Rotglut Tod - martin cereza - E-Book

Rotglut Tod E-Book

Martin Cereza

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Beschreibung

Dorina ist auf der Suche nach dem Glück. Sie macht sich auf den Weg nach Österreich. Ein grauenvolles Déjà-vu droht sie zu vernichten. Ein skrupelloser Gangster versklavt gnadenlos junge Menschen im Dunstkreis von Schmuggel, Prostitution und Menschenhandel für seine zwielichtigen Machenschaften. Eine alte Fabrikshalle am Fuße des Wilden Kaisers inmitten herrlicher Tiroler Bergwelt wird zum zentralen Ort des Verbrechens. Dorina, die junge Rumänin, gerät aus Liebe in einen gefährlichen Strudel umMacht, Geld und Tod. Völlig unerwartet erlangen längst vergessene Erlebnisse grauenvolle Realität. Von den Bergen Tirols über das mondäne Monaco bis an Spaniens Costa Brava führt der Weg der verbrecherischen Handlungen. Spannende Wendungen - große Gefühle - Gänsehaut pur. Eine von martin cereza meisterlich erzählte Geschichte, die es in sich hat.

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martín cereza

wurde 1951 in Wörschach/Steiermark geboren.

Er lebt mit seiner Familie in Kössen/Tirol.

Seine bisherigen Werke

Blaueis Tod

Rachsucht Tod

Moorland Tod

Packende Thriller aus der Feder eines Insiders,

der weiß, wovon er schreibt.

Meiner Mutter Cilli

Danke

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Anmerkung des Autors

1

Die nassen Fichtenzweige peitschten ihre geröteten Wangen. Tausende Nadeln, scharf wie Rasierklingen, ritzten ihre Haut, verursachten schmerzhafte Striemen im hübschen Gesicht des Mädchens.

Im dichten Jungwald kam sie nur mühsam voran, zu eng waren die jungen Bäume gepflanzt. Mit ausgestreckten Armen versuchte sie das dichte Astwerk abzuwehren. Es gelang nur teilweise. Sie stolperte über einen Wurzelstock, fiel der Länge nach hin und blieb einen Augenblick völlig erschöpft liegen. In ihren Ohren rauschte es einem tobenden Wasserfall gleich. Ihr Herz raste, als wolle es im nächsten Augenblick zerspringen, dem jungen Leben ein jähes Ende setzen.

Die Verfolger hatten den Jungwald erreicht.

Sie konnte die Stimmen ihrer Peiniger hören.

Ich muss aufstehen, ich muss weiter!

Im Handumdrehen war sie wieder auf den Beinen. Sie änderte panikartig die Richtung, erreichte offenes Gelände. Eine kleine Wiese mit einzelnen Büschen lag vor ihr. Zögernd verhielt sie am Waldrand, unschlüssig das offene Feld zu überqueren. Da war sie wieder, die Stimme des Anführers. Er gab seinem Partner Anweisungen.

Das Mädchen zitterte am ganzen Körper. Ein Schauer der Angst, verbunden mit der morgendlichen Kälte, rieselte über ihren Rücken.

Das dünne T-Shirt war durchgeschwitzt, hing zerfetzt von ihren Schultern. Sie trug nur einen Schuh, der andere lag irgendwo im dunklen Jungwald.

Panisch wischte sie sich eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht.

Ich muss über die Wiese. Ich muss, es schaffen!

Sie begann zu laufen. Die Hälfte des offenen Feldes lag hinter ihr, da sah sie ihn plötzlich am rechten Waldrand stehen. Zuerst nur aus den Augenwinkeln.

Er hat mir den Weg abgeschnitten!

In seinem hässlichen Gesicht lag ein zynisches Lächeln. Langsam hob er die Waffe mit dem bedrohlichen Schalldämpfer.

Das Schwein schießt auf mich!

Reflexartig drehte sie sich zur Seite, machte drei Sprünge in Richtung eines Strauches.

Die erste Kugel traf sie in den Oberschenkel.

Durch die Wucht des Einschlages knickte sie ein und fiel auf die Knie. Ein grauenhafter, lähmender Schmerz schoss durch ihren Körper, einen Moment war sie außerstande sich zu bewegen. Sie spürte, dass sich der Schütze näherte, hörte seinen keuchenden Atem. Er konnte nur noch wenige Meter entfernt sein. Mit dem unbändigen Lebenswillen des jungen Menschen rappelte sie sich auf und taumelte auf das rettende Gebüsch zu.

Der Mann, dessen Gesicht eine hässliche Narbe auf der linken Wange verunstaltete, war stehen geblieben. Die schallgedämpfte Waffe hielt er in der Rechten. Wieder hob er sie langsam an, legte sie auf die ausgestreckte linke Hand, zielte bedächtig, als hätte er alle Zeit der Welt. Überzeugt, dass sein angeschossenes Opfer nicht mehr fliehen konnte.

Ich muss mich fallen lassen!

Die zweite Kugel traf sie knapp neben dem rechten Ohr und drang am Kieferknochen in den oberen Schädelbereich. Ein glühender roter Blitz in einem unendlich grellen Lichtermeer, ein Gefühl von absoluter Schwerelosigkeit.

Ihre letzten Wahrnehmungen verblassten in einer unendlichen Weite. Leblos glitt der junge Körper in ein Meer glitzernder Tautropfen der feuchten Wiese.

Den harten Aufprall fühlte sie nicht mehr.

Aus den nahen Büschen war ein Schwarm kleiner Singvögel verschreckt aufgeflogen und in den durchscheinenden Nebelfetzen entschwunden. Als würden sie die Seele des unglücklichen Mädchens in den endlosen Himmel tragen, hinein in ein traumhaftes Morgenrot.

Der Schütze trat auf sein Opfer zu. Lange betrachtete er das dunkelhäutige Gesicht der jungen Frau im feuchten Tau des frühen Morgens. Ihre blauschwarzen Haare lagen nass und strähnig auf Hals und Brustansatz. Aus der kleinen Wunde neben dem Ohr flossen einige Blutstropfen, fast behutsam suchten sie einen Weg über die eingefallene Wange und verloren sich im Mundwinkel des reglosen Antlitzes.

Die einst so fröhlichen schwarzen Augen waren geschlossen. Ihr dunkler Teint wirkte glanzlos und fahl, als habe man ihrem Gesicht Asche aufgetragen.

Langsam fiel der Mann auf ein Knie, beugte sich über sein Opfer und fühlte am Hals nach dem Pulsschlag.

»Ist sie tot? Was ist los, antworte mir, verdammter Idiot. Warum hast du sie erschossen?«

Der zweite Verfolger stand keuchend neben dem gebückten Mann. Sein Atem rasselte, er wischte sich über die schweißnasse Stirn und stöhnte. Langsam erhob sich der Mörder.

»Aus. Da ist nichts mehr zu machen. Leider.«

»Verdammter Mist! War das nötig? Wir hätten sie auch so erwischt. Jetzt haben wir den Salat. Was machen wir mit ihr? Wir können sie hier nicht einfach liegen lassen.«

Nervös zündete sich der korpulente Mann eine Zigarette an. Mit einem Taschentuch wischte er sich über die schweißnasse Stirnglatze, während seine kalten Augen den Begleiter anstarrten.

»Wir verscharren sie dort drüben bei den Bäumen. Eine schöne letzte Ruhestätte, finde ich. Hol den Spaten aus dem Wagen, ich bring sie rüber.«

Der Mann, den sein Kumpan treffend Idiot genannt hatte, lächelte einfältig, wodurch sich sein Narbengesicht zu einer grässlichen Maske verzog.

Lange blickte er auf die vor ihm liegende Gestalt.

»Arme, dumme Jessica, warum bist du nur weggelaufen, nun ist es vorbei mit dir. Schlaf gut.«

Sein Partner kam keuchend angerannt, warf den Spaten fluchend neben die Leiche und griff nach seiner Zigarettenschachtel.

Gemeinsam legten sie das Mädchen in die flache Grube, die sie mithilfe des Spatens und eines abgebrochenen Astes ausgehoben hatten, scharrten den spärlichen Aushub darüber und bedeckten das einsame Grab mit Fichtenästen, die sie mit Steinen beschwerten.

»Komm jetzt! Lass uns hier verschwinden, bevor auf der Straße drüben noch irgend ein Bauer auftaucht und unseren Wagen sieht. Los, mach schon!«

Die Männer hasteten durch den Wald zurück zur einsamen Landstraße, dort sprangen sie in ihren Wagen und flüchteten mit quietschenden Reifen vom Ort des Grauens.

Bernd Hagerer war schon um fünf Uhr aufgestanden. Dieser schöne Herbsttag war gerade richtig für einen Ausflug ins Revier. Heute sollte der kapitale Sechzehnender endlich erlegt werden. Seit drei Jahren war er Herbst für Herbst hinter dem gewaltigen Hirsch her. Jedes Mal, wenn er gehofft hatte, es wäre so weit, war er enttäuscht worden.

