Putins russische Welt - Manfred Quiring - E-Book

Putins russische Welt E-Book

Manfred Quiring

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Beschreibung

Der Russlandexperte Manfred Quiring unterzieht das Regime Putin einer radikalen Kritik. Er untersucht die Strukturen des autokratischen Systems und stellt die bisher kaum behandelte Verquickung der russischen Eliten aus Geheimdienst und Militär mit kriminellen Gruppen dar. Zugleich geht er auf das Konzept der »russischen Welt« ein und beschreibt deren nationalistische Vordenker. Quiring analysiert, wie der Kreml versucht, Europa zu spalten und dabei Mittel der hybriden Kriegsführung einsetzt, bis hin zu verdeckten Cyberattacken. Dabei bezieht er die Urteile deutscher und internationaler Russlandexperten ein.

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Manfred Quiring

Putins russische Welt

Manfred Quiring

PutinsrussischeWelt

Wie der Kreml Europa spaltet

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage als E-Book, März 2017

entspricht der 1. Druckauflage vom März 2017

© Christoph Links Verlag GmbH

Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0

www.christoph-links-verlag.de; [email protected]

Cover: Stephanie Raubach, Berlin

Motiv: Poster von Wladimir Putin in Marine-Uniform, entworfen von Wiktoria Timofejewa und Dmitri Wrubel zu dessen 50. Geburtstag 2002, © Wiktor Welikschanin /TASS

eISBN 978-3-86284-391-6

Inhalt

Vorwort

Russland nach 16 Jahren Putin

Die große Attrappe

Russland ist kein Rechtsstaat

Die Medien im Informationskrieg

Das kriminelle Russland

Spanische Ermittler: Die Mafia hat Russlands Staatsapparat infiltriert

St. Petersburg: Eine breite Spur windiger Aktivitäten

Der Lebensmittelbetrug

Putins Petersburger »Buddies« – Die Kooperative »Osero«

Putins Freund, der Cellist

Autokauf auf den Virgin Islands

Panama in Podmoskowje

Geheimdienste, die Herren des Landes

KGB-Generäle als Taufpaten des Chodorkowski-Imperiums

Die neuen Machthaber

Der Terror von Beslan und die Zähmung der Gouverneure

Der kriminelle Sommer 2016

Der große Sieg, die große Niederlage

Stalin, Hitler und die Folgen

»Klassenbrüder« und »Revanchisten«

Der Abzug – ein Trauma für das Militär und die Rüstungsindustrie

Die »sozialistische Okkupation«

Wo ein russischer Soldatenstiefel den Boden berührt …

Traumabewältigung – Wie der Kreml Geschichte »gestaltet«

Der Kremlchef übernimmt die Geschichtsschreibung

Mythen der Osterweiterung

Der Mythos vom Verzicht auf die Osterweiterung

Eine »unsterbliche« Legende

Osterweiterung? Selbstbestimmungsrecht der Osteuropäer!

Osteuropas Marsch nach Westen

Das Budapester Memorandum

Mimikry der russischen Eliten

Die Mär vom Demokraten Putin

Putin macht Furore im Bundestag

Die Warnung des Ex-KGB-Generals Kalugin

Russlands Militärs mochten die Nato nie

Der »Paukenschlag« von München

Im Rausch des Wachstums

Politik entlang des Ölpreises

Putins »russische Welt« und ihre »historische Mission«

Eurasien als Wirtschaftsstandort

Eurasien als ideologisches Konstrukt

Ein Volk, ein Anführer

Die Orthodoxie – eine Säule der »russischen Welt«

Menschenrechte sind Ketzerei

Russland erhebt sich von den Knien

Der Georgien-Krieg

Der Maidan in Kiew 2004

Der Maidan 2013 / 2014

Die Krim-Okkupation

Der Krieg in der Ostukraine

Der Syrien-Coup

Der hybride Krieg. Wie der Kreml den Westen destabilisiert

Informationskrieg: Das Land der Trolle

»Nascha« Lisa

Rechtsextremisten: Moskaus neue Freunde

Russlands wichtigstes Exportgut: Angst

Der Trump-Effekt

Wie weiter mit Russland?

Osteuropäer haben Anspruch auf Solidarität

Marieluise Beck, Bundestagsabgeordnete von Bündnis 90 / Die Grünen und Russlandexpertin

Jan C. Behrends, Historiker

Falk Bomsdorf, langjähriger Leiter der Moskauer Vertretung der Friedrich-Naumann-Stiftung

Ruprecht Polenz, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde

Statt eines Nachworts

Laudatio auf Andrej Makarewitsch

Anhang

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Über den Autor

Vorwort

Die Deutschen, aber auch die anderen Europäer, blicken erstaunt gen Osten. Russland, das in den 1990er Jahren als potenzieller Verbündeter und sogar Freund wahrgenommen wurde, hat sich ein Vierteljahrhundert nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wieder zu einem kaum berechenbaren Kontrahenten entwickelt. Drei militärische Konflikte – 2008 der Krieg mit Georgien, 2014 die Annexion der Krim und der verdeckte Krieg in der Ostukraine sowie das Eingreifen in den Konflikt in Syrien – haben die europäische Öffentlichkeit aufgeschreckt. Die Illusionen von einem geeinten, kooperierenden Europa bis zum Ural oder gar bis nach Wladiwostok, in dem Menschenrechte und demokratische Werte beachtet werden, sind verflogen. Verblüffend und deprimierend ist, wie es der russischen Propaganda innerhalb kürzester Zeit gelungen ist, die Mehrheit der eigenen Bevölkerung und Teile der europäischen Öffentlichkeit in dieser Situation davon zu überzeugen, dass Schwarz Weiß ist, dass der Angreifer das bedauernswerte, verkannte Opfer ist.

In Russland ist in den Jahren der Putin-Regentschaft ein autoritärer Staat entstanden, dessen repressive Politik nach innen von einer zunehmend aggressiven Politik nach außen begleitet wird. Moskaus Vorgehen gegen die Ukraine verstößt gleichermaßen gegen die Charta der Vereinten Nationen, die KSZE-Schlussakte von Helsinki, das Budapester Memorandum und bilaterale Verträge.

Die große Mehrheit der Russen steht dabei hinter ihrem Präsidenten, der ihnen bescheinigt, ein »genetisch überlegenes« Volk zu sein. Schuld an der jüngsten Entwicklung trügen allein die Nato, die EU, der »Westen« generell, der Russland belogen und gedemütigt habe, wie eine Mehrheit der Russen laut Umfragen glaubt.

Es gibt in Deutschland inzwischen zahlreiche Bücher, die ausführlich erklären, dass das heutige Russland vom »Westen« in die Enge getrieben worden sei, wobei es nicht an transatlantischen Verschwörungstheorien fehlt. Präsident Wladimir Putin und seine Mannschaft seien praktisch gezwungen worden, so zu reagieren, wie sie es gegenwärtig tun – im Interesse der Sicherheit ihres Landes und seiner Menschen. Verständnisinnig konzedieren die sogenannten »Russlandversteher«, dass Moskau jedes Recht habe, sich gegen die »aggressive Nato« zur Wehr zu setzen, seine legitimen Sicherheitsinteressen zu wahren. Diese Interessen werden dabei ganz natürlich auf einer deutlich höheren Ebene angesiedelt als die kleinerer europäischer Staaten. Unterstützung findet diese These bei amerikanischen Historikern und Politologen, bei deutschen Politikern wie dem inzwischen verstorbenen Exkanzler Helmut Schmidt und Exkanzler Gerhard Schröder, der im Dienste des russischen Staatskonzerns Gazprom steht. Und ehrlich besorgt unterschrieben über 60 Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens den Aufruf »Wieder Krieg in Europa? Nicht in unserem Namen!«.1

Dieser Aufruf, dem übrigens später ein realistisches Papier von Osteuropawissenschaftlern entgegengesetzt wurde, ist nicht nur – um es mit Professor Schlögel zu sagen – »peinlich«. Er offenbart auch den schon an Starrsinn grenzenden Unwillen, das in Russland herrschende Regime realistisch zu betrachten, das die Unterzeichner bis zum Ukraine-Konflikt »auf dem richtigen Weg« wähnten. Dabei war längst klar zu Tage getreten, dass das Putin-Regime eine Restauration des alten Systems der Einflusssphären anstrebte.

