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In Edinburgh verschwindet eine Studentin, und Inspector John Rebus ahnt, dass man Philippa Balfour nicht mehr lebendig finden wird. Die Befürchtung scheint sich zu bestätigen, als in der Nähe ihres Heimatorts ein kleiner Holzsarg mit einer geschnitzten Puppe gefunden wird. Denn seit 1836 gab es in Schottland immer wieder rätselhafte Todesfälle, die mit ähnlichen Funden verbunden waren. Allerdings verfolgt Rebus auch noch eine weniger geschichtsträchtige Spur: Ein mysteriöser »Quizmaster« hatte über das Internet mit Philippa Balfour Kontakt aufgenommen …
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Seitenzahl: 929
Buch
In Edinburgh verschwindet eine Studentin aus den höchsten Kreisen, und Inspector John Rebus ahnt, dass man Philippa Balfour nicht mehr lebend finden wird. Als in der Nähe ihres Heimatorts ein kleiner Holzsarg mit einer geschnitzten Puppe auftaucht, scheinen sich seine Befürchtungen zu bestätigen. Denn es wäre nicht der erste Todesfall, der mit einem derartigen Fund in Verbindung steht. Seit 1836 waren in Schottland immer wieder ähnliche Särge entdeckt worden, rätselhafte Spuren einer Vergangenheit, die noch längst nicht abgeschlossen ist. Doch es gibt noch einen anderen, aktuelleren Hinweis auf Philippas Schicksal. Ein mysteriöser »Quizmaster« hatte die junge Frau über das Internet in ein gefährliches Spiel verwickelt, ein Spiel, das womöglich in den Tod führte. Siobhan Clarke, eine Kollegin von John Rebus, lässt sich auf dieses Spiel ein und ist dem »Quizmaster« schon bald hilflos ausgeliefert …
Weitere Informationen zu Ian Rankin sowie zu lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches.
Ian Rankin
Puppenspiel
Kriminalroman
Aus dem Englischenvon Christian Quatmann
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Die Originalausgabe erschien 2001 unter dem Titel »The Falls« bei Orion Books Ltd., London.
Neuveröffentlichung Oktober 2019
Copyright © der Originalausgabe 2001 by Ian Rankin
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2002
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München
Umschlagmotiv: © Laurence Winram / Trevillion Images
Th · Herstellung: mw
ISBN: 978-3-894-80770-2V005
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Für Allan und Euan,die den Ball ins Rollen gebracht haben.
Es war nicht mein Akzent – den habe ich weniger verloren als mir von den Schuhen gewischt, sobald ich nach England kam –, es war vielmehr mein eigener Gemütszustand, das typisch schottische Erbe meines Charakters, der gereizt war, aggressiv, hinterhältig, morbid und trotz aller Bemühungen unverbesserlich deistisch. Ich war ein trauriger Flüchtling aus dem Museum für Unnaturgeschichte und würde es immer bleiben.
Philip Kerr, The Unnatural History Museum
»Sie glauben, dass ich sie umgebracht habe, stimmt’s?«
Er saß mit gesenktem Kopf vorne auf der Sofakante. Sein glattes Haar hing ihm in langen Fransen ins Gesicht. Seine Knie bewegten sich wie Kolben unablässig auf und ab. Trotzdem berührten die Fersen seiner schmuddeligen Turnschuhe nicht ein einziges Mal den Boden.
»Haben Sie was genommen, David?«, fragte Rebus.
Der junge Mann blickte auf. Unter seinen geröteten Augen zeichneten sich dunkle Ringe ab. Ein hageres, kantiges Gesicht, Bartstoppeln auf dem unrasierten Kinn. Er hieß David Costello. Nicht Dave oder Davy, nein: David. Das hatte er sofort klargestellt. Namen, Klassifizierungen, all das schien ihm sehr wichtig zu sein. Auch die Medien hatten dem jungen Mann bereits einige Etiketten verpasst: Mal war er »der Freund«, dann »der tragische Freund« oder auch »der Freund der vermissten Studentin«. In einem Blatt war er lediglich »David Costello, 22«, ein anderes bezeichnete ihn als den »22-jährigen Kommilitonen David Costello«. Mal lebte er »gemeinsam mit Miss Balfour in einer Wohnung«, dann wieder war er nur ein »häufiger Gast in der Wohnung, aus der die Studentin unter mysteriösen Umständen verschwunden ist«.
Obwohl es sich natürlich auch bei der Wohnung nicht einfach um eine normale Wohnung handelte, vielmehr um eine »Wohnung in Edinburghs vornehmer Neustadt« respektive um »das 250000-Pfund-Domizil, das Miss Balfours Eltern ihrer Tochter spendiert haben«. John und Jacqueline Balfour wiederum traten mal als »die tief getroffenen Eltern«, mal als »der unter Schock stehende Banker und seine Frau« in Erscheinung. Und bei der vermissten Tochter der beiden schließlich handelte es sich um »Philippa, 20, die an der Universität Edinburgh Kunstgeschichte studiert«. Ein »hübsches«, »lebhaftes«, »unbekümmertes« junges Ding.
Und nun wurde sie also vermisst.
Als Inspektor Rebus die Hände von dem Sims des Marmorkamins hob und ein, zwei Schritte zur Seite trat, folgte ihm David Costello mit den Augen.
»Der Arzt hat mir ein paar Pillen gegeben«, beantwortete er Rebus’ Frage.
»Und – haben Sie sie genommen?«, fragte Rebus.
Der junge Mann schüttelte nur langsam den Kopf, ohne Rebus aus den Augen zu lassen.
»Kann ich Ihnen nicht verübeln«, sagte Rebus und schob die Hände in die Hosentaschen. »Verschafft einem ein paar Stunden Ruhe das Zeug, aber ändern tut es natürlich nichts.«
Philippa – oder »Flip«, wie ihre Freunde und Angehörigen sie nannten – war seit zwei Tagen verschollen. Noch nicht sehr lange, trotzdem war ihr Verschwinden rätselhaft. Noch um sieben Uhr abends hatte Flip sich telefonisch für acht Uhr mit Freunden in einer Bar auf der South Side verabredet. Es handelte sich um eines der kleinen trendigen Lokale, die neuerdings in der Uni-Gegend aus dem Boden schossen und ihre betuchte Jung-Klientel bei gedämpfter Beleuchtung mit überteuerten aromatisierten Wodkas versorgten. Rebus kannte das Lokal, schließlich war er auf dem Weg von und zur Arbeit schon mehrmals daran vorbeigekommen. Gleich nebenan war diese altmodische Kneipe, in der ein Wodkacocktail bloß ein Pfund fünfzig kostete. Allerdings fehlten die Designerstühle, und das Personal wusste zwar, was bei einer Schlägerei zu tun war, hatte aber von Cocktails keinen blassen Schimmer.
Folglich musste Flip gegen sieben, viertel nach sieben die Wohnung verlassen haben, während Tina, Trist, Camille und Albie sich schon die zweite Runde Drinks genehmigt hatten. Aus den Akten wusste Rebus bereits, was es mit diesen Namen auf sich hatte. Trist stand für Tristram und Albie für Albert. Trist war mit Tina liiert und Albie mit Camille. Eigentlich hätte Flip David mitbringen sollen, allerdings hatte sie schon am Telefon gesagt, dass David diesmal nicht dabei sein würde.
»Haben uns mal wieder gestritten«, hatte sie ohne viel Aufhebens erklärt.
Vor dem Verlassen der Wohnung hatte Flip noch die Alarmanlage eingeschaltet. Auch das war Rebus neu: eine Studentenbude mit Alarmanlage. Außerdem hatte sie den Riegel vorgelegt, die Wohnung also optimal gesichert. Dann war sie eine Treppe nach unten gegangen und in die warme Nacht hinausgetreten. Um zur Princes Street zu gelangen, hätte sie jetzt bloß einen steilen Hügel hinaufzugehen brauchen. Dann noch ein Aufstieg, und schon wäre sie in der Altstadt gewesen, genau genommen auf der South Side. Aber natürlich war sie nicht zu Fuß gegangen. Ein Taxi hatte sie allerdings auch nicht gerufen. Das hatte die Überprüfung der von ihr im Festnetz und per Handy angewählten Nummern bereits ergeben. Sollte sie trotzdem ein Taxi genommen haben, dann musste sie es auf der Straße angehalten haben.
Falls sie dazu überhaupt noch Gelegenheit gehabt hatte.
»Also, ich hab es jedenfalls nicht getan«, sagte David Costello.
»Was haben Sie nicht getan, Sir?«
»Ich habe sie nicht umgebracht.«
»Hat doch niemand behauptet.«
»Nein?« Costello blickte auf und sah Rebus direkt ins Gesicht.
»Nein«, beruhigte ihn Rebus, weil das zu seinem Job gehörte.
»Und der Durchsuchungsbefehl …«, fing Costello wieder an.
»Reine Routine«, erklärte Rebus. Was auch stimmte: Bei Vermisstenanzeigen suchte die Polizei zunächst sämtliche Orte auf, an denen der Betreffende sich möglicherweise aufhalten konnte. Das gehörte zur Routine: Man unterschrieb die nötigen Formulare und konnte sofort loslegen. Man sah sich beispielsweise in der Wohnung des Freundes um. Rebus verkniff sich die Bemerkung: Bewährt hat sich diese Vorgehensweise, weil der Täter in neun von zehn Fällen ein Bekannter oder Angehöriger des Opfers ist. Weil es sich bei ihm meistens nicht um einen Fremden handelte, der plötzlich aus der Nacht aufgetaucht war. Die meisten Menschen, die einem Mord zum Opfer fielen, wurden von einer ihnen nahe stehenden Person umgebracht: dem Ehepartner, dem Geliebten, dem Sohn, der Tochter. Vielleicht vom Onkel, dem besten Freund, dem einzigen Menschen, dem man vertraut hatte. Das Opfer hatte den Täter betrogen oder der Täter das Opfer. Man wusste etwas oder besaß etwas. Jemand war eifersüchtig, hatte sich eine Abfuhr geholt, brauchte unbedingt Geld.
