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ZWEI VERMISSTE TEENAGER EIN MANN GESTEHT DIE MORDE DANACH SCHWEIGT ER ALS ER AUS DER ANSTALT AUSBRICHT GERÄT EIN DORF IN PANIK Im idylischen Ferienort am See verschwinden zwei Urlauberinnen spurlos. Als man am nahen Hochmoor Blutspuren findet, hat die Bevölkerung schnell einen Mörder zur Hand. Ägid Plok - Außenseiter im Dorf - wird beschuldigt. Doch war er wirklich der Mörder? Hochspannung in einem Top-Thriller von martin cereza.
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Seitenzahl: 403
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martín cereza
wurde 1951 in Wörschach/Steiermark geboren. Er lebt mit seiner Familie in Kössen/Tirol.
Seine bisher erschienen Werke
Blaueis Tod
Rotglut Tod
Rachsucht Tod
Packende Thriller aus der Feder eines Insiders, der weiß, wovon er schreibt.
Sechs Jahre zuvor…
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Gegenwart…
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Monate später…
Kapitel 39
»Sie dürfen hier nicht weiter, das Gelände ist gesperrt. Haben Sie Tomaten auf den Augen? Absperrbänder bedeuten: Kein Zutritt!«
Das Gesicht des Polizisten wirkte hart, in jeder Hinsicht. Die Wangen, wettergegerbt und narbig, waren von feinen rötlichen Adern durchwirkt, seine dunkle Regenjacke hing schlottrig am schlaksigen Körper. Er machte mich anscheinend nicht nur für das Sauwetter verantwortlich, sondern dafür, dass es ausgerechnet ihn getroffen hatte, im sumpfigen Moorland Wache zu schieben. Ich spürte die unverhohlene Abneigung, die sich schnell ändern würde, könnte ich ihm einen wärmenden Schnaps anbieten, dem er unter anderen Umständen nicht abgeneigt schien.
»Linus Gräber. Hofrat Alterbach erwartet mich.«
Unwillig nahm er eine in Folie geschweißte Liste zur Hand, schüttelte den Kopf und griff sich sein Funkgerät.
»Hier behauptet jemand der Einsatzleiter erwarte ihn. Ein Linus Keber.«
»Gräber, wie das Grab, nur mehrere«, berichtigte ich ihn.
Sein Blick sagte mir, dass ihn der Unterschied wenig kümmerte. Er lauschte eine Weile, wodurch sein Gesichtsausdruck jedoch nicht zugänglicher wurde. Dann akzeptierte er das knappe Okay aus dem rauschenden Gerät, verstaute es in einer Brusttasche der triefend nassen Jacke und winkte mich durch.
»Hinten, bei den Fahrzeugen«, schnappte er frostig.
»Herzlichen Dank, der Herr«, murmelte ich, ergriffen ob seiner umwerfenden Höflichkeit.
Das Schwemmland war in schier undurchdringlichen Nebel gehüllt, der sich nur so weit lichtete, um das feuchtkalte Moor erahnen zu lassen. Nach kurzem Blindflug sah ich die Polizeifahrzeuge auf einer Lichtung stehen. Es war der letzte befestigte Standplatz, ab hier ging nichts mehr, auch nicht mit Geländefahrzeugen. Ich wusste haargenau, wo ich mich befand, kannte ich das sumpfige Moorland schließlich wie meine Westentasche. Das diffuse Licht änderte nichts daran. Unzählige Stunden der Recherche hatte ich im Umfeld des streng geschützten Hochmoores verbracht.
Eine Polizistin winkte mich heran. Die breiten Räder des Wagens schlingerten über den Morast, bis ich einen Platz gefunden hatte, wo ich ihn relativ sicher abstellen konnte.
Ich stieg aus und streckte mich. Die Fahrt hatte sich hingezogen, viel Verkehr und lästige Staus hatten mir keine Pause gegönnt, zumal ich pünktlich sein wollte.
Doch nun war ich hier und gespannt darauf, was mich erwartete.
Der Hofrat hatte sich am Telefon über Einzelheiten nicht ausgelassen. Er hatte nur angedeutet, dass im Hochmoor ein Grab gefunden worden war, und er mir Gelegenheit bot, bei der Identifizierung und Ausgrabung dabei zu sein. Das war an sich nicht ungewöhnlich. Als langjähriger Polizeireporter hatte ich noch immer einen guten Draht zur Ermittlungsgruppe Mord bei der Kripo, obwohl ich den Job bereits vor Jahren an den Nagel gehängt hatte. Ich verdiente mein Brot mittlerweile als Autor von Kriminalromanen. Insbesondere die ungewöhnlichen Mordfälle waren mein Ding. Geistig labile Täter, bemitleidenswerte Opfer und schrullige Ermittler füllten in der Regel die Seiten meiner Werke.
Die Worte - Hochmoor, Grab, Mord - verband ich, und nicht nur ich, unweigerlich mit einem Mann.
Ägid Plok.
Der verurteilte Mörder saß seit zwei Jahren in der Vollzugsanstalt für psychisch kranke Straftäter in Sicherheitsverwahrung. Dort würde er auch für den Rest seines Lebens bleiben.
Er hatte die Morde an drei jungen Frauen gestanden.
Die Leichen von zwei der getöteten Mädchen waren bislang nicht gefunden worden. Direkt neben der Leiche seiner dritten und letzten Bluttat hatte man Plok gestellt und festgenommen.
Lag im hier gefundenen Grab im Moor eines der beiden vermissten Mädchen, so konnte es gut sein, dass auch die zweite junge Frau in der Nähe verscharrt worden war.
Die Auffindung und Identifikation würde endlich Licht in einen der größten Kriminalfälle der vergangenen Jahre bringen. Und ich durfte dabei sein, denn ich kannte nicht nur das Moor, sondern auch Ägid Plok. Ich hatte ein Buch über ihn, sein verpfuschtes Leben, seine Gräueltaten und sein krankes Gehirn geschrieben. Ich hatte es bislang nicht veröffentlicht. Jetzt schien die Zeit gekommen, um das letzte Kapitel einzufügen, dem Werk endlich sein lang erwartetes Schlusswort zu geben.
Ägid Plok, ein Außenseiter, ein Einzelgänger, ein Geächteter der Gesellschaft.
Zigeunergidi, so riefen ihn die Dorfbewohner, obwohl er keinesfalls ein Abkömmling dieser Volksgruppe war und wahrscheinlich nicht einmal wusste, was ein Zigeuner ist. Der zweite Teil des Namens war im Dialekt allerdings weit verbreitet. Ägidius oder Ägid, kürzte man auf dem Land zu Gidi ab. Seinen unsicheren Lebensunterhalt bestritt Plok von Jugend her, in der er einige Klassen Sonderschule absolviert hatte, als Gelegenheitsarbeiter. Schon bald verlegte er sich auf kleinere Diebstähle und Betrügereien. In den letzten Jahren verdächtigte ihn die Jägerschaft der Wilderei, wobei vor allem Rehe und Hasen in seinen tödlichen Fallen qualvoll verendeten. Das Gerücht, er verkaufe das Wildfleisch an heimische Gastronomen, wollte nicht verstummen, obwohl sich diese vehement dagegen verwehrten und immer wieder mit Anzeigen reagierten.
Plok lebte zurückgezogen in einer verwahrlosten Hütte, am südlichen Rand des Hochmoores. Von den Bewohnern der umliegenden Dörfer und Weiler im Schatten des Kalkgebirges gemieden, war er dort aber selten anzutreffen. Niemand konnte sagen, wo er sich aufhielt, sich herumtrieb, wenn man ihn wieder einmal wochenlang nicht zu Gesicht bekam.
Wie sieht ein Mördergesicht aus?
Plok kam der im einfachen Volk gebräuchlichen Vorstellung von einem Mörder sehr nahe. Zumindest stand es so in den diversen Blättern des Boulevards zu lesen.