In diesem Buch unternehme ich den Versuch, die Handlungsmaximen der russischen Führung weniger als Reaktion auf äußere Einflüsse, sondern als Ausfluss der eigenen Intentionen und Absichten zu analysieren und zu beschreiben. Dabei werde ich der Rolle des Militärisch-industriellen Komplexes (MIK) und der Geheimdienste besondere Aufmerksamkeit widmen. Denn wenn man einen Grund für die gescheiterte Annäherung Russlands an den Westen suchen will, wird man dort fündig: Die Vertreter des MIK haben sich nie für die Integration erwärmen können. Ihnen ging es vornehmlich um Wiedergewinnung verlorener Macht und verlorenen Einflusses. Eine Vorstellung, die auch von den aktuellen Herrschern im heutigen Russland, den Vertretern der Geheimdienste, geteilt wird.

Das auch in Deutschland weit verbreitete Bild vom »in die Ecke getriebenen« Putin ist nicht nur lächerlich, es wird den russischen Eliten um den Mann im Kreml nicht gerecht. Sie fällen ihre Entscheidungen nicht aus der Position eines »eingeschnappten« Kindes, sondern aus den eigenen, inneren Interessen heraus.

Präsident Putins vorrangiges strategisches Ziel ist der Machterhalt seiner Clique in Russland, vervollständigt durch ein möglichst großes, von Moskau dominiertes Vorfeld abhängiger Staaten entlang der Grenzen. Der Rückzug aus Osteuropa in den 1990er Jahren schmerzt bis heute. Nach einer »Peredyschka«, einer Atempause, scheint jetzt die Chance zu einem »Rollback« gekommen.

Das gegenwärtige Regime in Moskau sieht sich durch westliche Ideen und Einflüsse gefährdet, und das zu Recht. Denn echte Demokratie heißt Gewaltenteilung und öffentliche Kontrolle dessen, was »die da oben« so tun. Genau das würde das korrupte, kleptokratische System in seiner Existenz gefährden. Es braucht diesen äußeren Feind, um oppositionelle Bewegungen im Lande niederzuhalten und innere Stabilität durch die Förderung einer Festungsmentalität zu erreichen. Diese Entwicklung wird sich in dem Maße verschärfen, wie der putinsche Wirtschaftskurs fortgesetzt wird, der sich weitgehend auf die Gewinne aus dem Rohstoffexport stützt. Ein strategischer Fehler, der schon der Sowjetunion zum Verhängnis wurde.

Mit dem in den vergangenen Jahren entwickelten Konzept von der »russischen Welt« (Russki Mir), dessen nationalistische Anklänge erschrecken, glaubt Kremlchef Putin ein praktisch handhabbares, flexibles Instrument zur Realisierung seiner Vorstellungen gefunden zu haben.

Eine Minderheit leidet an dieser Entwicklung. Die Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja ist entsetzt und schreibt 2015 in einem Spiegel-Artikel: »Mein Land hat gegenwärtig der Kultur, den Werten des Humanismus, der Freiheit der Persönlichkeit und der Idee der Menschenrechte, einer Frucht der gesamten Entwicklung der Zivilisation, den Krieg erklärt. Mein Land krankt an aggressiver Unbildung, Nationalismus und imperialer Großmannssucht.« Der Popmusiker Andrej Makarewitsch, Gründer der berühmten russischen Band Maschina Wremeni (Die Zeitmaschine), stellt traurig fest, die vergangenen 25 Jahre seines Lebens, in denen Hoffnung keimte, seien wohl vergebens gewesen. »Mein Land ist in den Krieg gezogen«, schreibt er in einer Liedzeile, »und ich konnte das nicht verhindern.«

Das macht betroffen, insbesondere, wenn man so lange in dem Land gelebt hat wie ich. Die Sowjetunion und dann Russland haben mich ein Leben lang begleitet. Zwischen 1982 und 2010 habe ich dort 22 Jahre als Korrespondent verbracht. Zunächst für die Berliner Zeitung, teils vor, teils nach der Wende, dann war ich zwölf Jahre für die Die Welt in Moskau. In dieser Zeit sind Freundschaften entstanden, von denen einige den widrigen Umständen standhielten.

Ich war deshalb aufs Höchste alarmiert, als ich, längst aus Russland zurückgekehrt, im März 2014, nur wenige Tage nach der Annexion der Krim durch Russland, eine E-Mail aus Moskau erhielt. Ein Freund schrieb mir verzweifelt: »Ich schäme mich, Russe zu sein.« Ich widersprach heftig. Nicht »der Russe« trage die Verantwortung für die Ereignisse, sondern verantwortungslose Politiker, schrieb ich meinem Freund und reiste umgehend zu ihm.

Ich sehe in den Ereignissen auf der Krim und in der Ukraine eine Zäsur in den Beziehungen Russlands zu Europa. Die hehren Absichten, festgehalten in der Pariser Charta vom Sommer 1990,2 sind vorläufig gescheitert. Die Idee eines geeinten Europas, das Russland einschließt, scheint vorläufig verloren. Mehr noch: Die Herrschaftsclique um Präsident Putin unternimmt im Rahmen ihrer hybriden Kriegsführung alles, um den Spaltpilz nach Europa zu tragen. Es werden jene unterstützt, die sich gegen den europäischen Gedanken, gegen Demokratie und gegen das transatlantische Bündnis wenden.

Die Menschen in Russland, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts Teil des Zarenreiches, ab 1924 eine der Sowjetrepubliken (Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik – RSFSR) war und seit 1991 Russische Föderation genannt wird, haben im vergangenen, wirren, teils durch deutsche Schuld so blutigen Jahrhundert wohl so viel durchlitten, wie kaum ein anderes Volk: Die Revolution von 1905, die Niederlage im Ersten Weltkrieg, die Revolution 1917, in Russland inzwischen bolschewistischer Putsch genannt, der Bürgerkrieg zwischen Roten und Weißen mit dem entsprechenden blutigen Terror, die opferreiche Kollektivierung und Industrialisierung, Stalins Terror in den 1930er Jahren, der Überfall Hitlerdeutschlands 1941, der den Vielvölkerstaat an den Rand der totalen Vernichtung brachte. Und schließlich der Kalte Krieg nach dem großen Sieg, der in den Zerfall des Sowjetimperiums mündete.

Um die gegenwärtige hochbrisante Situation im Osten Europas besser zu verstehen, ist ein realistischer Blick auf das Wesen des putinschen Russland wesentliche Voraussetzung. Und dieses Wesen unterscheidet sich grundsätzlich von dem Bild, das die russischen Eliten von sich und ihrem Land gern verbreiten. Der Schriftsteller Michail Schischkin, bereits vor Jahren angesichts der bedrückenden Situation in seiner einstigen Heimat emigriert, beschreibt Russland als ein Land, »in dem Putin alles erreicht hat, was ein Diktator sich wünschen kann. Das Volk liebt ihn, die Feinde fürchten ihn. Sein Regime fußt nicht auf wackligen Paragrafen der Verfassung, sondern auf unwandelbaren Gesetzen der Ergebenheit eines Vasallen zu seinem Souverän – vom Fuß der Pyramide bis nach ganz oben.«3

Diese Ergebenheit der Vasallen, der Soziologe Lew Gudkow nennt das die »negative Integration«, muss immer wieder neu erzeugt werden. Durch die Beschwörung einer völkischen Gemeinsamkeit im Innern und das Gespenst eines äußeren Feindes.

