Rachsucht Tod - Martin Cereza - E-Book

Rachsucht Tod E-Book

Martin Cereza

0,0

Beschreibung

Der einst verdeckte Ermittler Max lebt mit neuer Identität in Wien. Eine mysteriöse E-Mail verändert sein Leben abrupt. Die Vergangenheit hat ihn schlagartig eingeholt. Mafia-Pate Igor Kuzimov nimmt grauenvolle Rache an Max Bulla, der das Verbrechersyndikat Qilich vor Jahren zerschlug und Kuzimov scheinbar für immer hinter Gitter brachte. Allerdings nur scheinbar. Max, psychisch angeschlagen und dem Alkohol nicht abgeneigt, stellt sich dem Kampf gegen die Verbrecherorganisation. Eine gnadenlose Abrechnung nimmt ihren verhängnisvollen Lauf. Spannungsgeladene Geschichte eines Mannes, dem das Leben unsagbare Qualen auferlegte. Absurde Wendungen, verpackt in ein Leseerlebnis der Extraklasse.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 462

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



martín cereza

wurde 1951 in Wörschach/Steiermark geboren. Er lebt mit seiner Familie in Kössen/Tirol.

Für sein erfolgreiches Roman-Debüt

»blaue isTOD«

erhielt er begeisterte Kritiken zahlreicher Leser.

Liebhaber fesselnder, spannungsgeladener Lektüre, finden in seinen Werken ihre Erfüllung.

Petra

Maximilian Hannah

Martin

Fiona Mattea

Sie sind mein Lebenselixier

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

1

Klak…klak…klak…klak…

Das monotone Geräusch drang in ihr von Nebeln verhangenes Bewusstsein. Es ließ sie erwachen, aus dem schrecklichen Traum, der ihre blutjunge Seele aufgewühlt hatte.

Zitternd hoben sich die von tausenden Tränen verkrusteten Augenlider.

Dunkelheit.

Undurchdringliche, bedrohliche Dunkelheit.

Behutsam versuchte sie eine Hand zu heben, um über ihre Augen zu streichen, sich Sicht zu verschaffen, dem grauen Nebel der Ohnmacht zu entfliehen.

Vergeblich.

Sie konnte ihre Arme nicht bewegen.

Taubheit beherrschte Hände und Füße. Ein Gefühl, als hätten sich Millionen von Ameisen unter ihrer durchscheinenden Haut eingenistet. Als krabbelten sie von den Spitzen der Zehen, über die Fersen, die Waden hoch und wieder zurück.

Allmählich gewöhnte sich das vertrocknete Auge an die bedrohliche Finsternis. Nach und nach formten sich schattenhafte Umrisse. Sie drehte den Kopf zur Seite und merkte schauernd, dass Arme und Beine festgebunden waren. Ein schmaler Lichtschein kroch unter einer geschlossenen Tür in den feuchten Raum. Verzweifelt zog sie wieder an den Fesseln.

Keine Chance, ihre Nackenhaare sträubten sich, kalte Schauer ließen sie frösteln.

Klak…klak…klak…klak…

Da war es wieder, dieses unheimliche Geräusch. Ihr Kopf schmerzte. Die Kälte ließ sie zittern.

Das dünne T-Shirt und die kurze Sporthose konnten den zarten Körper nicht wärmen. Angestrengt starrte sie in das grauschwarze Dunkel des Raumes. Eine Tür, ein Schrank sowie ein geschlossenes Kellerfenster schälten sich wie bedrohliche Schatten aus einer schwarzen Wand. Sie lag auf einer Art Feldbett, einem Gestell aus braun lackierten Stahlrohren. Die schmutzige Matratze verbreitete einen faulen Gestank. Ihre Beine waren am Rahmen mit Kabelbindern festgezurrt. Ebenso die dünnen Arme.

Panische Angst erfasste sie von Neuem, ließ sie schluchzend an den unbarmherzigen Fesseln zerren.

Klak…klak…klak…klak…

Ruckartig drehte sie den Kopf zur Seite. Von hier kam das nervende Geräusch. Am Boden stand ein alter Eimer. Wasser von der Decke tropfte hinein.

Langsam begann ihr Gedächtnis zu arbeiten. Im schmerzenden Kopf setzten sich Teile der Erinnerung wie Scherben eines zerbrochenen Kruges zusammen.

Das breite Eingangstor zur Schule.

Die Freundinnen, Mattea und Valentina.

Die von Heckenrosen gesäumte Auffahrt.

In einem verschwommenen Bild nahm die vertraute Umgebung Formen an. Dann der stechende Schmerz am Oberarm. Der Sturz und der große Mann, der sie in ein anfahrendes Auto zerrte, danach Dunkelheit.

Dicke Tränen traten wieder aus ihren dunklen Augen, suchten einen Weg, im eingefallenen Antlitz, über die spröden Lippen, in den leicht geöffneten Mund, dem sich ein leises Wimmern entrang.

»Mama wo bist du? Bitte komm zu mir? Mir ist so kalt!«

Der junge Körper bäumte sich verzweifelt auf.

Die Kellertür wurde aufgestoßen. Wie ein greller Blitz fuhr das Licht der nackten Glühbirne in die Augen der gequälten Kreatur. Verzweifelt schloss das Mädchen die gekränkten Lider.

Unsagbare Angst beherrschte ihre Seele, Angst vor den Stimmen, Angst die Augen zu öffnen, Angst vor der Umgebung, Angst vor dem was kommen würde….

Zwei Männer unterhielten sich lachend. Eine schrullige Hand fasste ihr Kinn, drehte den schmalen Kopf zur Seite.

Vorsichtig öffnete sie die schmerzenden Augen.

2

Das weit geöffnete Fenster beflügelte die Morgensonne, den großzügig gehaltenen Büroraum im ersten Licht des Tages erstrahlen zu lassen. Auf dem eleganten Ledersofa lagen Bücher, Zeitungen und Zeitschriften verstreut. Der ausladende Schreibtisch war so platziert, dass sich ein schöner Blick auf die Dächer der Wiener Innenstadt auftat.

Es war Anfang April. Der Frühling hielt langsam Einzug in Österreichs Hauptstadt an der Donau.

Frischer Ostwind wehte durch die engen Gassen, trug den Blütenduft der Peripherie in die Stadt. Die kalte Luft erfüllte den Raum mit angenehmer, morgendlicher Frische.

Max Bulla hatte es sich im hohen Bürostuhl bequem gemacht. Die Füße in den eleganten Lederschuhen, ruhten auf der aufgeräumten Schreibtischplatte. In der winzigen Porzellantasse erkaltete der Rest eines Espresso.

Genussvoll zog er an einer Zigarette. Es galt ein striktes Rauchverbot im gesamten Gebäude. Max Bulla scherte sich nicht darum. Er brauchte dieses Ritual, jeden Morgen. Zigarette, Espresso, Zeitung, ohne diese drei Dinge ging es nicht.

Der Bildschirmschoner seines Notebooks zeigte eine lächelnde, ausgesprochen hübsche Frau. Das sonnengebräunte Antlitz wurde von einer Mähne pechschwarzen Haares umrahmt. Dunkle Augen lagen unter schön geschwungenen Brauen. Die rassigen Gesichtszüge ließen die Südländerin erahnen.

Maria-Dolores war Spanierin.

Max betrachtete das Bild aufmerksam. Ein zufriedenes, geradezu liebevolles Lächeln, huschte über sein Gesicht. Seine Gedanken wanderten zurück auf die Insel, zurück zum kleinen Appartement im Herzen von Los Gigantes. Vor einem Jahr hatte er es erworben. Ein Verwandter seiner Frau hatte es vermittelt. So oft als möglich verbrachten sie ihre Freizeit nun dort. Erst vor einem Monat waren sie aus einem längeren Urlaub zurückgekehrt.

Max hatte schon wieder Sehnsucht nach Teneriffa. Den halben Jänner und den ganzen Feber waren sie auf der Insel gewesen. Er dachte an die Mandelblüte, die eben zu Ende gegangen war. Hoch oben, an den steilen Hängen der Montañas, rund um die kleine Bergstadt Santiago del Teide, stellten zu dieser Zeit hunderte Mandelbäume ihr rosa/weißes Blütenkleid zur Schau. Er dachte an die herrlichen Wanderungen, die er zusammen mit Maria-Dolores gemacht hatte. Über die alten Steige, vorbei an uralten Wasserkanälen und verfallenen Schäferhütten, immer mit herrlichen Ausblicken auf die umliegenden Vulkanberge belohnt. Er dachte an den feinsandigen Strand von Playa de los Guíos, der nur wenige Minuten von ihrer Wohnung entfernt lag, dachte an die urigen Bars und Lokale am Hafen, und an den wunderschönen Blick über die weißen Yachten, hinüber zu den gigantischen, über vierhundert Meter in den Atlantik abfallenden Felsen des auslaufenden Teno-Gebirges, durchbrochen vom Barranco de Masca, der wildromantischen Masca-Schlucht.

Dieser Ort verdiente wahrhaftig seinen Namen: Los Gigantes.