Letzte Woche noch, er war am frühen Abend auf das Tier angesessen, hatte er bereits angelegt gehabt. Den Hirsch genau im Fadenkreuz, war er behutsam auf Druckpunkt gegangen.

Da kam eine Gruppe Bergradler den Forstweg herunter, weg war die Beute. Es nützte alles nichts, der Hirsch hatte sich verabschiedet. Bernd hatte bei seinen stundenlangen Beobachtungen festgestellt, dass das Tier frühmorgens durch den Jungwald neben der Landstraße stampfte, um die saftigen Zweige der Jungfichten zu genießen.

Genau dort wollte er ihm heute auflauern.

Sein Jagdhund, Baschtl, eine reinrassige Tiroler Bracke, wartete schon voller Ungeduld an der Tür. Er wusste, dass es ins Revier ging, und war daher entsprechend aufgeregt.

»Gleich ist es soweit Baschtl. Ja, braver Hund, gleich geht es los. Ja, freust dich schon.«

Bernd strich seinem treuen Begleiter über das glatte Fell. Rucksack und warme Kleidung hatte er im Wagen verstaut. Er trank seinen Kaffee aus, löschte das Licht und schlich leise aus dem Bauernhaus auf den Vorplatz, wo sein Jagdwagen stand. Gemächlich lenkte er das schwere Fahrzeug über die in der morgendlichen Dämmerung liegende Straße. Er hatte sein Ziel fast erreicht, als er einem Sportwagen ausweichen musste, der mit weit überhöhter Geschwindigkeit an ihm vorbeischoss. Er fluchte und hatte alle Mühe sein Auto unter Kontrolle zu bringen.

Kurz darauf erreichte er die Reviergrenze. Baschtl sprang freudig aus dem Wagen, begann sofort die unmittelbare Umgebung mit seiner Spürnase abzusuchen. Das strenge: Sitz! seines Herrn befolgte er sofort.

Er legte sich neben Bernd, nicht ohne ihn mit seinen treuen Augen fragend anzusehen. Nachdem der die Ausrüstung ausgeladen hatte, schulterte er sein Gewehr, nahm den Hund an die Leine und marschierte gemächlich in Richtung Wald.

Den dichten Jungwald umrundeten Herr und Hund, um die Beute nur ja nicht zu verscheuchen. Nach einer weiteren halben Stunde erreichte der Jäger die Lichtung, an deren Rand sein Hochstand auf einer alten Fichte eingerichtet war. Es war inzwischen fast völlig hell geworden. Leichte Nebelfetzen zogen über Wald und Wiesen, verschmolzen mit der Morgenröte zu einem mystischen Bild von unfassbarer Schönheit. Bernd leinte Baschtl ab und ging die paar Schritte bis zur Leiter, die auf die Plattform des Hochstandes führte. Sein Hund, in solchen Situationen sonst stets ruhig und konzentriert, wedelte aufgeregt mit dem Schwanz und gab ihm zu verstehen, dass er etwas gewittert hatte.

»Hast du unseren Freund schon in der Nase? Was ist los mit dir. Setz dich Baschtl. Sitz!«

Bernd hatte geflüstert. Das erste Mal in seinem Leben als ausgebildeter Jagdhund verweigerte Baschtl den Befehl seines Herrn und entfernte sich, die Nase dicht über dem Boden. Am Rand des Jungwaldes schien er sein Ziel erreicht zu haben. Völlig unüblich, für einen Jagdhund geradezu ein Frevel, begann er zu bellen. Zornig, die Leine in der Hand mit der Absicht den Hund zu züchtigen, eilte Bernd über die Lichtung. Baschtl war gerade dabei, einige Äste von einem flachen Erdhügel zu zerren. Stutzig geworden, blieb Bernd stehen. Aufmerksam beobachtete er seinen sonst so folgsamen Begleiter. Wie wild zerrte der Hund an den Ästen und begann nebenbei mit den Vorderbeinen zu scharren.

Sein Herr war über dem Hügel und entfernte alle Äste. Hier war vor Kurzem das Erdreich umgegraben worden, das war eindeutig zu sehen. Baschtl grub nunmehr noch wilder, als sei der beste Knochen der Welt in diesem lockeren Erdreich verborgen.

Plötzlich hielt der Hund inne und sah zu seinem Herrn auf. Ein kalter Schauer jagte über Bernds Rücken, beim Anblick des flachen Hügels am nassen Waldboden. Aus dem losen Erdreich hatte sein Hund eine menschliche Hand freigelegt. Eine schmale Mädchenhand. Der Nagellack war teilweise abgekratzt, die Haut blass, fast grau.

Bernd war so erschrocken, dass er nicht fähig war zu reagieren. Baschtl schien den Schock schneller überwunden zu haben. Er begann die kleine Hand abzulecken.

»Sitz jetzt! Sofort. Geh Platz. Hier setzt du dich hin. Brav Baschtl. Da komm her.«

Bernd hatte sich wieder gefangen und brachte den Hund weg vom Hügel. Während er, unschlüssig was zu tun sei, die kleine Hand betrachtete, traf ihn völlig unerwartet der nächste Schock.

Die Hand hatte sich bewegt, besser gesagt, die Finger hatten sich leicht ausgestreckt. Bernd zitterte am ganzen Körper. Trotz der morgendlichen Frische war ihm plötzlich siedend heiß. Ich habe mich nur getäuscht, beruhigte er sich ängstlich, eine Täuschung der Sinne, ja das muss es gewesen sein. Da war es wieder, die Finger bewegten sich ganz leicht, fast unmerklich. Nun gab es für den Jäger kein Halten mehr. Mit bloßen Händen scharrte er Erde und Steine zur Seite. Das ging überraschenderweise einfach, zumal der Boden sehr locker war.

Nach einigen Minuten hatte er fast den gesamten Körper freigelegt. Vor ihm lag ein junges Mädchen in der flachen Mulde. Es trug einen Minirock und ein zerfetztes T-Shirt. Ihr Gesicht glich einer Totenmaske, grau und unwirklich. Mit leichtem Ekel beugte sich Bernd über den jungen Körper. Behutsam machte er sich daran am Hals den Puls zu fühlen. Knapp über ihrem Gesicht hielt er abrupt inne. Er hatte sich nicht getäuscht, die bläulichen Lippen hatten sich bewegt. Diesmal konnte er es deutlich sehen. Die Lippen des Mädchens bewegten sich. Wie in Zeitlupe schoben sich Ober-und Unterlippe zitternd vor und zurück.

»Mein Gott, die lebt. Baschtl, die lebt! Wir müssen Hilfe holen. Schnell!«

In seiner Aufregung hatte er laut mit dem Hund gesprochen, der brav und still auf seinem Platz im Reisig des Waldbodens saß.

Mit zittrigen Händen suchte Bernd sein Mobiltelefon in den Taschen der graugrünen Jägerjacke.

Wo muss ich jetzt zuerst anrufen? Verdammt, jetzt reiß dich endlich zusammen!

Sofort ärgerte er sich über sein schwach ausgeprägtes Nervenkostüm und wählte die internationale Notrufnummer.

»Rettungsleitstelle Tirol, was können wir für Sie tun?«

»Eine Tote, ein Mädchen in einem Grab...«

»Bitte beruhigen Sie sich. Wer spricht dort? Sagen Sie mir Ihren Namen.«

»Hagerer. Bernd Hagerer. Ich bin auf der Pirsch und habe ein Mädchen gefunden…, mein Hund hat sie gefunden, sie lebt.«

»Gut, Herr Hagerer. Atmen Sie tief durch und dann erzählen Sie mir, wo Sie gerade sind, okay?«

Bernd Hagerer befolgte den Rat und fühlte sich etwas leichter.

Ich muss mich konzentrieren, verdammt!

»Ja, jetzt bin ich wieder da. Also, ich war auf der Jagd, da hat mein Hund ein junges Mädchen ausgegraben. Zuerst habe ich gedacht eine Leiche. Aber das Mädchen lebt, die Lippen haben sich bewegt. Ich habe es genau gesehen!«

Er war nahe daran wieder in Panik zu verfallen, seine Stimme klang gehetzt und aufgeregt.

»Gut, Herr Hagerer. Sie machen das sehr gut. Sagen Sie mir jetzt, wo genau Sie sich befinden.«

»Ja also…,ich bin hier beim Jungwald in meinem Jagdrevier, am Tiefenbacher Graben. Das ist ein Weiler unseres Ortes, gleich neben der Landstraße 214 die in Richtung Autobahn führt. Gut dreihundert Meter durch den Jungwald, auf einer großen Lichtung.

Moment! Jetzt fällt mir etwas ein. Ich habe einen Kompass dabei. Nützt es, wenn ich die Koordinaten durchsage?«

»Das ist eine gute Idee Herr Hagerer. So habe ich gleich ihren Standort auf meinem Bildschirm.«

Nervös diktierte Bernd die Daten in sein Telefon.

