Söhne von Mali - martin cereza - E-Book

Söhne von Mali E-Book

Martin Cereza

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Beschreibung

Issa verharrt geschockt am Tor zum verfallenen Haus seiner Familie. Aus dem Halbdunkel des Vorbaues erkennt er die Mutter auf dem zerschlissenen Armeebett. Die blutigen Kleider zerfetzt, ihre schönen Augen starr zur Decke gerichtet. Der Soldat mit den kalten Augen, diesen Augen, die Issa nie vergessen wird, steht entspannt rauchend vor der Hütte in Gao der Stadt in Mali am Ufer des Flusses ohne Wiederkehr. Plötzlich ist dem traumatisierten Jungen klar, dass er aus seiner Heimat fliehen muss. Was 2013 in Gao beginnt, endet für die Brüder Issa und Amiya nach einer langen, überaus beschwerlichen Flucht 2024 in Österreich.

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Seitenzahl: 254

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martin cereza,

ist ein österreichischer Autor. Seine Erzählkunst begeistert seit Jahren eine große Fangemeinde.

Im Verlag BoD München erschienen

BlaueisTod RotglutTod RachsuchtTod MoorlandTod MoorlandAsche Basima - Leidenschaft am Limit

Alle Werke als E-Book erhältlich

www.cereza.at

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel: 1

Kapitel: 2

Kapitel: 3

Kapitel: 4

Kapitel: 5

Kapitel: 6

Kapitel: 7

Kapitel: 8

Kapitel: 9

Kapitel: 10

Kapitel: 11

Kapitel: 12

Kapitel: 13

Kapitel: 14

Kapitel: 15

Kapitel: 16

Kapitel: 17

Kapitel: 18

Kapitel: 19

Kapitel: 20

Kapitel: 21

Kapitel: 22

Kapitel: 23

Kapitel: 24

Kapitel: 25

Kapitel: 26

Kapitel: 27

Kapitel: 28

Kapitel: 29

Kapitel: 30

Kapitel: 31

Kapitel: 32

Kapitel: 33

Kapitel: 34

Kapitel: 35

Kapitel: 36

Kapitel: 37

Kapitel: 38

Kapitel: 39

Kapitel: 40

Kapitel: 41

Kapitel: 42

Kapitel: 43

Kapitel: 44

Kapitel: 45

Kapitel: 46

Kapitel: 47

Epilog

Anmerkung des Autors

Gao

Stadt am Ufer des Flusses in Mali - Westafrika Jänner 2013

Prolog

Die eisige Kälte der Nacht in die Stadt getragen aus der nahen Wüste, ließ den Jungen in den zerlumpten Kleidern frieren, seinen abgemagerten Körper erzittern.

Issa war mit seinem Bruder Amiya auf dessen Moped in den holprigen Straßen der Innenstadt unterwegs gewesen.

Am desolaten Gepäckträger der klapprigen Aprilia, Baujahr 64, hatte es ihn ordentlich durchgeschüttelt. Es grenzte stets an ein Wunder, Amiya schaffte es immer wieder, Treibstoff für das uralte Gefährt aufzutreiben, um die Maschine in Gang zu setzen.

Es handelte sich um kleinere Mengen gängiger Drogen, die sein Bruder den Soldaten der französischen Beschützer besorgte, im Gegenzug für Treibstoff und Lebensmittel.

Vom Deal mit Suchtmitteln verstand Issa mit seinen dreizehn Jahren so gut wie gar nichts.

Er hatte den Rucksack zu tragen und das Moped zu bewachen, wenn Amiya in den schmalen Gassen verschwand, um sich mit Soldaten zu treffen, mehr nicht.

Auch heute waren sie ihre Runde gefahren. Auf dem Rückweg befanden sich im Rucksack Dosen mit Fleischpastete, getrocknete Früchte, Pumpernickel sowie Zigaretten für Amiya.

Jetzt saß Issa in der schäbigen Hütte, deren Außenwände aus alten Strohmatten, Wellblechteilen und morschen Holzlatten die kleine Familie vor der Kälte schützen sollten. Sein Vater hatte das Haus vor Jahren errichtet, bevor er bei einem Anschlag der Dschihadisten ums Leben kam. Seither versuchte ihre Mutter, die Familie so gut es ging über Wasser zu halten. Die Geschäfte ihres Ältesten leisteten einen wesentlichen Beitrag zum Überleben. Mit etwas Glück brachten ihre Nähkünste zusätzlich ein wenig Geld in ihr karges Leben.

Manchmal kamen Soldaten des nahen Stützpunktes der französischen Truppen zu ihr, um sich den einen oder anderen Uniformteil reparieren zu lassen. Issa bestaunte bei dieser Gelegenheit die athletischen Männer in ihren Tarnuniformen. Ihm gefielen besonders die kahl geschorenen Köpfe mit dem grünen Barrett der Fremdenlegionäre.

Amiya war noch einmal weggefahren. Seine Mutter schlief bereits tief und fest auf dem alten Feldbett der Armee. Vater hatte es einst nach Hause gebracht.

Im Halbschlaf nahm Issa das Geräusch wahr. Es kam vom Vorplatz, dort, wo die Blechschüsseln, welche Mutter zum Kochen verwendete, über der Feuerstelle verteilt waren.