SO SIEHT EIN BRUTALER MÖRDER AUS
So die reißerische Titelseite eines dieser Blätter, das für sich in Anspruch nahm, zu den meistgelesenen Zeitungen im Lande zu gehören.
Seine unheimliche Gestalt, eine groteske Laune der Natur, ließ die Menschen erschauern. Begegneten sie ihm, wandten sie sich angeekelt ab, ignorierten ihn, stellten ihn ins Abseits und wünschten sich insgeheim, dass er keiner aus ihrem Dorf wäre. Sein schmaler Kopf, lang wie der eines Maulesels, ruhte zwischen zwei riesigen, weit abstehenden Ohren. Die eng zusammen liegenden Knopfaugen wirkten leblos und kalt, als seien sie einem Teddy entnommen worden. Seine überlange Nase war krumm, weil mehrmals gebrochen. Der schmale lippenlose Mund, schien ständig hämisch zu grinsen. Geradezu gespenstisch wirkte die riesige Beule von der Größe eines Golfballes, im rechten Bereich der Stirn. Als hätte ihn ein Hammer mit voller Wucht getroffen. Wahrscheinlich war es aber nur ein angeborener Knoten. Speckige, weißgraue Haarsträhnen hatte er zu einem schlampigen Pferdeschwanz gebunden. Die ganze Erscheinung - wuchtig, beinahe zwei Meter groß, mit Armen, die erst kurz vor den Knien endeten - wirkte bedrohlich und unheimlich. Jedermann wusste über Ploks gewaltige Urkraft Bescheid, die er mehrmals in Schlägereien eingesetzt hatte. Immer waren die Gegner mit mehr oder weniger schweren Verletzungen im Spital, und er im Knast gelandet.
Seine ersten Mordopfer, die Schwestern Marie und Anna Höhl, ausgesprochen hübsche Mädchen, die eine Schauspielschule in München besuchten, waren an einem Samstagabend nicht nach Hause gekommen. Sie bewohnten übers Wochenende das Ferienhaus ihrer Eltern. Der schicke Bungalow residierte in Bestlage, auf einer leichten Anhöhe, mit herrlicher Sicht auf den malerischen See. Als sie sich sonntags nicht wie üblich bei den Eltern in München meldeten, lösten diese umgehend Alarm aus.
Eine verzweifelte Suche begann. Nach zwei Tagen fand man auf einem Zufahrtsweg zum Hochmoor die Handtasche von Marie. Wieder einen Tag später führte ein Suchhund das Team in das aufgelassene Betonwerk am südlichen Rand des Moores, nahe der Hütte von Ägid Plok. In einem Schuppen fand man eine alte Matratze, darauf Blutspuren und ein ledernes Halsband von Anna. Die Analysen waren eindeutig. Alle gefundenen Spuren stammten von den Höhl-Schwestern.
Das machte die ohnehin geringe Hoffnung, die Mädchen noch lebend zu finden, endgültig zunichte. Die aufgebrachte Bevölkerung schrie erbost nach Aufklärung. Angst und Misstrauen hatten sich im kleinen Dorf am See eingenistet.
Die furchtbare Situation für die Angehörigen, einen derart schweren Verlust gleich doppelt erleiden zu müssen, hielt die Medien nicht davon ab, ständig das Sommerhaus zu belagern. Gierig nach möglichen Sensationsnachrichten für die diversen TV-Sendungen oder Schmierblätter.
Erste Stimmen in der Bevölkerung, Plok könnte der Täter sein, wurden laut.
Alle Ermittlungen in diese Richtung verliefen jedoch im Sand. Jeder noch so kleinen Spur wurde nachgegangen, ohne Erfolg. Plok war wieder einmal verschwunden. In den Wochen nach den Morden hatte ihn niemand mehr gesehen. Das machte es leicht, ihn mit der Tat in Verbindung zu bringen. Es gab jedoch keinerlei Beweise. Das einzige Indiz, der Fundort der Gegenstände in räumlicher Nähe seiner Hütte, rechtfertigte keinen Haftbefehl. Trotzdem suchte die Polizei intensiv nach ihm.
Als man dachte, endlich eine konkrete Spur zu haben - eine Überwachungskamera am alten Betonwerk, ganz in der Nähe der Stelle wo die Tasche gefunden worden war, hatte einen dunklen Wagen schemenhaft aufgenommen - geschah es:
Ägid Plok ermordete sein drittes Opfer.
Sophie Moor, eine dreißigjährige Frau, die so gar nichts mit den ersten beiden Opfern gemein hatte. Sie war weder so jung wie diese, noch war sie hübsch. Ein furchtbarer Verkehrsunfall in der Jugend hatte ihr Gesicht für immer entstellt, außerdem war sie durch die schweren Kopfverletzungen geistig leicht eingeschränkt. Sophie arbeitete als Zimmermädchen in einem der vielen Hotelbetriebe am See, der etwa einen Kilometer vom Hochmoor entfernt in der Talsohle lag. Sie wohnte zusammen mit drei anderen Mädchen in einem kleinen Holzhaus, nahe dem Hotel, das dieses als Personalunterkunft nützte. Sophie hatte ihren freien Tag und war daher alleine in der Unterkunft.
In der herbstlich frühen Dunkelheit hörten Nachbarn Schreie einer männlichen Stimme aus dem Häuschen. Ihren späteren Schilderungen zufolge, habe es sich angehört, als würde jemand verzweifelt weinen, oder vielleicht auch wehklagen. Genau konnten sie den Zustand nicht zuordnen.
Die alarmierte Polizei brach die verschlossene Tür auf. Man fand einen wutentbrannten Ägid Plok, im blutbesudelten Schlafzimmer kniend, neben der bereits toten Sophie Moor.
Er schlug einen der Beamten nieder, bemächtigte sich seiner Dienstwaffe und schoss dem zweiten Polizisten in den Oberschenkel. Daraufhin floh er zu Fuß und versuchte das schützende Hochmoor zu erreichen. Kurz bevor er in dessen rettendes Schilf eintauchen konnte, nahmen ihn mittlerweile eingetroffene Spezialisten des Einsatzkommandos fest.
Widerstandslos. Ägid Plok schien sich seinem Schicksal zu ergeben, als habe er erkannt, dass für ihn das Ende der Fahnenstange erreicht war.
Im Mordprozess bekannte er sich der Ermordung von Sophie Moor sowie der beiden noch immer vermissten Höhl-Mädchen schuldig.
Dieses Geständnis war der einzige Satz, den er während einer über mehrere Tage andauernden Gerichtsverhandlung von sich gab. Stoisch grinsend saß er da, verweigerte jede weitere Aussage und gab nicht den kleinsten Hinweis über den Verbleib der Leichen.
Nachdem das Urteil gesprochen war erlahmte das Interesse am Schicksal der vermissten Mädchen. Die Medien wandten sich neuen Sensationen zu und die Polizei hatte neue Fälle zu bearbeiten.
Genau das, könnte sich hier und heute sehr schnell ändern.
In der feuchtkalten Luft des Moores lag der Duft nach welkem Laub, brackigem Torfwasser und dampfenden Autogasen. Ich suchte mir halbwegs trockene Stellen, um zum Kofferraum zu gelangen, zog einen alten Parka heraus und schlüpfte in meine Gummistiefel.
Einen Augenblick blieb ich im leichten Schnürlregen stehen, nahm den eigenartigen Duft des Hochmoores auf und dachte daran, dass fast auf den Tag genau, vor zwei Jahren, Ägid Plok seine Strafe angetreten hatte.
Dann machte ich mich auf den Weg.
Das gesamte Gelände war mit Polizeibändern abgesperrt worden. Ein schmaler Trampelpfad führte zu einer Gruppe von Leuten, die unter einem Polizeizelt, dessen vordere Seite offen stand, angeregt diskutierten. Ich erkannte jede Menge Presseleute, auch das lokale Fernsehen war vor Ort. Wieder wurde mir der Weg von einem Polizeibeamten versperrt. Diesmal mit Hund, welcher drohend zu knurren begann, was meinen eiligen Schritt sofort stoppte.