»Okay, das hätten wir. Ich melde mich gleich wieder, Herr Hagerer. Sie brauchen nicht mehr anrufen, ich rufe zurück.«

Bernd blies stoßartig die angepresste Luft aus seinen Lungen. Langsam beruhigte er sich. Er beugte sich wieder über das Mädchen, um sie von den letzten Erdresten zu befreien. Sein Telefon schrillte, in der Ruhe des Waldes klang es überlaut.

»Hallo Herr Hagerer, das haben Sie gut gemacht. Gleich wird der Hubschrauber mit dem Notarzt bei Ihnen sein. Bleiben Sie ganz ruhig und machen Sie genau was ich Ihnen sage.«

Der Mann in der Notrufzentrale stellte ihm einige Fragen zum Zustand des Mädchens. Bernd fühlte neuerlich den Puls, hielt einen Grashalm vor Mund und Nase, um festzustellen, ob sie atmete. Nach einigen Versuchen konnte er einen schwachen, unregelmäßigen Pulsschlag fühlen. Der Grashalm bewegte sich nur zögerlich, es reichte aus, um zu erkennen, dass das Mädchen sehr schwach atmete. Zu seiner Erleichterung dauerte es nur wenige Minuten, bis er das Knattern des anfliegenden Hubschraubers wahrnahm.

Baschtl, sonst ein verwegener Kerl, verkroch sich unter einem Wurzelstock, als das gelbrote Fluggerät auf der Lichtung aufsetzte. Die Rettungscrew übernahm die Betreuung der Unglücklichen. Bernd setzte sich erschöpft, aber erleichtert, auf einen Baumstumpf neben der Leiter zum Hochstand.

Notarzt und Flugretter waren mit der Erstversorgung des immer noch bewusstlosen Mädchens beschäftigt, bevor sie diese auf einer Bahre in den rettenden Helikopter schoben.

Der war gerade über den wippenden Baumwipfeln verschwunden, als der Polizeihubschrauber zur Landung ansetzte. Zwei uniformierte Beamte und ein Mann in Zivil sprangen aus dem Fluggerät. Sie eilten gebückt auf den Jäger zu.

»Haben Sie das Mädchen gefunden? Sind Sie Bernd Hagerer?«

Der Mann in Zivil sah ihn scharf an, als hätte Bernd ein gröberes Verbrechen begangen und nicht gerade einem jungen Menschen das Leben gerettet.

»Darf ich fragen, wer Sie sind? Sich vorzustellen ist das Mindeste, oder etwa nicht?«

Bernd Hagerer hatte sich wieder vollkommen gefangen und stellte sich zornig vor den Zivilisten.

»Mein Name ist Polterer, Major Achim Polterer. Kripo. Wir wurden von der Einsatzzentrale verständigt. Also noch einmal. Sind Sie Bernd Hagerer?«

Der Kripobeamte sah sein Gegenüber abwartend an. In seinem noch jungen Gesicht lag ein Ausdruck leichter Überheblichkeit, so als erwarte er bei Nennung seiner Stellung eine Art Demut. Da war er aber bei Bernd Hagerer an den Falschen geraten.

»Ja, ich bin Bernd Hagerer. Und ich habe gerade die schlimmste Stunde meines Lebens hinter mir. Also schnauzen Sie mich nicht an. Was wollen Sie von mir? Ich habe gerade ein junges Mädchen aus seinem Grab befreit. Wie es aussieht, habe ich dem Kind das Leben gerettet.«

»Das mag schon sein«, sagte der Kripobeamte hintergründig lächelnd.

»Wer sagt uns, dass nicht Sie das Grab angelegt haben? Das Mädchen soll zumindest eine Schussverletzung aufweisen. Wie ich sehe, tragen Sie ein Gewehr. Weit und breit ist sonst niemand. Sie verstehen, was ich meine?«

Er machte einen Schritt auf den Jäger zu, der vor ihm zurückwich.

»Sie haben wohl nicht alle Sinne beisammen. Warum sollte ich dem Mädchen das angetan haben? Ich kenne sie überhaupt nicht. So was habe ich noch nicht erlebt.«

Bernd Hagerer war bleich geworden. Unbändiger Zorn hatte von ihm Besitz ergriffen.

Instinktiv wich er noch einen Schritt zurück. Er stieß mit dem Rücken an die Leiter des Hochstandes, wo sein Gewehr baumelte.

»Keine Bewegung. Hände über den Kopf und ruhig stehen bleiben.«

Der Kripobeamte hatte plötzlich seine Dienstwaffe in der rechten Hand. Sie war auf den verdutzten Jäger gerichtet. Die zwei uniformierten Beamten, sie waren mit der Absperrung der Umgebung rund um den Fundort beschäftig gewesen, eilten mit gezogenen Waffen herbei. Keiner der Anwesenden hatte mit Baschtl gerechnet. Der fasste die ganze Situation als Bedrohung seines Herrn auf und war aufgesprungen. Mit drei, vier langen Sätzen war er neben Major Polterer.

Ehe der Mann reagieren konnte, hatte der treue Hund schon zugebissen. Mit seinem kräftigen Gebiss hatte er den Schussarm in Umklammerung.

Polterer brüllte laut vor Schmerz und Schreck. Aus der Waffe löste sich ein Schuss, ehe der Beamte sie fallen ließ. Das Projektil pfiff gefährlich nahe am Gesicht von Bernd Hagerer vorbei, riss einige Holzspäne aus der Leiter und schlug zehn Meter weiter in einer Fichte ein.

»Pfeifen Sie den Hund zurück oder ich muss ihn erschießen«, brüllte einer der Uniformierten.

»Aus, Baschtl! Komm her mein Guter. Ja so ist er brav. Sitz. Ja, brav ist er.«

Zitternd vor Aufregung legte sich der Jagdhund neben seinem Herrn ins nasse Gras.

Der Kripobeamte hielt sich stöhnend den schmerzenden Arm. Sein zorniger Blick war auf Bernd Hagerer gerichtet.

»Verdammtes Mistvieh, verdammtes. Das wird Sie teuer zu stehen kommen. Tätlicher Angriff auf einen Polizeibeamten im Dienst nennt man das.«

»Leinen Sie den Hund an der Leiter an. Dann die Hände in die Höhe und langsam zu mir kommen.«

Der uniformierte Polizist wedelte mit der Pistole. Hagerer tat wie ihm befohlen. Als er vor dem Beamten stand, trat sein Kollege von hinten an ihn heran, drehte zuerst einen, dann den zweiten Arm auf den Rücken und schloss die Handschellen.

Baschtl zerrte laut bellend an der Leine.

Mittlerweile war ein Geländewagen, gefolgt von einem Kleinbus, mit blinkendem Blaulicht auf der schmalen Forststraße am hinteren Ende der Lichtung aufgetaucht. Es waren die Polizisten aus Bernds Heimatdorf.

Sie schoben den Jäger in den Kleinbus, der wie ein fahrendes Büro eingerichtet war. Der Kripobeamte, dessen rechter Unterarm sich im Bereich des Bisses langsam einfärbte, nahm ihm gegenüber Platz. Ein weiterer Beamter hatte ein Notebook aufgeklappt. Major Achim Polterer sah den Jäger lange an, bevor er, an den jungen Polizisten gewandt, zu diktieren begann.

»01. Oktober 2000, 07:30, Erstvernehmung Bernd Hagerer, geboren am 27. November 1975, ledig, wohnhaft in.......

2

»Dorina, Liebling, du kannst nicht mitkommen, es geht nicht. Wie oft habe ich dir das schon erklärt? Sei bitte vernünftig und mache es mir nicht so schwer.«

Ion Cippcu stopfte die letzten Kleidungsstücke in die alte Reisetasche und hob den Blick. Seine Verlobte saß auf der hölzernen Bank neben dem gemauerten Herd, der den kleinen Raum wärmte. Sie hatte sich die ruppige Pferdedecke um die Schultern gelegt und diese vor ihrer Brust mit beiden Händen bis zum Hals geschlossen. Ihr langes, tiefschwarzes Haar fiel lockig über die Schultern. Die dunklen Augen im hübschen Gesicht waren gerötet. Wieder lief eine Träne über die blasse Wange, tropfte auf die nach Pferd riechende Decke.

»Du kannst mich nicht allein zurücklassen, nicht schon wieder. Ich sterbe hier vor Einsamkeit. Ich kann deine Ziehmutter nicht mehr sehen. Sie mag mich nicht, sie hasst mich, das weißt du. Ich bleibe nicht hier, Ion. Wenn du mich jetzt nicht mitnimmst, wirst du mich nicht wiederfinden. Ich gehe weg von hier, egal wohin.«

Dorina hatte aufgehört zu schluchzen. Selbstbewusst richtete sie sich auf. Die Decke rutschte über ihre Schultern, gab einen bereits stark gewölbten Bauch frei. Ion setzte sich zu ihr, liebevoll strich er über die kleine Wölbung.

Seine Augen waren feucht, als er Dorina ansah.

