Moorland Asche - martin cereza - E-Book

Moorland Asche E-Book

Martin Cereza

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Beschreibung

Die Alleinerbin eines gigantischenVermögens verschwindet aus dem Internat in Luzern. Eine Spur führt auf die Kanareninsel Teneriffa. Theres Moor überredet ihren Freund, den Schriftsteller Linus Gräber, ihr bei der Suche nach dem Mädchen, zu dem sie eine geheimnisvolle Beziehung aufgebaut hat, behilflich zu sein. Auf der herrlichen Insel des ewigen Frühlings geraten sie in das Fadenkreuz skrupelloser Geschäftemacher. Ein gefährliches Spiel im Dunstkreis von Diamantenschmuggel und verloren geglaubter Familienbande nimmt seinen verhängnisvollen Lauf. Nach "Moorland Tod" bringt martin cereza mit diesem Folgeroman einen Thriller auf den Markt, der keinen Leser kalt lässt. Fesselnde Erzählkunst - knisternde Hochspannung - grandiose Wendungen. Krimi-Genuss vom Feinsten.

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martín cereza

wurde 1951 in Wörschach/Steiermark geboren. Er lebt mit seiner Familie in Kössen/Tirol.

Seine bisher erschienen Werke

Blaueis Tod

Rotglut Tod

Rachsucht Tod

Moorland Tod

Packende Thriller aus der Feder eines Insiders, der weiß, wovon er schreibt.

Inhaltsverzeichnis

Epilog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Epilog

Raffiniert angeordnete Lichtquellen schaffen Gemütlichkeit, verbreiten angenehme Wärme. Im Regelfall entsteht ein wohliges Gefühl behaglicher Geborgenheit.

Im Regelfall.

Die Ausnahme bilden gerichtsmedizinische Institute. Reihen von Neonleuchten werfen ein geradezu gespenstisches Licht auf weißgeflieste Böden und Wände.

Blank gescheuerte Seziertische, auf deren Ablagen Werkzeuge liegen, die ihren Ursprung in einer Tischlerei haben könnten. Unzählige Schalen, Gläser und Kleinzeug, überschattet von feinem Desinfektionsgeruch, lassen keine wohligen Gefühle aufkommen.

Schaurige Stimmung befällt den Besucher.

Mit etwas Glück liegt auf keinem der Tische ein bedauernswerter Leichnam, bedeckt mit weißem Laken. Diese befinden sich dann eher in den Tiefkühlboxen im angrenzenden Raum.

Prof. Dr. Adalbert Schropper, zuständig für rechtsmedizinische Untersuchungen und gerichtlich angeordnete Obduktionen bei ungeklärten und nicht natürlichen Todesfällen, schritt aus diesem Raum kommend durch die automatische Schiebetür.

In den Händen trug er eine Edelstahlwanne von der Größe eines Wäschekorbes.

Zielstrebig eilte er auf die neben einem Seziertisch wartenden Männer zu, stellte die Wanne ab und streifte die dünnen Schutzhandschuhe von den feingliedrigen Händen.

»Was Sie hier vor sich sehen, ist der klägliche Rest zweier ehemals menschlicher Wesen. Zusammengetragen auf dem von Ihnen untersuchten Tatort. Im Wesentlichen ist es nichts anderes als Asche, ähnlich jener, wie sie in Krematorien in Urnen gefüllt wird, nachdem die menschliche Masse zuvor bei 850 °C verbrannt wurde. Unsere Aufgabe besteht darin, durch systematische Analysen an Leichnamen die Todesursache der Opfer zu bestimmen.

Dieses ist im gegebenen Fall mehr als beschränkt, zumal so gut wie kein analysenfähiges Gewebe vorhanden ist.

Resultat: Beide Personen sind bis zur vollkommenen Unkenntlichkeit verbrannt. So weit zerstört, dass, vereinfacht dargestellt, eine verlässliche DNA-Analyse nicht erstellt werden kann.

Wie bereits erwähnt, waren die Körper einer enormen Hitzeeinwirkung ausgesetzt, die zum vorliegenden Zustand geführt hat. Es ist uns nicht möglich, eine Identifizierung auf Grundlage dieser Rückstände wissenschaftlich fundiert vorzunehmen, zumal auch keine Gebissanalyse durchgeführt werden kann. Wir werden versuchen, in den folgenden Laboruntersuchungen weitere Erkenntnisse zu erlangen. Eines aber vorweg meine Herren. Machen Sie sich keine großen Hoffnungen. Zu neunundneunzig Prozent werden diese Untersuchungen erfolglos verlaufen.«

Die beiden Polizeikommissare betrachteten nachdenklich die kleinen Aschenhaufen in der Wanne.

»So oder so ähnlich haben wir uns das vorgestellt, Herr Professor. Zum Glück konnte persönlicher Schmuck sichergestellt werden, welcher eindeutig eine Identifizierung zulässt. Die zweite Person bleibt uns ein Rätsel, bislang zumindest.

Nach dem derzeitigen Stand handelte es sich bei dem Brand um einen Unglücksfall, verursacht durch eine Gasexplosion mit enormer nachfolgender Hitzeentwicklung, ausgelöst durch eine Art von Brandbeschleuniger. Auch hier ist eine Analyse bislang ergebnislos verlaufen.