»Ich bin mit Hofrat Carl Alterbach verabredet«, sagte ich leicht ärgerlich, den Schäferhund nicht aus den Augen lassend, dessen wachsamer Blick mich ebenfalls fixiert hatte. Noch bevor der Beamte antworten konnte, drehte sich ein Mann von der Gruppe weg und winkte mir zu.
»Das geht in Ordnung, Hotter! Lassen Sie den Mann durch«, ertönte die sonore Stimme.
Hofrat Carl Alterbach, leitender Beamter im obersten Kriminalamt, war wie immer in feinsten Zwirn gekleidet. Sein langer Sommermantel wehte in der Brise und gab einen eleganten dunklen Anzug mit Weste und passender Krawatte frei. Die gelben Gummistiefel standen in einem eigenartigen Kontrast zum noblen Kleid. Der akkurat gestutzte Schnurrbart war vollkommen weiß geworden, seine leuchtenden Augen verrieten aber den immer noch hellwachen Ermittler im besten Alter.
»Servus Linus, mein Lieber, schön, dass du gekommen bist. Ein Sauwetter ist das hier draußen, bin die Arbeit an der Front nicht mehr gewöhnt, wohl schon zu alt für derlei Dinge. Musste aber raus, ob ich wollte oder nicht. Weisung aus dem Ministerium, kam von ganz oben. Die Eltern der Mädchen haben in München an höchster Stelle interveniert, kann ich gut verstehen. Die armen Leute, suchen seit Jahren nach den Kindern. Alles vor Ort, was Rang und Namen hat, Richter, Staatsanwalt, Profiler…und ich. Fehlt nur der Hauptdarsteller, aber der müsste auch bald eintreffen. Komm weiter, ich stelle dich den Leuten vor.«
Typisch Alterbach, dachte ich, quasselt gleich viel wie früher und tut so, als ginge ihm das Medieninteresse gegen den Strich. Weit gefehlt, er hatte es inszeniert, da war ich mir sicher. Der Hofrat liebte die Bühne.
»Hallo Carl, es war gar nicht so einfach bis zu dir vorzudringen. Was ist hier eigentlich wirklich los?«
»Ich gebe gleich eine Erklärung ab, also bitte Geduld, Linus. Komm mit.«
Ich war froh, in das trockene Zelt zu gelangen, es hatte richtig zu schütten begonnen. Der Hofrat ließ die noch offene Zeltseite schließen und schob mich vor sich her. Einige der Leute kannte ich von früher. Alterbach stellte mich der Reihe nach vor.
Hände schütteln, ein paar Floskeln, lächeln, alles wie immer.
Carl hatte es angedeutet, neben dem Staatsanwalt, der im Prozess gegen Plok die Anklage vertreten hatte, war auch der damalige Richter, ein Sachverständiger, ein Profiler, Ägid Ploks Anwalt sowie ein Gerichtsschreiber anwesend.
Eine neuerliche Gerichtsverhandlung? Diesmal ohne den Angeklagten?
»Wir warten auf das Eintreffen von Ägid Plok, dann sehen wir weiter. Meine Damen und Herren, nehmen Sie einen Becher heißen Tee, es kann noch eine Weile dauern.«
Damen? Wo waren hier Damen.
Ich schlenderte zum kleinen Tisch, wo ein Wärmebehälter den versprochenen heißen Tee spendete. Ein flacher Karton, belegt mit diversen Brötchen und kleinen Partykuchen, lag daneben.
Party im Hochmoor? Was gab es bei einem Leichenfund zu feiern?
»Die Minikuchen kann ich nicht empfehlen, sind fette Industrieware. Aber die Schinkenbrötchen sind halbwegs genießbar.«
Der Ratschlag war über meine rechte Schulter gekommen, begleitet von einem Hauch Aqua Vitae, Francis Kurkdjians Meisterkreation in Sachen Damendüfte. Ich liebe diesen feinen Duft.
Sehnsucht nach Elisa, nach Bastian, nach meiner Familie war plötzlich da.
»Vorausgesetzt Sie mögen Schinken.«
Ich drehte mich langsam um, blickte in himmelblaue Augen, schöner, als ich sie je gesehen hatte.
Sie war blond, ihr Haar war männlich kurz, auch ihr Outfit hätte ein junger Mann tragen können. Weißer Pullover, blaues Polo - wie die Augen - ausgewaschene Jeans, dunkelblaue Regenjacke.
Sie war mir nicht aufgefallen, nicht vorgestellt worden, ich hatte sie noch nie gesehen.
»Hey, ich bin Theres! «
Ihr leises Lachen war klar wie ein Gebirgsbach, ihre Zähne blitzten in herrlichem Kontrast zur sonnenverwöhnten Haut, die völlig ohne Schminke auskam. Ich hatte sie übersehen. Ich hatte angenommen, ein junger Mann stünde in der Ecke. Weit gefehlt, sie war eine einzigartige, natürliche Schönheit. Eine tolle Frau.
»Hallo Theres.«
Ich räusperte mich.
Verdammt, was macht der Frosch ausgerechnet jetzt in meinem Hals?
»Ich bin Linus, ich freue mich.«
Was sonst, Idiot!
»Linus? Ein seltener Name, gefällt mir. Und? Was machen Sie hier, Linus, wenn man fragen darf?«
Sie sah mich herausfordernd an.
Diese Augen…
»Äh…, ja was mache ich hier! Hofrat Alterbach meinte, ich solle dabei sein, obwohl ich bislang noch immer nicht genau weiß, wobei? Können Sie mir weiterhelfen, Theres?«
Ich hatte mich gefangen. Wäre noch schöner, so etwas lernt man schließlich nicht alle Tage kennen.
Verzeih mir, Elisa, aber es ist dein Duft…, ein kleiner Flirt nur, versprochen.
»Kommen Sie, ich zeige Ihnen etwas.«
Wir gingen zum hinteren Ende des Zeltes. Sie schlug die Plane etwas zurück. Fünfzig Meter entfernt stand ein weiteres Zelt auf vier Stelzen, ähnlich den Dingern, die auf Gartenfesten verwendet werden. Darunter knieten zwei Männer. In ihren weißen Overalls wirkten sie beinahe gespenstisch, im nebeligen Dunst des Moores. Aufgeworfene Erde lag vor ihnen. Einer hielt seine in Latex-Handschuhen steckenden Hände in die Höhe, als wolle er sie vor dem tragbaren Scheinwerfer trocknen. Der andere schob behutsam schwarze Torferde zur Seite. Ein Stromaggregat tuckerte leise vor sich hin, einige Scheinwerfer verstärkten das diffuse Licht im Hochmoor.
»Es könnte das Grab der Höhl-Schwestern sein, die Plok ermordet haben soll. Bislang wurde, wie Sie wissen, keine Spur der zwei vermissten Mädchen gefunden. Wir werden sehen, wie sich das hier entwickelt.«
»Ich weiß, dass bislang keine der Schwestern gefunden wurde, und ich weiß auch, dass man hier ein Grab entdeckt hat. Aber was Sie hierher verschlagen hat, Theres, das weiß ich leider immer noch nicht?«
Sie sah mich lange an, hatte meinen treuherzigen Hundeblick mit Sicherheit bereits durchschaut.
Sie wirkte mit einem Mal nicht mehr so fröhlich, eher nachdenklich, fast traurig.
»Ich arbeite für das Landeskriminalamt. Nicht wie Sie denken als Kriminalbeamtin, nein, ich bin ausgebildete Psychoanalytikerin und begleite die Beamten bei der Aufarbeitung von Mordfällen, insbesondere wenn die Täter einen Hintergrund haben wie Ägid Plok.«
»Und? Welchen Hintergrund hat der?«
Mein Interesse war geweckt. Theres konnte mir nützlich sein, in meinem Bemühen die Psyche des Mörders Plok besser verstehen zu lernen. Seine Motive, seine Handlungen und die tiefen Abgründe seiner offenbar kranken Seele zu ergründen. Ich verspürte ein Kribbeln in der Magengegend, ein untrügliches Zeichen meiner Nervosität.