War Amiya zurück?

Issa warf sich eine der alten Decken über die Schultern und schlich ins Freie. Im fahlen Licht einer weit entfernten Straßenleuchte versuchte er etwas zu erkennen.

Sein Bruder war es nicht.

Issa hätte den Motor hören müssen, der übliche Gestank des Zweitakters war ebenso unverkennbar.

Dann war es wieder ruhig. Der Junge drehte sich um, wollte zurück auf seine Schlafstelle, da bemerkte er die Gestalt im Halbschatten der Hauswand.

Plötzlich hatte er Angst, drückte sich eng an die verdeckte Seitenwand und wartete. Die Gestalt bewegte sich tastend weiter, erreichte den Eingang zur Hütte und verschwand im Inneren.

Issa erstarrte.

Unfähig, sich zu bewegen, lauschte er in die Nacht hinein.

Ein erstickter Schrei ließ ihm das Blut gefrieren.

Mutter!

Es war Mariam gewesen, seine Mutter, die versucht hatte zu schreien.

Issa fasste sich ein Herz. Vorsichtig schlich er auf lautlosen, nackten Füßen zum Eingang.

Sein Blick fiel auf das desolate Armeebett. Auf dem grob gezimmerten Nachttisch lag eine schwere Stablampe, deren Schein die gegenüberliegende Wand anstrahlte.

Der Anblick im fahlen Halblicht war entsetzlich.

Mariams buntes Nachthemd, sie hatte es selbst aus Stoffresten genäht, war ihr vom Körper gerissen worden. Issa blickte in die großen Augen im schönen, von Angst und Schrecken gezeichneten Gesicht seiner Mutter. Zwischen ihren gespreizten Beinen bewegte sich stoßweise ein Mann, dessen nacktes Hinterteil im Halblicht hell leuchtete. Seine Hose hatte er nur bis zu den Waden runtergelassen, während er keuchend die Frau missbrauchte. Mit der auf ihren Mund gepressten Hand hinderte er sie daran, Hilfe herbeizurufen.

Miriam gab ihrem Sohn ein schwaches Handzeichen, er verstand und flüchtete aus der Hütte auf die Straße. Er wollte schreien, da bemerkte er den gepanzerten Mannschaftswagen, dessen Scheinwerfer kurz aufflammten. Am Kotflügel lehnte lässig ein schwarzafrikanischer Soldat. Das Sturmgewehr auf Issa gerichtet, bedeutete er ihm näher zu kommen.

Der Junge zitterte am ganzen Körper, die Angst trieb ihm trotz nächtlicher Kälte Schweißperlen auf die schwarze Stirn. Er konnte sich nicht bewegen.

Der Soldat schlenderte auf ihn zu, legte ihm den Arm kameradschaftlich um die Schulter, führte ihn zum Mannschaftswagen, wo er ihn auf den Beifahrersitz setzte.

Schweigend, der Soldat rauchte, saßen die beiden im Wagen und blickten auf die von unzähligen Schlaglöchern zerstörte Straße.

Als ein Mann aus der halb verfallenen Hütte trat, sich eine Zigarette anzündete und auf den Wagen zukam, steckte der Soldat dem kleinen Issa zwei Tüten Kaugummi zu, schob ihn auf die Straße, tätschelte seine Wange und flüsterte, er solle schnellstens verschwinden.

Issa rannte in eine der unbeleuchteten Seitengassen, von wo aus er beobachtete, wie der Peiniger seiner Mutter den Panzerwagen bestieg. Ein weißer Soldat mit einem zufriedenen Lächeln im Gesicht.

Dieses Gesicht würde Issa ein Leben lang nicht vergessen.

Der Mannschaftswagen fuhr gerade an, da bog Amiya mit seinem stinkenden Untersatz um die Ecke.

Die Miene seines kleinen Bruders ließ ihn Unheil ahnen.

In der Hütte war es stockdunkel.

Amiya entzündete die Petroleumlampe, das Geschenk einer Krankenschwester, die für eine internationale Hilfsorganisation in der Stadt arbeitete und der Amiya einst geholfen hatte, eine Unterkunft zu finden.

Er leuchtete auf das Bett der Mutter. Geschockt wich er einen Schritt zurück.

Miriams Mund stand weit offen.

Die schönen Augen starr zur Decke gerichtet, lag sie am über und über mit ihrem Blut besudelten Bettlaken.

Am Hals klaffte eine breite Wunde, ihre Kehle war mit einem einzigen Schnitt durchtrennt worden.

Wien

Stadt an der Donau Elf Jahre später Frühjahr 2024

1

Sein Blick schweifte über die beachtliche Schar geladener Gäste, die den parkähnlichen Garten der Villa für eine ausschweifende Fete auserkoren hatten.

Das in der Szene obligate rote Modegetränk in Händen, wiegten sich die Damen zur angenehmen Musik von DJ X aktuell die Nummer Eins in der Stadt, während die Herren ihre Netzwerke knüpften.

Alena hatte zur jährlichen fête blanche geladen. Die Damen in luftigen Sommerkleidern, die Herren in mehr oder wenig eleganten Sommerhosen und Shirts, alle in weiß bis hellbeige. Die elitäre Jugend tummelte sich bereits am Pool.