Für uns wäre wichtig gewesen, die Identität beider Personen zweifelsfrei festzustellen. Vorerst vielen Dank für Ihre Bemühungen. Die Unfalltheorie ist so gut wie sicher, der Fall wird nach Vorliegen der abschließenden Laborergebnisse als erledigt abgelegt werden. Einen schönen Tag noch.«

Durch das hohe Sprossenfenster beobachtete Prof. Dr. Schropper die beiden Männer, die im dunklen Dienstwagen das Areal verließen.

Er griff zu einem altmodisch wirkenden Standtelefon, wählte und wartete auf die Verbindung.

»Ich bin’s. Die Sache ist erledigt, der Köder wurde angenommen.

Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, alles wie geplant verlaufen. Viel Glück mein Freund.

Ach ja, noch etwas. Ich hoffe du hast die Eier im Regal verstaut, wie vereinbart. Heute ist mein allerletzter Arbeitstag, ich verabschiede mich in den Ruhestand. Dieses Telefon wird abgemeldet, du kannst mich nicht mehr erreichen. Alles Gute.«

Der Professor war bester Laune, schnappte sich sein Mobiltelefon und wählte.

»Helvetica-Confido&Filli, Guten Tag! Wie können wir Ihnen helfen?«

»Guten Tag, ich benötige bitte eine Kontoabfrage. Meine Zugangsdaten lauten…

1

Das Gewitter traf Puerto de la Cruz, die Hafenstadt im Norden der Kanareninsel Teneriffa, mit ungewöhnlicher Heftigkeit.

Seit dem späten Nachmittag hatten die dunklen Wolken träge über den Hängen des mächtigen Pico del Teide gehangen. Der schaurig schöne Vulkan auf der Insel des ewigen Frühlings, wie Alexander von Humboldt 1799 das wunderbare Eiland im Atlantischen Ozean einst getauft hatte, war nicht nur ein Wahrzeichen, sondern auch der Wettermacher auf Teneriffa. Und so hatte niemand dem Treiben hoch oben in den Bergen Beachtung geschenkt, zumal sich die Wolken im Regelfall auflösten, unwiederbringlich von den ständigen Passatwinden zerrieben wurden.

Nicht so am heutigen Tag.

In der Abenddämmerung schlugen die Naturgewalten unerbittlich zu.

Orkanartige Windböen erfassten Zelte und Buden der Schausteller auf der weitläufigen Explanade del Muelle und wirbelten sie achtlos weggeworfenen Zeitungsblättern gleich durch die Luft. Puppen, Teddys, Plüschtiere aller Art sowie Spielzeug trug der Sturm über die nahe Pier in den aufgewühlten Atlantik.

Das Chaos war über die fröhlichen Menschen am Rummelplatz gekommen. Innerhalb kürzester Zeit versagte die Stromversorgung. Ringelspiele, Achterbahn und Autodrom standen still. Menschen kreischten in den Sitzkörben hoch über dem schwarzen Asphalt der Esplanade.

Wer konnte, brachte sich unter die schweren Lastwagen der Betreiber in Sicherheit oder rannte in Richtung Plaza del Charco, um in den engen Gassen Unterstand zu suchen. Andere legten sich im Schutze der mächtigen Steinmauer an der Pier auf den Boden, die Hände schützend über Kopf gefaltet.

Urplötzlich setzte heftiger Hagelschlag ein. Eisige Körner in der Größe von Haselnüssen trommelten auf die kleinen Metalltische der umliegenden Cafés und gaben dem makabren Schauspiel einen geradezu kriegerischen Anstrich. Das bedächtig kreisende Licht des Faro de Puerto de la Cruz, des Leuchtturmes an der Explanade del Muelle war die einzige Lichtquelle. Unmittelbar nach dem Stromausfall war dessen Versorgung auf Aggregat umgestellt worden. Die starken Scheinwerfer zogen makabre Linien in das Durcheinander auf der Explanade. Unzählige Sirenen der Einsatzkräfte übertönten das Kreischen der verängstigten Menschen. Binnen kürzester Zeit waren die Straßen rund um Charco und Playa de Muelle voll von Rettungswagen, Polizeifahrzeugen und Feuerwehrtrucks. Helfer rannten mit Koffern und Tragen durch den strömenden Regen.

So schnell das Gewitter gekommen war, verzog es sich auf den Atlantik hinaus. Die Einsatzkräfte kümmerten sich um einige verletzte Personen, während die Schausteller die eingekehrte Ruhe nutzten, um ihr Hab und Gut einzusammeln, so weit dies noch möglich war.

Alejandro Vivas hatte es sich in der Stille nach dem Sturm auf dem massiven Fundament des Leuchtturmes bequem gemacht.

Das schulterlange klitschnasse Haar bedeckte teilweise sein Gesicht, welches gelangweilt die Vorgänge auf dem Rummelplatz verfolgte.

Der Sturm hatte auch ihn überrascht, er hatte sich gerade noch in den schützenden Unterbau des Fargo retten können, wo er zwar nass wie eine Schiffsratte geworden war, aber geschützt von den herumfliegenden Teilen das Ende des Unwetters abwarten konnte. Gemeinsam mit seinem Hund Chico, der ängstlich an seiner Seite kauerte, ein vierjähriger Mischling, dessen Ahnen vermutlich Pinscher oder Dobermänner waren. Sein kurzes glattes Fell und die rotbraune Farbgebung wiesen jedenfalls darauf hin. Alejandro hatte das Tier halb verhungert neben der Autobahn bei Los Realejos gefunden. Ohne Halsband, völlig verdreckt und verängstigt, hatte er ihn eingefangen und gesund gepflegt. Seit dieser Zeit wich Chico nicht von seiner Seite.