Falls Flip Balfour wirklich tot war, würde ihre Leiche schon sehr bald gefunden. Wenn sie noch lebte und nicht gefunden werden wollte, stand die Polizei vor einem größeren Problem. Außerdem waren die Eltern des Mädchens ja bereits im Fernsehen aufgetreten und hatten ihre Tochter angefleht, sich bei ihnen zu melden. Ferner waren im Herrenhaus der Balfours ein paar Beamte im Einsatz, die sofort eine Fangschaltung installieren konnten, falls sich ein Entführer telefonisch melden und Lösegeld fordern sollte. Dann hatte sich die Polizei in der Hoffnung, dort vielleicht etwas Interessantes zu entdecken, noch in David Costellos Wohnung am Canongate umgesehen. Und schließlich hatte man ein paar Beamte hier in Flip Balfours Wohnung stationiert, um auf Costello aufzupassen und ihn vor den Medien abzuschirmen. Zumindest hatte man dem jungen Mann die Anwesenheit der Polizisten so erklärt und dabei noch nicht einmal die Unwahrheit gesagt.
Flips Wohnung war bereits am Vortag durchsucht worden. Costello hatte sämtliche Schlüssel, sogar die für die Alarmanlage. An dem Abend, als Flip verschwunden war, hatte Trist gegen zehn Uhr abends bei Costello angerufen und sich nach Flip erkundigt. Flip sei schon auf dem Weg ins Shapiro’s gewesen, erzählte er, war aber dort den ganzen Abend nicht aufgekreuzt.
»Sie ist nicht zufällig bei dir?«
»Bei mir wird sie garantiert nicht aufkreuzen«, hatte Costello nur beleidigt erwidert.
»Ich habe schon gehört, dass ihr euch mal wieder gestritten habt«, sagte Trist und konnte sich einen gewissen ironischen Unterton nicht ganz verkneifen. Doch Costello hatte ihn keiner Antwort gewürdigt, sondern das Gespräch einfach beendet und dann Flip auf ihrem Handy angerufen. Allerdings hatte er nur ihre Mailbox erreicht und sie gebeten, sich bei ihm zu melden. Später hatte die Polizei die Nachricht abgehört und einer genauen Analyse unterzogen. Gegen Mitternacht hatte sich Trist abermals bei Costello gemeldet. Die jungen Leute befanden sich inzwischen unten vor dem Haus, in dem Flip wohnte. Sie hatten überall herumtelefoniert, doch auch Flips übrige Freunde wussten von nichts. Also hatten sie vor dem Haus auf Costello gewartet, damit der ihnen die Tür aufschließen konnte. Flip war nicht da.
In den Augen ihrer Freunde galt Flip bereits zu diesem Zeitpunkt als »vermisst«. Trotzdem hatten sie die Mutter des Mädchens, die auf dem Landsitz der Familie in East Lothian lebte, erst am folgenden Morgen telefonisch benachrichtigt. Mrs Balfour hatte sofort die 999 gewählt, war bei der Polizei allerdings ziemlich knapp abgefertigt worden. Also hatte sie ihren Mann in seinem Londoner Büro verständigt. John Balfour war Mehrheitseigner einer Privatbank. Ob der Polizeichef persönlich zu den Privatkunden des Instituts zählte, wusste niemand so genau, aber Balfours Einfluss reichte bis weit in die oberen Ränge der Lothian and Borders Police. Und so hatten auf Anweisung aus der Zentrale in der Fettes Avenue schon eine Stunde später zwei Beamte die Ermittlungen aufgenommen.
David Costello hatte den beiden Kripobeamten die Tür von Flips Wohnung geöffnet. Allerdings konnten die Polizisten in dem Apartment nichts Auffälliges entdecken: weder Kampfspuren noch den geringsten Hinweis auf Philippa Balfours Aufenthaltsort, ihr Schicksal oder ihren Geisteszustand. Im Gegenteil. Die Wohnung befand sich in einem tadellosen Zustand: abgeschliffene Böden, frisch gestrichene Wände. (Sogar den Anstreicher hatte man vernommen.) Ein geräumiges Wohnzimmer mit zwei Fenstern, die vom Boden bis zur Decke reichten. Von den übrigen beiden Räumen diente eines als Arbeitszimmer, das andere als Schlafzimmer. Die Designerküche war etwas kleiner als das mit Pinienholz vertäfelte Bad. Im Schlafzimmer schließlich lagen auf einem Stuhl David Costellos aufgestapelte Kleider, obenauf einige Bücher, CDs und zum krönenden Abschluss ein Waschbeutel.
Costello gab notgedrungen zu, dass Flip die Sachen offenbar dort deponiert hatte. »Ja, wir haben uns gestritten«, sagte er zerknirscht. »Wahrscheinlich hat sie die Sachen auf den Stuhl gelegt, weil sie wütend auf mich war.« Ja, Flip und er hätten öfter Streit, räumte er ein, aber seine Sachen hatte sie bis dahin angeblich noch nie zusammengepackt, jedenfalls nicht, soweit er sich erinnern konnte.
John Balfour war in dem Privatjet eines verständnisvollen Geschäftsfreundes nach Schottland gereist und erschien fast früher in der Wohnung als die Polizei.
»Und?«, lautete seine erste Frage. Was Costello lediglich mit einem »Tut mir Leid« beschied.
Die Kripobeamten, die Zeuge der Begegnung waren, interpretierten in den knappen Wortwechsel hinterher allerlei hinein, nach dem Motto: Junger Mann hat lautstarke Auseinandersetzung mit seiner Freundin. Filmriss. Plötzlich sieht er, dass sie tot neben ihm liegt, versteckt die Leiche und als er dem Vater gegenübersteht, geht seine gute Erziehung mit ihm durch und er platzt mit dem Geständnis heraus.
Tut mir Leid.
Drei Worte, die sich sehr unterschiedlich deuten ließen: Tut mir Leid, dass wir gestritten haben. Tut mir Leid, dass ich Ihnen solche Umstände mache. Tut mir Leid, dass das passiert ist. Tut mir Leid, dass ich nicht besser auf Ihre Tochter aufgepasst habe. Tut mir schrecklich Leid, dass ich Ihre Tochter …
Auch David Costellos Eltern waren inzwischen in der Stadt eingetroffen und hatten in einem der besten Hotels zwei Zimmer gemietet. Zu Hause waren die beiden in einem Vorort von Dublin. Der Vater, Thomas, war nach Auskunft der Unterlagen »vermögend«, während die Mutter, Theresa, als Innenarchitektin arbeitete.
Zwei Zimmer. Natürlich hatten die zuständigen Beamten in der St. Leonard’s Street darüber diskutiert, warum die Eheleute unbedingt zwei Zimmer brauchten. Andererseits wohnten die Leute auch in Dublin in einem Haus mit acht Zimmern, obwohl sie nur ein Kind hatten, David.
Weiterhin hatte man gerätselt, wieso das Revier in der St. Leonard’s Street in Edinburgh Mitte ausgerechnet mit einem Fall in der New Town betraut wurde. Immerhin lag die Wohnung im Bereich der Kollegen vom Gayfield Square. Doch die dortige Führung hatte nicht nur aus der St. Leonard’s Street Verstärkung angefordert, sondern sogar aus Leith und vom Torphichen Place.
Offenbar hatte da jemand ein paar Hebel in Bewegung gesetzt – so die allgemeine Auffassung. »Lasst alles stehen und liegen, irgend so ein verwöhntes Gör ist durchgebrannt.«
Insgeheim teilte Rebus diese Meinung.
»Möchten Sie irgendwas?«, fragte er jetzt. »Tee? Kaffee?« Costello schüttelte den Kopf.
»Was dagegen, wenn ich …?«
Costello sah ihn verwundert an. Dann erst dämmerte es ihm. »Natürlich nicht – bitte, bedienen Sie sich«, sagte er. »Die Küche ist …«, eine vage Geste mit der Hand.
»Ich weiß schon, danke«, sagte Rebus. Er machte die Tür hinter sich zu und blieb ein paar Sekunden im Gang stehen, froh, der bedrückenden Atmosphäre im Wohnzimmer wenigstens kurzzeitig entronnen zu sein. Er hatte Kopfweh, seine Augen brannten. Dann hörte er nebenan im Arbeitszimmer Geräusche. Rebus schob den Kopf durch die offene Tür.
»Ich wollte gerade Wasser aufsetzen.«
»Gute Idee.« Detective Siobhan Clarke starrte weiter auf den Computerbildschirm.
»Und?«
»Ja – Tee, bitte.«
»Ich meine …«
»Nein, bisher nichts Besonderes. Ein paar Briefe an Freunde, einige Seminararbeiten. Und dann muss ich noch ungefähr tausend E-Mails durchsehen. Wäre nicht schlecht, wenn ich ihr Passwort hätte.«
»Mr Costello behauptet, sie hätte es ihm nie gesagt.«
Clarke räusperte sich.
»Wie bitte?«, fragte Rebus.
»Nichts, hab nur einen Frosch im Hals«, sagte Clarke. »Für mich bitte ohne Zucker, nur Milch, danke.«
Rebus drehte sich um, ging in die Küche, ließ Wasser in den Wasserkocher laufen und hielt dann nach Tassen und Teebeuteln Ausschau.
»Wann darf ich endlich nach Hause?«
Als Rebus herumfuhr, stand Costello hinter ihm im Gang.