Russland nach 16 Jahren Putin

Es ist so leicht, mich zu betrügen –ich selbst betrüge mich so gern!

Alexander Puschkin

Die Tagesbar in der Murawjow-Amurski-Straße in Chabarowsk ist ein angenehmer Platz, um sich nach langen Fußwegen durch die fernöstliche Stadt am Amur zu entspannen. Das Design widerspiegelt die Vorstellung des Inhabers von einer Bar im Mittleren Westen der USA. Der Eindruck wird verstärkt durch die Countrymusik, die durchaus dezent aus den Lautsprechern dringt. Das Mädchen hinter dem Tresen trägt ein Kostüm, das man hier wohl für das Outfit eines amerikanischen Cowgirls hält. Freundlich bedient sie ihre Kunden an der Bar, wo ein paar Einheimische mit chinesischen Touristinnen flirten.

Untereinander geht es den jungen Burschen, die an diesem frühen Nachmittag offenbar viel Zeit haben, um die ernsten Fragen der Weltpolitik. Die Chinesen, mit deren Vertreterinnen sie gerade Süßholz raspeln, liegen ihnen schwer im Magen. Es kämen immer mehr in den Fernen Osten Russlands »und nehmen uns das Land weg«, da müsse etwas geschehen. Und erst die Amerikaner! Nun wird es hitzig, gemeinsam fallen sie über die USA her, die sich die ganze Welt unter den Nagel reißen wollen, auch Russland, aber das werde ihnen nicht gelingen. Im Hintergrund klingen Songs von Brenda Lee und Tom Hanks. »Noch einen Whiskey«, fragt das Cowgirl und schwenkt eine Flasche Jim Beam.

Diese Szene hatte etwas Surreales, spiegelt aber, wie in einem Wassertropfen, die schizophrene russische Alltagswelt. Antiamerikanismus ist zu einer der Grundtugenden im Lande geworden. Es gehört zum guten Ton, die »Partner in Übersee«, wie sie der russische Präsident manchmal immer noch nennt, und den Westen generell für alle Übel dieser Welt verantwortlich zu machen. Er wird höchst patriotisch verteufelt, beschimpft, niedergemacht – und dann doch wieder bedenkenlos imitiert.

Die Eliten, aber auch die meisten einfachen Bürger des Landes, haben sich eingerichtet in einer Parallelwelt der Widersprüche, die ihnen schon gar nicht mehr auffallen. Sie benutzen japanische, südkoreanische oder US-Elektronik und glauben an die technologische Überlegenheit Russlands, weil es Cruise Missiles vom Kaspischen Meer aus auf Syrien schießen kann. Sie halten die westlichen Länder, insbesondere die USA und die von ihr geführte Nato, für aggressiv, glauben an russische Politiker, die bereits seit Jahren davon faseln, der Angriff stünde unmittelbar bevor, haben aber gleichzeitig keine Angst vor einem Überfall, weil Russland stark und der Westen feige sei. Wie ihnen die gleichen Politiker erzählen.

Mit der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten und den damit verbundenen Hoffnungen in Moskau stehen die staatlich bestallten Meinungsmacher indes vor einer großen Herausforderung. Sie müssen aus den USA, dem bisherigen Hort des Bösen und der Quelle allen Ungemachs, zügig einen akzeptablen Partner machen, mit dem man sich anschickt, die Weltherrschaft zu teilen.

Der propagandistische Gegner Europa wird zunächst bleiben. Es werden weiter Geschichten eines alten Geheimdienstgenerals darüber zu vernehmen sein, dass die deutsche Bundeskanzlerin einst in Donezk studiert habe (ein Sprachlehrgang ist aktenkundig) und diese Stadt heute beschieße. Was die Zuhörer nicht daran hindert, mit Begeisterung im Urlaub deutsche Städte und ganz Europa zu besuchen, das sie in ihrem Fernsehen täglich zusammenstürzen und von Migranten überrannt sehen. Das Reisevergnügen genießen sie freilich erst, seit es die Sowjetunion nicht mehr gibt, deren Existenz viele der reisefreudigen Russen im gleichen Atemzuge nachtrauern.

Es grenzt schon an Schizophrenie, wenn in der Duma Gesetze gegen Schwule angenommen werden, Schwulen- und Lesbenbewegungen ebenso wie die HIV-Aufklärung als Angriffe des Westens auf die Souveränität Russlands verteufelt werden und man gleichzeitig seine Kinder zur Ausbildung nach Großbritannien oder in die Schweiz schickt. Und obwohl es Staatsfunktionären und Abgeordneten untersagt ist, Immobilien oder Firmen im Ausland zu besitzen, hält sich kaum jemand daran. Unternehmensbeteiligungen – entweder direkt, meist aber über Familienmitglieder – sind an der Tagesordnung. Oft lebt die gesamte Familie im Ausland, während Papa in Moskau die Fahne des russischen Patrioten schwenkt – und kräftig verdient. Sie leben gleichzeitig in zwei Welten. Sie tun nur so, als bedienten sie die Forderungen des Staates, führen aber ihr Privatleben in einer Parallelwelt. Dafür gibt es im Russischen das schöne Wort »pokasucha« – so tun, als ob.

Die große Attrappe

Das Russland des Jahres 2016 unterscheidet sich fundamental von dem des Jahres 2000, dem Jahr, als Wladimir Putin ins Amt des russischen Präsidenten gehoben wurde. Es ist, betrachtet man Großstädte wie St. Petersburg, Nowosibirsk, Krasnodar oder Chabarowsk, deutlich bunter und lebendiger geworden. Die Menschen sind wohlhabender als vor 16 Jahren, obwohl die Wirtschaft sich seit 2013 auch unabhängig von den Wirtschaftssanktionen auf einer bislang nicht zu stoppenden Talfahrt befindet. Daneben existiert die abgehängte tiefe Provinz mit den immer noch armen Dörfern. Die Kluft zwischen den beiden Russlands hat sich noch weiter geöffnet.

Wie ein einsames Raumschiff zieht in dieser Konstellation die Metropole Moskau blinkend ihre Bahn. Hier kulminiert das Leben, werden innerhalb weniger Jahre große Vermögen gemacht und wieder verloren. In den Elite-Clubs gehen langbeinige Blondinen, geschult in Instituten mit Kursen wie »Wie fange ich einen Millionär?«, auf Beutezug. Künstler, Politiker, Neureiche und Mafiosi mischen sich und geben die zynischen Beobachter einer Entwicklung im Lande, auf die nur wenige Einfluss haben.