»Was tust du mir an, Liebes? Du trägst unser Kind unter deinem Herzen. Noch ein Monat und du wirst Mutter sein. Du kannst nicht mitkommen. Die Reise ist für mich schon eine Plage. 1500 Kilometer in einem alten Kastenwagen mit fünf Männern, wie stellst du dir das vor, Dorina? Sei bitte vernünftig. In drei Wochen bin ich zurück. Ich werde gutes Geld verdient haben in Österreich, danach ziehen wir in eine kleine Wohnung, das verspreche ich dir.«

Dorina wandte sich ab. Ihr trauriger Blick fiel durch das milchige Fenster. Sie konnte die trostlose Gegend nicht mehr ertragen. Aus der Kreisstadt Vaslui war sie aus Liebe zu Ion hierher gezogen. In dieses Drecknest im äußersten Nordosten Rumäniens, nicht weit der Grenze zu Moldawien. Sie hatte den Job als Näherin in einer Fabrik aufgegeben, in der Hoffnung mit Ion einen neuen Anfang zu machen. Mit ihren dreißig Jahren sehnte sie sich nach einer eigenen Familie. Zuviel Leid hatte ihr das Leben bisher zugefügt. Ions Versprechungen hatten sich nicht erfüllt. Nun saß sie hier. Hochschwanger, ohne Zukunftsperspektive. Nicht für sie, nicht für ihr ungeborenes Kind.

Dorina sehnte sich nach der gemütlichen Wohnung ihrer Eltern. Nach ihrem winzigen Zimmer, nach ihrem Bruder Vlad. Wieder kollerte eine heiße Träne auf die stinkende Decke. Vor der primitiven Bauernhütte war Ions Ziehmutter mit dem Aufzäumen des Pferdes beschäftigt. Dorina hatte nie zuvor einen derart mageren Klepper gesehen. Das Tier tat ihr immer wieder leid, wenn es vor den Wagen gespannt wurde, um das klapprige Gefährt, mit den uralten Autoreifen als Untersatz, auf das einzige Feld der Familie zu ziehen.

Vor der Alten hatte Dorina Angst. Die war verhärmt und gewalttätig. Erst kürzlich hatte sie ihr einen löchrigen Eimer nachgeworfen, weil sie mit der Säuberung des Stalles nicht zufrieden gewesen war. Seit sie schwanger war, hatte sich der Hass der alten Frau noch verstärkt. Dorina vermutete, dass die alte Spinne einfach nur eifersüchtig war und Angst hatte, dass Ion mit dem verdammten Flittchen aus der Stadt, so nannte sie Dorina ungeniert, einmal wegziehen würde und sie allein zurückblieb.

Ich bleibe auf keinen Fall hier, dachte Dorina, und wenn ich zu Fuß nach Vaslui laufen muss. Es war einfach nicht auszuhalten hier. Sie hasste die schwarzen Raben auf den blattlosen Bäumen, die Nebelschwaden, die Tag für Tag über die Felder zogen, die einsilbigen Leute, stur und verbittert schlichen sie durch die einzige Dorfstraße, die streunenden Hunde und den ewigen Ostwind. Dies alles war ihr ein Gräuel, machte sie depressiv und nahm ihr jegliche Lebensfreude. Nein, es war vorbei, sie wollte weg, komme es, wie es wolle. Hier war die Zeit stehen geblieben, nichts deutete darauf hin, dass man das Jahr 2013 schrieb, eher fühlte man sich in die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg versetzt.

»Was hast du mir nicht schon alles versprochen, Ion? Das große Geld wirst du machen, mit dem Zigarettenschmuggel aus Moldawien. Und was war?

Drei Monate hast du im Gefängnis verbracht. Wie du die riesige Geldstrafe zahlen willst? Kein Mensch weiß es. Nein, Ion. Du nimmst mich mit nach Österreich. Danach sehen wir weiter. Vielleicht können wir dort Fuß fassen. Du suchst dir eine ordentliche Arbeit und wir ziehen unser Kind groß. Hier gibt es für uns keine Zukunft. Schau hinaus, was siehst du?

Ein uraltes Pferd, eine noch ältere Frau, die mich ständig drangsaliert und eine Bude, die noch diesen Winter einstürzen wird. Mein letztes Wort! Hier bleibe ich nicht. Aus, Schluss, Amen!«

Sie war aufgestanden und stampfte mit dem Fuß wie ein ungezogenes Kind.

»Was ist schon dabei, wenn ich mit dir im Auto sitze? Die anderen vier Typen sollen es sich im Laderaum gemütlich machen. Du bist schließlich der Boss. Oder etwa nicht?«

Dorina sah Ion herausfordernd an. In ihren Augen blitzte das Temperament der Vorfahren. Ihr Großvater war noch als fahrender Roma durch Europa gezogen. Er war ein großartiger Clown gewesen, der absolute Star, in den bekanntesten Zirkusvorstellungen dieser Welt.

Ion saß nachdenklich da. In seinem Inneren tobte ein Kampf. Er liebte Dorina. Keinesfalls wollte er sie verlieren. Andererseits erschien es ihm unmöglich, sie auf die bevorstehende Reise nach Österreich mitzunehmen. Seine vier Mitreisenden waren nicht das Problem. Er war der Boss der Truppe. Auch für diese Fahrt nach Österreich hatte er wieder vier junge Kerle ausgesucht, die froh waren, einige Euros verdienen zu können. Die bevorstehende Arbeit war anstrengend, wurde aber für rumänische Verhältnisse gut bezahlt.

»Ich kann für euch den Haushalt führen, euch betreuen, euch zur Hand gehen. Bitte nimm mich mit. Lass mich hier nicht allein zurück.«

Ihre Worte rissen ihn aus seiner Gedankenwelt.

»Was soll ich meinem Auftraggeber sagen, Liebling? Ich habe dir erzählt, was wir dort machen, obwohl ich das gar nicht hätte tun dürfen. Ich musste unterschreiben zu keinem Menschen ein Wort über unseren Job zu verlieren. Es würde mich den gesamten Lohn kosten, womöglich mein Leben dazu. Meinem Auftraggeber traue ich auch einen Mord zu. Ein Menschenleben zählt für diese Leute nicht. Es geht um zu viel Kohle. Darum muss die Angelegenheit so geheim als irgend möglich ablaufen. Das verstehst du doch, nicht wahr?«

»Deinem Boss wird es nicht auffallen, dass ich da bin. Ich kann mich verstecken. Außerdem hast du mir erzählt, dass ihr in der alten Lagerhalle alleine arbeitet. Tag und Nacht, rund um die Uhr. Ich könnte dir eine große Hilfe sein.«

Sie strich ihm liebevoll über die Wange und hauchte einen Kuss auf sein Ohrläppchen.

»Hast du überhaupt einen gültigen Reisepass?«

Dorinas Miene hellte sich augenblicklich auf. Hoffnung keimte in ihren Augen. Sie nahm Ions Kopf in beide Hände und küsste ihn. Lange und innig.

3

Eine glutrote Sonne versank hinter den westlichen Spitzen des herrlichen Bergmassives.

Am Wilden Kaiser war bereits der erste Schnee gefallen. Die breite Halde hinauf zum Ellmauer Tor wirkte wie ein riesiger Gletscher. Weiße Gipfel leuchteten im Abendrot und erzeugten eine mystische Stimmung, wie sie nur im weichen Licht des Spätherbstes zu erleben war.

Im Tal war es für diese Jahreszeit ungewöhnlich warm. Altweibersommer nannten die Menschen der Gegend diesen herrlichen Abschnitt im Jahreskreis. Der bei der Damenwelt unbeliebte Ausdruck leitete sich vom warmen Licht des Spätherbstes ab, in dem unzählige lange weiße Spinnfäden tanzten, wie in Ehrfurcht ergrautes Frauenhaar.

Heute ist Samstag, 23. November 2013, es ist Sechzehn Uhr, die Weltnachrichten....

Benno Peréz lag in der breiten Hängematte auf der Terrasse seines Hauses. Aus den Lautsprecherboxen der modernen Musikanlage erklang die sonore Stimme des Nachrichtensprechers.

Haus, war nicht der richtige Ausdruck, Villa, kam der Sache schon näher. Das imposante Anwesen, im Stil eines alten Tiroler Bauernhauses mit modernen Elementen, lag in wunderbarer Hanglage mit einem unglaublichen Ausblick auf die umliegende Bergwelt und den breiten Talboden mit den lieblichen Ortschaften.

Ausgestattet mit Innenpool, Schwimmteich im parkähnlichen Garten und jedem sonst noch erdenklichen Luxus, zählte das Refugium zu den exquisitesten Immobilien in der Gegend. Es gab Leute, die gerne gewusst hätten wie Peréz zu diesem Luxus gekommen war. Niemand konnte genau sagen, womit der Mann sein Geld verdiente. Einige glaubten zu wissen, dass er im Investment-Banking tätig sei. Andere wieder tippten auf eine Erbschaft oder gar einen Lottotreffer.

Natürlich gab es auch Gerüchte, dass Peréz von dunklen Geschäften lebe. Genau wusste nicht einmal das Finanzamt über Ursprung und Umfang des Reichtums Bescheid, zumal er es mithilfe seiner Berater verstand, die unglaublichsten Firmengeflechte, Stiftungen und Veranlagungen zu konstruieren. Seinen Hauptwohnsitz begründete er in Monaco. Hier in den Tiroler Bergen besaß er ein Feriendomizil, einen Zweitwohnsitz, wie in viele reiche Leute in dieser Gegend ihr Eigen nannten.