»Da sollten sie lieber gar nicht hin«, sagte Rebus. »Reporter, Kameras, Sie werden keine Sekunde Ruhe haben. Außerdem dürfte Ihr Telefon in den nächsten Tagen durchgehend klingeln.«
»Ich ziehe den Stecker raus.«
»Sie werden sich wie im Gefängnis vorkommen.«
Der junge Mann zuckte bloß mit den Achseln und brummte etwas in seinen Bart.
»Bitte?«
»Ich halt es hier nicht mehr aus«, wiederholte Costello.
»Wieso nicht?«
»Keine Ahnung … also …« Der junge Mann zuckte wieder mit den Achseln und strich sich mit den Händen das Haar aus der Stirn. »Eigentlich sollte Flip jetzt hier sein. Ich halt das einfach nicht aus. Ständig muss ich daran denken, wie wir uns gestritten haben, als wir das letzte Mal zusammen hier in der Wohnung waren.«
»Und worüber?«
Costello lachte hohl. »Kann ich echt nicht mehr sagen.«
»Das war vorgestern, oder?«
»Ja, am Nachmittag. Und dann bin ich einfach abgehauen.«
»Soll das heißen, dass Sie öfter streiten?«, fragte Rebus mit gespielter Beiläufigkeit.
Costello stand wie betäubt da, starrte vor sich auf den Boden und schüttelte langsam den Kopf. Rebus drehte sich wieder um, zog zwei Darjeeling-Teebeutel aus der Packung und gab sie in die Tassen. Ob dieser Costello allmählich die Fassung verlor? Und ob Siobhan Clarke nebenan den kleinen Dialog zwischen dem jungen Mann und ihm mitgehört hatte? Natürlich, sie waren hier, um auf Costello aufzupassen, und zwar rund um die Uhr, in drei Schichten. Allerdings gab es noch einen weiteren Grund für Davids Anwesenheit. Offiziell war sie erforderlich, damit er der Polizei sagen konnte, wer sich hinter den Namen verbarg, die in Philippa Balfours Korrespondenz auftauchten. Aber Rebus hatte ihn auch hergebeten, weil es sich bei der Wohnung womöglich um den Tatort handelte. Denkbar, dass David Costello etwas zu verbergen hatte. Auf dem Revier in der St. Leonard’s Street standen die Wetten diesbezüglich unentschieden, am Torphichen Place zwei zu eins, während Costello am Gayfield Square schon fast als überführt galt.
»Ihre Eltern haben gesagt, dass Sie zu ihnen ins Hotel ziehen können«, sagte Rebus. Er drehte sich um und sah Costello an. »Wenigstens haben sie zwei Zimmer gebucht, also dürfte eines davon leer stehen.«
Auf diesen Trick fiel Costello allerdings nicht herein. Er musterte den Polizisten nur ein weiteres Mal, drehte sich dann um und blickte ins Arbeitszimmer.
»Schon was gefunden?«, fragte er.
»Kann noch eine Weile dauern, David«, entgegnete Siobhan. »Am besten, Sie lassen uns einfach unsere Arbeit tun.«
»In der Kiste finden Sie ohnehin nichts, was Ihnen weiterhilft.« Er meinte den Computer. Als sie nicht reagierte, richtete er sich auf und legte den Kopf ein wenig zur Seite. »Aber davon verstehen Sie ja ohnehin mehr als ich.«
»Muss nun mal gemacht werden.« Sie sprach leise, als ob sie nicht wollte, dass man sie außerhalb des Zimmers hören konnte.
Costello wollte schon etwas erwidern, besann sich dann jedoch eines Besseren und ging wieder ins Wohnzimmer. Rebus brachte Siobhan ihren Tee.
»Das nenne ich Stil«, sagte sie und inspizierte den Teebeutel, der in der Tasse schwamm.
»Ich wusste nicht, wie stark Sie ihn mögen«, sagte Rebus zu seiner Rechtfertigung. »Und? Was ist Ihr Eindruck?«
Sie überlegte einen Augenblick. »Möglich, dass er die Wahrheit sagt.«
»Kann aber auch sein, dass Sie auf gut aussehende Jungs stehen.«
Sie schnaubte, angelte den Teebeutel aus der Tasse und beförderte ihn in den Müll. »Schon möglich«, sagte sie. »Und Sie, was glauben Sie?«
»Morgen ist die Pressekonferenz. Glauben Sie, dass wir diesen Costello dazu überreden können, über die Medien an seine Freundin zu appellieren?«
Die Abendschicht übernahmen zwei Kripobeamte vom Gayfield Square. Rebus fuhr nach Hause und ließ sich ein Bad einlaufen. Er hatte das dringende Bedürfnis, ausgiebig zu baden, und gab etwas Spülmittel in das heiße Wasser, wie es bereits seine Eltern getan hatten, als er noch klein war. Immer wenn er abends völlig verdreckt vom Bolzplatz nach Hause gekommen war, hatte dort bereits ein mit Spülmittel angereichertes heißes Bad auf ihn gewartet. Nicht, dass seine Eltern sich kein richtiges Schaumbad hatten leisten können: »Aber das ist schließlich auch nichts anderes als sündteure Flüssigseife«, hatte seine Mutter immer gesagt.
In Philippa Balfours Bad hatte er mehr als ein Dutzend verschiedene »Aromabäder«, Badelotionen und Schaumbäder gesehen. Rebus inspizierte kurz seine eigenen Vorräte: Rasierer, Rasierschaum, Zahnpasta, eine einsame Zahnbürste und ein Stück Seife. Und in dem Medizinschränkchen: Heftpflaster, Schmerztabletten und ein Päckchen Kondome. Er öffnete die Schachtel: ein Gummi. Das Verfallsdatum war im vergangenen Sommer abgelaufen. Als er das Schränkchen wieder zumachte, sah er sich plötzlich im Spiegel: graugesichtig und graue Strähnen im Haar. Und ein leichtes Doppelkinn hatte er auch schon, sogar, wenn er den Unterkiefer etwas vorschob. Er versuchte zu lächeln und erhaschte einen Blick auf seine Zähne. Er müsste dringend mal wieder zum Zahnarzt. Der hatte ohnehin schon gedroht, Rebus aus der Kartei zu werfen.
»Hinten anstellen beim Rausschmeißen …«, murmelte Rebus und kehrte dem Spiegel den Rücken zu, während er sich auszog.
Die Abschiedsparty, zu der Hauptkommissar »Farmer« Watson anlässlich seines Eintritts in den Ruhestand geladen hatte, war bereits seit sechs Uhr im Gang. Genau genommen handelte es sich bereits um die dritte oder vierte derartige Party, wobei diese allerdings tatsächlich die letzte sein sollte und als einzige einen offiziellen Charakter besaß. Also hatte man den Polizeiclub am Leith Walk mit Girlanden und Luftballons geschmückt und ein großes Banner mit der Aufschrift WERSOVIELEVERBRECHERFAND, GEHTWOHLVERDIENTINRUHESTAND aufgehängt. Irgendein Witzbold hatte sogar ein Bündel Stroh auf der Tanzfläche deponiert und das ländliche Idyll durch ein aufblasbares Schwein und einige Plastikschafe vervollkommnet. An der Bar herrschte bereits Hochbetrieb, als Rebus hereinkam. Auf dem Weg in das Gebäude waren ihm drei hochrangige Beamte aus der Zentrale entgegengekommen. Ein Blick auf seine Uhr: 18.40. Vierzig Minuten ihrer kostbaren Zeit, um dem scheidenden Hauptkommissar die Ehre zu erweisen.
Erst ein paar Stunden zuvor hatte es auf dem Revier in der St. Leonard’s Street eine kleine Feier gegeben, an der Rebus nicht hatte teilnehmen können. Er hatte auf Costello aufpassen müssen. Aber ihm war etwas von einer Rede zu Ohren gekommen, die Colin Carswell, der stellvertretende Polizeichef – auch Vize genannt – bei dieser Gelegenheit gehalten hatte. Außerdem hatten einige, zum Teil bereits pensionierte, Beamte, mit denen der Farmer während der verschiedenen Stationen seines Berufslebens zu tun gehabt hatte, ein paar Worte gesprochen. Anschließend waren die Herren in Erwartung der abendlichen Festivitäten gleich dageblieben und hatten den Nachmittag über, wie es aussah, schon einiges getrunken. Jedenfalls lag ein rötlicher Glanz auf ihren Gesichtern, und auch ihre Krawatten hatten bereits ein Eigenleben begonnen. Einer der Männer gab sich sogar redlich Mühe, mit seinem Gesang die Musik zu übertönen, die aus großen Lautsprechern von der Decke in den Raum hämmerte.
»Was darf ich Ihnen spendieren, John?«, fragte der Farmer und erhob sich von seinem Tisch, um Rebus an der Theke Gesellschaft zu leisten.
»Vielleicht einen kleinen Whisky, Sir.«
»Eine halbe Flasche Malt, wenn’s recht ist!«, brüllte der Farmer dem Barmann zu, der gerade ein paar Bier zapfte. Dann sah der Farmer Rebus mit zusammengekniffenen Augen an. »Haben Sie diese Scheißer aus der Zentrale gesehen?«
»Sind mir beim Reinkommen begegnet.«
»Haben die ganze Zeit nur Orangensaft getrunken und sich dann, so schnell es ging, wieder verdrückt.« Der Farmer hatte bereits eine reichlich schwere Zunge und bemühte sich, deutlich zu sprechen. »Ganss feine Pinkel waren das«, schimpfte Watson, »glauben wohl, dass sie was Besseres sind, was?«
Rebus lächelte und bestellte bei dem Barmann einen Ardbeg.
»Geben Sie ihm wenigssens einen Doppelten«, befahl der Farmer.
»Und Sie selbst, Sir? Schon zum Trinken gekommen?«, fragte Rebus.
