Queer NunRedenWir -  - E-Book

Queer NunRedenWir E-Book

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Beschreibung

Das Projekt "QUEER - NunRedenWir" gibt queeren Schriftsteller*innen aus NRW die Möglichkeit, eigene Lebenserfahrungen/Emotionen, die im Zusammenhang mit ihrer Zugehörigkeit zur LGBTQIA+ Community stehen, in Texten auszudrücken. Aus Kurzgeschichten und Gedichten entstand dieser Erzählband, der eine große Bandbreite der queeren Community aus Nordrhein-Westfalen sichtbar und erlesbar macht. Die Anthologie ist mit einem Glossar ausgestattet, in welchem wichtige Begriffe aus der Community erklärt werden. Als zweiter Schritt wird die Anthologie in 2024 bei 5 Lesungen an 5 verschiedenen Orten in NRW vorgestellt. Begleitet wird jede Lesung von einer Ausstellung zum Thema "Transidentität". Das Projekt will aber nicht nur queere Personen sichtbarer machen, sondern auch queeren Schriftsteller*innen die Möglichkeit geben, für ein angemessenes Honorar zu arbeiten. So wurde jeder Textbeitrag, der in QUEER NunRedenWir abgedruckt ist, mit einem Honorar abgegolten. Autor*innen, die ihre Texte bei einer der Lesungen vortragen, bekommen ein entsprechendes Lesehonorar. Zudem werden alle Gewinne aus Buchverkäufen gleichmäßig auf die beteiligten Autor*innen aufgeteilt. Weitere Informationen auf: www.queer-nunredenwir.de Instagram @queer_nunredenwir Ermöglicht wird das Projekt "Queer - NunRedenWir" durch die Förderung "Diversitätsfonds" des Landes NRW.

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Ermöglicht wird das Projekt QUEER NunRedenWir durch die Förderung Diversitätsfonds des Landes Nordrhein-Westfalen.

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung der Herausgeber*in und/oder der Autor*innen unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Vorwort

Als ich im Jahr 2021 in meiner Autor*innengruppe das erste Mal das Thema ›Queere Anthologie‹ ansprach, war meine Vorstellung von diesem Projekt noch ziemlich vage. An wen sollte sich die Ausschreibung richten? Durften alle mitschreiben, auch Menschen, die sich selbst nicht als ›queer‹ bezeichnen? Als ich diese Möglichkeit aufzeigte, wurden sogleich Proteststimmen laut.

Schließlich wird niemand gerne von etwas ausgeschlossen. Immer wollen wir Menschen doch gerne ein Teil von etwas sein. Sehr oft wurde ich schon gefragt, warum ich mich als ›queere‹ Person selbst in eine Schublade einsortiere.

Hier der Versuch einer Antwort:

Würden die Personen dieser Erde sich auf die allgemeinste Sammelbezeichnung einigen, wäre das Wort wohl ›Mensch‹. Aber in diesem ›Mensch‹ würde zugleich verloren gehen, dass wir Menschen zwar gleiche Grundbedürfnisse haben, aber in sehr unterschiedlichen Realitäten leben und zur wahren Zufriedenheit doch äußerst unterschiedliche Wünsche haben. Zur Erfüllung dieser individuellen Wünsche umgeben wir uns wiederum gerne mit Menschen, die die gleichen Vorstellungen von Glück wie wir selbst haben. Diese Einladung an ähnlich motivierte Menschen führt dann im Umkehrschluss dazu, dass wir uns von anderen Menschen, mit anderen Wünschen distanzieren.

Diese widersprüchliche Haltung bzw. Handlungsweise findet sich auch in der Bezeichnung ›queer‹ wieder. Das englische ›queer‹, was mit dem deutschen ›quer‹ verwandt ist, wird und wurde zunächst benutzt, um vor allem Homosexuelle und Menschen mit abweichender Geschlechtsidentität zu beleidigen und auszugrenzen. Mittlerweile nutzen jedoch viele Mitglieder der LGBTQIA+1 Gemeinschaft den Ausdruck ›queer‹ als eine positive Selbstbezeichnung und um die Zugehörigkeit zu dieser Gemeinschaft zu betonen.