Teenager, deren Eltern die Kohle für eine Überwinterung auf Seychellen oder Malediven nicht zur Verfügung gestellt hatten, trugen angepasst an das Motto weiße Haut zur Schau.

Hausherr Konsul Helmut Gaggera, kraulte seinen mächtigen Schäferhund zwischen den Ohren. Das gewaltige Tier hatte zufrieden knurrend die Vorderpfoten auf die Terrassenbrüstung gelegt. Die Ohren horchend aufgestellt, beobachtete er neben seinem Herrn das bunte Treiben.

»Idioten, armselige Idioten, das sind sie. Werfen das mühsam erarbeitete Geld ihrer Ernährer zum Fenster hinaus und tanzen zu nicht ertragender Musik. Ich kotze gleich, Odin. Komm, mein Junge, lass uns hinein gehen.«

Odin, von Gaggera mit Absicht nach dem nordischen Göttervater benannt, folgte ihm in das weitläufige Herrenzimmer. Es galt seinem Gebieter als Rückzugsort. Geliebt und sauber gehalten, wie Gaggera den Umstand benannte, dass sich niemand außer ihm darin aufhalten durfte. Eine Ausnahme von dieser ungeschriebenen Regel betraf seinen Hund sowie hochgestellte Persönlichkeiten, vorwiegend aus politischen Kreisen, die aufgrund ihrer Stellung in der Lage und bereit waren, dem Hausherrn gefällig zu sein.

Derer waren nicht wenige.

Helmut Gaggera, seines Zeichens Honorarkonsul eines winzigen Inselstaates im Südpazifik, stand als Oberhaupt dem Clan der Großfamilie Gaggera vor.

Zusammen mit seiner Ehefrau Alena, deren Sohn aus erster Ehe, Pavel Fialo, dessen brasilianischer Frau Rebeca und den beiden Kindern Melinda und Cristiano bewohnte er die prächtige Villa in Wien-Döbling.

Ursprünglich hatte er das stolze Anwesen erworben, um einen ruhigen Lebensabend im noblen Viertel verbringen zu können.

Mit der erhofften Ruhe und Gemütlichkeit war es bald vorbei gewesen.

Anfang 2016 war plötzlich Alenas lange Jahre verschollener Sohn Pavel wieder aufgetaucht. Der Junge war nicht dumm, das musste sich Gaggera eingestehen.

Er nahm ihn in sein Unternehmen auf, wo Pavel bald erfolgreich mitarbeitete.

Im Sommer 2020 heiratete er die brasilianische Prostituierte Rebecca Gaiga. Die dunkle Schönheit schenkte ihm im selben Jahr Melinda, eine süße Tochter, zwei Jahre später den ersehnten Sohn Cristiano. Die berufliche Vergangenheit von Rebecca Gaiga störte in der Familie niemand, zumal Alena vor der Ehe ebenso viele Jahre dem ältesten Gewerbe nachgegangen war.

Helmut Gaggera hatte Alena in einem der von ihm betriebenen Freudenhäuser kennengelernt und später geheiratet. Kurz nach dem Jahrtausendwechsel trennte sich Gaggera von den Barbetrieben und Laufhäusern.

Dank allerbester Beziehungen in die Stadtpolitik konnte er im Immobiliengeschäft Fuß fassen und in den darauffolgenden Jahren ein Vermögen erwirtschaften.

Der Konsul setzte sich in den bequemen ledernen Chesterfield-Stuhl. Aus dem Humidor entnahm er eine edle Zigarre. Ein Glas Whisky stand auf dem Beistelltisch bereit.

Nach kurzem Klopfen öffnete sich die Tür des Herrenzimmers.

Butler Joshua, Schwarzer und Seele des Hauses, steckte den Kopf durch den Spalt.

»Der Herr Stadtrat wäre jetzt so weit, Herr Konsul?«

»Soll reinkommen Joshua. Hol uns eine Kleinigkeit vom Buffet.«

»Sehr wohl, Herr Konsul.«

Gaggera war aufgestanden. Ein Mann mit Bierbauch und Glatze eilte auf ihn zu.

»Helmut, lieber Freund! Gut schaust aus, mein Lieber, du wirst ja immer jünger, wie machst denn das? Kannst mir einen Tipp geben?«

Johann Grangl, Stadtrat, zuständig für Stadtentwicklung, Stadtplanung und Architektur, fasste die dargebotene Rechte mit beiden Händen und schüttelte diese kräftig.

»Servus, Hansl, schön, dass du Zeit hast. Weißt, wir Unternehmer arbeiten hart, sehr hart, das hält jung und hilft uns, die nervende Bürokratie deiner Abteilung halbwegs zu ertragen. Setz dich doch.«

Nur kurz reagierte der durchtriebene Stadtrat auf die ironische Kritik, dann hatte er wieder sein smartes Lächeln im feisten Gesicht.

»Immer ein Witzchen auf den Lippen der Herr Konsul. Ich glaube nicht, dass du Grund hast zur Beschwerde, deine Einreichungen werden stets vorrangig bearbeitet, dafür sorge ich, was keineswegs immer einfach ist. Die Idioten von der Opposition schnüffeln neuerdings überall herum. Man muss aufpassen.«

Der Konsul drehte die dicke Zigarre zwischen den Fingern.