Der Farmer blies die Backen auf. »Sehen Sie die alten Knaben da drüben an dem Tisch? Sind heute extra hergekommen, um meinen Ausstand mit mir ssu feiern.« Er wies mit dem Kopf zu einem Tisch, an dem sich eine Gruppe Betrunkener an ihren Gläsern festhielt. Dahinter einige weitere Tische mit dem Büfett: Kanapees, Würstchen, Chips und Erdnüsse. Rebus entdeckte außerdem etliche Kollegen, die er aus anderen Lothian-und-Borders-Revieren kannte: Macari, Allder, Shug Davidson, Roy Frazer. Bill Pryde unterhielt sich mit Bobby Hogan. Grant Hood wiederum versuchte, sich möglichst unauffällig bei zwei Kripobeamten anzubiedern: Claverhouse und Ormiston. George »Hi-Ho« Silvers musste zu seinem Leidwesen feststellen, dass sich Phyllida Hawes und Ellen Wylie, zwei junge Kolleginnen, von seinen Sprüchen nur wenig beeindruckt zeigten. Jane Barbour aus der Zentrale wiederum sprach lebhaft mit Siobhan Clarke, mit der sie früher mal zusammengearbeitet hatte.
»Sollte unsere Klientel Wind davon bekommen, was hier heute Abend läuft«, sagte Rebus, »dann dürfte einiges geboten sein. Hält überhaupt noch jemand die Stellung?«
Der Farmer lachte. »Immerhin haben wir in der St. Leonard’s Street eine Art Notbesetzung.«
»Rege Beteiligung hier. Wäre bei meinem Abschied wohl anders.«
»Klar – da kämen doppelt so viele.« Der Farmer rückte noch etwas näher. »Ihnen wird die komplette Führungsriege die Ehre erweisen. Schon allein, um sich höchstpersönlich davon zu überzeugen, dass sie nicht träumen.«
Rebus lächelte. Er hob das Glas und prostete seinem Chef zu. Die beiden Männer genossen den Whisky wie wahre Kenner. Der Farmer leckte sich die Lippen.
»Und? Wie lange wollen Sie noch weitermachen?«
Rebus zuckte mit den Schultern. »Bin noch keine dreißig Jahre dabei.«
»Müsste aber bald so weit sein.«
»Hab nicht mitgezählt.« Doch natürlich log Rebus: Fast jede Woche dachte er über seine Pensionierung nach. Nach dreißig Dienstjahren war man nämlich pensionsberechtigt. Und davon träumten viele seiner Kollegen: noch vor dem Sechzigsten in Rente und ein Häuschen irgendwo am Meer.
»Eigentlich erzähle ich die Geschichte nicht so häufig«, sagte der Farmer und räusperte sich. »Aber als ich damals bei der Polizei angefangen habe, hatte ich gleich in der ersten Woche Nachtdienst vorne am Empfang. Und dann kommt dieser Junge herein, höchstens elf oder zwölf, und sagt zu mir: ›Ich hab meine kleine Schwester kaputtgemacht.‹« Der Farmer starrte vor sich hin. »Ich sehe ihn noch wie heute, kann mich an jedes Wort erinnern … ›Ich hab meine kleine Schwester kaputtgemacht.‹ Ich hatte keinen blassen Schimmer, was er überhaupt meint. Und dann stellt sich raus, dass er seine Schwester die Treppe runtergestoßen hat. War tot, das Mädchen.« Watson hielt inne und nahm einen Schluck Whisky. »Meine erste Woche im Dienst. Wissen Sie, was mein Sergeant damals gesagt hat? ›Kann nur besser werden.‹« Er lächelte wehmütig. »Schwer zu sagen, ob der Mann Recht behalten hat …« Plötzlich riss er die Arme in die Höhe, und aus dem Lächeln wurde ein breites Grinsen. »Da ist sie ja! Da ist sie ja! Und ich hab schon befürchtet, dass sie mich versetzt.«
Er schloss die neue Hauptkommissarin Gill Templer so fest in die Arme, dass sie kaum mehr zu sehen war, und verpasste ihr dann einen Kuss auf die Wange. »Sie sind nicht zufällig die angekündigte Varietékünstlerin, die wir so sehnsüchtig erwarten?«, fragte er. Dann schlug er sich in gespielter Zerknirschung mit der Hand gegen die Stirn. »Oh mein Gott, eine sexistische Äußerung. Sie werden mich doch nicht etwa anzeigen?«
»Ich drück noch mal ein Auge zu«, sagte Gill, »falls Sie mir einen Drink spendieren.«
»Ich bin dran«, sagte Rebus. »Was möchten Sie denn?«
»Einen verlängerten Wodka.«
Dann brüllte Bobby Hogan dem Farmer was ins Ohr, und Watson wandte sich zum Gehen.
»Die Pflicht ruft«, sagte er entschuldigend, bevor er davonwankte.
»Kommt jetzt sein Auftritt?«, fragte Gill.
Rebus zuckte mit den Schultern. Der Farmer hatte nämlich eine Spezialität: Er konnte sämtliche Bücher der Bibel auswendig herunterrattern. Dabei lag sein Rekord bei etwas unter einer Minute – eine Bestmarke, die er heute kaum unterbieten würde.
»Einen verlängerten Wodka«, sagte Rebus zu dem Barmann. Er hob sein Whiskyglas. »Und noch zwei hiervon.« Er sah Gills Blick. »Einer ist für den Farmer«, sagte er.
»Klar doch.« Obwohl ihre Lippen lächelten, blieben ihre Augen ernst.
»Und? Schon einen Termin für Ihre eigene Party ausgetüftelt?«, fragte Rebus.
»Bitte?«
»Nur so ein Gedanke: erste Hauptkommissarin in Schottland – wäre doch ein Grund zum Feiern.«
»Ich hab einen Piccolo aufgemacht, als ich es erfahren habe.« Sie beobachtete den Barmann, wie er Angostura in ihr Glas tröpfelte. »Gibt es was Neues in dem Fall Balfour?«
Rebus sah sie an. »Spricht da meine neue Vorgesetzte?«
»John …«
Komisch, wie vielsagend so ein kleines Wort manchmal klingen konnte. Rebus war sich nicht ganz sicher, ob er sämtliche Nuancen mitbekommen hatte, trotzdem verstand er ziemlich genau.
John, hören Sie endlich auf mit dem Quatsch.
John, ich weiß, es hat da zwischen uns diese Geschichte gegeben, aber das ist schon lange her.
Gill Templer hatte wie wahnsinnig gearbeitet, um diese Stelle zu bekommen, trotzdem stand sie auch weiterhin unter Beobachtung: Etliche Leute wünschten sich nichts sehnlicher, als dass sie scheitern würde – darunter einige, die sie wahrscheinlich für ihre Freunde hielt.
Rebus nickte bloß, bezahlte die Getränke und schüttete den zweiten Whisky in sein Glas.
»Nur damit der arme Mann nicht zu viel trinkt«, sagte er und wies mit dem Kopf auf den Farmer, der bereits beim neuen Testament angelangt war.
»Ein Beispiel wahrer Selbstaufopferung«, sagte Gill.
Als der Farmer mit seiner Aufzählung fertig war, brach allgemeiner Jubel aus. Irgendwer behauptete sogar, Watson hätte einen neuen Rekord aufgestellt. Eine fromme Lüge, eine Geste wie das Überreichen einer Uhr. Mochte der Malt auch nach Tang und Torf schmecken, Rebus hatte dennoch das untrügliche Gefühl, dass er von nun an bei jedem Glas Ardbeg an einen kleinen Jungen denken würde, der durch die Tür eines Polizeireviers trat …
Siobhan Clarke bahnte sich ihren Weg durch die übrigen Gäste.
»Meinen Glückwunsch«, sagte sie.
Die beiden Frauen schüttelten einander die Hand.
»Danke, Siobhan«, sagte Gill. »Vielleicht werden Sie ja eines Tages meine Nachfolgerin.«
»Wieso eigentlich nicht?«, stimmte Siobhan ihr zu. »Mit dem Gummiknüppel durch die geschlossenen Reihen der männlichen Konkurrenz.« Sie stieß mit der Faust in die Luft.
»Was zu trinken, Siobhan?«, fragte Rebus.
Die beiden Frauen sahen sich an. »Drinks bestellen, das können sie immerhin«, sagte Siobhan augenzwinkernd. Während die beiden Frauen sich köstlich amüsierten, trat Rebus den Rückzug an.
Um neun Uhr begann die Karaokevorstellung. Rebus ging auf die Toilette und spürte, wie der Schweiß auf seinem Rücken kalt wurde. Die Krawatte hatte er bereits abgenommen und in der Tasche verstaut. Seine Jacke hing unweit der Bar über einer Stuhllehne. Auf der Feier herrschte ein ständiges Kommen und Gehen: Etliche Beamte waren bereits verschwunden, entweder, weil sie für die Nachtschicht eingeteilt waren oder weil sie auf ihren Handys irgendwelche Nachrichten vorgefunden hatten. Andere Kollegen, die nach Hause gefahren waren und sich umgezogen hatten, kamen dafür erst jetzt. Eine junge Beamtin aus der St. Leonard’s Street erschien sogar im Minirock – das erste Mal, dass Rebus ihre Beine zu sehen bekam. Ein paar schlichte Gemüter, die der Farmer offenbar aus seiner Zeit im West Lothian kannte, hatten Fotos mitgebracht, auf denen das Gesicht eines fünfundzwanzig Jahre jüngeren Watson zu sehen war. Sie hatten den Kopf des Farmers auf Abbildungen irgendwelcher Muskelprotze montiert, die zum Teil in reichlich geschmacklosen Positionen abgelichtet waren.
Rebus wusch sich die Hände und klatschte sich etwas kaltes Wasser ins Gesicht; dann massierte er sich mit der nassen Hand den Nacken. Natürlich gab es nur einen elektrischen Händetrockner. Also musste er sich umständlich mit dem Taschentuch trocken reiben. Und genau in diesem Augenblick kam Bobby Hogan hereinspaziert.