Benno war 1970 als Benedikt Hummpelsperger in einem kleinen Dorf, nahe der österreichisch-ungarischen Grenze zur Welt gekommen. Seinen Vater, ein bulgarischer Gelegenheitsarbeiter, hatte er nie kennengelernt. Die Mutter konnte sich und den Jungen mit allerlei Jobs gerade so durch das Leben bringen. Sie hatte es sehr schwer gehabt. So wuchs Benno in nicht gerade geregelten Verhältnissen auf, kam schon in sehr jungen Jahren mit dem Gesetz in Konflikt und saß mehrere Jugendstrafen ab.

Kaum volljährig geworden, war er endgültig zum Berufsverbrecher aufgestiegen. Zuhälterei, Mädchenhandel und Drogengeschäfte waren nun sein Betätigungsfeld. Es gab kaum eine strafrechtliche Facette, die er nicht ausprobiert hätte und so galt er bald als der große Boss am Wiener Gürtel, wo er ein Etablissement der käuflichen Liebe führte. Ein weiteres Freudenhaus im Salzburger Land, nicht weit von Bayern und Tirol entfernt, stand damals auch unter seiner Kontrolle. Zusammen mit einem ukrainischen Kompagnon überfiel er mehrere Banken. Bei einem dieser Raubzüge erschoss er einen Wachmann, was ihm schließlich fast zum Verhängnis geworden wäre. Die Polizei knapp auf den Fersen, musste Humpel, wie er in der Szene genannt wurde, das Land schleunigst verlassen. Kurz vor dem Jahrtausendwechsel flüchtete er nach Südamerika, nicht ohne vorher seinen ukrainischen Kumpel als Statthalter seiner Geschäfte in Österreich eingesetzt zu haben.

In Ecuador lernte er Jasia Maria Peréz, Tochter eines hohen Regierungsbeamten kennen und lieben. Sie heirateten und aus dem Österreicher Benedikt Hummpelsperger, gesucht per internationalem Haftbefehl wegen Mordes, Zuhälterei, mehrfachen Bankraubes und unzähliger weiterer Straftaten, wurde der ecuadorianische Staatsbürger, Benno Peréz, mit noblen Wohnsitzen in Tirol und Monaco.

Einige kleinere Korrekturen im Gesicht veränderten sein Aussehen ausreichend, um für die auf ihn angesetzten Fahnder nicht erkennbar zu sein, wodurch seine dunkle Vergangenheit wohl auf ewige Zeiten verborgen bleiben würde. So hatte er sich das zumindest vorgestellt.

»Bist du soweit Jasia? Ich habe den Tisch für neunzehn Uhr bestellt. Wir müssen los.«

»Wir haben noch eine Stunde Zeit, also bitte keinen Stress!«

Jasia saß vor dem riesigen Schminktisch im ebenso riesigen Badezimmer, dessen Glastür zur Terrasse hin geöffnet war. Benno konnte ihren Rücken sehen. Wie schön sie ist, dachte er. Ihrem dunklen Gesicht sah man die indianische Abstammung an. Die schwarz gelockte Haarpracht reichte über den halben Rücken. Der trainierte Körper glich einer gespannten Feder, jederzeit sprungbereit. Sie bürstete das lange Haar, wobei sich mit jeder Handbewegung die nackte Rückenmuskulatur unter der tiefbraunen samtigen Haut straffte und wieder lockerte. In Benno rührte sich ein Verlangen, welches es zu unterdrücken galt, zumal die Zeit niemals reichen würde, die Fantasien auszuleben, die vor seinem geistigen Auge zu tanzen begonnen hatten. Er wandte sich ab, um nach dem leise fiependen Telefon auf dem kleinen Glastisch zu greifen.

»Hallo Gonzo, was willst du? Hatte ich nicht gesagt, dass ich meine Ruhe haben will?«

»Ja, entschuldigen Sie, Boss. Es ist etwas passiert. Ich brauche Ihre Hilfe.«

Diegones Gonzokrates, von allen nur Gonzo genannt, war aufgeregt, sehr aufgeregt.

»Was ist passiert. Los, raus mit der Sprache«, herrschte Benno den Griechen an.

»Stipe ist aufgeflogen. Er hat einen neuen Schichtleiter bekommen und wurde erwischt, als er die falschen Dokumente gestempelt hat. Er ist sofort vom Dienst suspendiert worden und sitzt im Stadtgefängnis von Novsador. Soweit ich gehört habe, soll er noch heute von Beamten der internen Revision vernommen werden. Was soll ich machen? Wenn der Junge plaudert, sind wir geliefert. Sie müssen eine Entscheidung treffen.«

Benno überlegte. Was wusste Stipe? Eigentlich nicht viel. Er war Zollbeamter an einer dieser Grenzen am Balkan und hatte in den letzten zwei Jahren immer wieder Zollpapiere für Benno abgestempelt. Papiere, die Exporte aus der EU nach Serbien vortäuschten, welche jedoch nie stattgefunden hatten. Stipe kannte nur Gonzo und die Leute die ihm die Papiere gebracht und wieder abgeholt hatten. Trotzdem war er eine Gefahr. Benno musste handeln.

»Ich brauche Drago. Wo ist der? Er soll sich sofort bei mir melden. Ist das klar? Sofort!«

Benno hatte aufgelegt und war aus der Hängematte gesprungen. Er ging auf der beheizten Terrasse auf und ab. Irgendwann musste es so kommen, dachte er.

Seit zwei Jahren funktionierte das System lückenlos. Nun gab es die ersten Probleme. Er zündete sich eine Zigarette an und schmunzelte.

»Probleme sind dazu da, um gelöst zu werden«, murmelte er und inhalierte genüsslich den Rauch.

»Was meinst du, mein Liebling?«

Jasia war aus dem Bad getreten. Nackt wie Gott sie einst geschaffen hatte, stand sie vor ihm.

»Es ist nichts, Jasia. Ich habe mit mir selbst gesprochen. Das machen ältere Männer manchmal so, musst du wissen.«

Er lachte laut, nahm seine junge Frau in den Arm und küsste sie leidenschaftlich.

»Lass uns aufbrechen. Aber nicht so, wie du aussiehst. Das ganze Dorf wäre in Aufruhr, wenn sie dich so sehen würden. Also rein in was Schönes und los geht’s. Ich habe Hunger.«

Benno gab ihr einen Klaps auf den runden Po und eilte in das Ankleidezimmer, um sich für das Abendessen herzurichten.

4

Der alte Kastenwagen ächzte, als die vier Männer samt Gepäck in den Laderaum kletterten. Drei von ihnen hatten einen abgetragenen Koffer dabei, einer schleppte eine Schachtel mit sich. Es waren junge Männer aus dem Dorf von Ion. Er hatte sie angeworben, für einen drei Wochen dauernden Job in Österreich, bei dem sie gut verdienen würden. Seit er aus dem Gefängnis entlassen worden war, machte er diese Anwerbungen. Seine Aufgabe bestand darin, die Männer nach Österreich zu bringen, dort in ihre Arbeit einzuschulen und zu beaufsichtigen. Nach drei Wochen ging es wieder zurück nach Rumänien. Ein neues Team wurde zusammengestellt. Keiner der Männer durfte ein zweites Mal mitkommen. Das war eine Bedingung seines Auftraggebers. Ebenso hatte er dafür zu sorgen, dass die Arbeiter nicht wussten, wo genau sie sich aufhielten. Aus diesem Grund beförderte er sie im fensterlosen Kastenwagen. Die Anhalteplätze waren so gewählt, dass nicht zu erkennen war in welcher Region man sich befand. Angehalten wurde sowieso nur kurz, um die Notdurft zu verrichten. Gegessen und getrunken wurde während der Fahrt im Wagen. Diese dauerte im Regelfall etwa zwanzig Stunden, wobei Ion die gesamte Strecke eigenhändig den Wagen lenkte. Mit Kaffee und Aufputschmitteln hielt er sich wach und hatte die bisherigen Fahrten stets ohne Probleme bewältigt. Als Ankunftszeit wählte er immer die Dunkelheit, um den Männern die Orientierung zu erschweren. Außerdem mussten sie beim Verlassen des Fahrzeuges eine Augenbinde tragen.

Er verschloss die beiden hinteren Türen des Wagens, die nur von außen geöffnet werden konnten. Die Seitentür war verschweißt worden. Hatte einer der Insassen im Laderaum ein Problem, musste er sich mit Ion über ein kleines Guckloch verständigen. Der setzte sich nun hinter das Steuer und fuhr aus dem alten Stall auf die holprige Landstraße. Es war 00:30 und nieselte leicht. Durch den kalten Ostwind fühlte sich die Luft an wie im tiefsten Winter. Er fröstelte und drehte die Heizung auf die oberste Stufe. Durch den kleinen Wald näherte sich der alte Wagen seinem Heimathaus. Kurz davor hielt er an und wartete.

