem gegenwärtigen medizinischen Modell der Devianz. Beiden gemeinsam ist die Vorstellung einer angeborenen Prädestination zum Bösen bzw. einer angeborenen Prädisposition zur Krankheit«. Historisch besteht also eine Kontinuität zwischen der Zuschreibung von Schlechtigkeit (badness) und Krankheit (sickness). Beides ist negativ konnotiert. Nach Walter und Müller (2011) lösen sich die moralisierende Verurteilung und die Pathologisierung bestimmter Normabweichungen zyklisch ab. Daher ist zu befürchten, dass biologische Erklärungen die Stigmatisierung noch verstärken, indem sie psychisch Kranke als andersartig und daher als unberechenbar darstellen. Ein wichtiger Einflussfaktor für Stigmatisierung ist das fremdgefährdende Potential einer Erkrankung. Durch die Überbetonung neurobiologischer Faktoren kommt ein fatalistischer Zug ins Spiel, denn biologische Abweichungen werden nicht selten als irreversibel angesehen. Die Verbindung aus neurobiologischer Verankerung, Untherapierbarkeit und Gefährlichkeit ist fatal und begünstigt eine Stigmatisierung. Empirische Untersuchungen scheinen die These zu unterstützen, dass biologische Erklärungen eher stigmatisierend wirken und in der Bevölkerung den Wunsch nach sozialem Abstand entstehen lassen. Speerforck et al. (2014) führten eine repräsentative Untersuchung der deutschen Bevölkerung durch (n = 3.642). Erklärungen wie Stoffwechselstörung des Gehirns (chemical imbalance of the brain) und Gehirnerkrankung (brain disease) führten zu einem stärkeren Wunsch nach sozialer Distanz und schürten Ängste. Das konnte für die Depression und für die Schizophrenie gezeigt werden. Die Studie von Speerforck et al. (2014) bekräftigt die Annahme, dass neurobiologische und genetische Erklärungsmodelle eher stigmatisierend wirken und insofern schädlich sind. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommen auch Angermeyer et al. (2014).

1.6       Auf dem Weg zu einer Encephalotherapie?

Die Hochkonjunktur der Neurobiologie birgt die Gefahr einer übermäßigen Neurobiologisierung der Psychotherapie und macht den unreflektierten neurobiologischen Reduktionismus auch unter Psychotherapeuten salonfähig.

In der Psychiatrie hat der Psychobiologismus zu einer erschreckenden Simplifizierung der ätiologischen und pathogenetischen Konzepte geführt (Hoffmann 2016). Die meisten heutigen Psychiater haben sich auf den Primat des Somatischen vor dem Psychischen festgelegt. Dabei wird dieser heute allgegenwärtige biologistische Reduktionismus in der Psychiatrie meist implizit und erstaunlich unreflektiert betrieben, ohne dass sich die Protagonisten mit den wissenschaftsphilosophischen Voraussetzungen und den sich daraus ergebenden Konsequenzen explizit auseinandersetzen (Henningsen und Kirmayer 2000).