»Sieht ganz so aus, als ob du dich verdrückt hättest«, sagte Hogan und trat an eines der Urinbecken.
»Hast du schon mal gehört, wie ich singe, Bobby?«
»Warum treten wir nicht einfach als Duett auf und singen ›Ein Loch ist im Eimer‹?«
»Das kennt doch außer uns keiner.«
Hogan kicherte. »Weißt du noch, als wir hier die Jungtürken gespielt haben?«
»Schon lange restlos fertig«, sagte Rebus halb zu sich selbst. Hogan glaubte sich verhört zu haben, doch Rebus schüttelte bloß den Kopf.
»Und wer ist der nächste Glückliche, der verabschiedet wird?«, fragte Hogan und wollte schon wieder hinausgehen.
»Ich nicht«, ließ Rebus verlauten.
»Nein?«
Rebus wischte sich abermals mit dem Taschentuch den Nacken. »Ich kann nicht in Pension gehen, Bobby. Das wäre Selbstmord.«
Hogan schnaubte. »Geht mir genauso. Aber der Job ist ebenfalls Selbstmord.« Die beiden Männer sahen sich an. Hogan zwinkerte Rebus zu und stieß die Tür auf. Sie traten wieder in die Hitze und den Lärm hinaus, und Hogan öffnete die Arme, um einen alten Freund zu begrüßen. Einer von Watsons Kumpels schob Rebus ein Glas zu.
»Ardbeg, oder?«
Rebus nickte und leckte sich ein paar Whiskyspritzer vom Handrücken. Dann hob er das Glas und leerte es auf einen Zug, während er im Geist einen kleinen Jungen vor sich sah, der eine schreckliche Nachricht zu überbringen hatte.
Er zog den Schlüsselbund aus der Tasche und sperrte die Eingangstür des Mietshauses auf. Die Schlüssel waren nagelneu, erst ein paar Stunden alt. Auf dem Weg zur Treppe stieß er ein paar Mal mit der Schulter gegen die Wand und hielt sich beim Aufstieg sicherheitshalber am Geländer fest. Schließlich öffnete er mit zwei weiteren nagelneuen Schlüsseln die Eingangstür zu Philippa Balfours Wohnung.
Es war niemand da, und auch die Alarmanlage war nicht eingeschaltet. Er machte das Licht an. Der rutschige Teppich, auf dem er stand, schien sich unbedingt um seine Knöchel wickeln zu wollen, deshalb stützte Rebus sich gegen die Wand, um sich davon zu befreien. Die Zimmer befanden sich in demselben Zustand, in dem er sie zurückgelassen hatte, nur dass der Computer nicht mehr auf dem Schreibtisch stand, weil man ihn inzwischen aufs Revier verfrachtet hatte. Siobhan Clarke hoffte nämlich, dass ein Mitarbeiter von Balfours Internet-Provider ihr dabei helfen könnte, das Passwort zu umgehen.
Der Stapel mit David Costellos Kleidern, der sich noch vor ein paar Stunden auf dem Stuhl im Schlafzimmer befunden hatte, war nicht mehr da. Rebus vermutete, dass Costello selbst die Sachen mitgenommen hatte. Offenbar hatte ihm jemand dazu die Erlaubnis gegeben, denn ohne Zustimmung der Polizei durfte nichts aus der Wohnung entfernt werden. Vermutlich hatten die Kriminaltechniker die Kleider vorher inspiziert und sogar Materialproben genommen. Es wurde bereits etwas von Sparmaßnahmen gemunkelt, weil die Kosten in einem Fall wie dem vorliegenden leicht explodieren konnten.
In der Küche füllte Rebus ein großes Glas mit Wasser und ging dann ins Wohnzimmer und setzte sich etwa an dieselbe Stelle, wo zuvor David Costello gesessen hatte. An seinem Kinn liefen ein paar Wassertropfen herunter. Die Bilder an den Wänden – gerahmte abstrakte Gemälde – fingen an zu tanzen, sobald er die Augen bewegte. Er beugte sich vor, um das leere Glas auf den Boden zu stellen, und landete dabei auf allen vieren. Irgendwer musste ihm etwas in die Drinks getan haben – einzig mögliche Erklärung. Er drehte sich um und saß einen Moment mit geschlossenen Augen da. Häufig war die Fahndung nach einer als vermisst gemeldeten Person völliger Unsinn. Denn entweder tauchten die Leute von allein wieder auf, oder aber sie wollten gar nicht gefunden werden. Es waren so viele … Fotos und Personenbeschreibungen gingen kontinuierlich über seinen Schreibtisch, die Gesichter auf den Bildern waren nur unscharf zu erkennen, so als ob die verschwundenen Personen sich bereits in Gespenster verwandelt hätten. Er öffnete die Augen und blickte zur Decke mit dem reich verzierten Gesims hinauf. Große Wohnungen gab es hier in der Neustadt, doch Rebus zog sein eigenes Viertel vor: mehr Läden und nicht so schick …
Der Ardbeg … irgendwer musste ihm etwas hineingetan haben. Gut möglich, dass er das Zeug in Zukunft nicht mehr anrühren würde. Dieser Whisky würde von nun an ein eigenes Gespenst heraufbeschwören. Er überlegte, was aus dem Jungen geworden sein mochte: War es ein Unfall oder Absicht gewesen? Der Junge könnte inzwischen eigene Kinder haben – oder sogar schon Enkel. Ob er wohl noch von der Schwester träumte, die er damals umgebracht hatte? Ob er sich noch an den nervösen jungen Uniformierten erinnerte, mit dem er auf dem Revier zuerst gesprochen hatte? Rebus strich mit den Händen über den Boden, nacktes abgeschliffenes und lackiertes Holz. Wenigstens hatte die Spurensicherung die Dielen nicht herausgebrochen – noch nicht. Er befingerte den Ritz zwischen zwei Brettern, schob die Fingernägel hinein, fand jedoch keinen Halt. Irgendwie stieß er dabei das Glas um, das mit lautem Getöse über den Boden rollte. Rebus verfolgte es mit den Augen, bis es nahe der Tür liegen blieb, wo plötzlich zwei Füße erschienen.
»Was, zum Teufel, ist hier los?«
Rebus rappelte sich auf. Der Mann, der vor ihm stand, war etwa Mitte vierzig und hatte die Hände in den Taschen eines dreiviertellangen schwarzen Wollmantels vergraben. Er richtete sich auf, sodass er fast die gesamte Tür ausfüllte.
»Wer sind Sie?«, fragte Rebus.
Der Mann zog eine Hand aus der Tasche und brachte ein Handy zum Vorschein. »Ich ruf die Polizei«, sagte er.
»Ich bin von der Polizei.« Rebus gab dem Fremden seine Kennmarke. »Inspektor Rebus.«
Der Mann inspizierte die Marke und gab sie dann zurück. »John Balfour«, sagte er, und seine Stimme verlor ein wenig von ihrer Schärfe. Rebus nickte. So viel hatte er schon kapiert.
»Tut mir Leid, wenn ich …« Rebus sprach den Satz nicht zu Ende. Als er die Kennmarke wieder in die Tasche schob, knickte er kurz im linken Knie ein.
»Sie haben getrunken«, sagte Balfour.
»Ja, tut mir Leid. Abschiedsparty. Aber ich bin nicht im Dienst, falls Sie das meinen.«
»Dann darf ich vielleicht fragen, was Sie in der Wohnung meiner Tochter zu suchen haben?«
»Sie dürfen«, räumte Rebus ein. Er blickte um sich. »Ich wollte nur … also, ich glaube, ich …« Doch ihm fielen einfach nicht die richtigen Worte ein.
»Würden Sie bitte gehen?«
Rebus nickte dem Mann zu. »Klar.« Balfour trat leicht angewidert beiseite, um jede Berührung mit dem betrunkenen Polizisten zu vermeiden. Draußen im Gang blieb Rebus stehen, drehte sich halb um, um sich nochmals zu entschuldigen, doch Philippa Balfours Vater war bereits drüben im Salon ans Fenster getreten und starrte in die Nacht hinaus, während er sich rechts und links an den Fensterläden festhielt.
Rebus ging – inzwischen wieder halbwegs nüchtern – die Treppe hinunter, zog die Eingangstür hinter sich zu und verzichtete darauf, noch einmal zu dem Fenster im ersten Stock hinaufzublicken. Die Straßen lagen verlassen da. Es hatte geregnet, und auf dem Pflaster stand an manchen Stellen noch Wasser, in dem sich die Straßenlaternen spiegelten. Als Rebus jetzt wieder den Hang hinaufstieg, war außer seinen Schritten weit und breit nichts zu hören: Queen Street, George Street, Princes Street und dann North Bridge. Unterwegs sah er Kneipenbesucher, die nach einem Taxi oder abhanden gekommenen Freunden Ausschau hielten. An der Kirche Tron Kirk bog er schließlich nach links in die Canongate. Am Randstein stand ein Streifenwagen, in dem zwei Zivilbeamte hockten, der eine war wach, der andere schlief. Die beiden Polizisten arbeiteten auf dem Revier am Gayfield Square und hatten entweder reichlich Pech gehabt, oder aber sie erfreuten sich der uneingeschränkten Abneigung ihres Vorgesetzten: Anders ließ sich eine derart undankbare Nachtschicht kaum erklären. In den Augen des Beamten, der sich mühsam wach hielt, war Rebus nur ein zufälliger Passant. Der Mann las in einer Zeitung, die er so positioniert hatte, dass sie vom Licht einer Straßenlaterne notdürftig beleuchtet wurde. Als Rebus auf das Dach des Streifenwagens klopfte, flog die Zeitung durch die Luft und landete auf dem Kopf des schlafenden Beamten, der wie von der Tarantel gestochen auffuhr und nach den Blättern griff.