Sie wohnten zusammen in einem alten Wohnwagen, der auf dem ungenützten Platz zwischen den Häusern der Calle P. Mequinez und der Explanade, direkt neben dem öffentlichen Campingplatz vor sich hin rostete.

Ein deutscher Urlauber hatte den Wagen vor Jahren zurückgelassen. Er wollte die Kosten für die Fähre sparen und hatte das alte Gefährt hier entsorgt.

Alejandro, von Beruf Tischler aus Barcelona, zog den Camper aus dem öffentlichen Gelände, stellte ihn direkt daneben auf einem verwilderten Stück Land ab und renovierte sein neues Heim, so gut er konnte. Strom holte er sich von einem nahen Verteilerkasten, wo er ein Kabel so geschickt angeschlossen hatte, dass es bisher niemand entdeckt hatte. Insgeheim war er davon überzeugt, dass die Monteure der Stadtwerke längst wussten, dass sich hier jemand illegal mit Energie versorgte, aber ob der geringen Menge einfach darüber hinwegsahen.

Duschmöglichkeiten fand er im nahen Fußballstadion oder am Playa Jardin.

Alejandro war Lebenskünstler im wahrsten Sinne des Wortes. Er lebte ein freies Leben, liebte die Kunst, war ein Tausendsassa in Bezug auf Straßenmusik, Asphaltmalerei, Graffiti und ein glücklicher Mensch, der ohne große Probleme durch den nicht immer leichten Alltag flanierte.

»Es ist spät geworden, Chico, lass uns nach Hause gehen.«

Chico sprang auf, wedelte freudig mit der kurzen Rute und spurtete über den freien Platz in Richtung Kaimauer.

An deren Rand stoppte er und verbellte lautstark die Krabben, welche zu Hunderten die riesigen Wellenbrecher aus Beton bevölkerten.

So machte er das immer, wenn sie hier am Kai bummelten. Er sprang die breite Mauer entlang, bildete sich ein, die Tierchen auf den glatten Klötzen im rauschenden Atlantik ärgern zu können. Mit wenig Erfolg. Sie beachteten ihn gar nicht und zogen gemächlich ihre Kreise. Heute war das anders.

Chico verharrte an einer Stelle, bellte aufgeregt, wobei er sich wiederholt zu Alejandro umdrehte, als wolle er ihn auf etwas Besonderes im Wasser aufmerksam machen.

»Lass die armen Viecher in Frieden und komm jetzt. Hast du nicht gehört, Chico? Hierher sage ich!«

Chico gehorchte diesmal nicht, was selten vorkam, und Alejandro veranlasste bis zum Rand der Mauer vorzulaufen. Sein Blick fiel auf die gewaltigen Wellenbrecher die lose übereinander geworfen von den heftig rauschenden Wogen umspült wurden. Weiße Gischt spritzte ihm ins Gesicht. Er wischte das salzige Meerwasser aus den Augen und versuchte im Gewirr der Betonklötze auszumachen was Chico so viel Aufregung bescherte. Im brackigen Wasser dümpelten allerlei Dinge die der Sturm weggetragen hatte, nichts davon schien von Wichtigkeit. Doch dann sah er es plötzlich.

Der kreisende Lichtkegel des Faro beleuchtete kurz die gespenstische Szene.

Auf einem der oberen Betonwürfel lag der Körper einer jungen Frau.

Ein eisiger Schauer rieselte über seinen Rücken. Chico saß winselnd neben ihm, blickte ihn treuherzig an, als wollte er sagen.

Mach endlich etwas, hol das Mädchen raus!

Sie bewegte sich nicht.

War das Mädchen tot?

Alejandro blickte sich gehetzt um. Die Explanade del Muelle lag verlassen da. Einige Autos, keine Menschenseele, nur weit hinter dem Leuchtturm tobte das Leben im hellen Licht des Rummelplatzes, wo der Stromausfall behoben schien.

Sein Auge fiel auf die Gestalt knapp zwei Meter entfernt. Das linke Bein zuckte, wurde leicht angezogen.

»Sie lebt Chico! Das Mädchen lebt, wir müssen ihr helfen!«

Chico winselte leise, wohl wissend, in welche Gefahr sich Alejandro begeben musste. Da war sie wieder, die Bewegung. Ein Arm zuckte leicht, sie versuchte, den Kopf zu heben. Alejandro zögerte nicht länger. Beherzt sprang er auf den Block hinab und wäre beinahe mit den alten Tennisschuhen auf dem glitschigen Stein ausgerutscht. Im letzten Moment konnte er sich an der Kante des Nachbarklotzes festhalten. Ein Sturz ins Meer hätte fatale Folgen gehabt, den sicheren Tod bedeutet. Er zog die Schuhe aus, warf sie zurück auf die Mauer und kniete barfuß neben dem zitternden Körper nieder.