In Russland haben sich in den Jahren der Putin-Herrschaft erodierende Prozesse vollzogen, im Hintergrund von den Spin-Doktoren des Kremls bewusst vorangetrieben, die die Verfassungswirklichkeit total verändert haben. Es hat ein schleichender Putsch, ein verdeckter Angriff auf den ursprünglich angestrebten Marsch in die Demokratie stattgefunden, der Russland zu dem gemacht hat, was es heute ist: Es ist das Land der Attrappen und Imitationen, »das ist Russland in seinem tiefsten Wesen«. Schreibt der Autor Alexander Nikonow.4

Es werde der Anschein einer Funktion erweckt, anstatt die Funktion selbst zu schaffen. An Stelle realer Dinge entstünden Attrappen. Imitiert würden nicht zuletzt auch die demokratischen Normen und die Prozeduren – »die Wahlen, der politische Pluralismus, die Freiheit der Presse, der Gerichte, sogar die Zivilgesellschaft insgesamt wird imitiert (in Form der Gesellschaftskammer beim Präsidenten)«.5

Tatsächlich klaffen zwischen dem Anspruch der Verfassung aus dem Jahre 1993 und dem heutigen realen Leben in Russland Welten. Auf dem Papier, das bis heute kaum verändert wurde, entspricht das Grundgesetz rechtsstaatlichen und demokratischen Anforderungen, obwohl es dem Präsidenten ein recht hohes Maß an Machtbefugnissen einräumt. Russland ist als demokratischer föderativer Rechtsstaat verfasst. Die demokratischen Institutionen sind ebenso garantiert wie die Gewaltenteilung. Die Rechte und Freiheiten der Menschen genießen laut Verfassung höchste Priorität. Der Staat ist zu ihrem Schutz verpflichtet. Ergänzend gibt es einen weitgefassten Grundrechtskatalog, der internationale Vergleiche nicht zu scheuen braucht.

Doch die darin enthaltenen Schlüsselworte haben in Russland längst eine Umdeutung erfahren oder werden schlicht ignoriert. Sie drücken in der russischen Realität ganz andere Inhalte aus, die mit dem Verständnis im Westen nicht zusammenfallen. Auch dies übrigens eine der Quellen von Missverständnissen.

Als das Weltwirtschaftsforum in Davos noch von russischen Geschäftsleuten, Ökonomen und Politikern besucht werden durfte, versuchte sich der heutige Premier Dmitri Medwedjew an der schwierigen, wenn nicht gar unlösbaren Aufgabe, diese Kluft mit einem Tarnnetz zu überdecken. Er benutzte wohl überlegt die Begriffe, die im Westen die gewünschte Signalwirkung entfalten sollten. Die aber in der russischen Realität etwas ganz anderes bedeuten.6

Russland, so teilte er den anwesenden potenziellen Investoren mit, sei seit 20 Jahren eine Marktwirtschaft. Doch die Marktwirtschaft »à la russe« hat mit dem, was man im Westen darunter versteht, eigentlich kaum etwas zu tun. Diese Wirtschaftsform setzt gesichertes Privateigentum voraus. Das freilich wird in Russland mit einem völlig anderen Kontext verstanden.

Zu Zeiten der Zaren gehörte das Land dem Alleinherrscher. Ergebene Staatsdiener und Fürsten wurden mit Lehen bedacht, das sie im Falle der Untreue genauso schnell wieder verlieren konnten, wie es ihnen geschenkt worden war. Zu sowjetischer Zeit galt Privateigentum, vor allem das an den Produktionsmitteln, als Inbegriff allen Übels. Dort lag die Ursache für die widerwärtigen Erscheinungen des Raubtierkapitalismus, wie die westliche Welt in russischen Lehrbüchern dargestellt wurde. Das gehörte abgeschafft. Es musste verstaatlicht werden, dann würde schon die Sonne der neuen Zeit am Horizont aufgehen, hieß es.

Die »Privatisierung«, wie sie nach dem Zerfall der Sowjetunion in Russland ablief, bestätigte im Grunde nur die bis dahin vorherrschende Meinung. Sie gilt der Mehrheit der Russen bis heute als verbrecherisch und ungerecht. Und damit als nicht legitim. Kremlchef Putin fiel es leicht, der Mehrheit seiner Landsleute zu vermitteln, es sei nur gerecht, wenn die Obrigkeit nun die letzte Entscheidungsbefugnis darüber an sich nimmt, was mit den großen Unternehmen geschieht. Wenn der Staat in Form des Kremls die Dinge regelt, »um Schlimmeres zu verhüten«. Die Zarenzeit lässt grüßen.

Auch heute bleiben Eigentümer nur dann Eigentümer, wenn sie sich der politischen und bürokratischen Elite gegenüber loyal verhalten. Wer sich auflehnt, sich nicht an die von keinem Gesetz gedeckten Spielregeln des Nehmens und Gebens hält, verliert alles. Michail Chodorkowski und sein Unternehmen Yukos sind das klassische Beispiel. Der Milliardär war dem Irrtum erlegen, er könne sich aus dem System, wo eine Hand die andere wäscht, zurückziehen und es bei einem einfachen Steuerzahlen belassen – und zudem noch eine Rolle im politischen Leben spielen.

Er saß zehn Jahre im Gefängnis und ist nun im Exil. Yukos wurde zerschlagen und ging weitgehend in Staatsbesitz über. Der Jabloko-Politiker Grigori Jawlinski verweist immer wieder darauf, dass es in den russischen Provinzen »Tausende Chodorkowskis« gebe. Das Moskauer Beispiel machte Schule.

Wie der Begriff »Eigentum« in Russland eine spezielle Interpretation erfährt, so wird auch »Verstaatlichung« etwas anders buchstabiert. Formell existieren neben der Privatindustrie, deren Anteil am Wirtschaftsleben gegenwärtig zurückgeht, eine wachsende Zahl von Unternehmen, die dem russischen Staat gehören. Doch viel wichtiger ist in Russland die Antwort auf die Frage: »Wer kontrolliert die Unternehmen?«

Diese Personen, die die faktische Kontrolle über die Finanzströme der Unternehmen ausüben, sind die tatsächlichen Besitzer. So sind die formell staatlichen Unternehmen eigentlich weitgehend private, die von Leuten geführt werden, die nicht einmal einen Posten in den Firmen haben müssen, die aber die Macht haben, über die Firmenstrategie und die Verteilung der Gewinne zu bestimmen. Derartige Personen rekrutieren sich weitgehend aus Putins Freundes- und Bekanntenkreis. Sie waren bei seinem Aufstieg vom KGB-Oberstleutnant zum ersten Mann im Staate behilflich. Auf sie, die inzwischen wichtige Posten im Staatsdienst innehaben und meist aus dem Leningrader KGB stammen, verlässt er sich bis heute.

Putin hat in Russland ein System geschaffen, »in dem die Staatsmacht zu einem erdrückenden Monopol« geworden ist. Doch die Spezifik Russlands besteht darin, dass die kleine herrschende Gruppe um den Kremlchef dieses Monopol nach privatem Gusto benutzt. »Im Grunde hat die Staatselite eines der reichsten Länder der Welt gekapert und privatisiert«,7 so der Ökonom Wladislaw Inosemzew.