Ich selbst bin ein großer Fan von ›queer‹, da es meiner Meinung nach auch mit dem Plus in LGBT-QIA+ gleich zu setzen ist. Queer ist DIE Schublade, in der wir all unsere einzelnen Facetten sammeln können, ohne dass wir Angst haben müssen, sie zu verlieren. Bei Bedarf können wir die einzelnen Buchstaben jederzeit hervor holen!

Wichtig ist mir, dass wir als queere Gemeinschaft zusammenhalten, dass wir unsere Gemeinsamkeiten betonen und nicht unsere Unterschiede, dass L und G sich nicht auf ihrer mit Hilfe von T mühsam errungenen Akzeptanz in Deutschland ausruhen und teilweise Transfeindlichkeit sogar noch offen anfeuern, dass wir A und I wirklich mitdenken!

Ihr habt vielleicht gemerkt, dass ich im vorigen Absatz mein »wir« mit Bedeutung von ›wir Menschen‹ zu ›wir queeren Menschen‹ verschoben habe. Denn letztlich habe ich mich dazu entschlossen, eine Großzahl von Menschen von der Ausschreibung dieser Anthologie auszuschließen. Meine Rechtfertigung für den Ausschluss von Texten nicht-queerer Personen in dieser Anthologie ist einfach: Authentizität!

Es ist mein Wunsch nicht nur in dieser Anthologie, sondern auch in Zukunft viele Texte zu queeren Themen, verfasst von queeren Autor*innen lesen zu können. Ich hoffe immer mehr, auch auf Texte zu stoßen, die nicht von heteronormativen Vorstellungen vorgefiltert wurden. Ich will Texte, die von den am eigenen Körper und Geist empfundenen Erfahrungen und Gefühlen queerer Personen erzählen!

Wir haben geschrieben. Nun lasst uns gemeinsam lesen!

Linn Schiffmann (Herausgeber*in)

Dortmund November 2023

Ps.: Getreu dem Titel QUEER NunRedenWir sind alle Texte in diesem Buch von Menschen geschrieben, die sich selbst als einen Teil der queeren Gemeinschaft verstehen. Zudem wurden auch die weiteren Arbeiten an diesem Buch, wie etwa die Covergestaltung, das Lektorat und der Buchsatz, aber vor allem auch die Auswahl der Texte von queeren Personen vorgenommen. Aufgrund der Förderung war die Ausschreibung außerdem auf Menschen aus Nordrhein-Westfalen (NunRedenWir) beschränkt.

1 LGBTQIA+ (Lesbisch Gay Bisexuell Transsexuell Queer Intersexuell Asexuell Plus)

Inhaltsverzeichnis

Sar Adina Scheer

Nun reden wir

Luca Malu Schmidt

Pride

In 10 Schritten zur Auslöschung meiner Geschwister

Calvin Kleemann

Wenn Victor traurig ist

Pans Labyrinth

Simon Klemp

Hey

Dorit Regina Heine

Die See in deinen Augen

Saskia Diepold

Unsichtbar

Natascha Grimmert

Mein (bisexueller) Drahtseiltanz

Gänseblümchen Orakel

Mein Garten

Alexander Weiß

Traubenschorle von wo anders

Anne Bax

Trotz Treppen

Rhea Leonhard

Erste Liebe

Froschprinzessin

Familienfrühstück

Anna Eichenbach

Unsichtbar

Jana Goller

Verkörpert

Kira Marie Jockers

Von Scham und Haar

Glauconar Yue

So schön wie das zufällige Aufeinandertreffen eines Regenschirms und einer Schreibmaschine

Augen zu und durch

The Name Game

Elisha Brzenczek

All Cuddles, All Beautiful

Das Enby, das überlebt

Yannik Raasch

Momentaufnahme eines Schwulen

Rosa

Stefan Matthias Pape

29.01.2023 | 02:30 Uhr

Ngo Nguyen Dung

Jagdzeit

Hannah Dornseiff

Erste Erkenntnis

Isabel Sophie

Viel zu schnell

Berny N.

P.A.N.