»Auch etwas zum Rauchen, Hansl? Ich habe eine kleine Jause bestellt, der Joshua bringt sie. Vielleicht lieber danach eine Zigarre? Jetzt einen Whisky, ein Aperitif für uns Männer, okay?«

Ohne eine Antwort abzuwarten schenkte er großzügig ein, reichte seinem Gast das Glas.

»Auf uns Hansl. Dass alles so bleibt, wie es ist. Prosit.«

Die Männer hoben die Gläser.

Joshua räumte die Teller, worauf er kalte Köstlichkeiten serviert hatte, ab und zog sich diskret zurück. Konsul Gaggera entzündete seine ausgegangene Zigarre. Er bot Grangl eines der edlen Stücke an.

Schweigend rauchten die beiden Männer, jeder schien seinen Gedanken nachzugehen.

»Die Angelegenheit um das alte Areal liegt mir schwerer im Magen, als mir lieb ist. Was sind die nächsten Schritte?«

Gaggera war plötzlich zur Sache gekommen.

»Es spießt sich. Mieterschutz. Wir haben darüber doch schon gesprochen, Helmut.«

»Ich kenne die Probleme. Sie müssen gelöst werden, umgehend. Mein Kunde will nicht länger warten. In den nächsten zwei Monaten muss eine Entscheidung fallen. Entweder die alten Buden werden geschliffen oder das Projekt ist gestorben. Was das für dich bedeutet, ist dir doch klar? Kein Neubau, keine Kohle für den Herrn Stadtrat, kein feudaler Lebensstil. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Juliette, deine liebe junge Frau in Zukunft ausschließlich von deinem Gehalt leben will, besser gesagt leben kann?«

Der Konsul lächelte süffisant, die Zigarre spielerisch drehend.

Hans Grangl war leicht erblasst.

2

Odin hatte wie jede Nacht des Nachbarn Katze am Radar seiner Spürnase.

Mit kräftigen Sprüngen hetzte er die Gartenmauer entlang, auf deren Sims die freche Schönheit seiner Begierde saß, wohl wissend, dass der riesige Schäferhund sie nie erreichen konnte.

»Lass’ endlich das blöde Vieh in Ruhe, Odin! Komm her, Schluss jetzt, ihr weckt mir noch die Nachbarschaft mit dem lächerlichen Geheule.«

Der Hund gehorchte wie immer aufs Wort.

Nervös mit dem Schwanz wedelnd, den Blick noch immer auf Cinderella gerichtet, ging er korrekt bei Fuß seines Herrn.

Der Konsul war stolz auf seinen vierbeinigen Freund, den er im Verein für Wachhunde dressierte. Die Spezialausbildung hatte er allerdings im großen Garten verborgen hinter der hohen Mauer vollzogen. Dort war Odin scharf gemacht worden, für den Angriff auf Menschen trainiert.

Seine Geschäfte im Dunst des Rotlichtes ruhten seit Jahren, Feinde waren trotzdem geblieben.

Ein kleiner Teil der gefährlichsten Typen saß noch für Jahre hinter Gittern, was aber nicht bedeutete, dass er nicht jeden Tag mit einem Rachefeldzug verschiedener Clans rechnen musste.

Skrupellose Gangster aus dem Kreis der Albaner oder Serben hatten noch die eine oder andere Rechnung mit dem ehrenwerten Konsul offen. Dies war einer der Gründe, warum er nur äußerst selten den schützenden Bereich der Villa verließ. Was er allerdings immer machte, war der nächtliche Spaziergang mit Odin. Meist nach Mitternacht umrundete er das Viertel in Wien-Döbling. So auch heute. Es war bereits weit nach Mitternacht, die Party hatte seinen Ausflug nach hinten verschoben.

»Komm, Odin. Genug für heute, es ist spät, wir müssen ins Bett. Morgen gehts wieder über die lange Route versprochen alter Junge.«

Der Hund hob den Blick, als verstünde er jedes Wort des Konsuls. Es war Gaggera zur Gewohnheit geworden, mit Odin zu sprechen wie mit einem nahestehenden Menschen. Sein Eheleben war an einem Punkt angelangt, der kaum noch viele Worte zuließ. Alena, seine schöne Frau mit ihren sechzig Jahren ein viertel Jahrhundert jünger und agil wie eine Vierzigjährige, hatte sich schon lange von ihm abgewandt. Sie verbrachte ihre Tage am Golfplatz, die langen Nächte auf angesagten Partys in der Donaustadt.

Hinter vorgehaltener Hand sagte man ihr ein Verhältnis zu einer bekannten Größe der Wiener Pop-Szene nach. Niemand wusste, dass dies nicht der einzige Liebhaber war. Alena nahm sich, was ihr vor die Flinte kam.

Der Konsul wusste Bescheid. Es interessierte ihn nicht wirklich, solange seine Frau nicht mit einem Konkurrenten in Kontakt kam, ließ er sie gewähren.

Eine einzige, ständige Angst nistete in seinem Hinterkopf. Die Angst, von einem Familienmitglied hintergangen zu werden, verraten an einen seiner Geschäftsgegner.