Ein kleiner gelber Briefkasten, am unteren Ende des Bildschirmes, verkündete das Eintreffen einer neuen Nachricht. Träge nahm Max die Beine vom Tisch. 07:03 Uhr. Eigentlich bin ich noch gar nicht im Dienst, dachte er belustigt, also kann ich mich ruhig mit privaten Mails beschäftigen.

Er war heute früher als gewöhnlich unterwegs. Zusammen mit Maria-Dolores hatte er bereits um 06.00 Uhr die Wohnung in der Nähe des Schwedenplatzes verlassen. Loly, wie er seine Frau nach alter spanischer Familientradition liebevoll nannte, hatte einen Vertrag als Dolmetscherin bei den Vereinten Nationen in der Wiener UNO-City. Zusammen spazierten sie jeden Tag zum nahen Schwedenplatz, nahmen in Carlos Italo-Café ihren Espresso und eilten danach zur nahen Station, um die U 1 zu besteigen. Loly in Richtung Kagran, er bis zum Stephansplatz. An schönen Tagen schlenderte Max zu Fuß über den Stephansplatz zu seinem Büro in der Johannesgasse.

Seit Anfang 2010 war er wieder zum Ärmelschoner geworden, wie er seinen derzeitigen Job ironisch zu nennen pflegte. Er saß im Ministerium der Finanzen, wusste nicht so recht wofür er eigentlich zuständig war und was er den lieben langen Tag anstellen sollte. Er öffnete das nagelneue Notebook, gab sein Passwort ein und war wie immer überrascht, wie schnell sich das kleine MacBook hochfahren ließ. Zärtlich strich er über das silberfarbene, extrem flache Gerät. Ein Geschenk seiner Frau, das ihn täglich an sie denken ließ. Und so breitete sich auch heute wieder dieses wärmende Gefühl in seinem Inneren aus. Er freute sich bereits jetzt, auf den noch fernen Feierabend.

Der Absender der neu eingegangenen Mail war ihm nicht bekannt.

»Sicher eine dieser sinnlosen Werbungen«, murmelte er, während er die Nachricht öffnete. Sie bestand aus einem einzigen Satz. Kurz und prägnant, in englischer Sprache.

Wir haben deine Tochter

Mehr stand da nicht. Kein Name, keine Forderung, kein Bezug, nichts. Nachdenklich betrachtete er den Bildschirm. Was sollte das heißen? Er hatte keine Tochter, hatte überhaupt keine Kinder.

Schon lange nicht mehr….

In seinen Ohren lag plötzlich dieses fröhliche Lachen und ein hübsches Jungengesicht tanzte vor seinem geistigen Auge.

Hastig griff er nach dem Flachmann. Der kräftige Schluck Wodka vertrieb die trüben Gedanken, unterdrückte die Bilder und beruhigte seine brennende Seele.

Mürrisch wollte er die Mail löschen, da kam ihm eine Idee. Er griff zum Telefon.

»Hallo? Ja, Bulla hier. Was? Nein, Max Bulla, aus dem vierten Stock, Zimmer 0404. Sie sind doch der Mann für die elektronischen Anlagen im Haus, oder irre ich mich?«

Er wartete geduldig, bis sein Telefonpartner erklärt hatte, wofür er zuständig sei.

»Okay, das ist gut. Können Sie vorbeikommen? Ich möchte Ihnen etwas zeigen, besser gesagt, Sie etwas fragen. Danke, ich warte.«

Max hatte aufgelegt und ging zum Fenster, um es zu schließen. Es dauerte über eine Stunde, bis endlich zwei Männer eintrafen, die sich mit einem kurzen, »IT-Support«, was immer das sein sollte, vorstellten. Max Bulla zeigte nickend auf sein Notebook.

»Hier, mein privates Gerät. Lesen Sie das, bitte.«

»Gerne Herr Bulla. Wenn Sie Ihr Passwort eingeben, damit sich die ausgesprochen hübsche Dame vom Schirm verabschieden kann, dann gerne.«

»Entschuldigen Sie, mein Fehler«, murmelte er nervös und klopfte die Kombination in die Tastatur.

»Oha, das schaut nicht gut aus. Haben Sie eine Tochter?«

Der Mann sah Max fragend an.

»Nein. Ich habe keine Kinder. Die Sache ist seltsam, deshalb habe ich Sie ja gerufen. Können Sie herausfinden wer der Absender ist? Diese Adresse kenne ich nicht.«

Die beiden Männer unterhielten sich eine Weile in ihrer Computersprache. Wie bei den Ärzten, dachte Max, da versteht man auch nie, was sie eigentlich meinen.

»Es ist sehr verwunderlich, dass diese Mail überhaupt ankommen konnte. Normalerweise landet so etwas im Filter. Wie ich sehe, haben Sie ein ausgezeichnetes Schutzprogramm installiert. Wirklich seltsam. Wenn Sie nichts dagegen haben, leiten wir das Ding auf eines unserer Geräte weiter. Dort schauen wir uns die Sache in Ruhe an. Es ist zwar eine private Angelegenheit, interessiert mich aber. Wenn es für Sie okay ist, melde ich mich wieder, Herr Bulla…, hallo, Herr Bulla, haben Sie mich verstanden?«

Max Bulla stand nachdenklich am Fenster. Sein Blick ruhte am Turm des Stephansdomes.

»Was sagen Sie… ja, ja das ist in Ordnung, nett von Ihnen, danke sehr.«

»Nichts zu danken. Sagen Sie, wie lange sind Sie schon im Haus? Habe Sie hier noch nie gesehen.«

»Seit dem Umbau, warum fragen Sie?«

»Nur so Herr Bulla, habe mich gewundert, weil ich in diesem Büro bisher nie etwas installiert habe. Einen neuen PC könnten Sie auch einmal beantragen. So ein altes Standgerät wie dieses, haben wir schon jahrelang nicht mehr im Programm. Wir melden uns. Servus.«

Max setzte sich wieder an seinen Schreibtisch. Er fand keine Erklärung, aber irgendetwas stimmte mit dieser Mail nicht. Der Bauchaffe, wie er sein Gefühl von Intuition zu nennen pflegte, sagte ihm, dass es bei dieser Sache irgend einen Hintergrund gab. Aber welchen?

In der Zwischenzeit war es 09:30 Uhr geworden. Er nahm seinen Mantel, schloss das Büro ab und ging gemächlich über Stiegen und Gänge nach unten. Den Aufzug benützte er nie. Für seinen Geschmack zu viele Leute, zu viel Geschwätz und zu viel unangenehmer Geruch nach Schweiß, Parfüms und alten Socken.

In der nahen Himmelpfortgasse gab es ein kleines Wirtshaus, ein Beisel, wie es der Wiener gerne nennt. Dorthin führte ihn, wie jeden Vormittag um diese Zeit, sein Weg.

Max war Frühaufsteher. Jeden Morgen schlüpfte er um 04:30 Uhr aus dem Bett. Sommer wie Winter, jeden Tag. Der morgendliche Lauf am Donaukanal war ihm so zur Gewohnheit geworden, dass er keinen Tag darauf verzichten wollte. Frühstück zu Hause war ihm fremd. Der Espresso im Da Carlos, zusammen mit Loly, genügte ihm vollauf.

Später dann, so gegen zehn Uhr, brauchte er sein Gabelfrühstück, wie es ihn Wien seit ewigen Zeiten üblich war. Ein kleines Gulasch, ein Würstl mit Saft oder eine Semmel mit Pferdeleberkäse, das waren die Dinge, die einen Tag in Wien erst richtig schön werden ließen. Dazu ein Seidel Bier oder ein Glas sommerlichen Spritzwein und die Welt sah sofort ganz anders aus. So war es auch heute. Genussvoll führte er die Gabel mit dem köstlichen Stück Gulasch zum Mund.

Das fiepende Telefon zerstörte jegliche Vorfreude. Er wischte mit der Serviette über die vom herzhaften Saft benetzten Lippen, bevor er den Apparat aus der Tasche holte. Eine anonyme Nummer. Mürrisch betätigte er die Taste Ablehnen. Er hasste Anrufer, die sich nicht deklarieren wollten.

Wieder zurück auf dem Weg in sein Büro, traf er im Stiegenhaus Dr. Kumerla, Leiter der Abteilung, die seit einigen Jahren seine neue Heimat war.

»Morgen, Bulla. Na, wie war das Frühstück?«

Soll ich ihn jetzt auch Kumerla nennen, dachte Max ärgerlich.

»Guten Morgen Herr Rat, alles in Butter. Ich bin gestärkt und strebe großen Taten zu. Einen schönen Tag wünsche ich Ihnen, bleiben Sie gesund und Ihrem Amtseid verbunden.«

Dr. Emil Kumerla wusste, dass Max Bulla ihn nicht leiden konnte, dass er ihn verachtete, sogar hasste. Da dies aber auf Gegenseitigkeit beruhte, lächelte er nur ein wenig süffisant und ging seines Weges.