Mit einem Ohr versuchte er am Rücken den Herzschlag zu fühlen. Vergeblich. An der Halsschlagader hatte er mehr Erfolg.

Hier fühlte er kräftigen Puls. Jetzt kam auch ein gurgelndes Stöhnen aus dem Mund der Verunglückten. Mühsam gelang es ihm, den Körper zur Seite zu drehen, einen Arm stützend unter den Schulterblättern zu platzieren und dem Mädchen in das ausgesprochen hübsche Gesicht zu blicken. Über dem rechten Auge gab es ein Cut, das sich verkrustet hatte, ansonsten konnte er keine Verletzungen feststellen.

Er tätschelte behutsam die blassen Wangen.

»Hola! Despierta, chica…Aufwachen, Mädchen! Hallo!«

Nach dem dritten Versuch öffnete sie ihre Augen, starrte ihn verwirrt an.

Jetzt erkannte er sie. Am frühen Abend war er auf der Plaza del Charco gewesen, dort hatte sie an einer der Bars gestanden, mit anderen Jugendlichen. Deutsche, ja es waren junge Leute aus Deutschland gewesen, er hatte es an der Sprache gehört.

Wie war sie hierher gekommen? Und warum war sie gestürzt? Hatte sie jemand gestoßen?

»Kannst du mich verstehen? Sprichst du spanisch?«

Sie nickte leicht mit dem Kopf, ihre blonden Haare klebten an den Wangen und plötzlich begann sie zu weinen.

»Si, si, hablo un poco de español, ja, ich spreche ein wenig spanisch«, schluchzte sie und sah ihn dabei flehentlich an.

»Gut, das ist gut. Ich werde dich jetzt auf die Mauer heben. Wenn du Schmerzen hast, sagst du mir Bescheid.«

Chico stand am Rande der Kaimauer und klagte wehmütig ob der Situation seines Herrn. Alejandro sprach beruhigend auf ihn ein, während er versuchte, das Mädchen hochzuheben.

Sie war erstaunlich leicht für ihre Größe.

Unter ihrer Bluse konnte er die dünnen Rippen spüren.

Gott ist die mager, ging es ihm durch den Kopf. Seine Berührungen bereiteten ihr keine Schmerzen, sie schien nicht weiter verletzt zu sein. Breitbeinig suchte er Halt, fasste sie im Schritt am Oberschenkel sowie unter der Schulter, hob sie hoch und schwankte leicht. Verdammt, jetzt nur nicht wegrutschen redete er sich ein. Mit Schwung streckte er sich nach oben, beugte sich vor und legte das Mädchen nicht gerade behutsam am Rand der Kaimauer ab. Schmerzvoll schrie sie auf.

Er wusste nicht, ob es wirklich der Schmerz war oder Chicos feuchte Zunge, die über ihr verweintes Gesicht strich.

»Lass das, Chico, sie hat Angst vor dir«, schimpfte er.

Es war nicht einfach, den Abstand zur Mauergrenze zu überwinden.

Er schlug sich ein Knie wund und konnte den Herrn dafür nicht loben. Im Gegenteil, ein leiser Fluch kam über seine Lippen. Nach Atem ringend setzte er sich auf den rauen Beton. Chico hatte die Schleckerei eingestellt, dafür schubste er den Körper des Mädchens wieder und wieder, bis sie sich aufrichtete.

Im dämmrigen Restlicht der nahen Stadt sahen sie sich an.

Zwei Menschen und ein Hund, völlig durchnässt, noch immer geschockt, um nicht zu sagen verwirrt.

»Gracias, ich danke dir. Ich bin Julia.«

Sie hielt ihm die schmale Hand hin, die er leicht schüttelte.

»Alejandro, ich bin Alejandro, der da ist Chico, mein Partner und Freund.«

Zum ersten Mal überzog ein feines Lächeln ihr Gesicht.

»Dir muss kalt sein, Julia. Ich schlage vor, wir gehen zu uns nach Hause, dort ist es warm, ich kann dir Kaffee machen oder was immer du willst, auch Essen habe ich da. Kein Problem. Was meinst du?«

Chico schien ihn verstanden zu haben, er war schon auf den Beinen, lief ein Stück voraus, kam wieder zurück.

»Wo ist euer Heim? Ich will nicht in die Stadt zurück!«

Ihre Stimme hatte einen hysterischen Klang, schrill beinahe.

In den Augen flimmerte blanke Angst. Zusammengerollt saß sie vor ihm, die Hände fest um die angezogenen Knie geschlungen.

»Du brauchst keine Angst haben, Julia. Wir wohnen gleich um die Ecke, neben dem Campingplatz, dort steht unser Haus nicht wahr, Chico?«

Der bellte zustimmend und rannte wieder ein Stück voraus. Während sie noch überlegte, war Alejandro aufgestanden, hatte sich seine Schuhe übergestreift und schickte sich an zu gehen. Sie war innerlich zerrissen, er konnte es an der Mimik erkennen. Irgendetwas war ihr zugestoßen. Nicht allein der Sturz auf die Wellenbrecher, es musste etwas Schlimmeres gewesen sein, etwas, das ihrer Seele wehgetan hatte.

Sehr weh.

Sie begann wieder leise zu schluchzen.