Dann ging auf der Beifahrerseite das Fenster herunter, und Rebus beugte sich herab. »Der Einuhrweckdienst, meine Herren.«
»Ich hätte mir fast in die Hose gemacht«, sagte der Beamte auf dem Beifahrersitz und klaubte seine Zeitung zusammen. Der Mann hieß Pat Connolly und hatte während der ersten Dienstjahre vor allem damit zu tun gehabt, sich gegen den Beinamen »Paddy« zur Wehr zu setzen. Sein Kollege war Tommy Daniels, der wie mit allen Dingen mit seinem Spitznamen – Ferne – keine Probleme zu haben schien. Von Tommy zu Tom – Tom zu Trommeln aus der Ferne zu Ferne – so war es zu dem Spitznamen gekommen, der allerdings auch viel über den Charakter des jungen Mannes verriet. Er verdrehte bloß die Augen, als er begriff, dass es Rebus war, der ihn so unsanft aus dem Schlaf gerissen hatte.
»Wenigstens einen Kaffee hätten Sie uns mitbringen können«, maulte Connolly.
»Ja, hätte ich«, sagte Rebus. »Oder vielleicht ein Lexikon?« Er blickte auf das Kreuzworträtsel in der Zeitung. Höchstens ein Drittel der Felder war ausgefüllt, während das Papier neben dem Gitter mit Buchstabensalat vollgekritzelt war. »Ruhige Nacht?«
»Nur ein paar Ausländer, die nach dem Weg fragen«, sagte Connolly. Rebus lächelte und blickte nach links und rechts die Straße hinunter: Ja, dieser Teil von Edinburgh gehörte fast ausschließlich den Touristen: ein Stück weiter an der Ampel ein Hotel, gegenüber ein Laden für Strickwaren. Ausgefallene Geschenke, Shortbread und Whiskykaraffen. Nur knapp fünfzig Meter weiter ein Kiltschneider. John Knox’ Haus, das schief an den Nachbarhäusern lehnte und düster halb im Schatten lag. Früher einmal hatte es in Edinburgh nur die Altstadt gegeben: ein schmaler Grat, der sich von der Burg zum Holyrood-Palast hinzog, während seitlich wie krumme Rippen steil abfallende Gassen abzweigten. Als die Bevölkerung immer mehr zunahm und die sanitären Verhältnisse unerträglich wurden, hatte man die Neustadt mit ihrer georgianischen Eleganz ganz bewusst so angelegt, dass sich die Altstadt und jene Bürger, die sich einen Umzug nicht leisten konnten, brüskiert fühlen mussten. Rebus fand es interessant, dass Philippa Balfour in der Neustadt wohnte, während David Costello sich für das Herz der Altstadt entschieden hatte.
»Ist er zu Hause?«, fragte er.
»Wären wir sonst hier?« Connolly blickte Ferne an, der gerade aus eine Thermoskanne Tomatensuppe in einen Becher goss, skeptisch daran schnupperte und dann rasch einen Schluck nahm. »Möglich, dass Sie genau der Mann sind, auf den wir die ganze Zeit gewartet haben.«
Rebus sah ihn an. »Ach, tatsächlich?«
»Um einen Streit zu schlichten. Deacon Blue, Wages Day: War das das erste oder das zweite Album der Gruppe?«
Rebus lächelte. »Muss echt ’ne verdammt ruhige Nacht gewesen sein.« Dann nach einigen Sekunden Bedenkzeit: »Das zweite.«
»Dann schuldest du mir zehn Piepen«, sagte Connolly zu seinem Kollegen Ferne.
»Eine Frage«, sagte Rebus, dessen Knie vernehmlich knackten, als er jetzt neben dem Auto in die Hocke ging.
»Nur los«, sagte Connolly.
»Was macht ihr eigentlich, wenn einer von euch mal pinkeln muss?«
Connolly lächelte. »Wenn Ferne schläft, nehme ich natürlich seine Thermoskanne.«
Ferne konnte die Suppe, die er gerade im Mund hatte, kaum bei sich behalten. Als Rebus sich wieder aufrichtete, hörte er das Blut in seinen Ohren rauschen. Sturmwarnung. Sah ganz so aus, als ob sich in ihm ein mächtiger Kater zusammenbraute.
»Wollen Sie da reingehen?«, fragte Connolly. Rebus blickte zu dem Haus hinüber.
»Weiß nicht recht.«
»Wir müssten das notieren.«
Rebus nickte. »Ja, sicher.«
»Kommen Sie gerade von Watsons Abschiedsparty?«
Rebus sah Connolly an. »Was soll das heißen?«
»Na ja, Sie haben doch sicher was getrunken. Vielleicht nicht unbedingt der beste Zeitpunkt für einen Besuch … Sir.«
»Vermutlich haben Sie Recht … Paddy«, sagte Rebus und marschierte Richtung Haustür.
»Wissen Sie noch, wonach Sie mich gefragt haben?«
Rebus hielt eine Tasse mit schwarzem Kaffee in der Hand, den Costello ihm angeboten hatte. Er drückte zwei Paracetamol aus der Verpackung und spülte sie hinunter. Obwohl es schon spät – ja bereits nach Mitternacht – war, hatte er Costello noch wach angetroffen. Der junge Mann trug ein schwarzes T-Shirt und eine schwarze Jeans und war barfuß. Offenbar hatte er sich in einem Spirituosenladen etwas zu trinken besorgt. Jedenfalls lag die Plastiktüte auf dem Boden, daneben eine aufgeschraubte und fast noch volle Flasche Bell’s. Also kein Trinker, dachte Rebus. Typisch Nichttrinker: diese Art der Krisenbewältigung. Solche Leute tranken zwar Whisky, doch sie mussten erst mal eine Flasche besorgen, und dann leerten sie sie noch nicht einmal zur Hälfte. Ein paar Gläschen reichten schon.
Das Wohnzimmer war klein. Man erreichte die Wohnung durch ein Treppenhaus, dessen Steinstufen bereits tief ausgetreten waren. Winzige Fenster. Das Gebäude stammte aus einer Zeit, als das Heizen einer Wohnung noch sehr kostspielig gewesen war. Je kleiner die Fenster, umso weniger Hitze konnte entweichen.
Vom Wohnzimmer aus führte ein breiter Durchgang in die Küche. Die an Schlachterhaken aufgehängten Töpfe und Pfannen legten den Schluss nahe, dass Costello gerne kochte. Im Wohnzimmer überall Bücher und CDs, von denen Rebus einige kannte: John Martyn, Nick Drake, Joni Mitchell – entspannte, aber etwas kopflastige Musik. Die Bücher benötigte Costello offenbar für sein Literaturstudium.
Costello hockte auf einem roten Futon, während Rebus auf einem der beiden schlichten Holzstühle Platz genommen hatte. Solche Stühle hatte er schon gelegentlich vor Läden in der Causewayside gesehen, die selbst Schulmöbel aus den Sechzigerjahren und grüne Metallaktenschränke aus den Fünfzigern als Antiquitäten anboten.
Costello strich sich schweigend mit der Hand über den Kopf.
»Sie wollten von mir wissen, ob ich glaube, dass Sie es getan haben«, sagte Rebus und beantwortete damit seine eigene Frage.
»Dass ich was getan habe?«
»Dass Sie Flip umgebracht haben. Ja, genauso haben Sie sich ausgedrückt: Sie glauben, dass ich sie umgebracht habe, oder?«
Costello nickte. »Ist doch ein nahe liegender Verdacht. Schließlich haben wir uns vorher gestritten. Ja, seh ich sogar ein, dass ich aus Ihrer Sicht zum Kreis der Verdächtigen zähle.«
»David, im Augenblick sind Sie sogar der einzige Verdächtige.«
»Dann glauben Sie also wirklich, dass ihr was zugestoßen ist?«
»Was meinen Sie?«
Costello schüttelte den Kopf. »Darüber grüble ich schon die ganze Zeit nach.«
Sie saßen einige Sekunden schweigend da.
»Was haben Sie eigentlich um diese Uhrzeit hier zu suchen?«, fragte Costello plötzlich.
»Hab ich doch schon gesagt, ich bin auf dem Heimweg. Mögen Sie die Altstadt?«
»Ja.«
»Ist schon was anderes als die Neustadt. Und haben Sie nie daran gedacht, in Flips Nähe zu ziehen?«
»Was soll das heißen?«
Rebus zuckte mit den Achseln. »Womöglich kann man aus dem von Ihnen bevorzugten Teil der Stadt Rückschlüsse auf Ihren Charakter ziehen. Und das Gleiche gilt natürlich auch für Flip.«
Costello lachte trocken. »Ihr Schotten macht es euch manchmal verdammt leicht.«
»Wieso?«
»Altstadt gegen Neustadt, katholisch/protestantisch, Ostküste/West. Aber meistens sind die Dinge ein kleines bisschen komplizierter.«
»Gegensätze ziehen sich an, das ist alles, worauf ich hinauswollte.« Wieder saßen beide schweigend da. Rebus sah sich in dem Zimmer um.
»Wenigstens haben die Ihnen nicht die ganze Bude auf den Kopf gestellt?«
»Wer?«
»Die Spurensicherung.«
»Ach so. Nein, hätte schlimmer kommen können.«
Rebus nahm einen Schluck Kaffee. »Natürlich hätten Sie die Leiche ohnehin nicht hier versteckt, ist doch klar. Ich meine: So was machen doch nur Perverse.« Costello sah ihn an. »Tut mir Leid, dass ich … Natürlich ist das alles reine Theorie. Ich wollte damit nichts behaupten. Aber nach einer Leiche haben unsere Spezialisten hier ohnehin nicht gesucht. Die interessieren sich nämlich für Sachen, die Sie oder ich nicht mal sehen können: kleinste Blutspritzer, Textilfasern, einzelne Haare.« Rebus schüttelte langsam den Kopf. »Heutzutage sind die Geschworenen ganz wild auf solche Sachen. Die kommen doch ohne klassische Ermittlungsarbeit aus.« Er stellte die schwarz glänzende Tasse beiseite und fingerte in der Jackentasche nach seinen Zigaretten. »Was dagegen, wenn ich …?«
Costello zögerte. »Ich würde sogar eine mitrauchen, wenn das okay ist.«
»Aber bitte sehr.« Rebus zog eine Zigarette aus der Schachtel, zündete sie an und reichte dann dem jungen Mann die Packung samt Feuerzeug. »Von mir aus können Sie sich auch einen Joint machen«, sagte er.