Max sah dem schwer übergewichtigen, stets korrekt gekleideten Mann nach. Kalte Wut stieg in seinem Inneren empor wie immer, wenn er Kumerla zu Gesicht bekam. Seit nunmehr fast auf den Tag genau sechs Jahren saß er in dieser verdammten Abteilung fest. Bei derlei Begegnungen kroch die Erinnerung wie eine Viper in seine Seele, vergiftete seine Gedanken und ließ das zerstörerische Angstgefühl in Form einer Panikattacke neu aufleben. Er hetzte in sein Büro, riss den Aktenschrank auf und suchte hinter verstaubten Ordnern nach seiner Medizin.

Mit einem langen Zug vernichtete er den Rest des Inhaltes. Er fühlte das wärmende, beruhigende Gefühl des Alkohols, sank zufrieden in seinen breiten Bürostuhl und wischte sich den kalten Schweiß von der sonnengebräunten Stirn.

3

Ein warmer Frühlingsmorgen lag über der Weinstadt Krems. Die Fußgängerzone der schönen Stadt am östlichen Ende des Weltkulturerbes Wachau war bereits zum Leben erwacht. Dem italienischen Reisebus, der am Südtiroler Platz gehalten hatte, entstieg eine Reisegruppe aus Mailand. Fröhlich plaudernd folgten die Italiener ihrer Reiseleiterin durch das altehrwürdige Steinertor in die Altstadt.

Die Kaffeehäuser hatten im Freien gedeckt. Auch die unzähligen Souvenirläden, Boutiquen und Geschäfte präsentierten ihre Kostbarkeiten vor den Eingängen. An diesem frühen Vormittag lag eine mystische Stimmung über den alten Gassen. Die gepflasterten Flächen dampften von der Straßenwäsche am frühen Morgen. Aus den Konditoreien wehte der verführerische Duft diverser Köstlichkeiten. Das herrliche Aroma frisch gerösteter Kaffeespezialitäten lag in der jungfräulichen Luft und an den Hauswänden wanderte das morgendliche Sonnenlicht zaghaft in die Tiefen der belebten Fußgängerzone.

Karel Horace hatte dafür kein Auge. Er saß am winzigen Tisch eines kleinen Cafés und studierte die Tageszeitung. Manchmal ließ er seinen Blick über die Straße schweifen, als interessiere ihn das rege Treiben.

In Wahrheit hielt er Ausschau nach Leuten, die ihn möglicherweise beobachteten. Männer und Frauen des Bundeskriminalamtes, des Landeskriminalamtes oder von der örtlichen Polizei. Er wusste, dass für seine Person seitens gewisser Schnüffler immer Interesse bestand.

Karel Horace war Geschäftsführer der Import-Export Firma HoKa.com mit Sitz in Wien. Geboren 1965 in Prag, floh er im Alter von drei Jahren mit seinem Vater Leo vor den Wirren des Prager Frühlings nach Österreich und bekam hier Asyl.

Leo Horace, ein vom russischen KGB ausgebildeter Geheimdienstmann, war damals zu den Amerikanern übergelaufen. Er erhielt in Österreich eine neue Identität. Seine Frau sollte erst 20 Jahre später nachkommen. Vom US-Geheimdienst unterstützt, führten Vater und Sohn in Wien ein durchaus erträgliches Leben. Karel Horace hatte gerade ein Studium der Betriebswissenschaften begonnen, als seine Mutter endlich legal nach Österreich ausreisen durfte. Leo Horace erkannte seine Frau nicht wieder, als sie ihn im psychiatrischen Krankenhaus der Stadt Wien besuchte. Ständiger Alkoholmissbrauch hatte Leo in die Schizophrenie getrieben. Er starb kurz nach dem Besuch seiner Ehefrau.

Sohn Karel brach Anfang der Neunziger sein Studium ab, nützte die Aufbruchstimmung nach der Ostöffnung und gründete die HoKa.com Die Firma beschäftigte sich ausschließlich mit dem Handel von Waren aller Art nach Russland sowie in die Nachfolgestaaten der UdSSR. Das Geschäft begann schnell zu blühen, hatte Horace doch frühzeitig Kontakte zu den richtigen Leuten im Osten geknüpft. Dass ihm die ehemalige Tätigkeit seines Vaters nunmehr Türen öffnete, die anderen Leuten verschlossen blieben, hatte er nie für möglich gehalten. An den Schaltstellen der Macht in den wichtigen wirtschaftlichen Bereichen, saßen nun sehr oft Leute, die vor der Öffnung dem KGB angehört hatten und daher alte Kameraden von Leo Horace waren. Geradezu ein Glücksfall für den Sohn.

Dass er nach und nach in gefährliche Strukturen hineingezogen wurde, indem er Geschäfte mit einer Organisation machte, die man im allgemeinen Sprachgebrauch als Russenmafia bezeichnete, war im egal. Solange er nur genügend Geld einfahren konnte, dachte er über derlei Dinge nicht nach.

»Alles im grünen Bereich, Boss. Keine Schnüffler unterwegs.«

Fredy Kapeck setze sich an den kleinen Tisch und schob seine Sonnenbrille auf die hohe Stirn.

»Ich habe den gesamten Bereich überprüft. Nichts. Keine Spur von Bullenärschen.«

Horace hob den Blick. Seine kalten Augen musterten den Mann, der sich zu ihm gesetzt hatte. Fredy Kapeck war der Prototyp des Wiener Strizzi. Fast kahlköpfig, fielen die verbliebenen blonden Locken weit in seinen Nacken. Die protzige Goldkette am Hals, die goldene Uhr am Handgelenk sowie sein breiter Ring, stammten mit Sicherheit aus einem türkischen Bazar. Einige Finger waren vom Nikotingenuss dunkelbraun gefärbt. Das bis zum Nabel geöffnete Freizeithemd gab einen durchtrainierten Oberkörper, geschmückt mit allerlei Tätowierungen, frei.

»Okay, Fredy. Ich brauche dich nicht mehr. Verschwinde!«

Ohne ein weiteres Wort erhob sich Kapeck und machte sich eilig davon.

Karel Horace warf einige Münzen auf den kleinen Teller mit dem Kassabon, legte die gefaltete Zeitung auf einen der Stühle und erhob sich. Wieder schweifte sein unruhiger Blick suchend umher. Zufrieden machte er sich schließlich auf den Weg durch den antiken Bogen der Stadtmauer.

Vorbei am geschichtsträchtigen Gebäude des Klosters Und, schlenderte er die Steiner Landstraße entlang. Stein war nicht immer Teil der Stadt Krems gewesen. Jahrhundertelang hatte es ein eigenes Stadtrecht besessen. Erst im Jahre 1938 wurde der geschützte Altstadtteil in die Stadt Krems eingegliedert.

Vor ihm lag ein wuchtiger Altbau, der durch mehrere Neubauten erweitert worden war. Neben einem breiten Einfahrtstor war eine riesige graue Granittafel angebracht. Unter dem Bundesadler prangten die Worte: Justizanstalt Stein.

Horace stand vor Österreichs Hochsicherheitsgefängnis mit mehr als 800 Häftlingen. Hier saßen nur die schweren Jungs ein. Mörder, Räuber, Terroristen. Alles was mit langer Haft bedroht war, gab sich hier ein Stelldichein. Die denkmalgeschützten Gebäudeteile der alten Haftanstalt waren anno 1839–1843 ursprünglich als Kloster erbaut und genützt worden. In den Neubauten findet sich mittlerweile alles, was im modernen Strafvollzug Standard ist. Wer hier landete, der war für lange Zeit von der Gesellschaft weggesperrt und musste sich den im Vollzug herrschenden Gesetzen unterwerfen. Auf der einen Seite den Vorschriften der Anstaltsleitung, andererseits, und das war weitaus wichtiger, den geheimen Gesetzen der Unterwelt im Knast.

Karel Horace stand vor dem Eingangstor für Besucher. Er atmete einmal tief durch, gab sich einen Ruck und trat ein. Die helle Eingangshalle wirkte spartanisch.

»Mein Name ist Hillinger, Alfons Hillinger. Ich habe eine Besuchererlaubnis bei Igor Kuzimov. Hier ist mein Pass, bitte sehr.«

Die junge Beamtin prüfte den gefälschten Pass, machte einige Eintragungen in einen PC, verglich das Foto mit dem Inhaber und gab ihm das Dokument wieder zurück.

»Legen Sie bitte alle beweglichen Sachen die sie mitführen oder am Körper tragen in diese Lade. Dann gehen Sie langsam durch die Schleuse.«

Horace befolgte die Anweisungen. Schon beim Eintritt in das Justizgebäude hatte er die Standorte der Überwachungskameras ins Auge gefasst. Diesen Kameras versuchte er nunmehr so gut als möglich sein Gesicht zu verbergen. Er hatte sein Aussehen zwar durch Brille und Oberlippenbart verändert, auf einem Video würden ihn die Bullen früher oder später aber erkennen. Es sei denn, sein Gesicht wäre wegen schlechter Qualität des Videos, nicht ausreichend zu vermessen.

Nach dem Durchqueren der Schleuse wurde er mittels Körperscanner abgetastet. Ich fliege doch nicht in die USA, dachte er schmunzelnd. Der Karton mit seinen Habseligkeiten verschwand in einem hohen Regal.