»Warum sollte ich das ausgerechnet Ihnen sagen? Wir kennen uns nicht einmal. Ich sehe Sie heute zum ersten Mal, Linus, ihr Vorname, das ist alles, was ich von Ihnen weiß. Also bitte, erwarten Sie keine Antwort auf Ihre Frage, Sie werden von mir nichts erfahren.«
Oha, Madame kann auch anders.
»Entschuldigung, Theres, Sie haben natürlich völlig recht, ich war sehr unhöflich. Linus kennen Sie ja schon. Linus Gräber ist mein voller Name. Ich war Polizeireporter für eine Presseagentur. Jetzt schreibe ich Kriminalromane über Fälle, deren Protagonisten ähnliche Charaktere wie unser Freund Plok haben. Nebenbei befasse ich mich mit Psychologie, aber eher laienhaft, quasi als Hobby. Ja, so könnte man es nennen.«
»Psychologie als Hobby? Sie wollen mich auf den Arm nehmen?! Alle Facetten der Psychologie erfordern eine profunde Ausbildung. So etwas betreibt man nicht als Hobby, schon gar nicht, wenn es um Mord geht. Wollen Sie etwa Eindruck schinden? Das wird Ihnen bei mir nicht gelingen!«
Sie schlug empört, ob meiner Ansichten, die Plane zurück und wandte sich ab.
Na, super, Linus.
»Ich wollte Sie keinesfalls verärgern, Theres! Entschuldigen Sie, ich glaube Sie verstehen mich falsch. Ein Glas Tee zur Versöhnung? Ein köstliches Sandwich dazu?«
Sie drehte sich mir wieder zu, ein feines Lächeln um die Mundwinkel.
»Linus, Linus…, Frauen erobert man nicht mit Tee, oder was haben Sie vor?«
Es war wieder da, das helle Lachen.
Bleib dran. Linus.
»Wer redet von erobern? Wir sind beruflich hier, oder sehen Sie das etwa anders? Außerdem bin ich verheiratet, hatte ich das nicht erwähnt?«
Die schönsten Augen der Welt musterten mich abschätzend. Sie sah in mir den Mann, der ein schnelles Abenteuer sucht. War ihr Blick so zu deuten?
»Meine Damen und Herren, ich darf um ihre Aufmerksamkeit bitten!«
Die dunkle Stimme des Hofrats ließ den Small Talk der Umstehenden verstummen. Alle Augen waren auf ihn gerichtet. Die anwesenden Presseleute loteten ihre Mikrofone aus, die Kameras wurden in Stellung gebracht. Alterbach zupfte kurz an seiner Krawatte, strich über den Revers seines Anzuges und stellte sich in Position. Er liebte diese Auftritte, sie kamen seinem Ego des selbstbewussten, alles beherrschenden Abteilungsleiters voll und ganz entgegen. Im Falle des Mörders Plok konnte er sicher sein, die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen. Er konnte den kompetenten Leiter geben, der alles im Griff hatte, der den Fall gelöst und die Bevölkerung vor weiteren Untaten der Bestie Ägid Plok bewahrt hatte. Dass er im Grunde rein gar nichts zur Aufklärung beigetragen hatte, dass diese Arbeiten Beamte der Kripo erledigt hatten, spielte vor der Presse keine Rolle. Er stand im Rampenlicht, er war hier der Star. Ich musste lächeln, der Hofrat war in seinem Element.
»Wie Sie alle wissen, wurde gestern Nachmittag von einem Ornithologen durch Zufall ein vermeintliches Grab gefunden. Wir haben die Hoffnung, dass es sich dabei um die Stelle handelt, wo Ägid Plok seine Opfer verscharrt hat. Gut. Ich brauche nicht zu erwähnen, wie wichtig dieser Fund ist. Plok sitzt für seine Taten hinter Gittern, aber für mich ist der Fall erst beendet, wenn die beiden Mädchen gefunden sind und der trauernden Familie übergeben werden können. Sollte dort draußen das Grab der bedauernswerten Mordopfer liegen, wollen wir den verurteilten Mörder Ägid Plok, im Auftrag der Gerichtsorgane, mit dieser Stelle des Grauens konfrontieren. Ein Augenschein, sozusagen. Wir erwarten, dass Plok dabei endlich sein Schweigen bricht und dass er, konfrontiert mit seinen Opfern, Angaben zu Motiv und Abfolge der Untaten macht. Ich muss es wissen, ich habe mit meinem Team den Fall geklärt. Ich kann den Akt erst dann zur Ablage bringen, wenn Plok zu seinen Taten Stellung bezogen hat. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.«
Ich, ich, ich…,du lieber Himmel.
Alterbach blickte direkt in die laufenden Kameras, nickte dabei wohlwollend, bevor er sich von den Presseleuten abwandte.
»Sie sind mir dafür verantwortlich, dass diese verfluchte Meute hier im Zelt bleibt!«, zischte er einem jungen Polizeioffizier zu, der neben ihm wieselte, wie ein Schoßhündchen.
»Natürlich, Herr Hofrat, Sie können sich auf mich verlassen«, säuselte er unterwürfig.
Plötzlich lag Lärm in der feuchten Luft über dem Hochmoor. Das Knattern eines Hubschraubers war direkt über dem Zelt zu hören. Die Planen flatterten unter dem massiven Druck der Rotoren. Theres und ich traten hinaus. Nun gab es freie Sicht auf die fünfzig Meter entfernte Grabungsstelle. Aus dem mittlerweile gelandeten Hubschrauber sprangen zwei maskierte Einsatzbeamte der Justiz in voller Montur. Sie bezogen Posten neben der offenen Schiebetür, ihre Maschinenpistolen im Anschlag.
»Erster Aufzug. Erster Akt! Fürwahr dramatisch, Alterbach eben«, ätzte Theres neben mir.
Ich sagte nichts. Im Inneren des Fluggerätes bewegte sich etwas. Eine gebückte Gestalt trat durch die niedrige Öffnung. Luftwirbel der auslaufenden Rotoren zerzausten das schlohweiße Haar des Mannes.
Ägid Plok richtete sich auf.
Selbst von meinem Standort, gut fünfzig Meter entfernt, wirkte er unheimlich und bedrohlich wie immer. Die Hände steckten vor seinem Körper in Handschellen, an den Beinen trug er schwere Fesseln. Zwei Beamte der Vollzugsanstalt hielten ihn an den Armen fest. Eine weitere Person war aus dem Inneren des Hubschraubers aufgetaucht. Ich sah die spitzen, hellbraunen Cowboystiefel und wusste, wer hier angekommen war.
Welcome, Dirty Arno.
So nannte man ihn im Kollegenkreis.
Chefinspektor Arno Klauber, Gruppenleiter der Mordkommission. Er hatte die Ermittlungen im Falle Plok geleitet, hatte ihn über mehrere Wochen täglich stundenlang verhört, und letztlich ein Geständnis erhalten. Wäre es nicht dazu gekommen, die Indizien, Beweise gab es bis heute nicht, hätten nicht für eine Anklage gereicht.
Wie innig verbunden Ägid Plok dem Ermittler war, zeigte er vor versammelter Presse. Als Dirty Arno mit lässig wippenden Gang an ihm vorbeiging, spuckte der Häftling verächtlich aus und hätte beinahe die glänzenden Stiefel des CI getroffen.
Klauber kostete die Provokation des Mörders ein zynisches Lächeln, mehr nicht. Er war bekannt für seine Gefühlskälte. Auch dafür, dass er sich stets eisern im Griff hatte. Sein gesamtes Auftreten war seinem Idol aus Hollywood nachempfunden. Was allerdings nicht leicht war, zumal er mit dem weltbekannten Schauspieler so viel Ähnlichkeit hatte, wie ein Nilpferd mit einer Araberstute.