Die Konsequenzen sind allerdings weitreichend, denn sie untergraben das Fundament der eigenen Disziplin. Der heute in der Psychiatrie ubiquitäre und naive biologistische Reduktionismus führt in letzter Konsequenz zu einer Elimination der nur subjektiv-introspektiv zugänglichen Ebene der Zuschreibung von Sinn und Bedeutung. Reduktionistsiche Konzeptionen der Psyche haben die Elimination ihres eigenen Gegenstandes zur Folge. Die psychische Phänomenebene ist nun einmal konstitutiv und essentiell an die psychologisch-hermeneutische Beschreibungssprache gebunden (Henningsen 1998). Der in der Psychiatrie grassierende biologistische Reduktionismus eliminiert also das ureigene Fundament des Faches, nämlich den nur aus der Perspektive der ersten Person zugänglichen Bereich des psychischen Erlebens und Verstehens (Henningsen und Kirmayer 2000). Wenn Psychiater, Psychotherapeuten und Psychosomatiker unbekümmert und einseitig eine überzogene Neurobiologisierung betreiben, gehen sie das Risiko der Selbstabschaffung ihrer eigenen Disziplin ein, die dadurch zu einer Subdisziplin der Neurobiologie wird (Henningsen 2003, 2009). Zu fordern ist gerade im Fach Psychiatrie und Psychotherapie eine Stärkung der introspektiven und der interpersonellen Beschreibungs- und Erklärungssprache und nicht deren Schwächung oder gar Eliminierung (Henningsen 1998). Henningsen (2003, S. 111) argumentiert überzeugend gegen die »gänzlich kontra-intuitive Vorstellung, daß es langfristig keine wissenschaftlich akzeptierten psychosozialen Erklärungen menschlichen Erlebens und Handelns mehr geben soll«. Es steht nicht a priori fest, welche Ebene der Modell- und Hypothesenbildung für die Prädisposition einer Störung relevanter ist; dies kann nur empirisch geklärt werden (Henningsen 2000). Der neurobiologischen Ebene ist also nicht zwingend der Primat vor der psychologischen Ebene einzuräumen. Henningsen (1998, 2000, 2009) plädiert für ein nicht-reduktionistisches Rahmenkonzept, in welchem die eigenständige Bedeutung der psychologischen und der neurobiologischen Erklärungs- und Beschreibungsebene gewahrt bleibt. Es ist wichtig, dass die psychologisch-hermeneutische Ebene ihre Eigenständigkeit bewahrt und nicht in unzulässiger Weise zu einem Epiphänomen neurobiologischer Vorgänge degradiert wird. Ein solches neurobiologisch informiertes und fundiertes Störungsmodell, das biographisch-individuelle und kontextbedingte psychosoziale Faktoren ebenso würdigt wie neurobiologische Aspekte, wäre ganz im Sinne der von Alexander Mitscherlich (1908–1982) angestrebten geschichtlichen Biologie (Henningsen 2000).

In seiner Arbeit über die Aphasien von 1891 vertritt der frühe Sigmund Freud (2015, S. 63) eine dezidiert antireduktionistische und antilokalisatorische Position: »Die Kette der physiologischen Vorgänge im Nervensystem steht ja wahrscheinlich nicht im Verhältniss [sic] der Causalität zu den psychischen Vorgängen. […] Das Psychische ist somit ein Parallelvorgang des Physiologischen […].« Freud plädiert für die Erforschung der psychologisch-hermeneutischen Ebene unabhängig von deren neurobiologischen Realisierung, ohne aber die Neurobiologie dabei zu ignorieren (Henningsen 1998). Freuds Auffassung ist auch heute noch insofern aktuell, als sie die künstliche Trennung zwischen neurobiologischer und psychischer Phänomenebene überwindet. Sinnvoll ist ein Erklärungsmodell, welches die Interaktionen einer Person mit der Umwelt sowohl aus der psychologisch-intentionalen als auch aus der neurobiologischen Perspektive beschreibt (Henningsen 1998).

Mentale Vorgänge sind keineswegs ein bloßes Epiphänomen materieller Vorgänge. Es wäre eine unzulässige Simplifizierung und eine nicht haltbare Komplexitätsreduktion, das subjektive Erleben umstandslos als Epiphänomen materieller Prozesse aufzufassen. Die Perspektive der ersten Person, Intentionalität, hermeneutische Sinnkonstruktionen und der nur subjektiv erfahrbare Erlebnischarakter von Sinnesempfindungen (Qualia) lassen sich nicht auf neurobiologische Substrate reduzieren, ohne dass bei dieser Reduktion zentrale Aspekte geopfert würden.