Kein Blut mehr im Schuh

Sören »Kitty« Johst

Du bist Performance der Wahrhaftigkeit

Freiheit im Ungefähren finden

Nicken

Paula Höll

Leideinheit

Every Body’s Beautiful

Inga Lohrmann aka Bolle

Suche

Megan E. Moll

Aufmerksamkeit

Jennifer de Negri

und sie war

Isaac Baltsch

self-made sainthood

Robyn Elia Lang

trans* Wahlfamilien & Verbundenheit

Mein politischer Körper

Beleidigung | Kompliment

Jule Weber

Warn- und Alarmrufe zur Verteidigung

Ich erkläre euch gerne meinen Frieden aber Liebe müsst ihr selbst verstehen

Püren Erdoğan

In Blüte

In Bloom (engl. Original)

Team

Glossar

Quellenverzeichnis

Sar Adina Scheer (alle Pronomen /*1994 in Berlin-Kreuzberg) studierte zunächst Visuelle Kommunikation und Theologie, bevor sier 2021 das Schauspielstudium an der Akademie für Darstellende Kunst Baden-Württemberg abschloss.

In Sars Arbeit als freie Schauspieler*in interessiert sier sich für Stückentwicklungen mit kollektiven Schreibprozessen, die queere und klassistische Erzählungen in den Vordergrund rücken.

Außerdem dreht Sar für Film und Fernsehen, erhielt das TakeHeart Residenzstipendiums des Fonds Daku in Kooperation mit dem FFT Düsseldorf sowie das Recherchestipendiums des Kulturamtes Berlin.

Aktuell ist Sar am KJT Dortmund zu sehen.

Instagram @sar.scheer

Nun reden wir

Nun reden wir.

Nun.

Ich stolpere.

Haben wir im Davor nicht geredet, oder anders, irgendwie falsch, ins Leere?

Haben wir im Davor marginalisiert geredet? Zu fremd, um Identifikationspotential zu eröffnen – außerhalb des sprachlichen Toleranzfensters?

Ich bin bestimmt schon präzise, aber ganz sicher nicht so, wie ich gern wäre.

Ich liebe zärtliche und konstruktive Polemik, Kitsch und Popkultur, aber ich komme mir damit so oft zu ›einfach‹ vor. Vereinfachte Eindeutigkeit, zwingende Kausalität, der Kitsch sind eine große Gefahr für das künstlerische Ich. Die Schublade steht schon weit offen.

Gestern war ich im Escape-Room. Ich hab präzise gesprochen. Ich hab Störgeräusche von Wichtigem unterschieden, Verklausuliertes dechiffriert. Ich hab zugehört, aber nicht sofort Schlüsse gezogen. Ich habe nachgefragt, aber nur wenn nötig. Ich hab mir nicht alles geglaubt, was ich dachte. Ich bin, in dauerndem, zielgerichteten Austausch mit den Anderen, in Aktion getreten. Wir haben richtige Informationen zusammen getragen, Türen geöffnet und hinter uns aufgehalten. Wir haben die Desinformationskampagnen enttarnt, der Vetternwirtschaft ihre Währung genommen, die Wahrheit ans Licht gebracht, die Öffentlichkeit wach gerüttelt und wenigstens in diesem hermetisch abgeschlossenen Raum den Diktator gestürzt, Maria Ressa, bist du stolz?

NUN weiß ich, dass ich durch das Lösen von sorgfältig aneinandergereihten Rätseln etwas Geschichtsträchtiges bewirken kann.

Also jedenfalls, wenn Mensch es mir zutraut, wenn die nötigen Werkzeuge und Informationen für mich bereitgehalten werden. Wenn ausreichend Zeit zur Verfügung steht – und meine erfahrensten Gleichgesinnten, denen ich vertraue. Wenn die Person, die den Schlüssel zum Escape-Room hat, brüllt: "Los, los, los, die Zeit läuft und viel Spaß!

NUN reden wir.

Bedeutet nun reden wir eigentlich:

jetzt dürft ihr reden.

Dankeschön. Jetzt darf ich auch mal im Mittelpunkt stehen. Hmm.

Oder reden wir nun anders? Anders bedeutet QUEER. Queer reden. Ja, wir reden jetzt queer.

Und wir celebraten diesen Akt der Selbstbefähigung zurecht, denn wie wir reden, das hat uns keiner überreicht. Unsere Codes, unsere Sprache, unsere glitzernde, bunte Subkultur. Was wir meinen, verstehen sie nicht immer. Wer wohlwollend nachfragt, scheint feinstes Allymaterial zu sein, wer sich verächtlich macht, bleibt draußen. Queer reden ist ein wirksamer Arschlochfilter.