»Nein, ist nicht mein Ding.«
»Scheint so, als ob das Studentenleben auch nicht mehr das ist, was es mal war.«
Costello ließ den Rauch aus der Lunge entweichen und inspizierte die Zigarette mit einem merkwürdig distanzierten Blick. »Schon möglich«, sagte er.
Rebus lächelte. Zwei erwachsene Männer, die in den frühen Morgenstunden zusammenhockten, gemeinsam rauchten und plauderten. Genau die richtige Zeit, um offen miteinander zu reden, die Welt ringsum in Schlaf versunken und niemand, der heimlich lauschte. Er stand auf und ging zum Bücherregal hinüber. »Wie haben Sie Flip eigentlich kennen gelernt?«, fragte er, zog irgendein Buch heraus und blätterte darin.
»Bei einem Abendessen. Hat sofort gefunkt. Als wir am nächsten Morgen nach dem Frühstück auf dem Warriston-Friedhof spazieren gegangen sind, hab ich zum ersten Mal gespürt, dass ich in sie verliebt bin … Ich meine, dass es nicht bei dieser einen Nacht bleiben würde …«
»Interessieren Sie sich für Filme?«, fragte Rebus. Ihm war aufgefallen, dass eines der Regale fast ausschließlich mit Filmliteratur bestückt war.
Costello blickte in seine Richtung. »Ja, ich möchte später mal ein Drehbuch schreiben.«
»Schöne Idee.« Rebus hatte inzwischen ein anderes Buch aufgeschlagen – offenbar ein Gedichtzyklus über Alfred Hitchcock. »Sie haben also nicht im Hotel übernachtet?«, fragte er nach einer Weile.
»Nein.«
»Aber Sie haben doch sicher Ihre Eltern gesehen?«
»Ja.« Costello zog an seiner Zigarette. Erst jetzt bemerkte er, dass er keinen Aschenbecher hatte, deshalb hielt er nach etwas Geeignetem Ausschau: zwei Kerzenhalter, einen für Rebus und einen für sich selbst. Als Rebus sich wieder vom Bücherregal abwandte, stieß er mit dem Fuß gegen etwas: einen winzigen Zinnsoldaten. Er bückte sich, um die Figur aufzuheben. Die Muskete war abgebrochen, der Kopf zur Seite verdreht. Trotzdem war er sich sicher, dass nicht er die Figur beschädigt hatte. Er stellte sie schweigend ins Regal, bevor er sich wieder setzte.
»Heißt das, dass Ihre Eltern das andere Zimmer wieder abbestellt haben?«, fragte er.
»Die beiden haben getrennte Schlafzimmer, Inspektor.« Costello blickte von dem Kerzenhalter auf, in dem er gerade die Asche seiner Zigarette abstreifte. »Oder ist das vielleicht verboten?«
»Da dürfen Sie mich nicht fragen. Meine Frau hat mich schon vor so langer Zeit verlassen, dass ich mich kaum noch daran erinnern kann.«
»Das nehme ich Ihnen nicht ab.«
Rebus lächelte. »Kluges Kerlchen.«
Costello lehnte sich mit dem Rücken gegen das Kopfende seines Futons und unterdrückte ein Gähnen.
»Ich sollte jetzt wohl besser gehen«, sagte Rebus.
»Trinken Sie vorher wenigstens noch den Kaffee aus.«
Rebus hatte die Tasse zwar schon geleert, nickte aber trotzdem. Er hatte nicht die Absicht zu gehen, solange Costello ihn nicht rauswarf. »Vielleicht taucht sie ja schon bald wieder auf. Manche Leute kommen auf die merkwürdigsten Ideen und haben plötzlich das dringende Bedürfnis, eine Bergwanderung in den Highlands zu unternehmen.«
»Da kennen Sie Flip aber schlecht.«
»Oder sie wollte einfach mal irgendwo hinfahren.«
Costello schüttelte den Kopf. »Quatsch. Sie hat doch gewusst, dass ihre Freunde in dieser Bar auf sie warten. So eine Verabredung hätte sie nie vergessen.«
»Nein? Und wenn sie nun jemand anderen kennen gelernt hätte, so eine spontane Sache wie in diesem Werbespot?«
»Einen anderen?«
»Wäre doch denkbar.«
Costellos Augen verfinsterten sich. »Keine Ahnung. Hab auch schon darüber nachgedacht.«
»Aber Sie scheinen das nicht ernsthaft in Betracht zu ziehen?«
»Nein.«
»Und wieso nicht?«
»Weil sie mir davon erzählt hätte. So ist Flip nun mal. Egal, ob sie sich für tausend Pfund einen neuen Designerfummel kauft oder ob ihre Eltern ihr einen Concorde-Flug spendieren, sie kann einfach nichts für sich behalten.«
»Steht sie gern im Mittelpunkt?«
»Geht uns das nicht allen manchmal so?«
»Aber sie würde doch so etwas nicht inszenieren, um sich wichtig zu machen?«
»Sie meinen, ob sie einfach abhauen würde, um sich in Szene zu setzen?« Costello schüttelte den Kopf und unterdrückte wieder ein Gähnen. »Ich glaube, ich muss ins Bett.«
»Wann ist noch mal die Pressekonferenz?«
»Am frühen Nachmittag. Damit sie in den Abendnachrichten noch darüber berichten können.«
Rebus nickte. »Lassen Sie sich bloß nicht verrückt machen. Verhalten Sie sich ganz normal.«
Costello drückte seine Zigarette aus. »Wie denn sonst?« Er machte Anstalten, Rebus die Zigarettenschachtel und das Feuerzeug zurückzugeben.
»Können Sie behalten. Vielleicht brauchen Sie sie noch.« Rebus rappelte sich auf. Das Blut dröhnte jetzt in seinem Kopf – trotz des Paracetamols. So ist Flip nun mal: Costello hatte im Präsens von ihr gesprochen. War das nun eine spontane oder eine kalkulierte Bemerkung gewesen? Auch Costello war inzwischen aufgestanden, ein freudloses Lächeln auf dem Gesicht.
»Sie haben meine Frage noch immer nicht beantwortet«, sagte er.
»Ich bin stets bemüht, unvoreingenommen zu sein, Mr Costello.«
»Tatsächlich?« Costello schob die Hände in die Hosentaschen. »Sie kommen doch auch zu dieser Pressekonferenz, nicht wahr?«
»Schon möglich.«
»Damit Ihnen nicht die kleinste Silbe entgeht? Sie sind nämlich genauso penibel wie Ihre Kollegen von der Spurensicherung.« Costello kniff die Augen zusammen. »Möglich, dass ich der einzige Verdächtige bin, aber blöde bin ich jedenfalls nicht.«
»Dann herrscht ja zwischen uns ein hohes Maß an Übereinstimmung.«
»Wieso sind Sie eigentlich heute Abend hier aufgekreuzt? Sie haben doch dienstfrei.«
Rebus stand jetzt direkt vor dem jungen Mann. »Wissen Sie, was die Leute früher geglaubt haben, Mr Costello? Sie haben geglaubt, dass ein Mörder in den Augen seines Opfers einen Abdruck hinterlässt, weil der Mörder ja das Letzte ist, was diese Augen sehen. Deshalb haben manche Mörder ihren Opfern früher die Augen ausgestochen.«
»Aber so naiv sind wir doch heutzutage nicht mehr, Inspektor. Genauso wenig wie wir glauben, dass man in den Augen eines anderen Menschen dessen Gedanken und Gefühle lesen kann.« Costello sah Rebus aus nächster Nähe mit weit geöffneten Augen an. »Schauen Sie genau hin – weil ich diese Beweisstücke nämlich gleich zu schließen gedenke.«
Rebus hielt dem Blick des jungen Mannes stand und starrte ihn so lange an, bis Costello den Kopf abwandte und ihn zum Gehen aufforderte. Rebus hatte die Tür schon fast erreicht, als Costello seinen Namen rief. Der junge Mann wischte die Zigarettenschachtel und das Feuerzeug mit einem Taschentuch sorgfältig ab und warf sie dann in Rebus’ Richtung, sodass sie vor dessen Füßen landeten.
»Ich nehme an, dass Sie das Zeug dringender brauchen als ich.«
Rebus bückte sich und hob die Sachen auf. »Und wozu das Taschentuch?«
»Nur für alle Fälle«, sagte Costello. »Man weiß ja nie, wo solche Sachen am Ende wieder auftauchen.«
Rebus richtete sich schweigend wieder auf und trat auf den Treppenabsatz hinaus. Hinter ihm in der Tür stand Costello und wünschte ihm eine gute Nacht. Rebus ging einige Stufen nach unten, bevor er den Abschiedsgruß erwiderte. Er dachte darüber nach, wie Costello das Feuerzeug und die Zigarettenschachtel abgewischt hatte. In seinem ganzen Berufsleben hatte er noch nie einen Verdächtigen so etwas tun sehen. Offenbar befürchtete Costello tatsächlich, dass man ihn hereinlegen wollte.