Klauber war mittelgroß, korpulent und hatte eine weit fortgeschrittene Stirnglatze. Ich hatte ihn zuletzt kurz vor der Verhandlung gegen Plok getroffen. Jetzt kam er eilenden Schrittes auf das Zelt zu, um Schutz vor dem triefenden Regen zu finden. Alterbach ließ sich von ihm Bericht erstatten. Mich schien er noch nicht wahrgenommen zu haben, was mir nur recht war.
»Die sollen den Häftling wieder in den Heli bringen, wir warten den Regenguss ab, dann machen wir weiter. So hat es keinen Sinn.«
Der von Alterbach angesprochene Polizist salutierte, sprach ein paar Worte in sein Funkgerät, worauf Plok und Begleitung wieder das trockene Innere des Hubschraubers aufsuchten.
»Hat man Ihnen CI Klauber schon vorgestellt? Ein schönes Früchtchen, der gute Arno.«
Theres schaute mich fragend an, nachdem wir wieder im trockenen Zelt standen.
»Ich kenne ihn aus meiner Zeit als Polizeireporter, wir waren sogar einmal so etwas wie Freunde, wenn Arno die Bedeutung dieses Wortes kennen würde. Mittlerweile ist das Trennende stärker als das Verbindende. In Wahrheit bin ich froh, dass ich nichts mehr mit ihm zu tun habe. Warum fragen Sie mich das, Theres?«
»Nur so, ist nicht wichtig, wollte nur ein wenig ausloten, mit welchen Leuten Sie verkehren«, sagte sie und ließ ihr helles Lachen erklingen.
Der Regen hatte aufgehört, was nicht hieß, dass sich das Wetter gebessert hätte. Der Nebel war noch dichter geworden, die Temperatur gefallen. Seit der Ankunft des Hubschraubers waren zwei Stunden vergangen. Früher Nachmittag. Wenn Alterbach das ganze Programm durchziehen wollte, musste er sich beeilen. Um diese Jahreszeit wurde es früh dunkel. Plötzlich kam Bewegung rein, der Häftling stand bereits wieder im Freien, an seiner Seite jetzt sein Anwalt. Hofrat Alterbach führte Richter, Staatsanwalt und Sachverständige zum Grab, wo die archäologischen Spezialisten Teile einer weiblichen Leiche freigelegt hatten. Soweit ich erfahren hatte, war diese in einem guten Zustand. Die Torferde verfügte unter gewissen Voraussetzungen über hervorragende Konservierungseigenschaften, das wusste ich aus einem Fachbuch.
»Gräber! Linus Gräber, was zum Teufel hast du hier verloren, wer hat dich reingelassen?«
Arno Klauber stand wie aus dem Nichts neben mir.
»Servus, Arno. Ich habe dich schon vorhin gesehen, als du aus dem Flieger gekrabbelt bist. Hast ein wenig zugelegt, seit unserer letzten Begegnung, solltest die Bierchen nach Feierabend einschränken,« sagte ich lächelnd ohne ihm die Hand zu reichen, die er ohnehin nicht gedrückt hätte.
»Spar dir deine Sprüche, sie ziehen nicht bei mir. Los, sag mir, was du hier willst, bevor ich dich eigenhändig rauswerfe. Das ist eine polizeiliche Angelegenheit mit penibel ausgewählter Presse. Ein Schmierfink wie du, hat dabei nichts zu suchen.«
»Frag den Hofrat, er wird dir Bescheid geben.«
Ich drehte mich weg, eilte Theres hinterher und hakte mich bei ihr unter. Sie vor Fehltritten im sumpfigen Boden zu bewahren war mein Bestreben, was sie dankbar annahm.
Linus, du bist ein Fuchs.
»Was wollte Klauber?«
»Ein Schwätzchen machen.«
Sie sah mich belustigt an. Wir erreichten das kleine Grabungszelt. Die Anwesenden standen rund um die Grube verteilt und blickten auf die freigelegten Fragmente. Für einen Laien war schwer zu erkennen, worum es sich hier handelte, zumal noch immer viel Erdreich an den Knochenresten klebte. Die Spezialisten gingen so vorsichtig wie nur möglich an ihre komplizierte Aufgabe heran. Es galt der Gerichtsmedizin die Arbeit nicht zu erschweren, indem man Teile verletzte oder beschädigte.
Scham erfasste mich, beim Anblick des Körpers, als würde ich in die Intimsphäre eines Menschen eindringen, dem jegliche Würde durch den Mörder genommen worden war.
Angewidert wandte ich mich ab.
»Na Gräber, Angst vor der Leiche? Ist wohl nichts für ein Weichei, wie du eines bist, habe ich recht?«
Arno Klauber grinste hämisch, als er an den Rand der Grube trat.
»Du änderst dich nie, was, Arno? Du bist und bleibst ein Kotzbrocken, den fachlichen Ausdruck dafür erspare ich dir, du würdest ihn ohnehin nicht begreifen.«
Theres funkelte den CI zornig an. Sie wandte sich ab, ihr Interesse galt ab sofort dem Häftling, der mühselig über das Sumpfland stolperte, geführt von den beiden Aufsehern. Die Fußfesseln erlaubten ihm nur sehr kurze Schritte, wodurch er immer wieder ins Wanken geriet.
»Ich beantrage, meinem Mandanten diese Fußfesseln abzunehmen, das verstößt gegen die Menschenrechtskonvention. Wo soll er hin, in dieser trostlosen Gegend, voll von Polizei und Wächtern? Ich bitte Sie meine Herren, das ist lächerlich.«
Der Staatsanwalt flüsterte kurz mit dem Richter, daraufhin nahm man Plok die Fußfessel ab, was er mit einem unverständlichen Schnaufen quittierte. Ich hatte mich etwas zurückgezogen, beobachtete das Geschehen aus der Distanz und lauschte den Ausführungen der Organe.
Wenn die Herren erwartet hatten, Ägid Plok würde etwas erzählen, hatten sie sich gründlich getäuscht. Arno Klauber verlor als erster die Nerven.
»Jetzt mach endlich dein dreckiges Maul auf, du verdammter Affenarsch. Hier hast du eines der Mädchen verscharrt, wo liegt das andere? Na, was ist? Was glaubst du, wozu wir dich hierhergeschafft haben, damit du die Moorluft genießen kannst? Los jetzt…«
»Ich protestiere! Es ist eine Schande, wie der Beamte meinen Mandanten behandelt,« brüllte der Anwalt gestresst. Er fasste die gefesselten Hände seines Schützlings. Der schüttelte ihn zornig ab. Er versetzte dem Anwalt einen Stoß, der ihn auf seinem Hinterteil landen ließ.
Die beiden Wächter zogen an den Armen des Häftlings, wollten beruhigen. Umsonst. Plok war wütend. Sein Zorn richtete sich gegen Klauber, das war klar.
Mir stockte der Atem. Theres ging direkt auf Plok zu. Er betrachtete sie misstrauisch, abwehrend. Seine Mundwinkel mahlten, als sammle er eine Ladung Speichel.
Oh Gott, jetzt spuckt er sie an!
»Herr Plok, beruhigen Sie sich, nichts wird Ihnen passieren. Man wird Sie korrekt behandeln und Herr Klauber wird sich bei Ihnen entschuldigen für seine Worte. Ich bin Theres, erinnern Sie sich? Wir kennen uns. Sie können mir vertrauen. Ich kann Ihnen helfen, das wissen Sie.«
Die leblosen Knopfaugen waren starr auf Theres gerichtet. Ruckartig wandte er den Kopf zur Seite, entließ eine Ladung Speichel in das nasse Sumpfgras und bekam einen grauenvollen Hustenanfall. Mühsam brachte er seine Atmung wieder unter Kontrolle. Seine schiefe Nase rotzte, im Mundwinkel hingen Speichelfetzen. Er versuchte verzweifelt, die gefesselten Hände hochzubekommen. Zwecklos. Sie waren an einem Ledergurt, der um seine Hüften führte, verankert.