Alena hatte er im Griff, sie würde das Goldene Kalb niemals schlachten, zu wichtig waren ihr Luxus und Freiheit. Mehr als Gaggera ihr bot, konnte kein anderer Mann aufbringen und schließlich war ihr bewusst, dass ihre Jahre der Jugend ohnehin vorbei waren, sie langsam aber sicher dem Alter zusteuerte. Wozu sich also das warme Nest für den Ruhestand zerstören?

Gefährlicher erschien ihm sein Ziehsohn. Pavel hatte sich zwar gut in die Firma eingearbeitet, er war jedoch nicht sein eigen Fleisch und Blut.

Mit Alena gab es einen Ehevertrag, Gütertrennung und diese Dinge. Im Falle seines natürlichen Ablebens stand ihr eine Summe zur Verfügung, die bis zum Ende ihrer Tage für ein Leben, wie sie es jetzt führte, ausreichte.

Anders lag die Sache mit Pavel. Er war von jeglicher Erbschaft ausgenommen.

Der Konsul traute ihm nicht über den Weg. Er wusste nicht, wo sich der Junge bis vor wenigen Jahren herumgetrieben hatte, wovon er gelebt hatte, was er, wenn überhaupt, gearbeitet hatte.

Pavel war ihm bisher auf alle diesbezüglichen Fragen ausgewichen.

Herr und Hund spazierten durch das schmale Gittertor neben der breiten Zufahrt. Odin begann leise zu knurren, ein untrügliches Zeichen, dass jemand in der Nähe war. Gaggera verhielt den Schritt, lauschte der Stimme aus dem Halbdunkel.

»Wo seid ihr denn? Wir haben uns Sorgen gemacht, um diese Zeit noch unterwegs, bald beginnt ein neuer Tag.«

Pavel trat aus der Dunkelheit neben dem schmalen Kiesweg, der zum Vordereingang der Villa führte. Er trug noch immer die weiße Kleidung, in der Hand eine kleine Flasche Pils.

Der Konsul merkte sofort, dass sein Ziehsohn betrunken war.

»Das könnte ich dich fragen. Warum bist du nicht im Bett neben deiner Frau, wie es sich für einen Ehemann gehört? Du bist betrunken, keine gute Vorbereitung für die Verhandlungen, die anstehen. Wir haben einen Termin am Vormittag schon vergessen?«

Gaggera hatte längst gemerkt, dass sie nicht alleine waren. Odin gab ihm unverkennbare Zeichen. Er blickte in die Dunkelheit hinter Pavel, ein heller Schatten bewegte sich von einer der alten Eichen weg.

Eine Frau.

Ihr weißes Sommerkleid hatte sie verraten.

»Ich nehme an, das ist nicht Rebecca. Du hast zehn Minuten, um diese Person aus meinem Garten zu entfernen, danach lasse ich Odin von der Leine. Scheißkerl, verdammter.

Unter dem Schlafzimmer der eigenen Frau eine dieser Tussis zu vernaschen, das wirst du mir später erklären müssen. Los, jetzt schaff sie weg, die verfluchte Nutte.«

Einen Sekundenbruchteil trafen sich ihre Augen. Der alte Konsul sah den Hass, die Kälte, die Verachtung. Dann lächelte Pavel, spuckte verächtlich aus und machte sich davon.

»Wir werden aufpassen müssen, Odin. Dieser Kerl ist unberechenbar. Wir werden ihn im Auge behalten, wird er uns gefährlich, entsorgen wir ihn, was meinst du, alter Freund?«

Odin winselte leise, rieb die warme Schnauze am Oberschenkel seines Herrn.

Im Salon brannte noch eine der Stehlampen neben der ausladenden Sofalandschaft. In eine kuschelige Decke gewickelt schlief Alena ihren Rausch aus.

Leises Schnarchen drang zu ihnen herüber. Gaggera entledigte sich der Gummistiefel, schlüpfte in die von Joshua bereitgestellten Pantoffel. Odin stand am Wassergefäß und schlabberte frisches Wiener Hochquellenwasser.

»Sag’ dem Frauerl Guten Morgen Odin.«

Der Schäferhund sprang mit einem Satz auf die schlafende Frau und leckte mit seiner klitschnassen Zunge deren Wangen. Alena stieß einen schrillen Schrei aus.

»Schaff mir dieses grauenvolle Vieh vom Hals! Verdammt noch einmal verschwinde Odin. Hau endlich ab!«

Sie versuchte den spielverliebten Hund wegzustoßen, ohne Erfolg. Der Konsul lachte lauthals.

»Er liebt dich, Alena! Du musst seine Liebe erwidern, erst dann lässt er von dir ab.«

Wieder lachte der Hausherr schallend.

»Schluss jetzt, Odin. Geh Platz!«

Sofort gehorchte das Tier, verzog sich auf eine breite Decke neben dem Kamin.

Alena richtete sich mühsam auf. Sie sah blass und schrecklich aus.

Zerzaustes Haar, verwischte Schminke und aufgelöstes Mascara zeichneten schwarze Konturen über die klinisch korrigierten Backenknochen oberhalb der kunstvoll aufgespritzten Lippen.

»Was willst du von mir, du verdammter Vollidiot! Verzieh dich in dein Bett.

Nimm deinen stinkenden Köter mit, ihr kotzt mich an.«

Als habe Odin das Schimpfwort verstanden, hob er leise knurrend den Schädel.