Nach Emil Angehrn (2012) ist insbesondere die Sinndimension irreduzibel auf jede materialistisch-naturalistische Beschreibung. Es bleibt also immer eine Erklärungslücke (explanatory gap) bestehen, wie Jospeh Levine (1997) betont. Gegen die Naturalisierbarkeit von Qualia hat Frank Nagel (1997) in seinem berühmten Aufsatz What is it like to be a bat? überzeugend argumentiert, ähnlich auch Frank Jackson (1997) mit seinem klassischen Gedankenexperiment What Mary didn’t know. Auch für Gerhard Roth (2003, S. 562) ist die »Irreduzibilität des subjektiven Erlebniszustandes« ein wichtiges Argument gegen einen neurobiologischen Reduktionismus. Die Perspektive der ersten Person (also die nur introspektiv zugängliche Phänomenebene) lässt sich nicht einfach auf neurobiologische Parameter (also auf die Perspektive der dritten Person) zurückführen. Bei einer Reduktion psychischer Phänomene auf materielle Ereignisse geht Wesentliches verloren. Man spricht daher vom eliminativen Materialismus (Sturma 2005). Reduktionistische materialistische Theorien begegnen in der neueren Philosophie des Geistes als materialistische Geist-Gehirn-Identitätstheorie oder als Maschinen-Funktionalismus (Kim 1998; Beckermann 2008). Eine starke Version des Naturalismus ist die materialistische Identitätsthese (Angehrn 2012). Nach dieser Theorie sind subjektiv erlebte Phänomene wie Gedanken und Gefühle in Wirklichkeit nichts anderes als neurobiologische Prozesse. Dies impliziert eine Reduktion des Psychischen auf die Neurobiologie. In extremer Konsequenz führt diese Auffassung zur Ersetzung der Person durch das Gehirn. Das Satzsubjekt ist dann nicht mehr die Person, sondern das Gehirn, das bewertet, sich entscheidet, wahrnimmt, empfindet. Eine derartige Substitution ist kontraintuitiv. Moralisches Fehlverhalten oder eine falsche Entscheidung schreibt man gewöhnlich Personen zu und nicht ihrem Gehirn. Für eine begangene Straftat wird eine Person zur Verantwortung gezogen, nicht ihr Gehirn. Eine schwächere Version des Naturalismus ist der Funktionalismus (Angehrn 2012). Die Funktionsweise des Gehirns wird meist mit Computer-Metaphern beschrieben. Demnach werden psychische Phänomene durch neurobiologische Prozesse hervorgebracht, wobei die Art der Hervorbringung enigmatisch bleibt. Geistigen Prozessen liegen nach funktionalistischer Auffassung neurobiologische Vorgänge auf kryptische Weise irgendwie zugrunde. Neurowissenschaftliche Beschreibungen sind allerdings unvollständig, denn die spezifische Qualität von Empfindungen und Emotionen (Qualia) und auch der intentionale Gehalt des Bewusstseinsakts werden durch funktionalistische Korrelationen nicht vollständig und adäquat erfasst (Angehrn 2012). Dadurch sind Rückführungsversuche psychischer Phänomene auf materielle Prozesse grundsätzlich fragwürdig. Es bleibt immer eine unüberbrückbare Erklärungslücke zwischen der Perspektive der ersten und der dritten Person bestehen. Es fehlt immer etwas Wesentliches, wenn die psychische Phänomenebene naturalistisch reduziert wird. Es gibt also einen nicht unerheblichen Bereich, der durch naturalistische Formulierungen nicht erfasst und beschrieben werden kann.

Derartige reduktionistische Ansätze sind daher problematisch und insgesamt wenig überzeugend. Plausibler erscheint die Annahme, dass es zwei Arten von Kausalrelationen gibt: einerseits eine Verursachung vom Physikalischen zum Mentalen, andererseits aber auch eine Verursachung vom Mentalen zum Physikalischen (Kim 1998). Die psychotropen Effekte von Psychopharmaka oder Drogen sind ein Beispiel für die erste Kausalrelation, also vom Materiellen zum Psychischen. Die inzwischen nachweisbaren neurobiologischen Effekte von psychotherapeutischen Interventionen sind ein Beispiel für die zweite Kausalrelation, also vom Psychischen zum Materiellen. Zwischen Geist (mind) und Gehirn gibt es eine wechselseitige Interaktion, die Glen Gabbard (2000, S. 117) auf den Punkt gebracht hat: »Mental phenomena arise from the brain, but subjective experience also affects the brain.« Frappierend ähnlich formulierte es bereits Nancy Andreasen (1997, S. 1586) wenige Jahre zuvor in einem vielbeachteten Aufsatz: »[…] mental phenomena arise from the brain, but mental experience also affects the brain«. Das Modell der zirkulären Kausalität nach Fuchs (2011) erscheint in diesem Kontext überzeugend (siehe auch Rüegg 2011). Fuchs argumentiert dafür, dass subjektive Sinnkonstruktionen, Bedeutungszuschreibungen und Intentionalität in neurobiologische Vorgänge transformiert werden. Das funktioniert aber auch in umgekehrter Richtung. Demnach haben psychotherapeutische Interventionen naturgemäß sowohl eine subjektiv-introspektive als auch eine neurobiologisch-materielle Dimension.