Nun reden wir.

Ich versuche nicht mehr die Zugänglichkeit meiner Sprache für die cis-heteronormative Gesellschaft aufrechtzuerhalten. Ich nutze die präzisen Worte und Beschreibungen, die meiner chosen family so viel sagen, und meiner Familie so wenig.

Davor habe ich in meinem queer sprechen einen Auftrag, eine Verantwortung gesehen. Mein darüber Nachdenken, wie die Worte rezipiert werden, hat viele Ressourcen gebunden. Diejenigen inkludieren, die sonst womöglich noch provoziert werden zum Exkludieren. Making sure everyone is comfortable. Bloß nicht triggern sagen, oder toxic, das triggert die toxic people. Meinen völlig alltäglichen Sprachgebrauch in Anführungszeichen setzen, wenn ich eine Mail schreibe? I don't think so. I am done mich zu erklären, aber auch mit der Care-Work für die gesellschaftliche Transformation, für mehr NUN im Kleinen. Ich halte keinen Wortkatalog mehr bereit, aus dem Normalos sich die Ansprache für mich aussuchen können, die ihre fragilen Ichs möglichst unirritiert zurücklässt.

Ich habe mir viele Gedanken über meine Sprache gemacht, weil für mein Leben Sprache identitätsstiftend ist.

Vielleicht hast du bis jetzt einfach noch keine andere Möglichkeit gesehen. Also hier ist sie.

Nun reden wir.

Es ging mir lange auch so, tobe honest. Ich erinnere mich an Momente, noch bevor 'Queer mit Bildungsauftrag' meine Sprache ist, in denen ich nicht rede.

Ich bin 21 Jahre alt und laufe den mit Raufaserteppich ausgelegten Flur des Frauenwohnheims entlang.

Mein Zimmer teile ich mir mit einer schüchternen Kommilitonin mit der ich zusammengesteckt wurde, weil wir beide gerne zeichnen. Sie malt gerne naturgetreu-realistisch mit Bleistift und Radiergummi, bei mir irren Wachsmalstifte kreuz und quer über das Papier und entscheiden sich zum letztmöglichen Zeitpunkt auf Pappunterlage aus alten Kartons einen neuen Anfang zu ergeben. Das sollte genug Beschreibung unserer Persönlichkeiten sein.

Mein Magen ist flau.

Ich bin hier, weil ich keine Ahnung hatte, was ich studieren soll. Meine Gemeinde war mein ganzes (social) life. Und so hab ich mir vorstellen können, dabei auch Geld zu verdienen, zur Jungpastor*in hochgedient.

Ich studiere im Internat Theologie, um Gottes Werkzeug zu werden. Zeitgleich bin ich wahnsinnig und wahnsinnig unchristlich verliebt in diese eine Freundin, die ich bei meinem letzten Missionseinsatz kennengelernt hab. In meinem Zimmer kann ich wegen der stummen Bleistiftzeichenenden nicht mit ihr telefonieren, also verkrümle ich mich auf den Dachboden. Jede Nacht. Nach der Satzung des Internats, welches natürlich wahnsinnig christlich ist, flöge ich direkt raus, wenn das alles herauskäme.

Auf dem Flur nun setze ich zittrig einen Fuß vor den anderen, Schritt für Schritt, gehe ein Stockwerk hinunter und stehe vor dem Zimmer der "Seelsorgerin" des Internats.

Ich selbst glaube eigentlich nicht, auch damals schon nicht, dass Gott* ein Problem mit meinem Queersein hat. Aber ich höre immer und immer wieder Entgegengesetztes von denen, die »mit« mir und von denen, die »über« mir sind.

Ich nehme mir fest vor, mit dieser Seelsorgerin darüber zu reden – hoffe eigentlich, dass ich tatsächlich verwiesen werde – sitze in einem durchgesessenen Poco Domäne Sessel und finde mich dabei wieder, wie ich mit kleinen Holzfiguren meine Familie aufstelle.

Sie weiß über mich, dass ich gerne zeichne. Ich soll meine Familie zeichnen. Seriously?! Aber ich mache bei allem bereitwillig mit, bin dissoziiert von meinem damaligen Nun und hineingeworfen in die Traumata meines Aufwachsens.