»Eines Tages wird Odin dir deine verschmierte Fratze polieren, du solltest vorsichtig sein mit deiner Klappe, besonders wenn du angesoffen bist. Gute Nacht, mein Engelchen.«

Gaggera gab dem Hund ein Zeichen. Zusammen stiegen sie die breite Treppe hoch, gefolgt von den hasserfüllten Blicken der Frau am Sofa.

3

Joshua eilte beflissen um den alten Jaguar herum, riss die hintere Tür auf und verneigte sich gekonnt vor Konsul Gaggera, der mühsam aus dem edlen Gefährt kletterte.

Der Wagen stand in der um diese Zeit noch ruhigen Fußgängerzone der Kärntner Straße. Außer Zubringerdiensten hatten ausnahmslos ausgesuchte Mieter die Berechtigung, in die noble Geschäftsstraße einzufahren.

Die Firma HelGag-Real-Estate, eingetragen als Gesellschaft mit beschränkter Haftung, gehörte dazu. Man residierte in einem alten Palais der Wiener Prachtstraße.

War der erste Stock ausschließlich mit Büroräumen belegt, so befand sich im zweiten Stock ein Besprechungszimmer, ein Salon samt kleiner Bar, ein Waschraum mit allen Annehmlichkeiten für Gäste sowie ein Wohn-Schlafbereich, den der Konsul gelegentlich nutzte. Eine Küche stand zur Zubereitung kleinerer Gerichte und Kaffee zur Verfügung.

Heute war Gaggera direkt in den Besprechungsraum gegangen. Eine der Bürokräfte servierte schwarzen Kaffee, Orangensaft und kaltes Wasser für die erwarteten Gäste.

Der Konsul hatte die Gewohnheit, stets als Erster im Büro zu sein. Er liebte die Ruhe der Stadt während der Fahrt, die morgendliche Stille in den Geschäftsräumen. Diese Zeit am frühen Morgen schenkte ihm die besten Ideen für den Tag, gewürzt mit manch hinterhältiger Note.

Joshua würde wie jeden Tag den teuren Firmenwagen in die Tiefgarage bringen, vom nahen Traditionsbäcker frisches Gebäck abholen und damit zu seinem Chef eilen.

Es war ein Ritual.

Der schwarze Diener teilte eine der Kaisersemmeln, bestrich die obere Hälfte mit Butter, die untere mit einem Löffel Honig aus dem Waldviertel, klappte die Hälften zusammen, schnitt die fertige Semmel in der Mitte durch und reichte einen Teil dem Konsul, der diesen zu seiner zweiten Tasse Kaffee zu genießen pflegte. Der zweite Teil wurde aufbewahrt, ihn nahm der Konsul zur Jause um Punkt zehn Uhr zusammen mit einer Tasse Tee mit Ingwer.

Aus dem Waschraum zurück, nahm Gaggera hinter dem ausladenden Schreibtisch Platz, kontrollierte die Telefonanlage, klappte das Notebook auf und ließ sich von einer der Vorzimmerdamen mit dem Rathaus verbinden.

»Verehrung lieber Bürgermeister, hast ein paar Minuten für mich?«

»Servus Konsul. Natürlich, ein paar Minuten gehen immer, womit kann ich gefällig sein?«

»Kannst bitte den Grangl auf Vordermann bringen? Da geht nichts weiter!«

»Was ist mit dem Stadtrat? Hat er etwas falsch gemacht?«

»Falsch gemacht? Er ist auf dem besten Weg, ein Geschäft in mehrstelliger Millionenhöhe zu zerstören!«

»Ich verstehe noch immer nicht, lieber Konsul. Ich glaube jedoch, wir sollten derlei Dinge nicht am Telefon regeln. Ich mach dir einen Termin.«

»Termin! Termin! Ich habe in einer Stunde eine Besprechung mit meinem Anwalt, der Grangl ist auch geladen, ich möchte nur, dass du ihm vorher noch schnell einige Befehle mit auf den Weg gibst. Haben wir uns verstanden, lieber Bürgermeister?«

Der Bürgermeister hatte aufgelegt.

Wütend knallte Gaggera den Hörer auf die moderne Telefonanlage.

Mit seiner heftigen Bewegung stieß er ein Wasserglas um. Es zerschellte klirrend am Parkettboden.

»Räumt jemand den Saustall da weg!«

Sein Gebrüll hatte eine Bürokraft in Bewegung gesetzt. Zusammen mit Joshua entfernte sie die Splitter, während eine zweite Dame den Boden wischte.

In der Zwischenzeit war es sieben Uhr geworden.

»Joshua stelle fest, wo Pavel steckt. In zwei Stunden ist die Besprechung angesetzt, ich brauche ihn vorher. Sieh zu, dass du ihn findest, etwas plötzlich, wenn ich bitten darf!«

Ohne ein Wort flitzte der Diener aus dem Raum. Normalerweise behandelte Gaggera seine Angestellten relativ gut. Er bezahlte pünktlich überdurchschnittliche Löhne, ließ sie in seinem Ferienhaus am Wörthersee einmal jährlich zum Selbstkostenpreis einwöchige Urlaube verbringen und hatte ein besonders gutes Verhältnis zu Mitarbeitern mit Kleinkindern. Wenn er allerdings, wie gerade jetzt, wütend war, ging man ihm besser aus dem Weg.