Schemenhaft erschien eine Gestalt aus den Nebelfetzen, näherte sich vorsichtig dem Wagen.

Dorina war in die alte Pferdedecke gehüllt. Um den Kopf hatte sie sich einen dicken Wollschal geschlungen. Die Reisetasche in ihrer rechten Hand wirkte neu. Sie stammte von ihrem Bruder Vlad. Er war Mitglied der rumänischen Judo-Nationalmannschaft und hatte ihr die Sporttasche, ein Teil seiner Ausrüstung, geschenkt. Weiße Streifen leuchteten im Licht der Scheinwerfer. Ion sprang aus dem Wagen, umarmte sein Mädchen kurz und half ihr auf den Beifahrersitz. Die schwere Tasche fand zwischen ihnen Platz.

»Hinten liegen die Arbeiter, wir sollten uns nicht zu laut unterhalten. Ich werde das Radio einschalten, dann können sie unser Gespräch nicht belauschen«, flüsterte er ihr zu und schloss die Beifahrertür. Das Gebläse machte bei höchster Stufe einen Höllenlärm. Langsam erwärmte sich die Fahrerkabine. Dorina legte Schal und Pferdedecke ab. Mit glückstrahlenden Augen sah sie Ion an.

»Ich danke dir Ion, du wirst nicht bereuen, mich mitgenommen zu haben. Das schwöre ich.«

»Schon gut mein Liebling. Sei nicht zu voreilig mit Schwüren, die du nicht halten kannst. Es kommen schwere Zeiten auf dich zu, glaube mir.«

»Ich bin mit dir zusammen, was soll mir da noch passieren? Ich freue mich auf unser neues Leben. Wir werden glücklich sein, in einer besseren Welt. Was hätten wir sonst für eine Zukunft? Jetzt wird es besser werden, ich kann es fühlen. Ich bin so glücklich.«

Sie lehnte sich an seine Schulter und schloss die Augen.

Am frühen Nachmittag überquerten sie die Grenze nach Ungarn. Kurz nach der Grenzstation lenkte Ion den Wagen in ein Waldstück und hielt an einer Lichtung an. Seine Mitreisenden erleichterten sich am Wegesrand und reckten die starren Glieder.

Dorina stieg aus dem Führerhaus, stemmte ihre Hände in die hinteren Hüften und dehnte die Muskulatur, um den schwer gewordenen Körper zu entlasten.

Die Männer starrten sie an, als sei sie ein Wesen von einem anderen Stern. Cacá, der Jüngling unter ihnen, schlenderte provokant lächelnd auf sie zu.

»Was haben wir da für einen Engel? He, Ion, du hast uns nicht gesagt, welch hübsche Begleitung du im Wagen hast. Wie ist dein Name, Süße?«

Cacá hatte sie erreicht, griff nach ihrem Arm und wollte sie zu sich ziehen. Dorina schüttelte ihn ab und wich ängstlich einen Schritt zurück.

»Zurück in den Wagen! Alle! Sofort!«

Ion war aus dem Schatten des Waldes getreten und sah Cacá und die anderen Männer scharf an.

»Nicht so hastig, Ion. Erst will ich wissen, was es mit dem Täubchen auf sich hat. Du tust immer so geheimnisvoll mit deinen Aufträgen und schleppst diese kleine Nutte mit? Der Balg in ihrem Bauch ist doch nicht von dir, oder?«

Cacá hatte eine angespannte Haltung eingenommen und grinste Ion verschlagen an.

»Ich habe gesagt in den Wagen mit euch! Wir fahren weiter. Und nenne das Mädchen nicht noch einmal Nutte, Cacá, sonst lernst du meine gefährliche Seite kennen.«

Ion stand jetzt knapp vor dem Jüngsten der Gruppe und hatte die Hände zu Fäusten geballt. Er zitterte vor innerer Wut, beherrschte sich jedoch, um seinen Auftrag nicht zu gefährden.

»Okay Häuptling, okay. Beruhige dich wieder, ich habe verstanden, aber vergiss nicht, dass auch ich eine gefährliche Seite habe, okay? Wir sehen uns Schätzchen!«

Er zwinkerte Dorina zu und entfernte sich aufreizend langsam in Richtung Kastenwagen.

Mit zittriger Hand fummelte Ion eine Zigarette aus der Packung. Es war ein Fehler gewesen, diese miese kleine Ratte mitzunehmen, überlegte er. Nun war es zu spät, er konnte nicht mehr umkehren und den Kerl einfach hier lassen. Er brauchte jede Arbeitskraft. Cacá stammte wie er aus einer Romafamilie. Er war gerade einmal achtzehn Jahre alt, kannte aber bereits alle Tricks eines Kleinkriminellen. Ein gefährlicher Bursche. Ion wusste, dass er auf ihn aufpassen musste. Er durfte ihn nicht aus den Augen lassen.

Kurz vor der österreichischen Grenzstation platzte einer der ramponierten Reifen. Ion hatte alle Mühe, den ausbrechenden Wagen zu korrigieren. Nach wild schlingernden Bewegungen gelang es ihm schließlich, am Pannenstreifen anzuhalten. Die Männer im Laderaum hatte es ordentlich gebeutelt. Fluchend kletterten sie aus dem Wagen. Ion ließ erst gar keine Diskussion aufkommen. Er teilte sie zum Wechseln des Rades ein, trieb sie zur Eile an. Es war schon früher Abend, bis zu seinem Ziel im Westen des Landes, war es noch ein weiter Weg.

Die Kontrolle an der Grenze verlief ohne Probleme. Ion hatte dem Grenzpolizisten erklärt, dass sie unterwegs waren, um alte Autos aus Österreich nach Rumänien zu überstellen. Gegen zwanzig Uhr passierten sie Wien. Ion gewährte noch eine kurze Pause auf einem verlassenen Autobahnparkplatz, bevor es ohne Unterbrechung weiter ging. Es war bereits Mitternacht, als sie ihr Ziel erreichten. Ion lenkte den Wagen in das um diese Zeit ruhig und verlassen daliegende Gewerbegebiet. Vorbei an einigen Handwerksbetrieben näherte er sich der grauen Halle, die, abgelegen von der Straße, im hinteren Bereich der Zone lag. Nur das schmale Firmenschild an der Vorderseite war schwach beleuchtet. Der Name der Firma ließ keinen Schluss zu, was hier eigentlich erzeugt oder gelagert wurde. Er parkte den Wagen auf der Rückseite. In der Dunkelheit konnte man kaum die Hand vor den Augen erkennen. Es war kalt, dichter Nebel lag über den Büschen. Nachdem die hinteren Türen geöffnet worden waren, standen die Männer mit bereits angebrachten Augenbinden vor ihm. Er führte sie über eine steile Eisentreppe in das Obergeschoß des Anbaues. Auf der Plattform am Ende der Treppe hielten sie an. Ion steckte den Schlüssel in das Schloss der angerosteten Eisentür, die sich mit einem leisen Knarren öffnen ließ. Im Strahl seiner kleinen Taschenlampe dirigierte er die Männer in den dunklen Vorraum, schloss die Tür und nahm ihnen die Binden ab.

Im völlig dunklen Raum war nur am Boden ein schmaler Lichtstreifen erkennbar. Eine Tür wurde von innen geöffnet, Ion schob die drei Männer hastig in den beleuchteten Raum und schloss ab. Sie standen in einem mittelgroßen Zimmer, welches schwach beleuchtet war. In der Mitte ein großer Holztisch mit sechs einfachen Stühlen. An den beiden gegenüberliegenden Wänden waren längsseits jeweils zwei Stockbetten angebracht. Auf verdreckten braunen Wolldecken saßen vier Männer. Mit ihren unrasierten Gesichtern und den müden Augen machten sie nicht gerade den besten Eindruck. Eine gelbgraue Wolke aus Tabakrauch hing in der Luft. Jeder hatte eine Zigarette im Mundwinkel, keiner der Männer sagte ein Wort. Alle starrten die Neuankömmlinge gelangweilt an.

»Schichtwechsel Freunde. Ihr dürft wieder nach Hause zu euren Liebsten. Das ist das neue Team.«

Ion stellte die Leute nicht näher vor. Er forderte seine Truppe auf, am Tisch Platz zu nehmen, und wandte sich an einen der anderen Männer.

»Wo ist Dak?«

Der Mann deutete mit dem Kinn in Richtung der einzigen Tür an der hinteren Wand.

»Ist er in der Halle? Gib mir eine Antwort, wenn ich dich etwas frage«, fuhr Ion den Mann an. Der nickte nur und zog an seiner Zigarette, deren rote Glut leuchtete. Ion ging auf die Tür zu, die im gleichen Moment geöffnet wurde. Ein Mann mit rabenschwarzem Vollbart trat ein, betrachtete die Neuankömmlinge neugierig und sah Ion an.