»Bitte warte auf mich, Alejandro!«

Aus dem Sturmchaos war eine wunderschöne sternenklare Inselnacht geworden. Wie so oft folgte dem Starkregen eine reinigende Wohltat für Luft und Umwelt in der Hafenstadt am Fuße des Valle de La Orotava. Der Wohnwagen hatte das Unwetter ohne Schäden überstanden. Alejandro sammelte die Kunststoffstühle ein, die auf die gegenüberliegende Straßenseite getragen worden waren, und platzierte sie wieder auf seiner Terrasse.

Sie bestand aus einer einfachen Einfriedung aus Steinen, schwarzem Sand vom Playa Jardin und einigen Kakteen.

Die wenigen Blumentöpfe hatte der Sturm umgeworfen. Das Sonnensegel hatte er wohlweislich vorher eingerollt und verstaut. Die Tür war nicht versperrt, warum auch, hier klaute niemand etwas.

Julia blickte sich interessiert um.

Sie schien überrascht ob der tadellosen Ordnung im Inneren des Wagens. Es gab eine kleine Kochnische mit Spüle und Einbaukühlschrank. Einen winzigen Waschraum samt Campingtoilette sowie eine breite Sitzecke, die zu einem ausladenden Doppelbett umfunktioniert werden konnte. Zwischen dieser und der Küche war eine Art Sofa eingebaut, das groß genug war, um einer Person Platz zum Schlafen zu bieten.

Alejandro öffnete die schmalen Kippfenster. Sofort strömte klare Frischluft herein. Chico lag in seinem Korb neben der Tür zur Toilette. Im Maul hatte er eine kleine gelbe Kunststoffente, die quietschende Laute von sich gab.

Er wollte mit Julia spielen.

»Du bist Deutsche, nicht wahr?«

Julia hatte sich an den klapprigen Tisch gesetzt und befühlte die Wunde auf ihrer Stirn. Sie antwortete nicht, blickte stumm in ein imaginäres Loch.

»Ich habe dich gesehen, an der Heiniken-Bar am Charco, mit einigen Männern. Ihr unterhieltet euch auf Deutsch. Bist du Urlauberin?«

Langsam hob sie den Kopf. Die dunklen Augen schimmerten feucht.

»Ich bin keine Deutsche. Ich bin auch keine Touristin. Ich arbeite auf der Insel. Im Süden, in der Nähe von Adeje. Meine Heimat ist Österreich. Austria, verstehst du? Vienna, Salzburg und so?«

»Ich weiß, wo Österreich ist, ich war schon dort, in Wien. Einen Sommer lang machte ich Straßenmusik in der Innenstadt. Stets verfolgt von der Polizei. Man ist dort viel strenger mit Straßenkünstlern als hier. Aber die Leute sind sehr nett und geben gerne eine Spende. Woher in Österreich kommst du, Julia?«

»Aus Graz. Kennst du Graz?«

»Nein, nie gehört. Ich kenne nur Wien und Salzburg.«

Sie sah ihn lange an. Er hielt dem prüfenden Blick stand, schmunzelte und begann schließlich zu lachen. Angesteckt von seiner Freundlichkeit lachte sie auch. Gemeinsam brachen sie in schallendes Gelächter aus, Chico trug mit wölfischem Heulen zum lustigen Konzert bei.

Als sie sich beruhigt hatten, schloss Julia die Fenster, zog die Vorhänge vor und versperrte die Tür. Alejandro setzte zu einer Frage an, sie kam ihm zuvor.

»Ich werde von sehr gefährlichen Männern verfolgt. Nein, gejagt! Im Chaos des Sturmes bin ich ihnen entwischt. Ich rannte die Kaimauer entlang. Auf dem holprigen Betonbelag stolperte ich und stürzte über den Mauerrand auf die Wellenbrecher. Ich muss bewusstlos gewesen sein.

Zum Glück seid ihr gekommen, du und Chico. Ihr habt mein Leben gerettet. Ich bin euch zu großem Dank verpflichtet. Bitte Alejandro, lass mich diese Nacht bei dir bleiben, ich habe Angst, große Angst!«

Ihre bebende Hand strich liebevoll über Chicos Fell, der es sich zu ihren Füßen bequem gemacht hatte.

Über ihr sonnengebräuntes Gesicht rannen neuerlich dicke Tränen, tropften auf den Boden und wurden von Chico aufgeleckt.

2

Schneeflocken tanzten im Licht der LED-Leuchten, die meinen Vorgarten ausleuchteten.

Der Winter war dieses Jahr schlagartig gekommen. Nach schweren Stürmen mit starken Regenfällen floss eine Kaltfront aus Nordwest ein, die aus dem Regen über Nacht Schnee fabrizierte, und das nicht zu knapp.

Ich blickte durch das Sprossenfenster meines Wohnzimmers direkt zum beleuchteten Kamm der Berge, wo die Lampen unzähliger Schneekanonen leuchteten und zusätzlich die Pisten mit dem weißen Gold befeuerten. Jetzt galt es die Unterlage für die gesamte Wintersaison zu schaffen, bis Ende März verlangten die Gäste nach bestens präparierten Abfahrten. Jahr für Jahr wurden Unmengen an Energie verbraucht, um die Bedürfnisse der Urlaubsgäste zu befriedigen. Jahr für Jahr mehr Gäste, mehr Hotelzimmer, mehr Verkehr, mehr Energiebedarf und mehr Eingriffe in die Natur.