Im fahlen Gesicht die Spuren einer durchzechten Nacht, eine Tasse Espresso in der leicht zittrigen Hand, so betrat Pavel den Raum. Gaggera musterte seinen Ziehsohn, er vermied eine Strafpredigt, zu knapp war die Zeit, das konnte er später immer noch nachholen. Im nüchternen Zustand war das in der Nacht zur Schau gestellte verächtliche Grinsen verschwunden.

Pavel hielt den Blick gesenkt, auf die Anweisungen seines Stiefvaters wartend.

»Setz dich. Hast du die Unterlagen durchgearbeitet? Wir brauchen starke Argumente, sonst können wir die Sache vergessen. Grangl, dieser lächerliche Speichellecker, windet sich wie ein Wurm, der richtet sich nach dem Wind wie üblich unter seinesgleichen. Im Stadtsenat ist noch nichts entschieden, im Gegenteil. Diese verdammten Gutmenschen in der Opposition legen sich quer. Sozialer Wohnbau, Nachhaltigkeit, dieser ganze Unfug interessiert mich nicht. Ich habe Verpflichtungen meinen Investoren gegenüber, das Projekt am alten Areal wird durchgezogen. Basta!«

Er schlug so heftig auf die massive Platte des langen Verhandlungstisches, dass die Flaschen mit Fruchtsaft und Wasser gefährlich ins Wanken gerieten. In solchen Augenblicken war nicht zu erkennen, dass der Konsul bereits vierundachtzig Lenze auf seinem breiten Rücken lagerte. War er in Rage, konnte alles passieren, ein heftiger Schlagabtausch genauso wie ein plötzlicher Herzstillstand, wobei letzteres Pavel sicher besser gefallen hätte.

»Ich habe alles im Griff, keine Sorge. Schlage vor, wir lassen die Herren Politiker erst einmal kommen, sollen sie uns ihre Vorstellungen unterbreiten, danach zeigen wir ihnen den Weg.«

»Wo ist der verdammte Avvocato?«

Für ihn war sein Anwalt Henry W. Hengstfeld, immer schon der Avvocato gewesen. Eine Gewohnheit aus seiner Zeit als junger Zuhälter in Mailand, wo er in den Sechzigern den Grundstock für seine Karriere gelegt hatte.

»Reg’ dich nicht auf, bin schon da.«

Ein Mann im maßgeschneiderten Anzug samt Weste, mit italienischer Designertasche und Maßschuhen stand in der von Joshua geöffneten Tür.

»Es gibt keinen Grund für Nervosität, wir haben gute Karten, keine Sorge, das Ding ziehen wir durch, da könnt ihr sicher sein, Freunde.«

Hengstfeld schnappte sich eine Tasse Kaffee und ließ sich in einen der bequemen Stühle rechts vom Kopfende nieder, an der Seite des Konsuls.

In kurzen prägnanten Sätzen trug der Anwalt seine Strategie für die Verhandlungen mit den zuständigen Beamten der Stadtverwaltung vor.

Das Lämpchen auf der Gegensprechanlage blinkte.

»Nicht jetzt«, sagte Pavel in das kleine Mikro.

»Herr Stadtrat Grangl und zwei Damen vom Bauamt sind hier«, erwiderte eine vorsichtige Stimme.

»Bieten Sie den Gästen Platz und Kaffee, ich lasse dann rufen.«

Es bereitete dem Konsul Vergnügen, die Leute warten zu lassen.

»Das ärgert sie, diese arroganten Typen. Es bringt ihr eingelerntes Konzept durcheinander, innerlich sind sie wütend, das ist ein Vorteil für uns. Lassen wir sie also ein wenig schwitzen.«

Gaggera hatte ein seltenes Lächeln aufgesetzt, forderte den Avvocato auf weiterzusprechen. Nach zwanzig Minuten bat er die Teilnehmer herein.

Johann Grangl, zuständiger Stadtrat für das zu verhandelnde Objekt Areal 24, war bemüht, seine innerliche Wut zu verbergen, was ihm gut gelingen mochte, den Konsul aber konnte er nicht täuschen.

»Guten Morgen, mein lieber Konsul, Verehrung Herr Rechtsanwalt, Servus Pavel. Darf ich vorstellen Frau Diplomingenieur Kabelsberger-Micic, Frau Magister Hoferauer, die Damen bearbeiten den bezüglichen Antrag, aber das wissen wir alle längst. Gibt es eine Sitzordnung, bitte schön?«

Die Begrüßung kam zuckersüß und schmeichelnd über die Lippen des Politikers.

»Jeder darf sitzen, wo er will, nur mein Platz ist heilig.«

Der Konsul verbeugte sich vor den Damen zu einem Handkuss und wies auf die Stuhlreihen. Joshua brachte frischen Kaffee und zwei kleine Tabletts mit zierlichen Weißbrotschnitten, belegt mit allerlei Köstlichkeiten.

»Die Brötchen sind frisch aus dem teuren Laden am Graben, keine Scheu, die Damen greifen Sie bitte zu, lassen Sie sich das Gabelfrühstück schmecken, was natürlich keine Bestechung sein kann, nicht wahr?«

Der Anwalt schob die Tabletts in Richtung der beiden Beamtinnen schelmisch grinsend.