»Da bist du ja endlich. Ihr seid spät dran.«

Mehr gab es nicht zu sagen. Die rauchenden Männer erhoben sich. Jeder nahm den neben sich stehenden Koffer an sich und gemeinsam marschierten sie Richtung Ausgang.

»Stopp, Freunde. Halt, nicht so hastig«, rief der Bärtige und fuchtelte mit den Augenbinden.

»Hast du mir etwas zu sagen, Dak? Gibt es Neuigkeiten oder ist alles wie immer?«

Ion sah den Schwarzbärtigen fragend an. Dak schien ihn nicht zu hören. Seelenruhig legte er den Männern die Augenbinden an.

Danach wandte er sich an Ion.

»Es ist wie es sich gehört. Habt ihr die Karre vollgetankt? Ich möchte sofort los.«

»Der Tank ist voll. Wir mussten einen Reifen wechseln. Wäre gut, wenn ihr irgendwo einen Reservereifen auftreiben könntet.«

»Okay. Ach ja, Gonzo war da. Schien sehr nervös. Er hat gemeint, wir sollten besonders aufpassen. Anordnung vom Boss. Normal produzieren, aber vorläufig nur lagern. Sind keine Ablieferungen geplant in nächster Zeit. Anlieferungen laufen normal. So, nun habe ich dir genug erzählt. Wir hauen ab. Los gehts Freunde. Ab in die Heimat.«

Dak schob seine Leute vor sich her zum Ausgang. Er hob die rechte Hand und weg war er mit der ganzen Bande.

Ion öffnete die Tür, aus der Dak gekommen war. Er stand auf einer Art Galerie und blickte in die darunter liegende Lagerhalle. Im trüben Licht einiger Neonröhren konnte er an der linken Wand mehrere Rollen Papier sehen. Am oberen Ende standen Holzpaletten mit Kartonagen, direkt unter ihm stapelten sich jede Menge prall gefüllter Jutesäcke. Die linke Wand war bis unter die Decke gerammelt voll mit Kartons größeren Ausmaßes. In der Mitte der etwa zweihundert Quadratmeter umfassenden Halle stand eine dunkelgrau gestrichene Maschine.

5

Dragovan Subica-Suba befestigte die bunt schillernde Fliege an der Angelschnur und ließ sie in kreisförmigen Schwüngen über das glasklare Seewasser gleiten. Seine Bewegungen hatten die anmutige Eleganz der Taktgabe eines großen Meisters am Dirigentenpult. Der Köder schwebte knapp über der silbrigen Wasseroberfläche, gerade so hoch, um einer Forelle Appetit zu machen. Zwei schöne Exemplare schienen Interesse zu haben, warteten aber noch ab.

»Komm schon Süße, zier dich nicht so, schnapp dir das Häppchen«, flüsterte Drago und holte zu einem weiteren sanften Schwung aus. Das Klingeln seines Telefons setzte der Neugier der Fische ein jähes Ende. Leise fluchend zog er das Gerät aus der Hosentasche.

»Gonzo, mein Freund. Lange nicht gehört. Was liegt an?«

»Wo bist du Drago? Benno braucht dich. Melde dich bei ihm, seine Nummer hast du ja. Ciao.«

Gonzo hatte aufgelegt. Drago betrachtete nachdenklich sein Telefon. Was konnte der alte Gauner wollen? Ein neuer Auftrag? Er setzte sich auf den großen Uferstein, wischte sich die feuchten Hände an der abgetragenen Tarnhose ab und kramte in der Seitentasche nach den Zigaretten. Genussvoll inhalierte er den Rauch und ließ ihn durch die Nase wieder entweichen.

Urplötzlich und unheilvoll nisteten sich die dunklen Gedanken in sein Hirn. Da war er wieder, der quälende Dämon mit der Fratze der Vergangenheit. Vor seinem geistigen Auge tanzten die grauenvollen Szenen aus einer Zeit vor fast zwanzig Jahren. Das Geschrei der Kinder, das furchtbare Gekreische der Frauen und die Todesschreie der Männer dröhnten in seinem Kopf. Bosnien 1995 war da.

Die furchtbaren Gräuel, die er mit seinen Männern angerichtet hatte, suchten ihn wieder einmal gnadenlos heim. Je älter er wurde, umso öfter hatte er mit den schrecklichen Erinnerungen zu kämpfen. Ich muss mich endlich von dieser verdammten Hose trennen, dachte er. Es war immer wieder dasselbe Problem, er saß irgendwo und betrachtete die alte Tarnhose, die er schon damals getragen hatte, und die Erinnerungen kamen hoch. Die Erinnerungen an die unzähligen Menschen, an junge Burschen und alte Männer, die sie damals reihenweise erschossen und verscharrt hatten. Nicht dass ihm diese Menschen leid getan hätten, nein, sie hatten nach seiner einfältigen Meinung den Tod verdient. Wie viele seiner Landsleute hatten sie vorher ermordet und vertrieben? In seiner begrenzten Denkweise betrachtete er die Gräueltaten als gerechtfertigte Vergeltung und Rache. Außerdem war Krieg gewesen, dieser Umstand rechtfertigte für ihn alle Gräuel.

Trotzdem geißelten ihn immer wieder die schrecklichen Bilder. Er nahm einen tiefen Schluck aus dem Flachmann, seit dieser Zeit ein treuer Begleiter, schüttelte die trüben Gedanken ab und griff nach seinem Telefon.

»Hallo Mister Peréz. Was kann ich für dich tun?«

»Drago, alter Kämpfer. Wo treibst du dich herum? Ich brauche dringend deine Hilfe. Können wir uns treffen? Es ist wichtig.«

»Ich bin in Slowenien und versuche einem herrlichen See ein paar Forellen zu entreißen. Du kannst vorbeikommen und mich dabei unterstützen, wenn du Lust hast.«

Drago lachte und nahm noch einen kräftigen Schluck vom köstlichen Slibowitz aus der Gegend. Schnaps brennen können sie, die Slowenen, dachte er bei sich.

»Es ist fast dunkel, wie willst du da noch einen Fisch fangen?«

»Du hast recht, Benno. Es ist für heute vorbei. Ich stand kurz vor einem wunderbaren Biss, da hat dein Knecht Gonzo es zunichte gemacht. Das kostet dich eine Extraprämie, alter Freund.«

»Daran soll es nicht liegen, das weißt du. Ich bezahle immer gut. Was hältst du davon, wenn wir uns morgen in Villach treffen. Ich kann um neun Uhr vor Ort sein. Geht das klar?«

»Das passt, Benno. Ich werde da sein. Am üblichen Treffpunkt?«

»Ja, wie immer Drago. Adios.«

Drago steckte das Telefon ein, packte sein Angelzeug zusammen und kletterte über die kurze Uferböschung, um zu seinem oben abgestellten Geländewagen zu gelangen. Der weiße Landcruiser war mit allen nur erdenklichen Extras ausgestattet. Im Dämmerlicht wirkte er wie das Expeditionsfahrzeug einer Truppe von Wüstenforschern. Drago liebte Martialisches, sei es bei seiner Kleidung oder bei seinem Auto. Er zählte sich selbst zu den letzten Partisanen und lebte diese Vorliebe. Jahrelang hatte er sich nach dem Jugoslawienkrieg in den verschiedensten Ländern Afrikas als Söldner verdingt. Gutes Geld hatte er dort verdient, war aber auch einige Male dem Tod sehr nahe gewesen. Mittlerweile Mitte vierzig geworden, ging er es ruhiger an. Mit Benno Peréz verband ihn seit zwei Jahren eine Geschäftsverbindung die oft sehr ertragreich war. Er war neugierig, was er von ihm wollte.

6

Auf der Raststätte in der Nähe Villachs war wenig Betrieb. Benno Peréz lenkte seinen eleganten Bentley auf einen Platz vor dem Restaurant. Dort stand bereits unübersehbar der Wagen von Drago.

Die beiden Männer begrüßten sich in der Eingangshalle und nahmen an einem der Tische im Restaurant Platz. Das Lokal war beinahe leer, ideal für eine ungestörte Unterhaltung.

Die hübsche Bedienung hatte ihnen Wiener Frühstück gebracht, um sich danach hüftschwingend zu entfernen.

»Hübsche Dinger die Kärntner Mädels, was meinst du, Benno?«

»Ich habe keine Zeit für derlei Sachen. Außerdem bin ich, im Gegensatz zu dir, glücklich verheiratet. Kommen wir zur Sache. Es gibt ein Problem am Balkan. Sie haben Stipe erwischt.«

»Stipe? Wer ist Stipe, kannst du mir auf die Sprünge helfen?«

Drago sah seinen Geschäftspartner fragend an, während er sich ein Stück des köstlichen Kipferls in den Mund schob.