Immer wieder befasste ich mich mit diesen Gedanken, wie sich diese oftmals brutale Ausbeute von Mensch und Umwelt letztlich auf die Gesellschaft der Zukunft auswirken würde. Ich nahm mir vor, darüber ein Buch zu schreiben. Eine schwierige, nicht ungefährliche Angelegenheit.

Deckte man die Wahrheit schonungslos auf, lief man Gefahr, so manchem der Mächtigen im Lande gehörig auf den Schlips zu treten.

Zurzeit war es kein Thema. Ich hatte gerade mein neuestes Werk veröffentlicht.

Das Buch über Ägid Plok, einen vermeintlichen Mörder, der viele Jahre unschuldig im Gefängnis verbracht hatte und am Ende von dem Mann, der ihn dorthin gebracht hatte, erschossen worden war sowie über die Morde an zwei jungen Urlauberinnen und der Schwester meiner großen Liebe Theres, war im Begriff ein Bestseller zu werden.

Ich hatte beschlossen, vorerst einmal auszuspannen. Nach den turbulenten Ereignissen des letzten Sommers galt es zur Ruhe zu kommen. Rund um das Hochmoor in der Nähe unserer Wohnsitze war ich in das größte Abenteuer meiner Zeit als Autor verwickelt worden und gerade noch einmal mit dem Leben davongekommen.

Theres und ich planten eine Urlaubsreise, eine Kreuzfahrt, die uns die Schönheiten der Karibik näher bringen sollte. Das war unser Traum. Daran arbeiteten wir jeden Tag.

Jetzt galt es erst einmal den Winter daheim zu genießen. Morgen würde ich meine Skier zum Service bringen. Spätestens übermorgen ging es dann auf die Piste, zumal herrliches Winterwetter vorhergesagt war und in dieser Zeit vor Weihnachten noch ausreichend Platz im Skigebiet war.

Mein Telefon schrillte.

»Hey Theres, mein Herz. Wo bist du?«

»Gerade fertig geworden mit dem Unterricht. Ich fahre jetzt nach Hause, kommst du abends zum Essen? Ich habe einige Leckereien eingekauft, du wirst überrascht sein. Außerdem habe ich etwas zu besprechen. Also, kommst du vorbei?«

»Nichts lieber als das. Pass auf. Die Straßen sind glatt. Wir sehen uns später.«

Theres verdiente sich ihr Brot mit Vorlesungen an der Fachhochschule über Kriminalitätsentwicklung, Kriminalitätstheorien, Psyche und Verhalten von Straftätern. Sie war akademisch ausgebildete Psychoanalytikerin. Wir lebten jeder für sich im eigenen Haus, etwa zehn Kilometer voneinander entfernt. Bisher hatten wir uns nicht einigen können, wer zu wem ziehen sollte. Das war auch gut so. Dieser Abstand gab uns eine gewisse Freiheit, das Gefühl von Ungebundenheit.

Das Geschehen rund um Ägid Plok und die Mordermittlungen im Sommer hätten uns beinahe für immer entzweit.

Wir hatten uns ausgesprochen, wieder gefunden, für immer…,wenn es nach mir ginge.

Ich liebte diese Frau. Ja, ich liebte Theres, so wie sie war.

Die Fahrt durch den Winterwald gestaltete sich romantisch. Auf der festen Schneefahrbahn kam ich zügig voran. Als es bergauf ging, das Haus von Theres stand auf neunhundert Meter Seehöhe, war ich froh ob meines Allradwagens.

Vor dem Gebäude lagen gut dreißig Zentimeter Neuschnee. Ich stellte den Wagen ab, stapfte zum Schuppen neben dem Carport und startete die dort abgestellte Schneefräse. Bald war der kleine Platz vom Schnee befreit und ich begab mich ins Haus, um im Kamin ein Feuer zu entfachen.

Der Schneefall in dieser Höhenlage war intensiver, dicke Flocken verzauberten die Landschaft rund um Hochmoor und See, an dessen Ufern die Lichter der großen Hotels glitzerten.

Bald würde es auf den Straßen nicht mehr so ruhig zugehen. Sobald die ersten Feriengäste eintrudelten, war es vorbei mit Ruhe, Beschaulichkeit und Winterromantik. Dann begann das harte Geschäft um Geld und Profit. Das ließ sich nicht vermeiden. Die gesamte Region lebte nun einmal vom Tourismus mit all seinen Vor-und Nachteilen.

Tief unter mir konnte ich die Scheinwerfer von Theres’ Wagen erkennen, der sich langsam durch den Bergwald emporarbeitete. So lange sich die Lichter bewegten, war alles gut, standen sie still, gab es Probleme. Oft genug musste sie Schneeketten anlegen, um ihr Ziel am Berg zu erreichen. Meinen Vorschlag, ihren Mini gegen ein gebirgstaugliches Allradfahrzeug zu tauschen, hatte sie bislang stets abgewiesen.

»Ich will ein Auto fahren, ein schickes Auto, Linus, keinen Panzer, okay?«

Das waren ihre Worte gewesen. Eigensinnig und stur, meine Theres.