»Keine Sorge, Herr Hillinger. Sie bekommen ihre Sachen zurück, wenn Sie uns wieder verlassen.«

»Hoffentlich. Ich habe nicht vor hier zu bleiben.«

Die junge Beamtin lachte.

»Das glaube ich gerne. Einen Augenblick bitte, sie werden abgeholt.«

Es dauerte etwa zehn Minuten, bis ein weiterer Beamter erschien.

»Hillinger, Alfons Hillinger? Sind Sie das?«

Horace wollte schon sagen - Ist sonst noch jemand hier - verbiss sich aber die Bemerkung.

»Ja, ich bin Hillinger. Ich bin Alfons Hillinger.«

»Guten Tag. Gehen wir. Sie gehen voraus. Keine Gespräche mit anderen Personen auf den Gängen, keine Zurufe. Ich führe Sie in den Besucherraum des Hochsicherheitstraktes.«

Der kleine Raum war einfach eingerichtet. Eine Sitzbank, eine Ablage vor einer Panzerglasscheibe, eine Gegensprechanlage und vier Überwachungskameras in den oberen Ecken. Zwei Beamte führten Kuzimov in den Raum hinter Panzerglas. Er trug normale Straßenkleidung. Jeans, helles Polohemd und moderne Sportschuhe. Seine 55 Jahre sah man ihm nicht an. Seit sechs Jahren saß er bereits hier ein. Offenbar hatte er Gelegenheit zu sportlichem Training. Seine Muskulatur machte jedenfalls diesen Eindruck.

Das kantige Gesicht, die buschigen Brauen über den schwarzen, asiatisch anmutenden Augen, die hohe Stirn und der dunkle Teint, nichts hatte sich seit Horaces letzten Besuch vor drei Jahren verändert.

Die Beamten führten den Häftling an die Ablage vor dem Glas, wo er betont lässig Platz nahm.

Karel Horace hatte ein leichtes Kribbeln in der Bauchgegend. Nervosität machte sich breit, er kannte das Gefühl. Es befiel ihn, wenn er in die Nähe dieses Mannes kam. Die Wächter verließen den Raum. Hinter einer breiten, getönten Glasscheibe nahmen sie Platz. Von dort aus konnten sie das gesamte Geschehen überblicken. Ob sie das Gespräch mithören konnten, wusste niemand. Mit Sicherheit wurde es aufgezeichnet.

»Mein lieber Freund. Schön dich wieder einmal zu sehen. Du hast mich lange nicht besucht. Gehst wohl nicht gerne in den Knast, nicht wahr? Ich kann dich verstehen.«

Der Gangster lachte laut über seinen Witz.

»Guten Tag, Igor. Freut mich, dass du so herzlich lachen kannst, scheint dir nicht vergangen zu sein, hier drinnen, in dieser schönen Umgebung.«

Ein leichter Schatten fiel über die markanten Gesichtszüge des Häftlings. So als könnte er es nicht ertragen, wenn sich jemand über ihn lustig machte. Seine schwarzen Augen waren plötzlich kalt und unpersönlich. Lange starrte er sein Gegenüber an, bevor er wieder zu sprechen begann.

»Es ist okay, dass du gekommen bist. Ein wenig plaudern wird mir guttun. Ist nicht immer einfach hier. Der Knast verändert die Menschen. Ich bin oft sehr einsam. Seit Andrej nicht mehr hier ist, ist es noch schlimmer geworden. Du weißt doch, dass Andrej draußen ist, oder?«

»Ja, Igor, ich weiß es. Er wurde im Zuge der Weihnachtsamnestie vorzeitig entlassen. Drei Jahre haben sie ihm geschenkt. Auf Bewährung. Schön für ihn.«

»Ja, das ist schön. Hast du ihn einmal getroffen? Ich meine draußen. In der Freiheit?«

»Nein Igor, ich habe keine Ahnung wo er sich rumtreibt, hat sich nie gemeldet bei mir. Warum fragst du?«

»Das ist auch gut so. Lass dich nicht mit diesem Kerl ein, er ist eine falsche Ratte. Glaube mir, der bringt nur Schwierigkeiten in dein Leben. Vergiss ihn.«

Igor Kuzimov starrte bei seinen Worten zwingend in die Augen des Besuchers, als wolle er ihm etwas sagen, etwas, das niemand sonst hören durfte.

»Alles gut, Igor. Ich habe nicht vor Andrej Bellow zu treffen. Ich kenne ihn ja auch gar nicht persönlich. Interessiert mich nicht der Kerl, also mach dir keine Sorgen. Ich weiß was ich zu tun habe. Mein Haus bleibt sauber. Saubere Geschäfte, saubere Kunden, keine Probleme. Habe ich recht?«

Es sah Igor Kuzimov lächelnd an. Nur dieser registrierte das kurze Aufblitzen in den Augen seines Gegenübers. Die Bestätigung für ihn, dass Horace verstanden hatte.

»Wie gehen deine Geschäfte? Hat sich der Markt beruhigt? Erzähle mir.«

Hörte man Igor Kuzimov so locker plaudern, entstand der Eindruck, er sei ein einfacher Geschäftsmann, der sich mit einem Freund über die Marktlage unterhielt.

Die Wahrheit hatte ein anderes Gesicht, ein grauenhaftes, skrupelloses geradezu menschenverachtendes Gesicht. Es war die schreckliche Fratze des Schwerverbrechens, die Fratze der organisierten Kriminalität in allen ihren Facetten.

Igor Kuzimov war der Kopf einer Organisation die sich Qilich nannte. Qilich ist usbekischer Wortschatz. Es bedeutet sinngemäß Schwert oder Dolch.

Kuzimov stammte aus Usbekistan. In einem kleinen Dorf am Ufer des zu Zeiten seiner Geburt noch riesigen Aralsees geboren, trat er mit achtzehn Jahren, zusammen mit seinem Zwillingsbruder Oleg, in die Sowjetarmee ein. Nach der Grundausbildung kämpfte er mehrere Jahre in Afghanistan. Bei einem brutalen Häuserkampf in einem Bergdorf, verlor er beinahe sein junges Leben. Der scharfe Krummsäbel eines Gegners hatte sich in seine rechte Seite gebohrt. Schwerste innere Verletzungen waren die Folge gewesen. Nach einer Notoperation im Lazarett, stand er mehrere Tage an der Schwelle des Todes. Das Glück wollte es, dass zwei verletzte Offiziere ausgeflogen wurden. Mit diesem Transport kam er mit und landete in einem Militärspital in Rostov, wo ihm eine Niere entfernt werden musste. In einer Militärbasis am Don verbrachte er die Zeit der Rehabilitation.

Dort kam er in Kontakt mit Leuten des Komitee für Staatssicherheit, kurz KGB. Nach seiner Genesung absolvierte er eine fundierte Ausbildung als Agent dieser Einheit und tat sich, vorwiegend ob seiner Kaltschnäuzigkeit und Skrupellosigkeit, als Mann für besondere Fälle hervor. In zahlreichen Einsätzen rund um die Welt, verfeinerte er sein Handwerk als ein mit allen Wassern gewaschener Guerillakämpfer, um nicht zu sagen Mörder.

Mit Auflösung des KGB im Jahre 1991, quittierte auch er den Dienst. In dieser Zeit des Umbruches begann die glorreiche Zeit der Oligarchen. Politische Günstlinge, die sich unter der schützenden Hand der Mächtigen, Staatseigentum aneigneten, um in der Folge riesige Vermögen damit zu erwirtschaften. Kuzimov leitete für einen dieser neuen Fürsten dessen Sicherheitsdienst. Was unter dem Titel Security lief, betraf nicht immer Sicherheit. Im Gegenteil. Diese Leute erledigten die Drecksarbeit für ihre Herren. Erpressung, Entführung, Mord, das war Kuzimovs neues Aufgabengebiet. Im Dunstkreis der Oligarchen erkannte er bald, dass für ihn ganz oben kein Platz war. Dazu fehlten ihm die Kontakte sowie die schützende Hand im Kreml.

Sehr schnell erkannte er aber auch, dass in der neuen russischen Gesellschaft das Geschäft in allen Facetten des Verbrechens nur darauf wartete organisiert zu werden. Gemeinsam mit seinem Bruder begann er auf eigene Faust Drogen auf Donauschiffen in den Westen zu schmuggeln. Sie machten damit ein kleines Vermögen. Genug, um ein luxuriöses Leben führen zu können.

Während dieser Zeit legte Kuzimov den Grundstein für sein eigenes Verbrechersyndikat. In Anlehnung an seine Kriegsverletzung nannte er die Organisation, Qilich - das Schwert.

Jedes Mitglied hatte beim Eintritt einen Treueschwur zu leisten. Im Rahmen einer martialisch gehaltenen Zeremonie wurde jedem Neumitglied auf der Innenseite des linken Unterarmes der Scimitar, ein orientalischer Krummsäbel, tätowiert.