»Stipe ist der Zollbeamte, der unsere Papiere stempelt. Erinnerst du dich nicht? Du hast ihn doch damals selbst eingestellt.«

»Jetzt erinnere ich mich, ja der Stipe. Ein gieriger Junge, der seinen Hals nicht vollkriegen kann. Korrupt bis auf die Knochen der Typ. Hat aber immer gute Arbeit geleistet, oder nicht?«

»Bis jetzt schon. Gestern ist er aufgeflogen. Ein neuer Vorgesetzter hat ihn dabei erwischt, wie er gerade dabei war unsere Papiere zu bearbeiten. Ein Mist ist das, Drago. Wir müssen dringend etwas unternehmen. Was schlägst du vor, hast du eine Idee?«

Benno schob seinen Teller zur Seite, klopfte nervös auf der Tischplatte herum.

»Hör erst einmal mit dem Geklopfe auf, okay? Überlegen wir, was Sinn macht. Zuerst müssen wir wissen, was konkret passiert ist. Wo sitzt der Junge ein? Wissen wir das bereits?«

»Gonzo hat herausgefunden, dass er nach Novsador gebracht wurde. Das ist ein Kaff nicht weit von der Grenze, hat er gesagt. Er sitzt dort im Knast der örtlichen Polizeistation. Wie lange noch wissen wir nicht. Es sollen Beamte aus der Zentrale kommen und ihn vernehmen, heißt es. Mehr habe ich zur Zeit nicht.«

»Okay, das ist schon etwas, ich kenne die Gegend und den Ort. Ein alter Freund von mir hat sich da niedergelassen. Das sind an die sechshundert Kilometer von hier. Wenn ich gleich aufbreche, kann ich am Nachmittag dort sein. Was machen wir mit ihm?«

Benno blickte eine Weile auf seinen Frühstücksteller, den er bisher nicht angerührt hatte.

»Er muss schweigen. Besser gesagt, er muss dazu gebracht werden für immer zu schweigen. Verstehen wir uns? Koste es, was es wolle, der Bursche muss aus dem Verkehr gezogen werden. Das hat Priorität. Weiters müssen wir hinter die Papiere kommen, die ihm abgenommen wurden. Die Firmendaten sind zwar gerade neu frisiert worden, trotzdem will ich kein Risiko eingehen. Die Papiere müssen auch verschwinden. Ich habe Wayhouse schon angewiesen, die entsprechenden Maßnahmen zur Löschung der derzeitigen Firmendaten vorzunehmen und eine neue Legende zu bauen. Ich will aber nicht, dass irgendein Schnüffler des Zolls den Faden aufnimmt. Man kann nie wissen.«

»Verstehe ich dich richtig? Ich soll den Jungen um die Ecke bringen und dann die Papiere besorgen und verschwinden lassen?«

Drago sah Benno lächelnd an, wobei er Daumen und Zeigefinger aneinander rieb.

»Wie sieht es damit aus? Keine leichte Sache und daher auch nicht billig, lieber Benno.«

»Das spielt keine Rolle. Wichtig ist, dass die Sache so schnell als möglich erledigt wird. Ich habe die Produktion nicht gestoppt, allerdings die Auslieferung. Wir haben wenig Zeit, der Platz für die Ware wird knapp. Also beeil dich, Drago. Ich verlasse mich auf dich. Denk daran, dass es auch für dich wichtig ist, sonst versiegt die Quelle und das willst du doch nicht, oder?«

»Alles klar, Benno. Wir hören uns, sobald ich in Novsador bin. Übernimmst du das Frühstück?«

»Bleibt mir eine Wahl?«

Lachend verabschiedete er sich von Drago, der eilig das Lokal verließ, in seinen Landcruiser stieg und mit aufheulendem Motor davonbrauste. Benno begann das verwaiste Frühstück zu verzehren, als sein Telefon summte.

»Wayhouse hier. Was habt ihr vereinbart, geht die Sache voran?«

»Das lass meine Sorge sein, Wayhouse. Kümmere du dich um die Firmengerüste. Wie weit bist du? Ich hoffe, dass die auf den betreffenden Papieren angeführten Firmennamen nicht mehr nachverfolgt werden können. Außerdem brauchen wir dringend eine Lagerhalle. Nicht zu weit von der Produktion entfernt. Kümmere dich darum. Es ist wichtig. Wir brauchen Zeit, um einen neuen Mann beim Zoll zu installieren. Gonzo ist in der Sache schon tätig. Ich hoffe, er wird bald fündig. Wie steht es mit der Lieferung aus Rotterdam, wann kommt die Ware? »

»Viele Fragen auf einmal, Benno. Mir scheint, du bist nervös. Solltest du nicht sein. Was kann schon passieren? Die haben einen kleinen Zollbeamten erwischt, als er dabei war falsche Papiere mit einem Zollsiegel amtlich zu erledigen Was meinst du, was dort unten jetzt passiert? Der Mann wird entlassen, oder aber, wenn er Glück hat, auf einen Posten versetzt, wo sich Fuchs und Hase des Nachts treffen. Und die Papiere? Was interessieren den Zoll dort unten Papiere, auf denen südamerikanische Versender, sowie nicht existierende Empfänger stehen? Die werden schnell herausfinden, dass es sich um eine fingierte Sache handelt, die ihrem Staat keinen Nachteil zufügt. Also werden die Papiere ad acta gelegt, wenn sie nicht im Reißwolf verschwinden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Kerle die Niederländer in der Sache kontaktieren. Und falls doch, können die in Rotterdam lange suchen, bis sie auf einen Verdacht stoßen. In gar keinem Fall bringen sie uns damit in Verbindung. Also bleib ganz cool, Benno. Wichtiger ist, dass wir bald weitermachen können. Unsere Abnehmer werden sonst ungeduldig und suchen sich andere Partner. In der Ukraine oder in China oder sonst wo. Ich kümmere mich um die Halle. Die Lieferung aus Rotterdam trifft morgen Abend ein. Ion, er ist mittlerweile wieder für drei Wochen mit einer frischen Mannschaft vor Ort, habe ich Bescheid gegeben. Gonzo sollte sich beeilen, einen Neuen für die Stempel aufzutreiben, das wäre wichtig, damit wir die Papiere erledigen können. Übrigens, die Preise in Südamerika steigen wieder, wir sollten uns um einen anderen Lieferanten umsehen. Würde ohnehin nicht schaden. Zu lange mit denselben Firmen tut der Sache nicht gut und ist ein unnötiger Risikofaktor. Was meinst du?«

»Du weißt am besten wie wir einen neuen Lieferanten finden. Mach was du für richtig hältst. Melde dich, wenn es Neuigkeiten gibt. Ciao.«

Benno legte auf, ging zur Kasse und verließ das Restaurant. Zufrieden machte er sich auf den Weg in Richtung Norden.

Zum Mittagessen würde er zu Hause sein.

7

Drago fluchte über die vor ihm fahrenden Lastkraftwagen. Er jagte mit hoher Geschwindigkeit über die E 70 in Richtung Süden. Um 16.30 erreichte er die kleine Stadt Novsador. Im Zentrum stellte er den Wagen ab und ging zu Fuß in eine der engen Altstadtgassen. Das gesuchte Haus war durch die Kriegshandlungen arg in Mitleidenschaft gezogen worden. Eine fehlgeleitete Rakete hatte die altehrwürdige Fassade fast gänzlich zerstört. Behelfsmäßig hatte man die zerbombten Türen und Fenster wieder repariert. Von einer vollständigen Renovierung konnte keine Rede sein. Er ging durch den schmalen Eingang in den Innenhof des Gebäudes, der mit Rankengewächsen fast vollständig zugewachsen war. Eine morsche Holztreppe führte auf eine den gesamten Innenhof umspannende Galerie. Die Balustrade war teilweise verfallen. Auf eine modrige Holztüre hatte jemand mit einem Tintenstift den Namen Jovo Stranic geschrieben.

Drago klopfte und trat einen Schritt zurück. Schlurfende Schritte näherten sich der Wohnungstür. Knarrend wurde sie geöffnet. Ein Gesicht, zugewachsen mit einem mächtigen Vollbart, erschien in der Öffnung. Der Mann trug eine alte Militärhose zu einem über der behaarten Brust geöffneten Jeanshemd. Seine blaugrauen Augen blickten den Besucher interessiert an.

Mit einem Schlag leuchtete das Erkennen im Gesicht des Alten.

»Drago? Dragovan Subica-Suba, du bist es doch, oder? Mein alter Kamerad Drago!«

»Jovo, alter Schweinehund. Wie geht es dir. Komm an mein Herz.«

Die beiden Männer umarmten sich und küssten gegenseitig die Wangen. In Jovos Augen standen Tränen. Er fasste Drago an beiden Schultern und schaute ihm lange ins Gesicht.

»Wie lange ist es her? Zehn Jahre, nein elf Jahre sind es schon, nicht wahr? Vor elf Jahren, Ruanda. Das war ein verfluchter Einsatz. Ich darf gar nicht daran denken.«

Wieder schüttelte er Drago und zog ihn in die Diele der Wohnung. Es roch nach kaltem Rauch und undefinierbarer Speise. Sie gingen in eine Art Küche und setzten sich an den runden Esstisch, vollgeräumt mit dreckigem Geschirr. Der Ascher in der Mitte des Tisches quoll über. Jovo packte die Schnapsflasche, nahm einen kräftigen Schluck und reichte sie Drago.