Aufstand abgebrochen. Revolution verschoben.

Keine Sorge, ich habe das Internat dann selbst im Stillen abgebrochen. Ich hätte gerne gesagt, dass meine Wertvorstellungen konträrer zur Akademie nicht hätten sein können, wäre gerne für mich eingestanden, und erhobenen Hauptes vom Internat geflogen.

Ich hätte reden können. Statt Reden, Ausreden. Schmerzen sparen. Mich nicht aussetzen.

Jetzt rede ich. Wie ich will. Mit wem ich will. Und damit ich das safely kann, musste ich mich in andere Kontexte begeben. Kontexte, die ich mir erschlossen habe. Ich musste Menschen zurückweisen, verlassen, veranlassen mir auszuweichen.

Ich fühle mich, obwohl WIR inzwischen ja reden, oft, als sei für unseren Unmut über diese Erfahrungen kein Raum, als sei der besetzt von der Erwartung, WIR mögen unser Anders-sein wenigstens angemessen erklären. Aber WIR machen sie, schmerzhafte queere Erfahrungen. WIR sind nicht so frei, nicht so anerkannt, nicht so gesetzlich vorgesehen, nicht so akzeptiert, nicht so sicher und nicht so frei wie Menschen, die »Label nicht so wichtig finden« können.

Jetzt ist alles schon wieder in eine sadde Ecke gedriftet, aber ich kann mein Queersein nicht ohne diese Erfahrungen denken.

Meine relative Freiheit in NRW unapologetisch queer zu sein, rückt in mein Bewusstsein, als ich mich im wunderschönen Belgrad, zu Besuch bei FreundInnen, in den Pott zurück sehne, um unbedacht Händchen haltend rumzulaufen.

Den Phantasien meines 14-jährigen Ichs Raum zu schaffen, das davon träumt, eine Freundin zu haben, bevor es dann den Prinzen heiratet, eine Ehe eingeht, die Gott* wohlgefällt bzw. deren christlicher Sozialisierung entspricht.

They träumt eine Zeit lang, mal eine Freundin zu haben, wenigstens für einen Moment frei zu sein, bevor es dann den Auftrag, der cis-heteronormativen Ehe zu erfüllen gilt. They wundert sich, dass außer them, alle von dieser Ehe zu träumen scheinen und in ihrer detailreichen »Der schönste Tag des Lebens«- Phantasie schwelgen. Es bedeutet ihnen so viel und sie bedeuten darin was. Gelten. They kennt keine anderen Narrative, kommt auf keine andere Idee. Vor davor.

Dass die linearen Geschichten über UNS noch nicht genügend zugänglich sind, wissen wir. Kein neuer Gedanke.

Ich springe hier von Thema zu Thema, weil das meinem Leben entspricht. Mein Leben macht Spaß, aber manchmal würde ich mich gerne in eine umfassendere identitätsstiftende Erzählung legen, die größer ist als ich, die bereits Millionen an Biografien bereithält.

Wenn die queere Version von The Ultimatum (eine stellenweise ziemlich problematische Reality Show fragwürdigen Geschmacks), für mich und meine Freundin die Streaming-Dienst-Produktions-Sensation des Jahres ist, weil wir zum ersten Mal in unserem Leben, mehrere ethnisch diverse FLINTA* Couples und ihre Struggles und Emotionen im Fernsehen porträtiert und besprochen sehen, dann stimmt was nicht.

Ich wünsche uns den Raum zum Assoziieren, zum Weiterdenken, zum Erfinden, zum Definieren.

NUN

REDEN

WIR.

Luca Malu Schmidt (he/they) wurde 2001 in Geilenkirchen geboren und identifiziert sich als nichtbinär. Their Lieblingstier ist der Axolotl und seine Lieblingsjahreszeit der Frühling. In seiner Freizeit schreibt they über queere Themen und mentale Gesundheit. Er denkt mehr über das Leben nach, als er bisher gelebt hat. Auf Instagram zeigt er zudem offen seine Transition. They studiert Gesellschaftswissenschaften und lebt in Aachen.

Instagram @luca.malu.schmidt

Pride

Dienstags feiern wir auf dem Wilhelmine Konzert in Köln ein Fest der Liebe, der queeren Liebe. Mittwochs wird Wilhelmine in Mainz queerfeindlich angegriffen.