Bald stieg Qilich zu einem der gefährlichsten Verbrechersyndikate des Landes auf. Neben seinem Hauptquartier in Rostov unterhielt Kuzimov eine Art Filiale in Wien, genauer gesagt die Handelsfirma HoKa.com, deren offizieller Geschäftsführer Karel Horace war. Von hier aus betrieb Qilich die Geschäfte in Westeuropa.

Horace lebte gut davon, solange er sich an die Vorgaben und Befehle von Igor Kuzimov hielt.

»Es gibt Probleme mit den EU-Sanktionen einerseits und den Gegenmaßnahmen andererseits. Was soll man machen, einzelne Märkte sind eingebrochen. Es heißt einfach abwarten und hoffen, dass die Ukraine-Geschichte bald ins Lot kommt.«

Kuzimov nickte nachdenklich, während er mit geschicktem Fingerspiel seiner scheinbar gefalteten Hände dem Gegenüber heimliche Zeichen übermittelte. Eine Art stummer Sprache, auf deren Erlernen der gewiefte Agent Kuzimov bei jedem führenden Mitglied der Organisation bestanden hatte. So gelang es ihm relativ einfach seinem Besucher mitzuteilen, wann er ihn über das heimlich eingeschmuggelte Handy kontaktieren würde, um neue Anweisungen zu erteilen und wie die Kodierung in den als Lesestoff mitgebrachten Büchern zu erfolgen hatte.

»Tja, mein Freund, du hast recht. Man muss abwarten. Ich habe noch eine Bitte, bring mir ein paar neue Bücher, du weißt schon was ich gern habe. Die Bibliothek hier ist ganz gut, aber nicht auf dem neuesten Stand.«

»Mache ich gerne Igor. Also dann, alle Gute. Wir sehen uns. Halt die Ohren steif.«

Der Gangsterboss nickte, sagte kein Wort und winkte den Aufsehern.

4

Loly war bereits zu Hause. Ihre bunte Schürze umgebunden, stand sie in der Küche und bereitete das Abendessen zu. Rhythmisch wippten ihre runden Hüften zur Musik von Los Sabandeños, während sie die Steaks würzte. Auf der Arbeitsfläche der kleinen Küche stand das obligatorische Glas Wein. Es gehörte zum Kochen wie die Zutaten zur Speise.

Sie wischte die Hände an der Schürze ab und griff zum Glas, als ihr Max liebevoll einen Kuss auf den schlanken Hals drückte. Erschrocken zuckte sie zusammen.

»Du wirst mir noch den Tod bringen mit deinen Überraschungsangriffen!«

Lachend drehte sie ihren geschmeidigen Körper zu ihm. Ein inniger Kuss unterband seine Versuche ihr zu antworten. Wie ich sie liebe, dachte Max und drückte Loly fest an sich.

»Du bist zu früh dran, Maximiliano, heute keinen Aperitif bei Carlo genommen? Ich bringe dir ein Glas. Das ist übrigens ein herrlicher Veltliner, woher hast du den?«

»Der kommt aus Rohrendorf im Kamptal. Kurz vor Krems. Erinnerst du dich an das schöne Weingut? Ich habe sechs Karton gekauft. Du kannst also eine Weile daran nippen.«

»Als ob nur ich trinken würde. Du redest, als sei ich Alkoholikerin, was ich bei genauerer Betrachtung wohl auch bin, oder? Braucht man täglich seine Gläschen, ist man dabei, habe ich zumindest gelesen. Egal, ich genieße das, besonders mit dir, mein Herz.«

Sie hoben die Gläser, Loly gab ihm einen Kuss und wandte sich wieder den Steaks zu.

Max setzte sich an seinen Schreibtisch, legte die Ledertasche auf die Ablage und öffnete sein Notebook. Eine neue Mail war eingegangen. Wieder der unbekannte Absender.

Kein Betreff, kein Wort.

Im Anhang lag eine Videobotschaft.

Max spürte ein eigenartiges Gefühl, als ob das Blut in seinen Adern gefrieren wollte. Sein Inneres wehrte sich gegen die Logik, den Anhang zu öffnen. Loly sang in der Küche fröhlich zur Musik des einzigartigen Chores aus Teneriffa. Sie würde ihn nicht stören. Er gab sich einen Ruck. Das Video begann zu laufen. Auf den ersten Blick war klar, dass es sich um schlechte Qualität handelte, vermutlich mit einem Smartphone aufgenommen.

Max Bulla, einiges gewöhnt aus einem langen und harten Berufsleben, schauderte beim Anblick der Bilder. Gänsehaut kroch über seinen Rücken und verlor sich in den sich sträubenden Nackenhaaren. Angewidert, aber auch fasziniert, starrte er auf den Bildschirm. In einem Kellerraum, so sah es zumindest aus, stand ein verrostetes Feldbett. Auf den schmuddeligen Wolldecken lag ein Mädchen.

Ein Kind noch. Arme und Beine waren an die Bettverstrebungen gefesselt. Außer T-Shirt und kurzer Sporthose trug das Mädchen keine Kleider am Leib. Sie versuchte den Kopf zu heben, wollte in die Kamera blicken und sprechen. Die Stimme schien ihr zu versagen. Sie zerrte an den Fesseln, ihr Kopf fiel wieder zurück. Neuerlich hob sie ihn an. Jetzt kamen Worte über ihre Lippen. Verzweifelte Worte, den Tränen nach zu schließen, die über ihre blassen Wangen liefen. Sie versuchte offensichtlich etwas mitzuteilen, doch es gab keinen Ton. Nur Bilder, grauenvolle Bilder eines geschundenen, kindlichen Körpers. Die Kamera schwenkte zur Seite und erfasste einen Schriftzug, an der einst weiß gewesenen Betonwand des Kellerloches.

I am Nikita

Die Worte waren in roter Sprühfarbe an die Kellerwand geschrieben worden. Das Mädchen kam wieder in sein Blickfeld. Sie lag erschöpft auf dem Bett. Die Kamera wurde nahe an ihr ängstliches Gesicht geführt. Max studierte die Züge, sah die leicht schrägstehenden braunen Augen mit den kräftig geschwungenen Brauen, die zierliche Nase und die vollen Lippen eines schönen Mundes. Das Kinn samt Grübchen und die blauschwarzen Haare.

Neuerlich kroch ein kalter Schauer über seinen Rücken, seine Hand begann zu zittern, wie immer wenn sein grausamer innerer Teufel, der Dämon, wie er den Zustand nannte, nach Stoff rief. Stoff der Ruhe einkehren ließ, der das Zittern nahm und die Angst vertrieb. Stoff, mit Namen Wodka.

»Ich bin fertig, Schatz! Kommst du?«

Max schlug auf die Tastatur, versuchte das Video zu stoppen. Verzweifelt schob die zittrige Hand die Maus hin und her.

Alles umsonst. Loly stand bereits hinter ihm.

Der Bildschirm war schwarz, die Liste mit den Mails erschien. Max klappte das Notebook zu, wollte sich so schnell als möglich erheben.

»Aber hallo, Max! Was schaust du dir da heimlich an? Darf ich das nicht sehen? Hast du ein Geheimnis vor mir? Was ist los mit dir, du zitterst ja. Was regt dich so auf? Komm schon, klapp das Ding hoch, ich will sehen, was dich so erregt!«

Lolys spanisches Blut hatte zu köcheln begonnen. Sie würde keine Ruhe geben, bis sie wusste was er vor ihren Blicken zu verbergen suchte. Ihre Eifersucht würde ihn zur Verzweiflung bringen. Max wusste das, er kannte diese Temperamentsausbrüche nur zu gut.

»Es ist eine dienstliche Sache, Loly. Nur etwas dienstliches, braucht dich nicht zu interessieren.«

Der Versuch war gescheitert, bevor er noch richtig begonnen hatte. Loly schob ihn zur Seite, klappte den Deckel des Mac-Book hoch, studierte die Mail-Eingänge und startete das Video.

Gebannt blickte sie auf die schrecklichen Bilder.

»Madre de Dios! ¿Qué es eso?«

In ihrer Aufregung war sie in die Muttersprache verfallen. Wütend stoppte sie das Video, sprang auf und trommelte mit beiden Fäusten auf seine Brust. Heisse Tränen flossen über ihr von heftigem Zorn gerötetes Gesicht.

»Mutter Gottes, was ist das? Max, was machst du da? Bist du noch zu retten, du schaust dir Kinderpornos an? Oder was sonst soll das werden? Erkläre es mir. Sofort! Hörst du? Erkläre mir dieses Video, bevor ich endgültig ausraste.«

Beruhigend streichelte Max ihre Haare und Schultern. Langsam nahm sie wieder Vernunft an. Fragend blickte sie in das unruhige Antlitz ihres Mannes. Plötzlich stieß sie ihn von sich und rannte in die Küche. Im letzten Moment konnte sie die beiden Steaks retten. Max, der sich einen doppelten Whisky eingeschenkt hatte, war neben seine Frau getreten.