»Es ist eine Schande, ja, eine menschenverachtende Schande! Befreien Sie endlich den Mann von dieser unwürdigen Fesselung, damit er sich wenigstens die Nase putzen kann. Ich bitte Sie, legen Sie ihm einfache Handschellen an, das wird auch genügen!«
Das Gesicht des Anwalts war gerötet, er hatte die Worte zornig an die anwesenden Polizisten gerichtet.
Ich hörte das Surren der Kameras. Hier spielte sich ein Fressen für die Presseleute ab. Der Richter blickte besorgt auf die Medienmeute im Polizeizelt, nur fünfzig Meter entfernt.
»Nehmen Sie dem Häftling diesen Gurt ab und legen Sie ihm einfache Handschellen an. Und geben Sie ihm ein Taschentuch, das sieht ja entsetzlich aus«, bellte er in Richtung Arno Klauber.
Widerwillig winkte der zwei seiner Leute zu sich.
Ob das die richtige Entscheidung war?
Ich blickte in die kalten Augen des Mörders. Er befand sich in einem hochgradigen Erregungszustand. In dieser herausfordernden Situation war es für ihn schwierig, zu erfassen, wo er sich räumlich bewegte und was um ihn herum geschah.
Er schien völlig irritiert, blickte hilfesuchend zu Theres, als sich Klauber mit zwei Beamten näherte. Der CI folgte seinem Blick.
»Denk gar nicht daran, ich warne dich! Keinen Schritt näher, das ist unser Bier, also verzieh dich«, schnauzte er böswillig in Richtung Theres, die nur wenige Meter entfernt stand.
»Ich muss mit dem Häftling sprechen, sofort! Er braucht meine Hilfe, sein Zustand ist extrem gefährlich, also lasst mich mit ihm sprechen, ich kann ihm helfen, ich kann die Situation entschärfen!«
»Gar nichts wirst du tun, Theres. Hau ab, aber schnell, wir machen das schon.«
»Arno, verdammt noch einmal, du vergisst, dass ich meinen Job mache, dazu bin ich hier!«
»Hörst du schwer?«, unterbrach sie Klauber, der jetzt vor Zorn bebte.
»Du sollst von hier verschwinden. Wenn wir das Arschloch neu gesichert haben, kannst du meinetwegen mit ihm reden, vorher nicht!«
Er funkelte Theres zornig an. Sie sah ein, dass es zwecklos war, mit Klauber zu diskutieren, wandte sich widerwillig ab und stellte sich an meine Seite.
»Sie kennen den guten Arno näher?«
»Wie kommen Sie darauf«, funkelte sie mich zornig an.
»Der Austausch der Freundlichkeiten ließ es mich vermuten?«
»Ach lassen sie mich in Frieden. Kümmern sie sich um ihren eigenen Kram.«
Ach Theres, sei nicht so abweisend.
Inzwischen war es Klauber und seinen Leuten gelungen die Fesselung zu tauschen. Plok stand in einfachen Handschellen da. Seine Gedanken waren weit weg. Man reichte ihm Papiertaschentücher. Oberflächlich putze er sich die Nase, wischte sich über den zu einem hämischen Grinsen verzerrten Mund und warf die Tücher zu Boden. Klauber wollte schon losbrüllen, hielt sich aber im letzten Augenblick zurück, in Anbetracht der sensiblen Nervenlage des Häftlings.
Sie brachten ihn direkt vor die flache Grube mit den Leichenteilen. Teilnahmslos betrachtete er die von Torferde bedeckten Knochen. In seinem hässlichen Antlitz war null Bewegung. Der schmale Pferdekopf wiegte leicht hin und her.
»Herr Plok, Sie wissen warum wir hier sind. Ihr Anwalt hat Sie aufgeklärt.«
Der Staatsanwalt erwartete eine Antwort. Nichts. Plok schwieg.
»Gut. Keine Antwort ist auch eine. Wir stehen hier vor einem Grab, ein Grab im Moorland. Die Reste der Kleidungsstücke weisen darauf hin, dass es sich um die von Ihnen zu Tode gebrachte Marie Höhl handeln dürfte. Die genaue Identifizierung wird die Obduktion ergeben. Herr Plok, haben Sie hier Marie Höhl begraben?«
Er blickte den Häftling erneut auffordernd an.
Plok regte sich nicht.
»Wir wollen es für alle einfacher machen, Herr Plok. Wo ist das Grab von Maries Schwester? Wo haben Sie Anna Höhl begraben? Zeigen Sie uns die Stelle. Helfen Sie uns, denken Sie an die Angehörigen der Mädchen. Sie haben sich Aufklärung verdient, sie wollen ihre Kinder in ein ordentliches Grab legen, sich von Ihnen verabschieden und einen Ort haben, wo sie sie besuchen können. Ich bitte Sie, Herr Plok, helfen Sie uns und entlasten Sie damit Ihr Gewissen.«
Das Wiegen des Kopfes wurde schneller, Schaum stand in den hängenden Mundwinkeln. Plok war in höchstem Grad erregt. Seine Hände verkrampften ineinander, der massige Oberkörper schüttelte sich.
»Nein, Nein!«
Wie ein Urschrei kamen die Worte über seine Lippen. Plötzlich riss er sich von den Beamten los und stürzte vor, auf den Staatsanwalt zu, der sich ängstlich in Sicherheit brachte. Plok rutschte auf dem glitschigen Sumpfboden aus, seine langen Beine schnellten in die Höhe und der steife Körper landete schmatzend in einer Lache schwarzen Torfwassers. Sofort waren drei Beamte über ihm, rangen den wild um sich schlagenden Häftling nieder und fixierten ihn im Dreck des Moores.
»Verdammter Mist, ich wusste, warum wir den Affen doppelt fixiert hatten. Sehen Sie, was sie angerichtet haben, Herr Anwalt?«
»Ich verbiete Ihnen, meinen Mandanten einen Affen zu nennen. Das gibt eine saftige Beschwerde.«
Ängstlich Abstand haltend vom Geschehen rund um seinen Schützling, rang der Anwalt nach Worten.
Er blickte fragend zum Richter. Der hatte mit der Entwicklung der Situation seine liebe Not. Flüsternd beriet er sich mit dem Staatsanwalt.
Hofrat Alterbach riss die Verantwortung an sich.
»Klauber, sehen Sie zu, dass der Mann wieder an Armen und Beinen fixiert wird. So geht das nicht. Wir bringen den Häftling weg, es hat keinen Sinn hier weiterzumachen, der redet ohnehin nicht. Wir werden das zweite Grab mit den Leichenspürhunden finden, dauert eben länger. Ich war sowieso nie überzeugt von dieser Aufführung. Jetzt wissen wir, dass es ein Fehler war.«
Richter und Staatsanwalt waren mit seinen Äußerungen augenscheinlich gar nicht zufrieden, schwiegen aber angesichts der prekären Lage.
Drei Beamte brachten den wütenden Ägid Plok langsam zur Räson. Sie halfen ihm auf die Beine und führten ihn zur offenen Kabine des Hubschraubers.
Dort sollten ihm die ursprünglichen Fesseln angelegt werden.
Der Hüftgurt war fixiert, ein Beamter öffnete die Handschellen, um Ploks Hände in die im Gurt integrierten Fesselzangen zu führen.
Ein fataler Fehler.
Angesichts der Abfolge der Geschehnisse, wähnte ich mich eher bei Filmaufnahmen, als bei einer polizeilichen Aktion höchsten Grades.
Sobald Plok die Handschellen los war, riss er die freien Hände hoch und traf den Beamten am Kinn. Ein grauenvolles Knacken war zu hören, als der Kieferknochen brach. Die drei anderen Polizisten konnten nicht mehr rechtzeitig reagieren. Zwei wurden durch mächtige Faustschläge niedergestreckt, den dritten traf ein Tritt im Schritt, der ihn wimmernd zu Boden gehen ließ. Bevor jemand einschreiten konnte, hatte sich der Häftling umgedreht.
Der Hüftgurt war zu Boden gefallen.