Oder aber er wollte bloß diesen Eindruck erwecken. Jedenfalls hatte der junge Mann eine kühl kalkulierende Seite. Und sein Verhalten bewies, dass Costello vorauszudenken verstand …
Es war einer dieser kühlen, dämmerigen Tage, die es in Schottland in mindestens drei Jahreszeiten geben kann: der Himmel, ein schiefergraues Dach, dazu ein Wind, den Rebus’ Vater »snell« genannt hätte. Rebus’ Vater hatte früher bisweilen erzählt, wie er als junger Mensch an einem bitterkalten Wintermorgen in Lochgelly in einen Lebensmittelladen getreten war. Der Besitzer hatte vor dem Elektroheizer gestanden. Rebus’ Vater hatte auf die Kühltheke gezeigt und gefragt: »Ist das Euer Ayrshire-Speck?« Woraufhin der Lebensmittelhändler erwidert hatte: »Nein, das sind meine Hände, die ich wärme.« Rebus’ Vater hatte geschworen, dass die Geschichte wahr sei, und sein damals vielleicht sieben-, achtjähriger Sohn hatte ihm natürlich geglaubt. Inzwischen war Rebus allerdings davon überzeugt, dass sein Vater die Geschichte nur irgendwo aufgeschnappt und für seine eigenen Zwecke zurechtgebogen hatte.
»Erste Mal, dass ich Sie sehe lächeln«, sagte Rebus’ barista, als sie ihm einen doppelten caffè latte machte. Caffè latte, barista, das waren ihre Worte. Als sie das erste Mal von ihrem Job erzählte, sprach sie es wie »barrister«, Rechtsanwalt aus, sodass ein verwirrter Rebus fragte, ob sie in der Bar denn schwarz arbeite. Die Kaffeebar befand sich am Rand des Meadow-Parks in einem umgebauten Polizeihäuschen. Rebus machte morgens auf dem Weg zur Arbeit meist bei ihr Station. Er bestellte einen »Milchkaffee«, und sie korrigierte ihn immer: caffè latte. Dann fügte er noch hinzu: »einen doppelten«, was gar nicht nötig war, da sie wusste, was er wollte, aber er mochte die Atmosphäre dieser Wörter.
»Lächeln ist doch nicht verboten«, sagte er, während sie Milchschaum auf den Kaffee löffelte.
»Das müssten Sie besser wissen als ich.«
»Und Ihr Chef müsste es noch besser wissen als wir beide zusammen«, sagte er, reichte ihr eine Banknote, ließ das Wechselgeld in dem bereitstehenden Schälchen liegen und fuhr dann weiter Richtung St. Leonard’s. Nein, sie konnte nicht wissen, dass er Polizist war. Das müssten Sie besser wissen … Ach, das war nur Geplänkel gewesen. Seine Bemerkung wiederum hatte er gemacht, weil der Besitzer der Kaffeebar-Kette einmal Anwalt gewesen war. Aber das hatte sie offenbar nicht verstanden.
Vor dem Revier blieb Rebus noch ein paar Minuten im Auto sitzen, schlürfte seinen Kaffee und rauchte eine Zigarette. Auf der Rückseite des Gebäudes standen bereits einige Kleinbusse bereit, um die Festgenommenen der Nacht zum Gericht zu bringen. War erst ein paar Tage her, seit Rebus zuletzt vor Gericht ausgesagt hatte. Allerdings hatte er seither vergessen, sich nach dem Ausgang des Verfahrens zu erkundigen. Dann ging die Eingangstür auf, und er erwartete eigentlich, dass die Uniformierten erschienen, die die Delinquenten zu den Autos begleiteten, doch stattdessen trat Siobhan Clarke ins Freie. Als sie seinen Wagen sah, kam sie lächelnd näher und schüttelte den Kopf über sein unvermeidliches Morgenritual. Rebus ließ das Fenster herunter.
»Vor der Exekution nahm der Verurteilte zum letzten Mal ein herzhaftes Frühstück zu sich«, sagte sie.
»Und Ihnen auch einen schönen Morgen.«
»Die Chefin möchte Sie sehen.«
»Ach ja – die Chefin. Hat sie ja gleich den richtigen Spürhund losgeschickt.«
Siobhan lächelte schweigend in sich hinein, während Rebus aus dem Wagen stieg. Dann gingen beide über den Parkplatz.
»Übrigens – wie geht es Ihrem Kater denn so? Ist es Ihnen wenigstens gelungen, ein paar unangenehme Gedanken zu ertränken?«
Als sie ihm die Tür aufhielt, kam er sich vor wie ein Wild, das sehenden Auges in die Falle tappt.
Die Fotos und die Kaffeemaschine des Farmers waren bereits verschwunden, und oben auf dem Aktenschrank standen ein paar Glückwunschkarten. Ansonsten war der Raum völlig unverändert – inklusive der Papiere im Posteingangskasten und des einsamen Kaktus auf der Fensterbank. Gill Templer fühlte sich in Watsons Stuhl sichtlich unwohl. Der Mann hatte das Sitzmöbel mit seinem massigen Körper derart verformt, dass sie mit ihren zierlicheren Proportionen fast darin versank.
»Bitte, setzen Sie sich, John.« Und als er gerade im Begriff war, Platz zu nehmen: »Und erklären Sie mir doch mal bitte, was da gestern Abend los gewesen ist.« Sie stützte die Ellbogen auf die Schreibtischplatte und legte die Finger zusammen. Genauso hatte auch der Farmer häufig dagesessen, wenn er seine Gereiztheit oder Ungeduld hatte verbergen wollen. Entweder hatte sie die Haltung von ihm übernommen, oder aber es handelte sich um ein Vorrecht ihres neuen Amtes.
»Gestern Abend?«
»In Philippa Balfours Wohnung. Der Vater des Mädchens hat Sie doch dort angetroffen.« Sie sah ihn an. »Und wie es scheint, hatten Sie getrunken.«
»Hatten wir das nicht alle?«
»Die Frage ist nur, wie viel.« Sie richtete den Blick wieder auf das Blatt Papier, das vor ihr auf dem Schreibtisch lag. »Mr Balfour würde gerne wissen, was Sie dort zu suchen hatten. Offen gestanden – ich selbst bin nicht minder gespannt.«
»Ich war auf dem Heimweg.«
»Vom Leith Walk nach Marchmont? Durch die Neustadt? Klingt ganz so, als ob Sie sich gründlich verlaufen hätten.«
Erst jetzt bemerkte Rebus, dass er noch immer den Kaffeebecher in der Hand hielt. Er stellte ihn umständlich neben sich auf den Boden. »Ist nun mal meine Art«, sagte er schließlich. »Ich seh mich gerne noch ein wenig um, wenn alles ruhig ist.«
»Und warum?«
»Ist doch möglich, dass wir vorher in der Hektik was übersehen haben.«
Immerhin schien sie diese Antwort für bedenkenswert zu halten. »Trotzdem glaube ich nicht, dass das die ganze Wahrheit ist.«
Er saß bloß achselzuckend da und sagte nichts. Wieder richtete sie den Blick auf das Blatt vor sich auf dem Schreibtisch.
»Und dann haben Sie auch noch beschlossen, Miss Balfours Freund einen Besuch abzustatten. Finden Sie das besonders klug?«
»Das war nun wirklich auf dem Heimweg. Ich bin bloß stehen geblieben, um mich mit Connolly und Daniels zu unterhalten. Da hab ich gesehen, dass bei Mr Costello noch Licht brennt. Ich dachte, dass ich mal kurz nachschaue, ob bei ihm alles in Ordnung ist.«
»Der Polizist, dein Freund und Helfer.« Sie hielt inne. »Und deswegen hat Mr Costello es vermutlich für nötig befunden, sich wegen Ihres Besuches über seinen Anwalt bei uns zu beschweren?«
»Keine Ahnung, warum er das getan hat.« Rebus rutschte auf dem harten Stuhl hin und her und versuchte seine Unruhe zu überspielen, indem er nach seinem Kaffeebecher griff.
»Jedenfalls wirft sein Anwalt Ihnen Hausfriedensbruch vor. Durchaus möglich, dass wir sogar unsere Leute von dort abziehen müssen.« Sie fixierte ihn.
»Wissen Sie, Gill«, sagte er, »wir zwei kennen uns doch schon ’ne halbe Ewigkeit. Ist doch kein Geheimnis, wie ich arbeite. Sicher hat auch Watson Ihnen darüber Vorträge gehalten.«
»Das ist jetzt vorbei, John.«
»Und was heißt das?«
»Wie viel haben Sie gestern Abend getrunken?«
»Mehr als gut war, aber das war nicht mein Fehler.« Er sah, wie Gill eine Augenbraue anhob. »Ich bin mir absolut sicher, dass mir gestern Abend jemand etwas in den Whisky getan hat.«
»Ich möchte, dass Sie einen Arzt konsultieren.«
»Herrgott noch mal …«
»Ihr Alkoholkonsum, Ihre Ernährung, Ihr Allgemeinzustand. Ich möchte, dass Sie sich untersuchen lassen und den Anweisungen des Arztes genau Folge leisten.«
»Sie meinen Alfalfa und Karottensaft?«
»Sie werden einen Arzt aufsuchen, John.« Das war eine dienstliche Anweisung. Rebus schnaubte nur verächtlich, trank seinen Kaffee aus und hielt schließlich den Becher in die Höhe.
»Fettarme Milch.«
Sie unterdrückte ein Lächeln. »Das ist ja schon mal was.«
»Also, Gill …« Er stand auf und warf den Becher in den unbenutzten Papierkorb. »Mein Alkoholkonsum ist kein Problem. Er beeinträchtigt mich nicht in meiner Arbeit.«
»Aber gestern Abend schon.«
Er schüttelte den Kopf, doch ihr Gesichtsausdruck blieb unerbittlich. Schließlich holte sie tief Luft. »Kurz bevor Sie gestern Abend gegangen sind … wissen Sie noch, was Sie da gemacht haben?«
»Klar doch.« Er stand jetzt vor ihrem Schreibtisch und hatte die Hände in die Hüften gestützt.