»Lass uns hinsetzen und die Steaks genießen. Ich werde versuchen zu analysieren, was ich selbst noch nicht begreife. Bitte, Loly, vertraue mir, ich weiß bisher auch nicht, was es mit dieser Mail auf sich hat. Jedenfalls ist es nicht das, was du denkst. Es ist nicht so, wie du vermutest, also bitte beruhige dich, wir werden die Sache gemeinsam aufklären.«

Die Steaks dufteten herrlich. Max öffnete die dunkelfarbene Flasche Reserva 2006 eines legendären Riojas, den Lieblingswein seiner Frau.

Behutsam dekantierte er den edlen Tropfen über einer brennenden Kerze in die schlanke Karaffe.

Schweigend begannen sie die zart gebratenen Lendenscheiben zu verspeisen. Max schenkte den Wein in die hohen Gläser, erhob seines und sah Loly in die Augen.

»Auf meine einzigartige Frau, auf ihre Schönheit, auf ihre Klugheit und auf die Liebe, die ich für sie empfinde, immer empfinden werde. Auf uns, meine Liebe.«

Mit ihren wunderbar dunklen Augen sah sie ihn lange an, bevor auch sie ihr Glas hob.

»Auf den Mann den ich liebe und der mir hoffentlich eine Erklärung liefern kann. ¡Salud!«

Sie stellten die Gläser wieder auf den Tisch. Genüßlich speisten sie weiter, tranken den herrlichen Wein und sprachen kein Wort. Auf den leeren Tellern waren noch die Konturen der einmaligen Sauce zu sehen, ein Zeichen für deren perfekte Zubereitung.

Max nahm einen tiefen Schluck. Er räusperte sich, bevor er zu sprechen begann.

»Ich weiß nicht wo ich beginnen soll, Liebling. Wir kennen uns seit fast fünf Jahren, sind nun schon wieder drei Jahre verheiratet. Eines vorweg: Die Sache hat nichts mit einer anderen Frau zu tun. Was ich sagen will ist, es hat aktuell nichts, ich…, es ist so, dass…«

»Was ist los mit dir, Max? Was stotterst du herum, erzähle mir einfach die Wahrheit, sonst nichts, verstehst du? Ich will wissen was los ist. Mein Gott, du zitterst ja wie ein junges Lamm im Wind. Beruhige dich, komm, nimm einen Schluck, das hilft dir.«

Sie reichte ihm das Glas mit dem teuren Wein. In seiner zittrigen Hand schwappte der edle Tropfen leicht an den gebauchten Innenseiten des Glases auf und ab. Lange starrte er auf das Spiel der tanzenden Wellen und Luftbläschen, als könne er die schreckliche Vergangenheit seines verpfuschten Lebens darin lesen. Mit einem einzigen Zug leerte er das fast volle Glas. Langsam zog sich der Dämon in seine dunkle Höhle zurück.

Der Alkohol hatte ihn, wie schon so oft, vertrieben.

5

Fredy Kapeck legte sein Kartenblatt samt Full House auf den Tisch. Hämisch grinsend strich er den Gewinn ein. An die zweitausend Euro hatten gerade den Besitzer gewechselt. Zwei der Mitspieler erhoben sich. Wortlos verließen sie das schummrige Hinterzimmer am Wiener Gürtel. Fredy sah sein Gegenüber fragend an. Der Mann, offenbar bereits ziemlich betrunken, winkte ab und erhob sich ebenfalls.

»Keine Kohle mehr im Sack, Fredy. Ich muss jetzt sowieso weiter. Wir sehen uns. Mach’s gut, alter Junge.«

Fredy rollte die Scheine zusammen, umwickelte sie mit einem Gummiband und steckte das Geld in die Tasche. Dabei kamen unzählige Tätowierungen an den Unterarmen zum Vorschein. Besonders stach ein schön gemachter Krummsäbel auf der Innenseite seines linken Unterarmes hervor.

Im Lokal war um diese Zeit noch wenig los. Der volle Abendbetrieb würde in zwei bis drei Stunden, erfahrungsgemäß kurz vor Mitternacht, einsetzen. Dann trafen die Mädchen ihre Freier, draußen auf der Straße, drinnen an der Bar und an den Tischen. Vereinbarungen wurden getroffen, Preise ausgehandelt und Scheine wechselten die Besitzer. Danach ging es in die Zimmer im ersten Stock, wo der Job erledigt wurde.

An der halbrunden Theke saßen einige blutjunge Mädchen und Frauen in der typischen Aufmachung des Straßenstriches. Sie unterhielten sich in irgendeiner slawischen Sprache, rauchten und tranken Energy Drinks mit Wodka. Ihren Gesichtern war der Stress des aufgezwungenen Lebens im Milieu anzusehen. Als Fredy eintrat, blickten einige von ihnen ängstlich in seine Richtung.

Doch Fredy schien heute bei guter Laune zu sein. Er bestellte einen Drink und schlenderte an das Ende der Bar, wo er neben dem bereits wartenden Karel Horace Platz nahm.

»Wo warst du so lange? Ich warte schon eine halbe Stunde. Was soll das? Ich habe zu tun, außerdem gibt es Anweisungen vom Boss.«

»Mach dir nicht in dein gestärktes Hemd, Horace. Hier ist mein Revier, meine Bar, meine Mädels, hier gebe ich den Rhythmus vor. Also reg dich ab. Noch einen Drink auf Haus?«

Horace war sofort wütend. Das hier war nicht sein Stil. Unterste Stufe der Wiener Halbwelt. Zuhälter wie Fredy, Nutten von der billigsten Sorte und ein Publikum, das weit unter seinem Niveau lag. Er bevorzugte die schicken Bars in der City, wo die Schönen und die Reichen verkehrten, dort fühlte Karel Horace sich wohl, nicht hier, in diesem stinkenden Loch.

»Wie du weißt, war ich gestern beim Boss. Er will wissen, wie weit die Sache gediehen ist.

Was hast du unternommen? Gibt es schon ein Ergebnis? Los, mach schon Fredy, spuk es aus.«

Fredy Kapeck genoss die Überlegenheit im Schutze seiner kleinen, kriminellen Gürtelwelt. Er hasste das großtuerische Gehabe von Horace. Was war der schon? In seinen Augen ein billiger Tschech, ein aus der Heimat geflohenes Arschloch, sonst nichts. Fredy konnte allerdings nur hier, in seiner kleinen Welt als Zuhälter und Stundenhotelbesitzer, aufbegehren. Das wusste er genau. Draußen, in der Welt der großen Kaliber eines Kuzimov, da musste er kuschen, musste tun was Horace forderte.

»Wir sind an der Sache dran Karel, keine Sorge. Der Kerl hat sich bisher nicht gemeldet. Wir haben zweimal eine Nachricht abgesetzt. Die zweite mit Video im Anhang. Einen Anruf hat er nicht angenommen. Er glaubt wohl, er kann sich weiterhin verstecken. Er täuscht sich, Karel. Wenn er wirklich das Schwein ist, das wir suchen, dann wird er sich bald melden, glaube mir. Spätestens wenn wir ihm ein Video zukommen lassen, in dem sich Kurt mit der Kleinen beschäftigt. Der kann es kaum erwarten, sich an sie ranzumachen. Du kennst doch Kurt?«

Horace wusste zu gut, wen Kapeck meinte. Kurt war ein krankhaft pädophiler Irrer. Ein Kinderschänder, der für seine krankhafte Sucht bereits mehrmals in einer Sonderanstalt für psychisch Kranke eingeliefert worden war.

»Bulla ist der Kerl den wir suchen, ganz sicher. Da gibt es keinen Zweifel, Fredy. Setzt ihn ordentlich unter Druck, alles andere erledigen wir. Ich verlasse mich auf dich. Du weißt was passiert, wenn wir versagen, und du kennst die Regeln der Organisation, also reiß dich zusammen. Die Sache eilt. Der Boss rechnet damit, bald aus dem Knast zu kommen. Wie das gehen soll, weiß ich auch nicht. Du kannst aber sicher sein, dass er einen Weg finden wird. Bis dahin will er die Sache erledigt haben. Er hat seine Gründe. Ich erwarte deine Vollzugsmeldung in den nächsten Tagen. Wo habt ihr eigentlich die Kleine?«

Horace schob sich eine Zigarette zwischen seine schmalen Lippen. Er sah den Zuhälter zwingend an.

»Wo das Mädchen ist, das geht dich einen Dreck an. Wir sorgen schon für sie. Vielleicht behalten wir sie ja auch. In Pflege.., sozusagen. Ein paar Jahre für Männer wie Kurt und dann…, diese jungen Dinger aus dem Osten sind schnell erwachsen, und Frischfleisch tut dem Markt immer gut, was meinst du, Horace.«

»Du bist und bleibst ein Dreckschwein. Kuzimov, niemand sonst, wird dir sagen, was mit dem Mädchen zu passieren hat. Hast du mich verstanden? Du machst was ich dir gesagt habe, sonst gar nichts. Und lass dich nur ja nicht zu irgendeiner Schweinerei hinreißen. Ich warne dich!«

Horace warf seinen Zigarettenstummel provokant auf den schmierigen Boden der Bar. Hastig verließ er das schummrige Lokal.