Ägid Plok rannte los, in Richtung des Gebüsches am Rande der offenen Moorfläche. Als Klauber seine Befehle zu brüllen begann, war der Zigeunergidi bereits im dichten Unterholz verschwunden.
Hätte man ihm die Fußketten zuerst angelegt, er hätte diese Chance nicht nützen können.
Auf dem freien Platz, rund um das Polizeizelt, war plötzlich die Hölle los. Polizeibeamte hatten Mühe, die Journalisten im Zelt zu halten. CI Klauber forderte Hunde an, jagte die Männer des Einsatzkommandos hinter Plok her und schrie weitere Befehle in sein Funkgerät.
Theres stand abwartend neben mir, ich hatte den Eindruck, als spiele ein ironisches Lächeln um ihren schönen Mund.
Die Fahrt aus dem Moor, immer wieder behindert durch anrückende Polizeieinheiten, hatte lange gedauert. Umso mehr genoss ich die wohlige Wärme in der Stube des kleinen Gasthofes, wo ich mir ein Zimmer genommen hatte. Völlig durchnässt war ich angekommen, hatte geduscht und freute mich jetzt auf ein stärkendes Abendmahl.
Die rustikale Stube war gut besucht. Hauptthema am Stammtisch war naturgemäß die Flucht des Mörders Ägid Plok. Während einige der Männer den unfähigen Bullen die Schuld gaben, waren andere besorgt über die Entwicklung. Sie beschworen die grauenhaftesten Szenen eines wieder mordenden Zigeunergidi herauf. Es floss ausreichend Bier und Schnaps. So gesehen hatte Plok wenigstens dem Wirt einen guten Dienst erwiesen.
Die Kellnerin brachte Rotwein und ein Gedeck. Ich blickte zur Tür. Theres war eingetreten. Die Männer am Stammtisch grüßten freundlich, man kannte sie hier. Ihr Blick blieb bei mir hängen. Ich nickte einladend. Sie ging jedoch zum Stammtisch, setzte sich und unterhielt sich bestens in der Runde.
Ich genoss die knusprig gebratene Bachforelle, nahm zum Nachtisch Palatschinken und lobte den Herrn. Die freundliche Bedienung räumte gerade meinen Tisch ab, als Theres plötzlich davor stand.
»Wie war das Fischlein? Darf ich mich setzten?«
Sie hatte schon etwas getrunken, wirkte nach der Anspannung des Tages gelöst und heiter.
»Anneliese, bring mir bitte noch ein kleines Bier, danke.«
»Gerne, Frau Doktor Moor, kommt sofort.«
Moor? Doktor Moor?
»Warum starren Sie mich an, als käme ich von einem anderen Stern? Weil ich Bier trinke?«
»Nein! Ihr Name. Doktor Theres Moor. Sind Sie verwandt mit der bedauernswerten Sophie Moor?«
»Ja, das bin ich. Sophie war meine kleine Schwester.«
Ihr Gesicht war ernst geworden.
»Verzeihung, ich hatte keine Ahnung, es tut mir leid.«
»No Problem, Linus. Woher sollten Sie es wissen. Ich war es, die sich nicht ausreichend vorgestellt hat, nicht wahr?«
Einen Augenblick herrschte Schweigen. Das kleine Bier kam. Theres nahm einen kräftigen Schluck. Ihr Lächeln war zurück.
»Sie müssen sich keinen Vorwurf machen, Linus. Sie haben den Schmerz nicht zurückgebracht, er ist immer in mir, ist immer gegenwärtig. Meine kleine Sophie ist nicht tot, sie ist nur vorausgegangen. Mein Gott, ich rede mir das ein, Linus. Es hilft mir, den Verlust zu ertragen.«
Tränen standen in ihren Augen, ich reichte ihr meine Serviette.
»Danke. Sie sind ein feiner Kerl, ich bin eine dumme Kuh.«
»Nicht doch, reden Sie sich ihre Seele frei, ich höre gerne zu. Manchmal hilft es uns jämmerlichen Kreaturen aus den tiefen Gräben der Verzweiflung.«
Eine Weile betrachtete sie mich nachdenklich, schien zu überlegen ob sie Vertrauen haben könne. Dann lächelte sie wieder, ihre noch feuchten Augen erstrahlten wie ein blauschimmernder Bergsee. Sie wollte gerade zu sprechen beginnen, da flog die Stubentür schwungvoll auf.
Chefinspektor Arno Klauber betrat in Begleitung zweier Kollegen die Bühne. Sein Blick huschte durch den Raum. Überrascht blieb er an uns hängen. Forschen Schrittes kam Dirty Arno zum Tisch. Reste seines schütteren und für meinen Geschmack zu langen Haares, klebten am Kopf, das zerknitterte Sakko war nass, offenbar regnete es immer noch.
»Wie ich sehe, sind sich die Herrschaften schon näher gekommen. Hat sie dich bereits um den Finger gewickelt, Linus? Sitzt du bereits in ihrem Spinnennetz? Würde mich nicht wundern.«
Ich wollte eine scharfe Antwort auf seine Anzüglichkeit geben.
Theres kam mir zuvor.
»Verschwinde einfach, Arno! Nimm deine beiden Bulldoggen mit, sucht euch ein anderes Gasthaus, gibt noch welche im Ort, aber lass uns in Frieden. Du kotzt mich einfach nur an.«
Dieser Gesichtsausdruck war neu an ihr, aus den schönen blauen Augen waren eiskalte Diamanten geworden. Verachtung lag in diesem Blick, abgrundtiefer Hass und bitterer Zorn.
»Dein Freund Plok ist uns entkommen, vorerst einmal, also sei vorsichtig. Vielleicht hat er es auch auf dich abgesehen. Keine Sorge, wir kriegen ihn, und dann wandert er wieder in die Klapsmühle, ob dir das in deinen Kram passt oder nicht, du kannst ihm nicht helfen. Auch nicht mit diesem ganzen beschissenen Psychoschmus. Er wird im Knast verrecken, wie er es verdient hat.«
Arno Klauber setzte ein wölfisches Grinsen auf, tippte mit dem Finger an die Stirn und wandte sich wortlos ab. Seine Begleiter lächelten spöttisch, und folgten ihm an einen der hinteren Tische.
Was war das denn?
»Macht es Ihnen etwas aus, wenn wir das Lokal wechseln? Ich will mir hier nicht den Abend verderben.«
Ich ließ unsere Zeche auf mein Zimmer setzen. Gemeinsam verließen wir den Gasthof. Der Regen war weitergezogen, die Straße glänzte im Schein der spärlichen Beleuchtung. Die herbstliche Luft fühlte sich frisch und klar an. Einige Häuser weiter gab es eine Bar, die noch geöffnet hatte. Ein bequemer Ecktisch gefiel uns, wir bestellten Gin-Tonic und genossen die heimelige Ruhe im Lokal.
»Klauber ist nicht gerade Ihr Freund, wie es aussieht. Er liebt ihren Job als psychologische Beraterin offenbar nicht wirklich, habe ich recht?«
Theres nahm einen Schluck des kalten Getränkes, sie wirkte wieder einigermaßen entspannt.
»Wollen wir uns duzen, Linus? Es redet sich leichter, was meinst du?«
»Zum Wohle, liebe Theres. Ein wahrhaft schöner Name.«
Ich erhob lächelnd mein Glas.
Und was ist mit einem Kuss?
Gedankenleserin Theres beugte sich über den kleinen Tisch, ein Hauch landete auf meinen Lippen. Sie schmunzelte verschmitzt.
»Mehr gibt’s nicht für verheiratete Männer.«
»Bist du eigentlich auch vergeben? Gibt es einen Mann in deinem Leben?«
»Es gab mal einen, das ist lange her, Linus. Eine halbe Ewigkeit.«
War da ein kleiner Schatten, in ihrem Gesicht?