Und du fragst, warum wir immer noch CSDs brauchen. Warum es immer noch einen Pride Month, einen Trans Day of Visibility braucht. Denn es gibt ja jetzt die Ehe für alle! Und was wollen wir eigentlich noch?

In 69 Ländern steht Homosexualität immer noch unter Strafe. In 11 Staaten droht sogar die Todesstrafe. Wegen Liebe. In nur 30 Staaten dürfen gleichgeschlechtliche Paare heiraten. Davon liegen 17 Länder in Europa.

2022 – das Jahr, in dem in Florida das Gesetz über »Parental Rights of Education« in Kraft tritt. Das »Don ́t say gay« Gesetz verbietet Themen wie sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität in die Lehrpläne bis zur dritten Klasse aufzunehmen. Man wolle die Kinder vor einer Indoktrination schützen, so der Gouverneur von Florida.

2022 – das Jahr, in dem vor einem queeren Nachtclub in Oslo zwei Menschen erschossen und 20 verletzt werden.

2022 – das Jahr, in dem über 200 Teilnehmende der Pride Parade in Istanbul verhaftet werden, weil sie trotz Verbot ihre Liebe feiern.

2022 – das Jahr, in dem trans Frauen aus Sportwettbewerben ausgeschlossen werden, weil sie angeblich einen Vorteil hätten.

2022 – das Jahr meines ersten CSDs, bei dem ich, als ein Ballon platzt, Panik bekomme, weil ich denke, es fallen Schüsse.

2022 – das Jahr, in dem Malte starb.

2022 ist gleichzeitig das Jahr, in dem meine Schule auf meinem Zeugnis gendert, weil ich nicht-binär bin.

Das Jahr, in dem in Oslo trotz Absage Tausende den CSD feiern und sich nicht von Hassverbrecher*innen einschüchtern lassen.

Das Jahr, in dem sich Menschen in Istanbul über das Verbot, die Pride Parade zu feiern, hinwegsetzen und sich damit in einem zunehmend LGBT-QIA+ feindlichen Land erheblicher Gefahr aussetzen.

Das Jahr, in dem sich der zweite aktive Fußballprofi als schwul outet. Mit gerade einmal 17 Jahren, in einem Sport, der so homofeindlich wie kaum ein anderer ist.

Das Jahr, in dem der DFB beschließt, dass sich trans*, nicht-binäre und inter* Personen im Amateurbereich fortan aussuchen dürfen, ich welchem Team sie spielen, bzw. wann sie das Team wechseln möchten.

Ich will die gleichen Rechte und Privilegien, wie heterosexuelle endo-cis Personen. Ich will durch die Stadt laufen, meine*n Partner*in an der Hand und keine Angst haben müssen, im Krankenhaus wieder aufzuwachen. Ich will mich nicht umschauen müssen, bevor ich den Menschen, den ich liebe, küsse.

Also wage es nicht noch einmal, zu fragen, warum wir immer noch CSD, Pride Months und Trans Day of Visibility brauchen.

Ich, nein, wir werden erst schweigen, wenn der letzte Funke Hass erloschen ist.

In 10 Schritten zur Auslöschung meiner Geschwister

Artikel II, UN-Völkermord-Konvention:

In dieser Konvention bedeutet Völkermord eine der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören:

Tötung von Mitgliedern der Gruppe;

Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe;

Vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen;

Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind;

Gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe.

Artikel III, UN-Völkermord-Konvention:

Die folgenden Handlungen sind zu bestrafen:

Völkermord,

Verschwörung zur Begehung von Völkermord,

Unmittelbare und öffentliche Anreizung zur Begehung von Völkermord,

Versuch, Völkermord zu begehen,

Teilnahme am Völkermord.

Stufe eins. Klassifizierung. Trans Personen werden als abnormal, fundamental anders dargestellt. Wir sind zuallererst trans, dann erst Mensch, werden nicht als Teil der Gesellschaft anerkannt.

Stufe zwei. Symbolisierung. Trans Personen werden zum Symbol der vermeintlichen Missstände im Land. Werden für eine Vielzahl sozialer Probleme verantwortlich gemacht. Die Wurzel allen Übels – trans Personen.