6

«Wir wollen uns gemeinsam an die Sache ranmachen, Liebling…..«

Max bearbeitete nervös sein linkes Ohrläppchen, rückte seinen Stuhl zurecht und sah Maria-Dolores zaghaft in die dunklen Augen, bevor er zögernd zu sprechen begann.

»Wie soll ich anfangen…,verdammt, es ist so kompliziert. Zuerst muss ich dir gestehen, dass ich nicht der Mann bin, den du zu kennen glaubst. Max Bulla ist nicht mein richtiger, ich meine nicht mein angeborener Name. Seit sechs Jahren habe ich eine neue Identität. Ich bin zu einem anderen Menschen gemacht worden. Meine Vergangenheit wurde ausgelöscht. Amtlich vernichtet, wenn du so willst.

Um es kurz zu machen, ich bin in eine Art Zeugen-Schutz-Programm integriert. Seit 2010 lebe ich ein völlig neues Leben. Es ist schwer für mich, darüber zu sprechen, genau genommen darf ich das auch gar nicht. Sollte in gewissen Kreisen publik werden, wer ich wirklich bin, bedeutet das den sicheren Tod für mich. Es ist extrem gefährlich, meine ursprüngliche Identität preiszugeben. Diese Leute, vor denen ich mich verstecken muss, verstehen es bestens, ihre Gegner kaltblütig und gnadenlos zu liquidieren.«

Loly hatte beide Hände wie zur Abwehr erhoben, in ihrem Gesicht stand blankes Entsetzen. Sie starrte Max Bulla an, und schien doch Welten entfernt zu sein. Irritiert suchte sie nach Worten.

»Stopp! Halt, Max! Ich bin hier falsch, nicht wahr? Im falschen Film, oder? Es ist ein schlechter Traum? Mein Gott, Max, du bist mein Mann. Ich heiße, Maria-Dolores Bulla-Conderra, ich bin deine Ehefrau. Wir haben geheiratet. Das kann doch nicht alles Lug und Trug sein?«

In den weit geöffneten Augen lag unsagbare Angst. Spontan ergriff sie seine Hand und hielt die Innenseite an ihre Wange, über die nun heiße Tränen floßen.

»Nein, mein Liebling. Es ist kein Traum. Ich sage die Wahrheit. Ich bin zwar immer noch der Mensch den du geheiratet hast. Es hat sich auch nichts an meinem Charakter geändert, ich bin dein Max. So wie du ihn kennen gelernt hast, nur der Name stimmt nicht. Oder doch. Ach, ich weiß selbst nicht mehr, was ich sagen soll. Komm Loly, setzen wir uns auf die Couch. Ich glaube ich brauche deine Hilfe. Es ist etwas eingetreten, was mich total überfordert. Wenn es so ist wie ich vermute, ist es grausam und furchtbar. Es stellt unsere Liebe auf eine harte Probe.«

Wie in Trance ließ sich Loly an der Hand in den gemütlichen Wohnraum führen. Sie bewohnten eine sanierte Altbauwohnung, mit den typisch hohen Räumen, schönen Doppeltüren und herrlichen alten Sprossenfenstern, die fast bis zum Boden reichten. Der Raum war mit modernen Möbeln eingerichtet, die einen wunderschönen Kontrast zum alten Parkettboden, zu den Orientteppichen und den hohen Fensterrahmen bildeten. Max holte sein Notebook, setze sich auf das bequeme Ledersofa und stellte den PC auf den kleinen Glastisch mit den antiken Sockeln. Loly hatte sich vom ersten Schock erholt. Sie schmiegte sich einfühlsam an ihren Mann.

»Aber was hat das alles mit diesem Video zu tun, Max? Kannst du mir das endlich erklären?«

Max Bulla öffnete das Video neuerlich, ließ es zur Gänze ablaufen, ohne ein Wort zu verlieren. Danach klappte er das Notebook zu, trug es zum Sekretär und setzte sich wieder neben seine Frau.

»Ich muss wieder etwas weiter ausholen, Schatz. Vorher muss ich dich aber bitten, über alles was wir nun sprechen, absolutes Stillschweigen zu bewahren. Wenn ich dir erst einmal meine Geschichte erzählt habe, wirst du verstehen, warum ich das extra betone. Ein Wort in die falschen Kanäle und wir beide sind in höchster Gefahr.

Mein jetziger Job im Ministerium der Finanzen ist nur eine Legende, ein erfundenes Leben, wenn du so willst. Ich war jahrelang als Verdeckter Ermittler im Einsatz, Undercover-Agent, so nennt es der moderne Sprachsatz. In diesem Job bin ich ziemlich erfolgreich gewesen. Durch einen Zufall konnte ich mich in eine gefährliche verbrecherische Organisation einbringen die von Drogenschmuggel, über Mädchenhandel, Zwangsprostitution und Zigarettenschmuggel, so ziemlich alles im Programm hatte. Soweit so gut. Am heutigen Morgen erhielt ich nun diese Mail.

Wir haben deine Tochter

Da ich den Absender nicht kannte und auch keine Tochter habe, maß ich der Nachricht keine Bedeutung zu. Beim Frühstück erhielt ich einen anonymen Anruf, den ich ablehnte. Könnte auch damit zusammenhängen, weiß ich aber noch nicht. Als ich vorhin mein Notebook öffnete, fand ich die zweite Mail vor. Sie hatte übrigens den selben Absender wie die am Morgen. Ich öffnete sie…., den Rest kennst du.«

Max musste durchatmen und einen Schluck Wein nehmen. Er war sehr erregt. Seine Finger zitterten wieder. Er fuhr sich mit beiden Händen durch sein volles Haar. Loly, mittlerweile völlig ruhig, sagte kein Wort. Sie wartete auf weitere Ausführungen.

In ihrem Gesicht glaubte er einen Hauch von Traurigkeit zu erkennen. Das sonst so aufgeweckte Glitzern ihrer wunderschönen Augen war verschwunden.

Er begann wieder zu sprechen.

7

Bis lange nach Mitternacht hatten sie geredet, wobei Loly hartnäckig versuchte, tiefer in die verbrannte Seele ihres Mannes einzudringen, was Max jedoch nicht zuließ. Er bereute bald, seine Frau überhaupt eingeweiht zu haben. Die immense Gefahr, seine neue Identität zu gefährden, war realistisch. Was dadurch in Gang gesetzt werden könnte, daran wollte er gar nicht denken.

Nach einem unruhigen Schlaf kroch er um 04.30 Uhr aus dem Bett. Den Morgenlauf absolvierte er in weitaus höherem Tempo als gewohnt. Voll auspowern, alles geben, laufen bis zum Umfallen, das sollte helfen die trüben Gedanken los zu werden. Völlig fertig, schleppte er sich in die Wohnung zurück. Die heißkalte Wechseldusche bescherte ihm einen klaren Kopf.

Im Büro angekommen, galt sein erster Anruf Martina Kerbel. Sie war seine Betreuerin im Bundeskriminalamt. Über sie war die Abwicklung des Zeugenschutzes gelaufen. Sie war sein einziger Ansprechpartner. Seit Jahren traute Max Bulla keiner Telefonanlage, keinem Mobiltelefon und keinem Computer. Für ihn kam in derlei Angelegenheiten nur das persönliche Gespräch, an Orten die einzig er festlegte, in Frage.

Sie trafen sich auf der Donauinsel, wo sie gemächlich die noch leere Uferstraße entlang spazierten. Martina Kerbel war direkt von ihrem Frühsport gekommen. Sie trug noch den Trainingsanzug mit dem Schriftzug FBI am Rücken. Ein Erinnerungsstück an ihre Ausbildung in den USA. Um den Hals hatte sie ein grellgelbes Handtuch geschlungen.

»Schieß los, Max. Was ist so dringend, dass ich meinen Gesundheitslauf abbrechen musste? Hoffentlich keine Probleme, ich hasse Probleme am frühen Morgen, sie verderben mir den Tag. Also los, was kann ich für dich tun?«

Max Bulla redete nicht lange herum, berichtete von den Nachrichten, dem Video und dem anonymen Anruf. Mehr brauchte die Agentin vorerst nicht zu wissen.

»Das ist wirklich eigenartig. Du hättest mich nach der ersten Mail umgehend kontaktieren müssen, das ist dir doch klar? Mensch, Max! Wir haben es hunderte Male durchgesprochen. Alles was nicht in das normale Schema passt, erfahre ich. Erfahre ich sofort, umgehend, auf der Stelle! Was hast du dir dabei gedacht, diese IT Leute aus dem Ministerium zu holen? So ein Schwachsinn. Du wirst doch nicht langsam alt? Hoffen wir nur, dass das keine Folgen nach sich zieht. Ich brauche die Namen der beiden Männer, muss die Kerle überprüfen.«

In Max kroch die Wut langsam hoch. Er mochte Martina Kerbel. Was er hasste, war diese kaltschnäuzige, wichtigtuerische Art sich zu artikulieren. Es passte nicht zu seinem Frauenbild. Ihm war bekannt, dass sie eine Zusatzausbildung an der FBI-Academy in Virginia/USA genossen hatte, und aus Erfahrung wusste er, dass Menschen, die diese harte Schule durchgemacht hatten, neben überwiegend positiven Aspekten, auch Negatives angenommen hatten. Diese hochmütige, befehlsgebende Art der Sprache war ein Beispiel dafür.