Jewgeni Gontmacher, ebenfalls Ökonom, räumt mit der Illusion auf, Russland sei weit entfernt von Ländern wie Somalia, Irak oder Afghanistan, die gemeinhin als »failed state« bezeichnet würden. Es scheine so, als gebe es in Russland – im Gegensatz zu den »failed states« – eine starke Zentralgewalt, handlungsfähige Institute des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens und nicht zuletzt eine versorgte Bevölkerung. Schon allein die Tatsache, dass Russland Mitglied in der G8 und G20 sei (Gontmachers Artikel stammt aus dem Jahr 2013, inzwischen hat sich die Mitgliedschaft bei G8 aufgrund von Moskaus eigenen Entscheidungen erledigt), bringe anscheinend eine weite Distanz zu den Versager-Staaten zum Ausdruck. Doch das sei irreführend. Gontmacher, den der Zustand des Landes selbst schmerzt, gelangte stattdessen zu der unerfreulichen These: »einen Staat gibt es nicht in Russland«. Es gebe nicht einmal »eine bleiche Kopie eines Mechanismus zur Bildung des Staates«.8

Gontmacher sieht die Mängel vor allem in der fehlenden Gewaltenteilung, in der überbordenden Korruption. Sie »schluckt« Hunderte Milliarden Dollar. Entsprechend gering sei das Wirtschaftswachstum. Gerade in den Jahren der hohen Ölpreise habe sich in Russland eine gewaltige Kluft zwischen Arm und Reich geöffnet. Gontmacher zufolge besitzt ein Prozent der Russen 71 Prozent der russischen Wirtschaft. In Afrika liege diese Kennziffer bei 46 Prozent, in den USA bei 37 und in der Europäischen Union bei 32 Prozent.9

Auch in der Sphäre der Rechtsschutzorgane funktioniere der Staat nicht. Die Polizei sei korrupt, die staatlichen Institutionen hätten kein Interesse daran, die Bürger vor Verbrechen zu schützen. Das habe so weit geführt, dass ein Konflikt auf einem Moskauer Markt nur durch das persönliche Eingreifen des Präsidenten gelöst werden konnte. Gontmacher kommt zu dem Schluss: Statt eines Staates als Institution, der den Kurs auf die Entwicklung des Landes realisiert, »haben wir eine gigantische, unkontrollierte private Struktur, die erfolgreich Gewinne zum eigenen Nutzen daraus zieht«. Russland brauche wieder einen Staat, der diesen Namen auch verdient, lautet sein Fazit.10

Russland ist kein Rechtsstaat

Die russische Führung bezeichnet den Umbau der Gesellschaft als »Reformen«. In deren Verlauf habe Russland sich ein »absolut modernes Zivil- und Verwaltungsrecht« zugelegt, freute sich Dmitri Medwedjew, der zwischen 2008 und 2012 für Putin im Kreml sitzen durfte.11 Gerade das Zivilgesetzbuch – und das sei ja im Grunde die Wirtschaftsverfassung jedes normalen Staates – »ist wohl das modernste in ganz Europa«. Die administrative Gesetzgebung werde ständig erneuert. Zwar sei das Gerichtssystem nicht perfekt, es sei aber »in den letzten zwanzig Jahren grundlegend verändert« worden, »um dem neuen politischen System zu entsprechen«. Und trotzdem, wundert er sich, würden bis zu 97 Prozent der Gerichtsurteile mit einem Schuldspruch enden. Wo blieben die Freisprüche?12

Dabei hat er selbst den Begriff vom »Rechtsnihilismus« in Russland geprägt. Die ehemalige Verfassungsrichterin Tamara Morschtschakowa packte nach ihrer erzwungenen Pensionierung aus und erklärte mir in einem intensiven Gespräch in Moskau, warum Russland kein Rechtsstaat ist. Der »Rechtsnihilismus« herrsche »natürlich« an den Gerichten, »aber nicht nur dort. Er herrscht im gesamten Staatsapparat.« Die Bürger müssten in einem System leben, »in dem es keine Regeln gibt«. Damit werde das Sicherheitsgefühl ernsthaft beschädigt, »letztlich fühlt sich niemand im Lande sicher«.

Natürlich stimmt Medwedjews Hinweis auf das moderne Zivil- und Verwaltungsrecht. Insbesondere in den 1990er Jahren waren ganze Heerscharen deutscher und EU-Rechtswissenschaftler in Russland unterwegs und wirkten mit an der Schaffung des neuen Rechtssystems. Das heißt, an den Gesetzen. Die Rechtswirklichkeit änderte sich dadurch kaum. Russlands Bürger wissen das. Sie lassen sich deshalb von kategorischen Verboten nicht abschrecken, denn wenn man etwas wirklich will, findet sich in Russland immer ein informeller Ausweg aus einer eigentlich klar geregelten Unmöglichkeit. Schon vor 150 Jahren prägte der russische Satiriker und Schriftsteller Michail Saltykow-Schtschedrin das geflügelte Wort: Die Strenge der russischen Gesetze wird gemildert durch die Laxheit ihrer Umsetzung. Es ist erstaunlich, wie anziehend diese Umstände teilweise auch auf deutsche Geschäftsleute wirken, die im Russlandgeschäft tätig sind.

Dabei ist dann oft der Fluch des russischen Alltags, die Korruption im Spiel. Eine Anwältin, die ihren Namen nicht genannt haben will – ein inzwischen wieder weit verbreiteter Wunsch der Gesprächspartner –, klagte über die korrupten Richter. Ohne Bestechung würde sie kaum einen Prozess für ihren Klienten gewinnen können, bekannte sie. Dabei laufe das nie direkt, sondern immer über spezielle Vermittler, die daraus eine ganz eigene Profession gemacht haben. »Wenn ich mal einen Prozess gewinne, müssen das die nächsten zehn Klienten büßen«, berichtete eine ihrer Kolleginnen, ebenfalls unter der Bedingung der Anonymität. Sie würden in jedem Falle, »sozusagen aus Rache«, verurteilt.

»Was schert mich das Gesetz«, sagte ein Richter einem unbescholtenen Bürger, der nur sein ihm gesetzlich zustehendes Recht auf die Registrierung seines Grundbesitzes geltend machen wollte. Der Hausbesitzer wartet noch heute auf das Papier. Gleichzeitig beklagen sich die Richter ihrerseits. Über den Gerichtspräsidenten würden Urteilsforderungen »durchgestellt«. Wer sich verweigert, gerät schwer unter Druck. Er wird bei der Prämienverteilung übergangen, bekommt die weniger lukrativen Fälle und muss, wenn er sich nicht anpasst, aus dem Dienst ausscheiden.

Saurbek Sadachanow, Anwalt in Moskau, ist tief frustriert. Vor 20 Jahren hat er sich bewusst dafür entschieden, nicht ins Ausland zu gehen. »Ich wollte im Lande etwas bewirken.« Jetzt, da es zu spät ist, tut es ihm leid. Die dauernden Rechtsbeugungen hätten ihn müde gemacht, berichtet er, während er seinen Land Rover geschickt durch den Moskauer Verkehr steuert. »Gehen Sie in irgendein Gericht, ziehen Sie im Archiv eine Akte. Und wenn nicht in jeder mindestens eine Gesetzesverletzung zu finden ist, lege ich meine Anwaltslizenz auf den Tisch.«

Der Schriftsteller Alexander Nikonow bezeichnet das russische Justizsystem denn auch als Schein eines Rechtswesens. »Schaust du aus der Ferne, scheint es ein Gericht zu sein. Blickst du aus der Nähe, ist es die Attrappe einer Gerichtsmaschine aus Pappmaché.« Aber der Schriftsteller, der in Russland wegen seiner Thesen durchaus umstritten ist, geht weiter. »Russland ist kein richtiges Land. Und unbewusst fühlen das alle seine Einwohner […] Russland ist das Land der Modelle. Das Land der Mythen. Das Land der handelnden Attrappen.«

Die von der Verfassung vorgeschriebene Gewaltenteilung, in der die Justiz eine unabhängige Rolle spielt, existiert nicht mehr. Auch das Parlament wurde vom Kreml zu einem Befehlsempfänger degradiert. Gesetze werden ohne lange Debatten »durchgewinkt«. Eine Opposition, die diesen Namen auch verdient, gibt es nicht mehr. Sie wurde bereits im Vorfeld von Wahlen mit allerlei Tricks aus dem Wege geräumt. Da werden schon mal die erforderlichen Unterschriftenlisten von Parteien für ungültig erklärt, Kandidaten mit fiktiven Anklagen aus dem Rennen geworfen. Schlimmstenfalls – wie im Falle des Oppositionspolitikers Boris Nemzow – kommt es zum Mord.13 Nemzow wurde demonstrativ in Sichtweite des Kremls regelrecht hingerichtet. Da die Hintermänner derartiger Attentate im Dunkeln bleiben und straffrei ausgehen, wirken Einzelfälle außerordentlich einschüchternd auf die Bevölkerung. Massenrepressionen sind da unnötig.