Stufe drei. Diskriminierung. Trans Personen werden diskriminiert. Auf allen Ebenen. In der Schule, im Job, im Gesundheitswesen, beim Amt. 90% der arbeitenden trans Personen werden in ihrem Job diskriminiert. 26% haben schon mal einen Job verloren, weil sie trans sind. In den USA gibt es inzwischen über 400 Gesetze, die die Rechte von trans Menschen massiv einschränken, mit dem Ziel eine Gesellschaft zu schaffen, die trans Personen feindlich gegenübersteht und in der es unmöglich ist, offen und legal als trans Person zu leben.

Stufe vier. Dehumanisierung. Zitat Micheal Knowles, konservativer amerikanischer Kommentator und Moderator: »For the good of society […] transgenderism must be eradicated from public life entirely – the whole preposterous ideology, at every level.«2/ Transsein wird als Ideologie angesehen, als Lebensweise mit einem Ziel, einer Transagenda, die es zu unterbinden gilt. Trans Personen werden als Bedrohung für die patriarchalische Kernfamilie und für die Stärke und Vitalität nationaler Gemeinschaften dargestellt.

Stufe fünf. Organisation. Die Organisationen sind schon da: In Form der USA und ihrer Organe, die Gerichte, die Regierungen. Sie hetzen gegen trans Menschen, nehmen ihnen ihre Rechte. Daneben formieren sich inoffizielle Organisationen gegen trans Menschen und ihre Rechte.

Stufe sechs. Polarisation. »At the end of the day, there are two positions here. One tells children that they ́re beautiful the way they are. […] The other tells them that they should take drugs and cut themselves up with expensive and experimental procedures in order to find freedom from depressions«3 Zitat Tate Reeves, Gouverneur von Mississippi. Man kann »trangenderism« nicht beseitigen, ohne trans Personen zu beseitigen. Es wird verlangt, sich für eine Seite zu entscheiden. Schon bei den Nazis war ein fundamentalistisches Geschlechterbinär ein wesentliches Merkmal der Rassenpolitik und des Völkermords.

Stufe sieben. Vorbereitung. Der Generalstaatsanwalt von Texas forderte vor kurzem, Listen mit persönlichen Informationen von trans Personen anzulegen.

Stufe acht. Verfolgung. Die Gesetze in Florida erlauben es den Behörden, trans Kinder aus ihren Familien zu holen, wenn diese ihre Kinder unterstützen. Menschen sehen sich gezwungen, in andere Bundesstaaten zu ziehen, weil sie in ihrer Heimat nicht mehr sicher sind.

Stufe neun. Vernichtung. Die Suizidrate von trans Menschen ist signifikant höher als die von cis Personen. Haben trans Menschen die Möglichkeit sozial, gesetzlich und medizinisch zu transitionieren, sinkt die Suizidrate um 73%. Die Gesetze treiben trans Menschen in den Suizid, eine indirekte Vernichtung. Tennessee zwingt trans Kinder und Jugendliche innerhalb eines Jahres, alle bisher vorgenommenen Transitionsmaßnahmen rückgängig zu machen. Oklahoma will allen trans Menschen eine Transition verbieten. In 14 Staaten müssen sich trans Personen sterilisieren lassen, um den Geschlechtseintrag in der Geburtsurkunde ändern lassen zu können.

Stufe zehn. Leugnung. Die Verwendung des Begriffs ›Völkermord‹ ist nicht metaphorisch gemeint. Wir befinden uns schon mittendrin. Es passiert vor unseren Augen. Es ist ein Völkermord, verpackt als individuelle Tragödien, Einzelfälle.

Ich habe Angst. Angst um mich und um meine Geschwister. Angst, getötet zu werden. Die durchschnittliche Lebenserwartung von trans Personen liegt bei 35 Jahren. Die Gründe? Aids, Suizid und Mord.

Wir standen neben euch, vor euch. Beim Stonewall Protest standen schwarze trans Frauen in der ersten Reihe und haben auch für EURE Rechte gekämpft. Und nun schaut ihr tatenlos zu, wie wir langsam ausgelöscht werden. Uns die Chance auf ein Leben in Frieden verwehrt bleibt. Ihr fragt euch, was ihr damals anstelle eurer Großeltern getan hättet? Nun, jetzt könnt es zeigen.