Das Kaminfeuer war voll entbrannt, als sie zur Tür hereinkam. Ihr dichter halblanger Haarschopf war durchsetzt von feinen Fäden aus Eis und Schneeflocken. Im Schein des Feuers leuchteten ihre herrlich blauen Augen wie zwei aus einem Gletscher gebrochene Eiskristalle. Und doch verbreitete ihr Auftritt umgehend ein Gefühl der Wärme und Heimeligkeit.

»Na, Eisprinzessin? Ohne Ketten durchgekommen? Wieder einmal Glück gehabt.«

»Das hat mit Glück wenig zu tun, mein Lieber, es ist einfach nur Können, verstehst du? Jahrelanges Training, gefühlvolles Fahren, wie nur wir Frauen es drauf haben und ein Wagen, der mich nie im Stich lässt.«

Sie lachte schnippisch, stellte die Einkaufstüte ab, bevor sie mir um den Hals fiel und einen eisigen Kuss auf meinen warmen Lippen platzierte.

»Soll ich uns einen heißen Tee oder lieber einen steifen Grog bereiten?«

»Nichts davon, Linus. Es gibt frische Thunfischsteaks mit Avocados und Naturreis, dazu passt kein Tee. Ich schlage vor, du suchst im Schuppen nach der richtigen Flasche. Das ist besser als dein Tee. Was denkst du, mein Großer?«

Im Schuppen gab es so etwas wie einen kleinen Weinkeller. Eigentlich nur ein gut isolierter Verschlag, der die gelagerten Weine Sommer wie Winter gleichmäßig temperiert hielt.

Ich entschied mich für einen Welschriesling aus der Südsteiermark, ein herrlich trockener Jahrgang, der dem Thunfisch und mir Freude machen würde.

Zurück in der Küche war Theres dabei, den Naturreis zu bereiten. Ich würzte den Thunfisch, schnitt die Avocados in Streifen und salzte saftige kleine Honigtomaten ein. Alles war bereit. Jetzt noch die Steaks beidseitig ganz kurz auf den heißen Grill, fertig war unser kleines Dinner. Mit etwas Weißbrot, einem Dip gemixt mit würzigen Kräutern und dem Wein aus der Steiermark ein Gaumenkitzel der besonderen Art.

Nachher auf dem Sofa, das flackernde Kaminfeuer neben uns, gönnten wir uns einen winzig kleinen Cognac zu einer Crème-brûlée die Theres aus dem Delikatessenladen mitgebracht hatte.

»Am Telefon sagtest du etwas von einer Überraschung. Raus damit.«

»Du hörst mir nie genau zu. Ich sagte, du würdest über die Leckereien überrascht sein. Und ich hätte etwas mit dir zu besprechen, das habe ich gesagt.«

»Also gut, dann eben so. Ist ohnehin dasselbe.«

Ihr Gesicht war plötzlich ernst geworden. Ich sah ihr an, dass irgendetwas sie bedrückte. Zu gut kannte ich mittlerweile ihre Launen und Gefühlsausbrüche. Ich rechnete mit einem Problem an der Uni, es wäre nicht das erste Mal, dass Theres, ob ihrer Ecken und Kanten, wieder einmal Staub aufgewirbelt hätte.

Diesmal kam es anders.

Ganz anders.

»Ich will nicht lange herumdrücken. Ich habe eine Tochter, Linus. Sie ist achtzehn Jahre alt und seit mehr als einem Monat verschwunden.«

Trotzköpfig saß sie da, sah mich direkt an und wartete auf meine Antwort, während sich in ihren schönen Augen Tränen sammelten, die bald ihren Weg über ihre Wangen suchen würden.

»Eine Tochter? Du hast eine Tochter? Das ist allerdings eine Überraschung, eine schöne noch dazu. Aber warum erfahre ich das erst jetzt?«

Der Damm brach.

Theres, die Stolze, schniefte laut, lehnte sich an meine Schulter und begann zu weinen.

3

Alejandro drehte nachdenklich das Weinglas in seinen Handflächen.

Billiger Rioja schimmerte im Schein zweier Kerzen am Klapptisch.

»Sind diese Männer, von denen du gejagt wirst, wie du es ausdrückst, dieselben, mit denen ich dich an der Bar gesehen habe? Ich hatte den Eindruck, es seien Freunde von dir?«

»Oh, nein! Das sind nette Leute die ich im Bus kennengelernt habe. Urlauber aus Österreich. Sie haben mit meiner Sache nichts zu tun, hatten den Loro Parque besucht und sind jetzt bestimmt wieder im Bus Richtung Süden unterwegs. Die Jungs machen Urlaub in Playa de las Américas. Ich suchte in Puerto de la Cruz nach einer Adresse. Danach traf ich sie wieder an dieser Bar, reiner Zufall.«

Erneut wanderte ihr Blick in weite Ferne, als habe ein rätselhafter Gedanke ihr Inneres erfasst.

»Und die Kerle…, ich meine die Männer, vor denen du solche Angst hast, wo sind die jetzt?«

»Ich habe keine Ahnung. Sie tauchten plötzlich auf, standen neben mir und nahmen mich in die Mitte.«

Jäh begann sie wieder zu schluchzen, die Weinkrämpfe ließen den schmalen Körper beben.

Alejandro betrachtete sie geduldig. Chico hatte sich aufgesetzt, liebevoll leckte er ihre im Schoß gefalteten Hände.