Die Legislative geriet längst zur Unterabteilung der »Macht« im Kreml. Russlands Demokratie ist eine von oben gelenkte Gesellschaft, die in Scheinwahlen Scheinparlamente bestätigt, deren Zusammensetzung weitgehend im Voraus festgelegt wurde. Alexander Kondaurow, Ex-KGB-General, ehemaliger Yukos-Berater und zeitweilig KP-Abgeordneter in der russischen Staatsduma, bestätigte mir in einem Interview: Die Kandidatenlisten der Parteien für die Parlamentswahlen müssen vorab mit der Kremladministration abgestimmt werden.

Die Wahlen selbst sind weder fair noch frei. Den offenen politischen Wettbewerb hat Putin im Verlaufe seiner Amtszeit abgeschafft. Fernsehauftritte beispielsweise – er selbst hat sich noch nie einer öffentlichen Debatte gestellt – werden nur den letztlich »systemkompatiblen« Kräften eingeräumt. Zwar wurde vor den Parlamentswahlen vom September 2016 das Wahlsystem noch einmal modifiziert. Russland kehrte zurück zum gemischten Wahlsystem, d. h. die Direktwahl von Einzelkandidaten wurde wieder möglich. Die Zahl der zu den Wahlen zugelassenen Parteien stieg auf 75, allesamt handverlesen und für die bestehenden Machtverhältnisse ungefährlich.

Doch was wie eine Liberalisierung aussieht, war wohl eher das Gegenteil. So wurden die Vorschriften für die Registrierung von selbstnominierten Kandidaten und Kandidaten, die von Parteien ohne »Privilegien« nominiert wurden, drastisch verschärft. Die gesellschaftliche Kontrolle der Wahlen wurde deutlich reduziert, ein Monitoring des Wahlablaufs nahezu unmöglich gemacht. Das schuf neue Möglichkeiten der Manipulation während der Stimmabgabe und der Stimmauszählung.

Willfährige Gerichte sind jederzeit auf Anweisung »von oben« bereit, unbequeme Kandidaten und Parteien aus dem Rennen zu nehmen. Wesentliche Grundrechte wie das Versammlungsrecht und das Recht auf freie Meinungsausübung wurden beschnitten und können alltäglich durch einfache Verwaltungsakte ganz aufgehoben werden. Wenn die Verfassung die friedliche Versammlung auf öffentlichen Plätzen erlaubt, kann jeder Staatsbedienstete sie doch unter Hinweis auf obskure Gründe verbieten. Mal wird die angebliche Störung des öffentlichen Verkehrs vorgeschoben, ein anderes Mal wird behauptet, für den gleichen Ort sei bereits längst ein Kinderfest angemeldet. Wer sich widersetzt, den trifft die »unerbittliche Härte des Gesetzes«. Schon für das Hochhalten eines einzelnen Plakats beispielsweise mit der Aufschrift »Kein Krieg mit der Ukraine« können schon mal ein paar Tage »administrativer Haft« verhängt werden – also Gefängnis ohne Gerichtsurteil.

Die Medien im Informationskrieg

Medienfreiheit existiert nur noch der Form halber. Die – verglichen mit der sowjetischen Zeit – zahlenmäßige Vielfalt täuscht darüber hinweg, dass die Medien – bis auf einige wenige Zeitungen mit geringer Auflage sowie eine Radiostation und einen Fernsehsender, der nur übers Internet zu empfangen ist – gleichgeschaltet wurden. Das Fernsehen, das wichtigste Instrument zur Manipulation der Bevölkerung im Interesse des Machterhalts und der Machtausübung, ist völlig in der Hand des Kremls. Das nutzt er skrupellos.

Unaufhörlich ergießt sich in den politischen Nachrichtensendungen und den Talkshows ein Schwall der absurdesten Inhalte über die Fernsehzuschauer. So berichtete der Moskauer Fernsehkanal TW Zentr, der laut Eigenwerbung mehr als 100 Millionen Zuschauer erreicht, von einem betrunkenen ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko. Der habe sich angeblich stark alkoholisiert in Kiew in ein Flugzeug nach Moskau drängen wollen und dabei ständig wiederholt, er müsse unbedingt mit Putin reden. Als Quelle zitierte TW Zentr eine Hörfunkkorrespondentin des Westdeutschen Rundfunks, Christina Nagel. Nur: Der Text war nachgesprochen, die Geschichte frei erfunden.14 Viele meiner Moskauer Freunde haben deshalb diese Form der Informationsgewinnung abgewählt und gehen ins Internet. Oder lassen es ganz.

Der ausgewiesene Russlandexperte Andreas Umland versteht diese Abwehrreaktion. Er ahnt aber auch, dass sich viele Nichtrussischsprecher »die Emotionalität, Aggressivität und Absurdität, mit der die Fernsehpropagandisten des Kremls viele Prozesse internationaler Politik in antirussische Verschwörungen verdrehen«, kaum vorstellen können. Ein Beispiel: der überregionale russische TV-Sender NTW machte seinen Zuschauern im Herbst 2016 tatsächlich weis, in Deutschland säßen Hunderttausende Russlanddeutsche auf ihren Koffern, bereit, nach Russland auszuwandern. Aus Angst vor marodierenden und vergewaltigenden Migranten.

Umland bilanziert: »Die tägliche Verbreitung von außen- und innenpolitischer Hetze, geschickt formulierter Halbwahrheiten und bizarrer historischer Mythen in den russischsprachigen Staatsmedien geht noch weit über das hinaus, was dem westlichen Zuschauer auf ›Russia Today‹ oder von ›Sputnik News‹ präsentiert wird. De facto gibt es in Russland keinen politischen Massenjournalismus mehr, da fast alle Medien mit hoher Reichweite denselben Einheitsbrei aus selektiver Berichterstattung, manipulierten Nachrichten und abstruser Paranoia verbreiten.«15

Dafür verfügen Putins Leute über eine extreme Konzentration an medialer »Hardware« und das erforderliche Maß an Zynismus. Noch wichtiger scheint das ideelle Konstrukt, auf dessen Grundlage sie diese Macht einsetzen. Danach existiert ohnehin kein Journalismus, es gibt nur den Informationskrieg. In diesem Krieg müsse sich jeder Journalist entscheiden, auf welcher Seite er steht.

Das ist kein allzu neues Postulat, wie man angesichts der russischen Propagandaoffensive der vergangenen Jahre vermuten könnte. Diese Lehrmeinung, die in den 1970er Jahren während des Kalten Krieges in der Sowjetunion entwickelt wurde, wird den Studenten der Journalistik-Fakultät der Moskauer Lomonossow-Universität mindestens seit Ende der 1990er Jahre wieder nahegebracht. Seit dem 1. Januar 2017 wurde der »Kampfeinsatz« einiger Medien aufgewertet. Laut Beschluss des Medwedjew-Kabinetts wurden die Informationsagentur Rossija Sewodnja, die Allrussische staatliche Fernseh- und Radiogesellschaft (WGTRK), das Fernsehzentrum Ostankino und die Nachrichtenagentur ITAR-TASS auf die Liste von Unternehmen gesetzt, die für die Verteidigungsfähigkeit Russlands von großer Bedeutung sind.