»Vergiss es, es geht mich nichts an, war eine dumme Frage. Aus der Situation heraus, verzeih mir.«
»Alles gut, Linus, ist schon vorbei, es tat einmal weh, jetzt nicht mehr. Ein Wort noch zu Arno Klauber, dann vergessen wir ihn. Arno ist ein ausgezeichneter Ermittler, ein knallharter Bulle. Als Mensch ist er ein Versager. Hochgradig egoistisch, narzisstisch würde ich meinen. Ich konnte nie mit ihm zusammenarbeiten. Er hat einige Male versucht mich anzumachen. Vergeblich. Ich glaube, sein Interesse an mir ist in Hass umgeschlagen. Menschen wie er können es nicht ertragen abgewiesen zu werden. Es passt nicht in deren Ego. Er lässt mich bei jeder Gelegenheit spüren, dass er mich verabscheut, obwohl er mich begehrt. Ich spüre das, gerade bei Gelegenheiten wie vorhin. Er sieht uns beide, sofort schließt er auf eine engere Beziehung, die Folge ist Eifersucht, die ihn in Besitz nimmt. Im Grunde ein armer Mensch, der die Hilfe eines Psychiaters in Anspruch nehmen sollte.«
Wir unterhielten uns noch eine Weile über Ägid Plok. Dass er der Polizei so leicht entwischen konnte, war ein Rätsel. Wir hatten erfahren, dass er sich in die an das Hochmoor angrenzenden Wälder retten konnte. Am Mittelberg, ein Bergrücken, der das Moor nach Süden hin abgrenzte, gab es ein verzweigtes Höhlensystem. Vermutlich kannte sich Plok darin bestens aus und nutze das Labyrinth als Versteck. Die Polizei versuchte mit Suchhunden auf seine Spur zu kommen.
»Es ist spät geworden, ich muss früh raus. Lass uns bitte gehen.«
Theres gähnte verhalten und winkte dem Barmann zu.
»Du bist eingeladen, ich übernehme das«, sagte ich schnell, und reichte dem Keeper einen Fünfziger.
Wir wollten gerade zur Tür hinaus, als ein Mann eintrat. Überrascht blieb er stehen. Ich war sicher, ihn schon einmal gesehen zu haben.
Eine faszinierende Erscheinung. Groß, sportlich schlank, das sonnengebräunte Gesicht von schlohweissem Haar umrahmt. Dazu ein schmaler weißer Schnauzer, glasklare grünliche Augen und ein sympathisches Lächeln in den Mundwinkeln, so stand er vor uns.
»Theres, meine Liebe! Das ist aber jetzt wirklich einmal eine Überraschung! Was treibt dich aus der Stadt an’s Ende der Welt, doch nicht Heimweh?«
Theres war abrupt stehen geblieben, eine leichte Röte färbte ihre Wangen, und die war nicht von der Wärme in der Bar.
»Was ist mit dir Theres, erkennst du mich etwa nicht wieder?«
Das Lachen des Mannes klang gekünstelt, mit einem Mal wirkte er überheblich, geradezu arrogant.
»Ich kenne dich besser, als du denkst, Sev, viel besser.«
Ihre Augen hatten sich verdunkelt. Knisternde Spannung lag plötzlich in der Luft. Die beiden Menschen betrachteten sich zurückhaltend, als wäre es ihnen lieber gewesen, sich nicht begegnet zu sein.
»Willst du mir deinen Begleiter nicht vorstellen, Theres?«
»Severin Hörtlinger, Linus Gräber. Reicht das?«
»Freut mich Herr Gräber, darf ich euch einen Drink ausgeben?«
»Wie du siehst, sind wir auf dem Heimweg, also mach bitte den Ausgang frei, wir wollen gehen.«
Ehe ich noch etwas sagen konnte, war sie an Hörtlinger vorbei auf die Straße getreten. Ich nickte kurz, flitzte hinterher und holte sie nach einigen schnellen Schritten ein.
»Nicht gerade die feine Art, wie du mit den Männern umspringst«, sagte ich, leicht außer Atem.
»Jeder bekommt, was er verdient. Hörtlinger hat nicht mehr verdient, glaube mir, ich weiß wovon ich spreche. Er ist ein Aas, ein ausgebuffter Geschäftemacher und Schürzenjäger. Hast du noch nie von ihm gehört?«
»Wenn er der Hörtlinger ist, der mehrere Hotels, einen riesigen Gutshof und Immobilien im ganzen Land sein Eigentum nennt, dann habe ich von ihm gehört.«
»Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen, genau derjenige ist er.«
»Darf ich fragen, woher ihr euch kennt?«
»Du darfst. Antwort gibt es keine. Zumindest nicht heute. Wir sind da. Schlaf gut, Linus.«
Theres hauchte einen Kuss auf meine Wange und entfloh in die Hotellobby.
Gute Nacht, Theres, träum von mir.
Die Besprechung am Morgen war von kurzer Dauer. Ich durfte nicht daran teilnehmen. Bereits um 08:30 Uhr trat Hofrat Carl Alterbach an meinen Frühstückstisch. Er sah müde und abgespannt aus. Tiefe Ringe unter seinen Augen zeugten von einer schlaflosen Nacht.
»Sie haben den Idioten heute in der Morgendämmerung gefangen. Er hatte sich in einem Erdloch regelrecht eingegraben, sich selbst beerdigt, so könnte man es auch nennen. Die Hunde spürten ihn auf. Offenbar war es ihm nicht gelungen, die Höhlen zu erreichen. Unser Glück, sonst hätten wir mit Sicherheit länger suchen müssen. Hast du einen Schluck Kaffee für einen müden Alten, Linus?«
Ich besorgte Kaffee, Wurst, Käse und Gebäck vom Buffet, stellte es vor den Hofrat hin und bat ihn zuzugreifen, was er dankbar annahm.
»Was passiert jetzt mit Plok?«
Ich musste eine Weile auf die Antwort warten, der Herr Hofrat kaute genussvoll.
»Was meinst du wohl, Linus? Er kommt zurück in die Anstalt. Die Sache ist in die Hose gegangen, Richter und Staatsanwalt sind sauer. Er wird uns nicht zum Grab des anderen Mädchens führen, so viel ist sicher. Wenn wir es nicht zufällig selbst finden, bleibt das Kind wohl auf ewig im Moor. Die armen Eltern.«
Geziert hielt er die Kaffeetasse zwischen den Fingern, bevor er trank.
»Für dich ist damit auch Schluss. Du musst dein Buch ohne zweites Grab beenden oder es ins Feuer werfen, Linus. Tut mir leid, mehr konnte ich nicht für dich tun.«
Durch das breite Fenster des Frühstücksraumes sah ich Theres in ein Polizeifahrzeug steigen. Bevor ich reagieren konnte, war der Wagen abgefahren.
Mit ihm Theres Moor, von der ich weder Telefonnummer, noch Adresse hatte.
Vergiss es Linus, fahr nach Hause zu deiner Familie.
Der Winter hatte sich verabschiedet, der Frühling strahlte in seinen hellsten Farben. Ich hatte versucht, mehr über den Menschen Ägid Plok herauszufinden. Vergeblich. Der Zutritt zu ihm war untersagt, ich durfte ihn nicht mehr besuchen, nicht mit ihm sprechen. Hofrat Carl Alterbach war mit Jahreswechsel in den Ruhestand getreten. Damit hatte ich den letzten Verbündeten bei der Polizei verloren.
Ich überarbeitete das Buch Ägid Plok, legte das Manuskript unvollendet ab und befasste mich mit neuen Aufgaben. Vielleicht ließ es sich später veröffentlichen.
Viele schöne Stunden verbrachte ich mit meinem sechsjährigen Sohn Bastian. Endlich hatte ich Zeit, mich ihm und seiner Mutter Elisa zu widmen. Sie hatten es mehr als verdient.
Wir verbrachten einen herrlichen Urlaub auf Sardinien. Genossen ausreichend Kultur und Menschen bei einigen Städtereisen und nisteten uns für vier Wochen auf einer Almhütte in den Hohen Tauern ein. Einen Sommer lang waren wir glücklich wie nie zuvor in unserem Leben.
Ich hatte Ägid Plok vergessen, arbeitete voller Elan an einem neuen Roman.