»Lass dir Zeit, Julia, hier bist du sicher, keine Angst. Chico ist dein neuer Freund, er wird dich beschützen. Wir reden weiter, wenn du dich beruhigt hast. Einen Schluck Rioja? Der kann Wunder wirken. Ich hole ein Glas.«

Der Wein sorgte für Ruhe in ihrem Nervensystem. Sie begann zu erzählen. Ein Durcheinander aus spanisch und deutsch, Alejandro half mit Ausdrücken aus, ergänzte Sätze und ermutigte sie immer wieder weiterzumachen.

»Wie schon gesagt, ich komme aus Graz. Ich habe kein Elternhaus im eigentlichen Sinn. Mein Vater kümmerte sich bis zu seinem Tod so recht und schlecht um mich. Meine Mutter kenne ich nicht. Nach Vaters Tod bin ich aus dem Internat geflohen. Am Flughafen München kaufte ich mir das nächstbeste Stand-by-Ticket und landete vor drei Monaten auf Teneriffa.

Am Aeropuerto de Tenerife Sur traf ich zufällig Nico. Er ist der Sohn einer angesehenen Unternehmerfamilie in meiner Heimat. Man kennt ihn als Lebemann und Playboy, dessen Hauptaufgabe darin besteht, möglichst viel des Familienvermögens durchzubringen.

Der Clan besitzt neben Hotels in Österreich im Süden der Insel zwei Ferienanlagen mit unzähligen Apartments.

Nico tut so, als wäre er der große Manager dort. In Wahrheit gibt es einen Direktor, der alles im Griff hat. Nico ist also nur hier, um die Sonne, die Strände und die kanarischen Nächte zu genießen. Ich war überrascht, als er mich ansprach. Natürlich war ich froh, gleich Anschluss gefunden zu haben.

Was für ein Glück…, ein Angestellter hatte seinen Wagen zum Flughafen gebracht.

Wir fuhren ihm Porsche-Cabrio in die Stadt, aßen in einem tollen Lokal, tanzten in einer der angesagten Discos und landeten schließlich am Morgen in seinem Penthouse, hoch über dem Strand mit herrlichem Meerblick.

Ich war benommen, nicht alleine vom Alkohol. Nico hatte mich in einem Hinterzimmer zum allerersten Mal in meinem Leben Kokain schnuppern lassen. Die Wirkung war für mich ein Hammer, ich tanzte mich in einen Rausch der Gefühle, wie ich es bislang nie erlebt hatte.

So ging es einige Tage, ich lernte Freunde von ihm kennen, wir chillten tagsüber auf einer Jacht, tanzten die Nächte durch und lebten in Saus und Braus.

Heute weiß ich, dass alles ein gut vorbereitetes Spiel war. Ich dumme Kuh hatte mich in einen Kreis von Verbrechern einbinden lassen, ohne es zu merken.

Nach einer Woche fiel mir erstmals auf, dass zwei der anderen Mädchen nach Deutschland flogen und bereits nach drei Tagen wieder vor Ort waren.

Auf meine Frage, warum sie schon zurück seien, lachten sie und meinten, zu Hause sei es ihnen zu kalt geworden.

Nach einer weiteren Woche rückte Nico mit der Wahrheit heraus.«

Julia nahm einen kräftigen Schluck und strich sich eine Strähne aus der Stirn.

»Wir saßen beim Frühstück auf der Terrasse, als mir die ganze Wahrheit aufgetischt wurde, bei Schinken, Ei, Kaffee und Champagner.«

Nico hatte sich über meine Schulter gebeugt und einen Kuss auf meine Wange gehaucht.

»Fühlst du dich wohl auf der Insel, Julia? Ist alles, wie du es dir vorgestellt hast?«

Die süffisante Stimmlage und der zynische Ausdruck ließen mich aufhorchen.

»Du glaubst doch nicht meine Süße, dass es so weitergeht, nicht wahr? Nein, wird es auch nicht. Ab jetzt erwarten wir ein wenig Gegenleistung, verstehst du mich? Du wirst einen Auftrag für uns erledigen. Keine große Sache, ganz einfach.«

Ich fiel aus meiner Traumwelt wie ein fauler Apfel vom herbstlichen Baum. Mit einem Mal wusste ich, dass ich mich in eine Sache eingelassen hatte, die nicht so leicht zu beenden war. Mein erster Gedanke war Prostitution. Nico wollte mich auf den Strich schicken. Wie oft hatte ich von derlei Dingen gehört und gelesen. Ich dumme, dumme Ziege, ging es durch meinen Kopf.

Er schien meine Gedanken erraten zu haben.

»Keine Angst, Julia. Du brauchst nicht für uns Anschaffen, nein. Das ist nicht mein Stil. Auf dieser Stufe arbeite ich nicht. Du wirst für uns nach Wien fliegen. Mit einem der nächsten Touristenbomber fliegst du aus dem Urlaub nach Hause. Braun gebrannt und gut erholt. Wie die vielen anderen Gäste an Bord. Es gibt nur einen kleinen Unterschied. Der liegt am Gepäck, genauer gesagt am Handgepäck.«

Ich war irritiert. Was hatte er vor? Nach Hause fliegen über Wien? Ich wollte nicht zurück nach Österreich, von dort war ich abgehauen, um hier Arbeit zu finden.