Dabei kann die journalistische Arbeit für nichtstaatskonforme Medien zum Teil lebensgefährlich sein. In der Moskauer kremlkritischen Zeitung Nowaja Gaseta hängt eine Tafel mit den Porträts der Journalisten, die in Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit ermordet wurden. Ihre Zahl liegt inzwischen allein in dieser Zeitung bei fünf. Es berührt besonders, wenn man, wie ich, Anna Politkowskaja persönlich kannte, mit Juri Schtschekotschichin befreundet war. Oder wenn man in Tschetschenien wenige Tage nach ihrer Ermordung am Grabe von Natalja Estemirowa stand, neben mir die weinende damals 15-jährige Tochter, der alle gutgemeinten Worte nicht über den Verlust der Mutter hinweghelfen konnten. In solchen Momenten bekommen Zahlen ein eigenes Gesicht.

Das Komitee zum Schutz von Journalisten stellte in einem Bericht aus dem Jahr 2014 fest, dass in der Zeit von 2004 bis 2013 in Russland 14 Journalisten ermordet worden sind, unter ihnen Paul Chlebnikow, Chefredakteur der russischen Forbes-Ausgabe, die im Verlag von Springer Russia, einer Tochtergesellschaft des Axel Springer Verlages, erschien. Keiner dieser Morde wurde bisher aufgeklärt, Russland liegt für diesen Zeitraum weltweit auf dem fünften Platz der Journalistenmord-Liste, noch vor Afghanistan, Angola und Bangladesch.16

Das kriminelle Russland

Ich kaufe alles, sagt das Gold.Ich nehme dir alles, sagt die Klinge.

Alexander Puschkin

Es war eine der größten Spezialoperationen in der Geschichte der spanischen Polizei, die im Juni 2016 über die Bühne ging. Ihr Ziel: Mitglieder der russischen Mafia, die es sich in Spanien heimisch gemacht hatten. In den frühen Morgenstunden des 27. Juni schwärmten 180 spanische Ordnungshüter aus. An 19 verschiedenen Orten in der Provinz Tarragona (Katalonien), unter anderem in Reus, Salou und Cambrils, beschlagnahmten sie insgesamt 192 Immobilien im Wert von 62 Millionen Euro.

Bei der Aktion, an der auch die Guardia Civil beteiligt war, nahmen die Sicherheitskräfte sechs Russen, einen Ukrainer sowie dessen spanischen Anwalt fest. Sie wurden der Geldwäsche verdächtigt, die sie für die berüchtigten Tangansker und Tambowsker Mafia-Gruppen betrieben haben sollen. Diese beiden Mafia-Organisationen gelten als die mächtigsten in der russischen Gangsterwelt der Gegenwart. Dank der spanischen Untersuchungen wurde bekannt, wie eng die russischen Gangster mit staatlichen Strukturen im Umkreis von Präsident Wladimir Putin verbandelt sind.

Spanische Ermittler: Die Mafia hat Russlands Staatsapparat infiltriert

Die Gangster hatten »exzellente Beziehungen zu Politikern aus ihrem Heimatland«, schrieb die gut informierte spanische Zeitung El Mundo unter Berufung auf Gerichtsunterlagen. Es gebe »Beweise dafür, dass hochgestellte Persönlichkeiten, Moskauer Vertreter der herrschenden Partei Geeintes Russland mehrfach bei ihnen an den Wochenenden zu Gast waren«. Laut El Mundo sollen es Leute gewesen sein, deren Namen, öffentlich und juristisch, mit großen Korruptionsaffären in Verbindung stehen.17

Es muss ein böses, ironisches Spiel des Schicksals gewesen sein, dass sich Russlands Präsident Wladimir Putin justament an diesem Tage in Moskau auf dem Parteitag von Geeintes Russland damit brüstete, dass er es gewesen sei, der diese Partei geschaffen habe. Jetzt, vor den Parlamentswahlen im Herbst, erwarte er von den Kandidaten, dass sie eine »selbstlose, fruchtbare Arbeit zum Wohl des Landes und seiner Bürger« leisteten, dass sie die Bedürfnisse ihrer Mitbürger kennen.18 Nun, die Parteifunktionäre, die es sich in der spanischen Sonne bei russischen Mafiosi wohl sein ließen, kannten wenigstens ihre eigenen Bedürfnisse. Ihren Gastgebern waren die spanischen Behörden in intensiven, monate-, teils jahrelangen Ermittlungen auf die Spur gekommen. Sie hatten herausgefunden, dass die Russen in Spanien unter anderem ein Netz von Kreditinstituten gegründet hatten, über die dann die Käufe von Immobilien abgewickelt und illegales Geld »gewaschen« wurden.

Verantwortlich für das System, so berichtete El Mundo weiter, seien »zwei russische Bürger gewesen, die die Infrastruktur dafür geschaffen haben und die oft nach Tarragona kamen, um die Arbeit ihrer Untergebenen zu kontrollieren«. Darüber hinaus, so fanden die spanischen Ermittler heraus, unterhielten die Verhafteten Kontakte zu Personen, die mit den kolumbianischen Drogenkartellen Cali und Medellín in Verbindung standen.19

Bereits im November 2015 waren in Spanien mutmaßliche Mitglieder der Tambower Gruppierung festgenommen, andere in Abwesenheit angeklagt worden. »In der veröffentlichten Anklageschrift wird unter anderem behauptet, diese Gruppierung habe den Chef der obersten russischen Ermittlungsbehörde,20 General der Justiz Alexander Bastrykin, ins Amt gebracht. Die Gruppierung habe enge Beziehungen zum ehemaligen Dumasprecher Boris Gryslow, zum ehemaligen Premierminister Viktor Subkow und zu dessen Schwiegersohn, dem ehemaligen Verteidigungsminister und Chef der Steuerbehörde Anatoli Serdjukow.«21

So steht es in der 55-seitigen Anklageschrift des spanischen Ermittlungsrichters José de la Mata vom November 2015. Darin werden den Beschuldigten enge Verbindungen zu Gennadi Petrow, dem Boss der Tambow-Mafia, vorgeworfen. Die Anklageschrift basiert auf einer 488-seitigen Ausarbeitung der Richter Juan Carrau und José Grinda, die sie am 29. Mai 2015 beim Zentralgericht in Madrid eingereicht hatten. Darin sind die Ergebnisse jahrelanger Ermittlungen gegen das russische organisierte Verbrechen zusammengefasst. Das Werk stützt sich auf Tausende Telefonmitschnitte, Unterlagen über Banktransfers und Immobilientransaktionen. Es beschreibt die engen Verbindungen zwischen kriminellen Gruppierungen, Spitzen des russischen Rechtssystems und politischen Entscheidungsträgern in Moskau.