Nach dem Modell der zirkulären Kausalität beeinflusst die subjektiv-introspektiv zugängliche Phänomenebene Struktur und Funktion des Gehirns. Demnach sind subjektive Erlebnisse nicht nur Epiphänomene von Gehirnzuständen, sondern mentale Ereignisse haben auch neurobiologische Effekte.

Psychische Krankheiten sind zweifellos auch Gehirnkrankheiten, aber neurobiologische Aspekte sind nur ein Teil in einem komplexen Bedingungsgefüge. Ein neurobiologischer Reduktionismus blendet psychosoziale Aspekte, aber auch die nur introspektiv zugängliche Phänomenebene und subjektive Sinnkonstruktionen aus und spielt deren Bedeutung für die Genese psychischer Erkrankungen herunter. »Psychiatrie als angewandte klinische Neurowissenschaft« – so lautet der Untertitel des Neurobiologie-Buches EinBlick ins Gehirn von Dieter Braus (2014). Den Begriff biologische Psychiatrie dürften viele heutige Psychiater geradezu als Pleonasmus empfinden, denn was für eine Psychiatrie sollte es außer einer biologischen denn sonst noch geben? Inzwischen gibt es Professuren für translationale Psychiatrie und Zeitschriften mit dem Titel Molecular Psychiatry. Der ehemalige Direktor des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie, Florian Holsboer, ist überzeugt, dass eine Depression »nichts anderes als gestörter Hirnstoffwechsel« sei (Süddeutsche Zeitung 30.5.2006, S. 16). Der niederländische Hirnforscher Dick Swaab bezeichnet eine Depression in seinem populärwissenschaftlichen Buch Wir sind unser Gehirn (2013, S. 157) umstandslos als »eine Entwicklungsstörung des Hypothalamus«. Ein so komplexes Krankheitsgeschehen wie die Anorexie mit intrapsychischer und interaktioneller Funktionalität fasst Swaab einseitig biologistisch auf: »Anorexia nervosa ist eine Hirnkrankheit« (Swaab 2013, S. 182) heißt es lapidar. Für Swaab ist die Anorexie nichts weiter als eine »Erkrankung des Hypothalamus« (Swaab 2013, S. 183).

Vor mehr als 100 Jahren warnte der Philosoph und Professor für Psychiatrie Karl Jaspers (1883–1969) vor derartigen Hirnmythologien. Er bezeichnete den Primat des Somatischen vor dem Psychischen als »somatische[s] Vorurteil«. Er sprach von »somatischen Konstruktionen«, die »phantastisch ausgefallen« seien und für die jede Grundlage fehle (Jaspers 1973, S. 15 f.). Auch Wilhelm Griesinger (1817–1868), der gemeinhin als Wegbereiter einer Gehirnpsychiatrie angesehen wird, vertrat keinen metaphysischen Materialismus. Auf dem Boden von erkenntniskritischen Einwänden hatte er eine bescheidenere Haltung und bezeichnete es als unbegreiflich, wie ein neuronaler Vorgang zu einem psychischen Phänomen transformiert werden kann. Griesinger war davon überzeugt, dass dieses Rätsel wohl ungelöst bleiben werde (Hoff 2012). In den 150 Jahren nach Griesinger hat sich in weiten Teilen der akademischen Psychiatrie ein unreflektierter Materialismus etabliert. Gegen derartige materialistische und reduktionistische Auffassungen argumentiert überzeugend der Philosoph Thomas Nagel (2016).

Der neurobiologische Ansatz hat dazu geführt, dass der biologistische Reduktionismus auch in die Psychotherapieforschung Einzug gehalten hat. Klaus Grawe formuliert seine Thesen allerdings vorsichtiger und zurückhaltender als die erwähnten Neurobiologen; er verwendet zumindest den Konjunktiv: Bei einer Depression »könnte man […] durchaus von einer Organkrankheit sprechen« (Grawe 2004, S. 153). Die Molekularisierung und Biologisierung der Psychiatrie bezeichnet der Schweizer Psychiater Daniel Hell (2014) zutreffend als Encephaliatrie. Zu beklagen ist der Bedeutungsverlust des verstehenden Zugangs. Die Psychopathologie wurde degradiert. Früher war sie eine zentrale Disziplin innerhalb der Psychiatrie, heute ist sie zu einem deskriptiven Kriterienkatalog verkümmert. Sinnvolle und wegweisende psychodynamische Differenzierungen werden in modernen Klassifikationssystemen ignoriert und fallengelassen. Die Folge einer solchen Entdifferenzierung ist beispielsweise ein Mixtum compositum wie depressive Episode. Ein derartiges nosologisch heterogenes Sammelsurium ist unbefriedigend und stellt einen Verlust dar.