»Na ja, eigentlich dürfen wir nach den neuesten Bestimmungen nicht einmal einen Kaffee annehmen, ohne in Korruptionsverdacht zu geraten. Ich denke, im Hause des Herrn Konsul ist eine Ausnahme erlaubt. Es wäre geradezu ein Affront, die weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannte Gastfreundschaft des Hauses Gaggera zu negieren.«

Grangl setzte sich, wobei er dem Konsul einen eher verächtlichen Blick zuwarf, was der mit einem selbstbewussten Lächeln quittierte.

»Avvocato! Bring den Herrschaften unsere Vorstellungen zur Kenntnis, die Zeit drängt.«

Der Konsul lehnte sich in seinem Stuhl, der die anderen an Größe und Höhe überragte, was einem Thron nicht unähnlich erschien, zurück. Auffordernd nickte er dem Anwalt zu.

Die Verhandlungen zogen sich bis Mittag. Zum Geläute der Glocken des Doms zu St. Stephan verließen die Vertreter der Stadt den Sitzungsraum.

Die drei zurückgebliebenen Herren begaben sich zum Lunch in ein Innenstadtrestaurant. An einem Tisch, vom Hauptraum durch eine Wand aus Bleiglas und Holzschnitzwerk abgetrennt, machten sie sich daran, die Ereignisse zu evaluieren.

»Wo bitte sind deine guten Karten Hengstfeld? Nach meinem Ermessen hat sich nichts geändert, wir stehen dort, wo wir heute am Morgen standen. Die Kerle haben uns über den Tisch gezogen.«

Wenn Gaggera den Anwalt mit dem Familiennamen ansprach, war Feuer am Dach, was dieser wusste.

»Du siehst das falsch. Nicht über den Tisch gezogen, sie haben das Recht auf ihrer Seite, das Mietrecht. Ich habe es bereits mehrmals erwähnt, solange wir diese zwei Parteien nicht aus dem Haus bekommen, geht gar nichts. Ich hatte gehofft, dass sich die Stadtgemeinde bemühen wird, die Leute in einer der modernen städtischen Mietwohnungen unterzubringen, Grangl hatte etwas in diese Richtung angedeutet, heute habe ich wieder nichts davon gehört. Natürlich macht der Herr Stadtrat das nicht umsonst. Eine Gegenleistung muss drinnen sein, verstehen wir uns? Ich vermute, er wollte neben den Weibern nicht konkret werden. Er wird sich bei dir melden, da bin ich sicher.«

Der Konsul griff nach einer Speisekarte, in die er sich vertiefte, ohne zu antworten. Pavel ergriff das Wort.

»Du sprichst von zwei Parteien, das klingt, als wären zwei Familien in den alten Häusern. In Wahrheit besteht die Einheit aus drei unmittelbar zusammenstehenden Blöcken. Das mittlere Gebäude steht seit neun Jahren leer, dreimal haben die Bullen das Haus von Besetzern geräumt.

Im linken Gebäude wohnt im zweiten Stock eine Dame, Anna Lebzeltha. Letzte Woche feierte sie den neunzigsten Geburtstag. Ich war vor Ort im Auto, als die Frau Vizebürgermeisterin mit einem Geschenkkorb, im Schlepptau den hofeigenen Lokalreporter, nach oben eilte.

Im rechten Gebäude wohnt im Parterre der Hausmeister Emil Novotnic, tschechischer Emigrant, siebenundachtzig Jahre, er ist Witwer nach seiner Frau Malinka. Beide Wohnungen genießen Mieterschutz bis zum Lebensende. Das heißt, gehen sie nicht freiwillig raus, kannst du zusehen, wie die Hütten zerfallen. Dagegen unternehmen kannst du gar nichts. Und wenn dieses korrupte Miststück Grangl diese Leute nicht herauslocken kann, nicht mit den modernsten Wohnungen am Stadtrand mit Blick ins Grüne, dann bleibt uns nur eine Wahl, dann müssen wir das erledigen.«

Der Konsul hob den Blick.

»Schön und gut. Wie bitte will der Herr Pavel das erledigen?«

Der Kellner war an den Tisch getreten. Sie hatten sich für das Tagesmenü entschieden. Fritattensuppe, Tafelspitz, Röstkartoffel, Spinat, Apfelkren und Dessert vom Buffet. Hengstfeld bestellte, nickte dem Konsul zu, der unterbrochen worden war.

»Wie soll ich das verstehen? Wir sind nicht in Palermo, Neapel oder weiß der Teufel, wo es die ehrenwerte Gesellschaft sonst noch geben mag, wenn du deren Methoden damit meinst.«

»Natürlich nicht, Helmut. Ich gehe davon aus, dass mit Geld etwas zu machen sein muss, jeder hat seinen Preis, ist doch eine altbekannte Weisheit oder etwa nicht?«

Der Avvocato schmunzelte.

»Ich darf dich daran erinnern, dass wir bereits ein Angebot gelegt haben. Keine Chance, die alten Herrschaften haben sich entschlossen, in den Wohnungen, wo sie seit dem Ende des Krieges leben, auch zu sterben. Das war zumindest die Aussage der alten Dame.«