»Okay, es war mein Fehler. Ich dachte die Leute könnten mir helfen die Mail-Adresse herauszufinden. Du hast recht, es war dumm von mir. Aber so schlimm wird das doch wohl nicht sein, Miss Special-Agent?«

»Verarschen kann ich mich am frühen Morgen auch alleine, Max. Es geht um deine Sicherheit, um die Sicherheit deiner Frau. Nur darum geht es, um sonst nichts. Aus diesem Grund hast du dich an die Spielregeln zu halten, ob dir das nun passt oder nicht. Was vereinbart wurde, ist einzuhalten. Du hast diesem Pakt zugestimmt, erinnerst du dich? Also sei bitte vernünftig, und lass uns wie erwachsene Menschen miteinander reden.«

»Was bleibt mir übrig, Martina? Ihr habt mich an der Leine und ich gehorche, brav wie ein Schoßhündchen. Ohne dich bin ich hilflos. Du gibst vor, wie ich zu leben habe, was ich tun darf, was nicht, wen ich treffen darf, wohin ich keinesfalls gehen darf und, und, und.! Es kotzt mich an, so zu leben. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie ich mein neues Leben hasse. Ich bin noch topfit, im besten Alter.

Wie es derzeit aussieht, bin ich jedoch bereits am Ende meiner Tage angelangt. Jeden Tag in dieses idiotische Büro. Wozu? Um die Zeit totzuschlagen, um sinnlos alleine rumzusitzen? Dem Herrgott den Tag stehlen, so nannte man das früher, aber so habe ich mir das nicht vorgestellt und so war es auch nicht vereinbart. Wir hatten abgemacht, ein paar Monate, höchstens ein halbes Jahr. Jetzt sind sechs Jahre daraus geworden, Martina! Sechs sinnlose Jahre. Es geht nicht so weiter. Eine andere Regelung muss her, verdammt. Ich drehe sonst noch durch!«

Sie waren stehen geblieben, Martina deutete auf eine der Rastbänke. Es war ein herrlicher Frühlingstag, die Wasserfläche des Donauarmes glitzerte im Morgenlicht. Einige frühe Fischer gingen in kleinen Ruderbooten ihrem Hobby nach. Der Blick auf die Stadt bildete einen schönen Kontrast zum ruhigen Naherholungsgebiet Donauinsel.

»Ich kann dich gut verstehen, Max. Es ist nicht einfach für dich. Nach einem turbulenten Leben als Ermittler, ein langweiliges Dasein am Schreibtisch. Das ist nur schwer zu verkraften. Du solltest aber nicht vergessen, warum es so gekommen ist. Eine neue Identität bedeutet unweigerlich ein neues Leben. Besser wäre damals gewesen, aus dem Staatsdienst auszuscheiden, um irgendwo ganz neu zu beginnen. Es war deine Entscheidung, zu bleiben.«

»Meine Entscheidung, meine Entscheidung, du machst es dir leicht. Ich wollte damals aussteigen. Mit einer angemessenen Abfertigung, wollte ich irgendwo im Ausland ein neues Leben beginnen. Das weißt du, Martina! Du warst dabei, als diese Dinge besprochen wurden. Meine Vorstellungen seien nicht zu erfüllen, es sei nicht möglich, hieß es damals. Stünde mir laut Gesetz nicht zu. Für Beamte gibt es keine Abfertigung. Nicht vorgesehen, in den Bestimmungen für Staatsdiener. Auch dann nicht, wenn diese als Polizisten in Sondereinsätzen tätig waren. Eine verdammte Scheiße ist das, wenn du mich fragst! Hätte ich nach all dem, was ich für das Land getan habe, wieder bei Null anfangen sollen? Ein halbes Leben im Staatsdienst einfach so hinschmeißen? Die Pensionsansprüche verlieren? Ich habe in unzähligen Einsätzen mein Leben riskiert für dieses Land, habe mir den Arsch aufgerissen, wofür?

Wir können Ihnen einen ruhigen Job samt üblicher Bezüge, in einem Ministerium Ihrer Wahl anbieten.

Ich Idiot bin darauf eingestiegen. Ihr habt mich reingelegt, Martina. Großartig reingelegt.«

Max war aufgestanden, zündete sich eine Zigarette an und ging an das Ufer des grünblau schimmernden Wassers. Der Dämon war wieder da. Schleichend kroch die Angst in seine Seele, die Hände begannen zu zittern, der Puls raste. Aus dem Nichts kommende Wogen attackierten seine innersten Gefühle. Der plötzliche Druck in der Brust nahm ihm den Atem. Hastig griff er in die Innentasche seiner Lederjacke. Der kalte Stahl des Flachmanns fühlte sich beruhigend an.

Er machte einen tiefen Zug, bevor er das wichtigste Utensil in seinem derzeitigen Leben zurück in die Innentasche schob.

»Du solltest deinem neuen Freund nicht vertrauen, Max. Glaube mir, auf Dauer bist du damit schlecht beraten.«

Martina Kerbel stand neben ihm. Sie legte ihren Arm um seine Schulter, spürte das unruhige Zucken seiner durchtrainierten Muskulatur. Behutsam legte sie ihre Hand auf seinen verspannten Nacken. Vorsichtig begann sie zu massieren. Max schien weit weg zu sein. Wie in Trance starrte er auf die Skyline der Stadt. Er schüttelte die beruhigende Hand der Agentin ab, drehte sich um und nahm wieder auf der Bank Platz.

»So kommen wir nicht weiter, wir wollten mein aktuelles Problem besprechen. Setz dich zu mir, Martina. Was schlägst du vor, wie gehen wir die Sache an.«

Der Alkohol schien ihn beruhigt zu haben, er machte eine einladende Handbewegung. Martina zog ihre Trinkflasche aus der Halterung und hielt sie ihm hin.

»Trink einen Schluck, Max. Ist nur reinstes Wiener Hochquellwasser, schmeckt gut, tut gut.«

»Ich habe eine Wasserallergie, danke,« lehnte er grinsend ab.

»Also dann, lassen wir’s losgehen. Du hast die Mails bereits auf deinem PC, Martina. Ich habe sie hier auf meinem Tablet gespeichert, das ist die erste Nachricht und hier die zweite, mit Video.«

Er öffnete das Programm, ließ das Video ablaufen. Martina Kerbel betrachtete jede Einzelheit konzentriert, hielt den Bildlauf an, ließ zurücklaufen, spulte wieder nach vor.

In ihrem Gesicht arbeitete es.

»Schrecklich, mein Gott. Was ist das für ein Mädchen? Ein Kind noch, Max. Hast du eine Ahnung, was das soll?«

»Wenn ich das wüsste, hätte ich es dir gesagt. Es muss sich um einen Irrtum handeln. Ein Fehler beim Provider oder Server, was weiß ich. Ich habe keine Ahnung. Mir tut das Mädchen so leid, es ist einfach furchtbar. Könnt ihr die Adresse lokalisieren? Dem Kind muss geholfen werden, Martina!«

»Du weißt, dass so etwas nicht einfach ist. Mich interessiert derzeit viel mehr, wie die Nachricht auf dein Notebook gelangen konnte. Ich glaube nicht an einen Irrtum. Ich will unseren Experten nicht vorgreifen, denke aber, dass das Ding bewusst an dich versendet wurde. Ist es so Max, dann wird es gefährlich, brandgefährlich für dich und nicht nur für dich. Auch für deine Frau. Das ist dir doch klar?«

»Was redest du da, Martina? Ich habe keine Ahnung, worum es hier geht. Ist dir das Kind egal? Wichtiger ist euch, woher die Nachricht kommt? Bist du noch ganz bei Trost? Was hast du dort, wo andere Menschen ein Herz haben? Du kotzt mich an!«

Er drehte sich angewidert zur Seite und fummelte umständlich eine zerknüllte Zigarettenpackung aus der Tasche seiner Bomberjacke.

»Langsam Max, ganz langsam. Natürlich gehen mir die Bilder dieses Videos nahe, und ich würde dem Kind liebend gerne sofort helfen. Wenn du mir erklärst wie, dann auf der Stelle. Aber wer sagt uns, dass dieses Video echt ist? Hast du eine Ahnung, was heutzutage an Mist im Netz verbreitet wird? Ist es aber echt, und ist absichtlich an deine Adresse gesandt worden, dann haben wir ein Problem. Claro?«

Max zog gierig an seiner Zigarette und schwieg.

»Okay mein Freund. Noch einmal von vorne. Lass uns gemeinsam nachdenken und die Sache analytisch angehen. Kommen wir zum Anbieter deines Anschlusses. Du verwendest doch den von uns erhaltenen Anschluss, oder?«

»Natürlich, was denkst du? Glaubst du, ich bin zu blöd, um zu wissen wie ich mich zu verhalten habe? Wir verwenden ausschließlich die von euch als sicher bezeichneten Netzverbindungen. Nur diese, sonst nichts.«