Im Dunstkreis des Mafia-Paten Gennadi Petrow, Boss der Tambower Mafia-Gruppierung, tummelten sich nach Meinung der Spanier auch solche illustren Personen wie Juri Britikow, Chef der russischen Verwaltung für den Kampf gegen das organisierte Verbrechen, und der ehemalige Vizechef des Ermittlungskomitees bei der russischen Generalstaatsanwaltschaft, Igor Sobolewski. In der Welt der großen Unternehmen wurden Petrow Kontakte mit dem Oligarchen Oleg Deripaska und sogar mit German Gref, Präsident der Sberbank, nachgewiesen.22

Im Januar 2016 schließlich setzte die spanische Justiz ein deutliches Zeichen. Sie erließ internationale Haftbefehle gegen zwölf zum Teil sehr prominente Russen, die nicht zu einer gerichtlichen Anhörung in Spanien erschienen waren. In Spanien können keine Prozesse in Abwesenheit geführt werden. Ihnen werden Mord, Erpressung, Drogen- und Waffenhandel sowie Geldwäsche vorgeworfen. Bekannt wurden die Haftbefehle erst Wochen später, nachdem die Zeitung El Mundo laut eigenen Angaben Zugang zur Anklageschrift erhalten hatte. Die gesuchten Verdächtigen leben alle in Russland. »Brisant ist auch, dass es sich bei ihnen um jetzige oder einstige Vertreter des russischen Machtapparats aus dem Umfeld von Präsident Putin handelt.«23

Neben Wladislaw Resnik, einem einflussreichen Duma-Abgeordneten und stellvertretenden Vorsitzenden des Finanzausschusses, wird dort auch Viktor Subkow genannt, der zwischen 2007 und 2008 russischer Ministerpräsident war. Sein Schwiegersohn, der ehemalige Verteidigungsminister Anatoli Serdjukow, sowie weitere Personen aus dem russischen Sicherheits- und Justizapparat stehen ebenfalls auf der Liste. Sie unterhielten der Anklageschrift zufolge zum Teil enge Verbindungen zu Gennadi Petrow, der in Spanien zahlreiche Verbrechen begangen haben soll. Die spanischen Ermittler, die sich unter anderem auf Abhörprotokolle stützten, befanden, Petrows Netzwerk habe Ministerien und den Sicherheitsapparat Russlands infiltriert.24

Hinter den in Spanien agierenden Mitgliedern der russischen Mafia waren die dortigen Behörden schon lange her. Bereits 2008 waren in einer groß angelegten Aktion, Codename Troika, 400 Polizisten in Marsch gesetzt worden. In Alicante, auf Mallorca, in Madrid, Marbella, Valencia, Barcelona und auf den Balearen durchsuchten sie Wohnungen und Villen und nahmen rund 20 Personen fest. Schon damals hieß es in der spanischen Presse, man habe »Freunde der Freunde« von Putin verhaftet.

Damit waren vor allem Alexander Malyschew und Gennadi Petrow, die Köpfe der Tambower Mafia, gemeint. Bei der Aktion war Petrow in seiner Residenz auf Mallorca festgenommen worden. Juan Antonio Untoria, einer der damaligen Mitangeklagten, behauptete der Moskauer Zeitung Nowaja Gaseta zufolge, er habe in Gennadi Petrow immer nur den seriösen Geschäftsmann gesehen. Freilich eng verbunden mit »höchsten politischen Kreisen seines Landes«, ließ der angeklagte Spanier damals von seinem Anwalt in einem Brief an die Zeitung mitteilen. Petrow habe mehrfach erzählt, dass er »seit seiner Jugend, die er in St. Petersburg (gemeint ist das damalige Leningrad – M. Q.) verbrachte, mit Putin, Resnik und Rejman (unter Präsident Putin Minister für Kommunikation und Kremlberater – M. Q.) befreundet war«.25 Dass das mehr als nur Wichtigtuerei und Renommiergehabe war, legen Mafia-Unternehmungen im St. Petersburg der 1990er Jahre nahe, in die der heutige russische Präsident indirekt oder teilweise direkt involviert war.

Petrow erhielt 2012 die Erlaubnis, sich zur medizinischen Behandlung nach Russland zu begeben, von wo er nicht zurückkam. In St. Petersburg wurde er kurzzeitig inhaftiert, aber wieder freigelassen. Die spanischen Staatsanwälte stellten schon 2008 fest, Petrow habe Geschäftsverbindungen zum damaligen russischen Verteidigungsminister Anatoli Serdjukow unterhalten. Serdjukow, der Schwiegersohn von Expremierminister Viktor Subkow, habe die schützende Hand über die Organisation von Petrow gehalten.

Kontakte zur Tambow-Mafia werden auch Nikolai Aulow, einem ehemaligen KGB-Kollegen Putins in Leningrad und St. Petersburg, angelastet. Zwischen 2006 und 2008 hatte der Vizechef der russischen Antidrogenbehörde (FSNK)26 nach Erkenntnissen der Ermittlungsrichter 79 Mal mit Gennadi Petrow telefoniert. Die Herren tauschten sich über die Festnahme von Polizisten aus, die Petrows Leute bei ihren Geschäften störten, besprachen die Unterstützung bei Lizenzanträgen für verschiedene Firmen und die bevorstehende Verhaftung des Anführers der Tambower Mafia, Wladimir Barsukow-Kumarin. Petrow wollte diesen Posten selbst übernehmen.

Auch Aulows Chef bei der Antidrogenbehörde, Viktor Iwanow, hatte einem internen Bericht des später in London vergifteten Ex-KGB-Offiziers Alexander Litwinenko zufolge enge Beziehungen zur Petersburger Unterwelt.27 Dem Bericht zufolge stellte er Anfang der 1990er Jahre Beziehungen zur Tambower Mafia und ihrem Anführer Viktor Kumarin her, der im Clinch mit Alexander Malyschew und dessen Gang lag. Es ging um die Herrschaft über den St. Petersburger Hafen. Iwanow, der aus dem Petersburger FSB-Personalbüro zur Gangsterbekämpfung versetzt worden war, half Kumarin, der sich später Barsukow nennen sollte, die Kontrolle über den Hafen, das Haupteinfallstor für kolumbianische Drogen, zu gewinnen. »Ironischerweise, während Iwanow mit den Gangstern kooperierte, wurde er in die Operationsabteilung geschickt, die gegen Schmuggler vorgehen sollte, und wurde ihr Boss«, schrieb Litwinenko in dem Bericht. Iwanow, der mit Gangstern kooperierte, »wurde geschützt von Wladimir Putin, der im Büro des Petersburger Bürgermeisters Anatoly Sobtschak für die Außenwirtschaftsbeziehungen zuständig war«, heißt es in Litwinenkos Acht-Seiten-Bericht, der wie eine Handgranate gewirkt habe, die in den Kontrollraum der Russischen Machthaber geworfen worden sei, schrieb der britische Autor Luke Harding. Die Vergiftung Litwinenkos mit Polonium-210 kann Harding zufolge auch in diesem Zusammenhang gesehen werden.28

Die Protokolle der von der spanischen Guardia Civil mit Gerichtsbeschluss abgehörten Gespräche lassen die erschreckend enge Verflechtung von hochrangigen russischen Staatsbediensteten aus dem Umkreis des Kremlchefs und dem organisierten Verbrechen deutlich werden.29

Aus den Abhörprotokollen:

Am 25. September 2007 um 11:49 Uhr ruft Petrow (Gennadi alias Gennadios, führender Kopf der Tambower Mafia-Gruppierung) Igor an. Gemeint ist Igor Sobolewski, zu dem Zeitpunkt Chef einer Verwaltung innerhalb des mächtigen Ermittlungskomitees bei der russischen Generalstaatsanwaltschaft. Petrow teilt ihm mit, dass er ein Gespräch mit »Slawa« (Duma-Abgeordneter Wladislaw Resnik) gehabt habe. Aus dem weiteren Verlauf des Gesprächs geht hervor, dass es Unstimmigkeiten gab. Petrow verlangte von Igor (Sobolewski), er möge noch einmal mit Kolja (Nikolai Aulow, in den Jahren 2007 / 08 Chef einer Hauptverwaltung im Innenministerium, ab 2008 Vizechef der Antidrogenbehörde) sprechen und ihn auffordern, er solle »ohne Scham und Verlegenheit« handeln. Igor, der hochrangige Mitarbeiter des Ermittlungskomitees, das unter anderem das organisierte Verbrechen jagen soll, erinnert den Obermafioso der Tambowsker Gruppierung, Petrow, dass »mit Sascha alles so geklappt hat, wie wir es gewollt hatten«. Petrow drückt seine Zufriedenheit darüber aus.30