Die Neurobiologisierung der Psychotherapie könnte dazu führen, dass der ganze Mensch aus dem Blick gerät und seine biographische Gewordenheit, die nur introspektiv zugängliche Subjektivität sowie psychosoziale, individuelle und interpersonelle Aspekte vernachlässigt werden. Es besteht die Gefahr, dass sich die Psychotherapie durch die Neurobiologie in eine Richtung bewegt, für die ich den Begriff Encephalotherapie vorschlage.

Im vorliegenden Buch soll keineswegs ein unzulässig fortschrittsoptimistisches Bild von der Neurobiologie gezeichnet werden, denn das wäre naiv. Die Neurowissenschaften sind en vogue und erfreuen sich einer guten Reputation. Daher nimmt man heute gerne Bezug auf neurowissenschaftliche Befunde, um dadurch psychologische Theorien auf eine prestigeträchtige und moderne Grundlage zu stellen. Oft stellt sich jedoch die Frage, ob der Rekurs auf die Neurobiologie nicht eher eine Art Garnitur darstellt, die dem Zeitgeist geschuldet ist. Bei der Entwicklung von Theorien auf neurobiologischer Basis spielt die subjektive Auswahl des jeweiligen Autors aus der kaum noch überschaubaren Flut von oft diskrepanten Einzelbefunden eine nicht zu unterschätzende Rolle. Das ist auch im vorliegenden Buch naturgemäß nicht anders. Grawes Buch Neuropsychotherapie enthält zweifellos eine Fülle von wertvollen und praxisrelevanten Anregungen für die psychotherapeutische Praxis. Allerdings ist die Frage durchaus berechtigt, ob es die Neurobiologie überhaupt braucht, um zu diesen Schlussfolgerungen zu kommen, wie der Titel des Buches suggeriert. Diese Frage ist zugegebenermaßen provokant. Die wesentlichen Aussagen und Leitregeln ließen sich auch ausschließlich auf der Grundlage von psychologischen Theorien und dem reichen praktischen Erfahrungsschatz des Autors als Therapeut und Psychotherapieforscher treffen (Schiepek et al. 2011b). Demnach käme man auch ohne neurobiologischen Schmuck aus, der als Fundament der Theorien ausgegeben wird. Wesentlich ist allerdings, dass die Kernaussagen Grawes nicht im Widerspruch zu neurobiologischen Fakten stehen. Das kann als wichtiger empirischer Prüfstein und als nachträglicher Beleg für die Plausibilität und die Richtigkeit der aus der Psychotherapieforschung gewonnenen psychologischen Konstrukte gewertet werden.

Die Neurowissenschaften haben Hochkonjunktur und produzieren daher einen »weltanschaulichen Überschuss« (Nida-Rümelin 2005, S. 161). Unser heutiges Menschenbild ist stark durch die Neurobiologie geprägt. Dies äußert sich in der vor einigen Jahren intensiv geführten Debatte über Willensfreiheit, Verantwortungs- und Schuldfähigkeit. Ganz ähnlich verhielt es sich mit anderen erfolgreichen Wissenschaftsdisziplinen in der Vergangenheit. Zu nennen ist der Universaldeterminismus des 18. Jahrhunderts auf dem Boden der Fortschritte der klassischen Physik. Auch Darwins Theorien produzierten einen weltanschaulichen Überschuss, der zum Sozialdarwinismus führte. Der Philosoph Julian Nida-Rümelin (2005) ist überzeugt, dass die Phase einer neurobiologisch inspirierten Weltanschauung wieder abflauen wird. Der wesentliche Grund für das Abklingen dieser Euphorie dürfte die Einsicht in die Komplexität des Gehirns und der Forschungsergebnisse sein.

In zahlreichen Publikationen wird leider viel Unfug getrieben mit den Begriffen Determinismus und Kausalität. Oft liegt es an begrifflicher Konfusion und mangelnder philosophischer Reflexion, wenn beispielsweise aus elektrophysiologischen Messungen des Bereitschaftspotentials oder auf der Grundlage von fMRT-Studien die Willensfreiheit des Menschen und moralische Verantwortung grundlegend bestritten und steile Thesen aufgestellt werden.