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"Die Zeit, an Jesus zu glauben, ist vorbei. Jetzt ist die Zeit, nachzufolgen." – Wenn es um Nachfolge geht, kennt Rainer Harter keine Kompromisse. Als Leiter des überkonfessionellen Gebetshauses Freiburg ruft er zu konkreter Jesus-Nachfolge auf, die keinen Platz lässt für leere Phrasen. In diesem Buch zeigt er seiner Leserschaft die Radikalität und Schönheit von Nachfolge. Er reißt mit und gibt konkrete Praxisbeispiele und Anleitungen. Ein leidenschaftliches Buch, das die Notwendigkeit der Nachfolge in einer Zeit aufzeigt, in der die Kirche schrumpft und das motiviert, ganz persönlich ernst mit dem Thema Nachfolge zu machen.
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Seitenzahl: 311
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Rainer Harter
Radical Love
Jesus light gibt es nicht – Echte Nachfolgebraucht das ganze Herz
Die Bibelverse wurden, soweit nicht anders angegeben, folgender Ausgabe entnommen:
Elberfelder Bibel 2006, © 2006 by SCM R.Brockhaus im SCM-Verlag GmbH & Co. KG •Bodenborn 43, 58452 Witten.
Weiter wurden verwendet:
Hoffnung für alle®, Copyright © 1983, 1996, 2002 by Biblica US, Inc., verwendet mit freundlicher Genehmigung des Verlags (HFA)
Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart (LUT)
Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift, vollständig durchgesehene und überarbeitete Ausgabe © 2016 Katholische Bibelanstalt GmbH, Stuttgart. Alle Rechte vorbehalten (EÜ)
Neues Leben. Die Bibel © der deutschen Ausgabe 2002 / 2006 / 2017 SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH, Max-Eyth-Str. 41, 71088 Holzgerlingen (NLB)
© Verlag Herder GmbH, Freiburg 2021
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlagmotiv: © stevecoleimages / iStock / GettyImages
Umschlagkonzeption: Verlag Herder
E-Book-Konvertierung: ZeroSoft SRL
ISBN E-Book (ePub): 978-3-451-82236-0
ISBN Print: 978-3-451-03311-7
Vorwort
Einleitung
Teil 1
1 Wo sind die Nachfolger?
2 Wir brauchen Bewegung .
3 Die Motivation zur Nachfolge
4 Das alte und das neue Evangelium
5 Warum wir wieder radikale Nachfolger brauchen
6 Wenn Jesus ruft
7 Die Bedingungen der Nachfolge
8 Ganz nah dran
9 Von innen nach außen
10 Das Kennzeichen der Nachfolger
11 Der Schönheit auf der Spur
12 Der Duft Jesu
13 Berufen, nicht getrieben
14 Die anderen Götter
15 Verzichten, um zu gewinnen
16 Leben im Geist
17 Der Heilige Geist
18 Bis in den Tod
Teil 2 Ein Nachfolger werden
19 Der gute Kampf
20 Eine Woche der Einübung in die Nachfolge Jesu
21 Fräsen für Gott
22 Schluss
Dank
Anmerkungen
Vita
Du hast unser Herz mit deiner Liebe getroffen und wie Pfeile, die im Herzen haften, tragen wir deine Worte in uns.
Das war für Augustinus (5. Jh.), den Bischof von Hippo im heutigen Algerien, das Wesentliche, das er nach seiner Bekehrung zum Glauben an Jesus Christus begriffen und erfahren hat: Gott liebt mich mit einer unglaublichen, ja mit einer radikalen Liebe, die ganz von der Wurzel seiner Existenz kommt und ganz an die Wurzel meiner Existenz geht. Weil es Gott immer ums Ganze geht – ums Ganze unserer Existenz, ums Ganze unseres Heils, ums Ganze unserer Rettung –, kann er nicht anders, als uns radikal zu lieben! Aber auch wir kommen mit Halbherzigkeit nicht weit, weder in unserer Beziehung zu Gott noch in unserer Beziehung zu unseren Mitmenschen. Und genau das ist unser Problem!
Weil der Gott Jesu Christi ein Gott ist, der immer aufs Ganze geht, kann er nicht anders, als uns radikal zu lieben: „Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben hingibt für seine Freunde“, sagt Jesus kurz vor seiner Lebenshingabe am Kreuz zum Heil der Welt (Joh 15,13, EÜ). Das ist das absolute Maximum: wenn einer sein Leben hingibt für seine Freunde. Und Jesus sagt’s nicht nur, sondern tut’s: Er gibt sein Leben hin für Dich, für mich, für alle Menschen! Radikaler kann Liebe nicht sein. Doch wie antwortet ein Mensch darauf, der so radikal geliebt wird? Können wir Gott überhaupt so radikal lieben, wie er uns liebt?
Wir müssen eingestehen: Unser Problem ist immer wieder unsere Schwachheit und unsere Halbherzigkeit. Wir wollen Gott lieben, ihm vertrauen, ihm folgen, aber eben nicht bedingungslos und nicht kompromisslos. Ein paar Bedingungen hier und ein paar Kompromisse da müssen schon möglich sein. Mit dieser Herausforderung war auch Jesus mit seinen Jüngern immer wieder konfrontiert.
Die Sache Gottes ist seine Radikalität und Ganzherzigkeit, die Sache der Menschen oft genug Schwachheit und Halbherzigkeit. Beides scheint nicht zusammenzugehen. Das Lebens- und Liebesverhältnis zwischen Gott und Mensch klappt nicht auf Augenhöhe, so sehr wir Menschen uns auch bemühen: „Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach.“ (Mk 14,38, EÜ) Aber muss das zwangsläufig zur Verzweiflung, zur Aufgabe unseres Bemühens oder gar zur Gleichgültigkeit führen? Denn der Anspruch Gottes an uns bleibt ja bestehen: „Liebe den Herrn, deinen Gott, mit deinem ganzen Herzen und mit deinem ganzen Leben und mit all deinen Sinnen“ (Mt 22,37, zit. nach Fridolin Stier), also so radikal, so kompromisslos und so ganzherzig Du nur kannst! In dieser Spannung stehen und leben wir, solange wir leben.
Als ich 1984 zum Priester geweiht wurde, habe ich mir als Leitwort für meinen priesterlichen Dienst das Wort des Apostels Paulus gewählt: „Ich hatte mich entschlossen, bei euch nichts zu wissen außer Jesus Christus, und zwar als den Gekreuzigten!“ (1 Kor 2,2, EÜ) Aus damaliger Sicht war mein Start in die Seelsorge unter diesem Motto auch von einer gewissen Radikalität und Kompromisslosigkeit geprägt, markiert durch die Formulierung: „nichts … außer“. Ob sich diese Fokussierung auf den Gekreuzigten und auf dessen Absolutheitsanspruch: „Niemand kommt zum Vater außer durch mich!“ (Joh 14,6, EÜ) in meiner Verkündigung und Seelsorge immer gezeigt und durchgehalten hat, das wage ich heute zumindest zu bezweifeln. Doch der Anspruch bleibt bestehen.
Ein Schlüssel zu einer Verbindungstür zwischen Gottes Ganzherzigkeit und unserer Halbherzigkeit, zwischen seiner radikalen Liebe und unserer schwachen Liebe, ist die theologische Erkenntnis der Einwohnung Gottes in uns. In der Taufe hat Gott tatsächlich und nicht nur symbolisch Wohnung in uns genommen mit seinem Heiligen Geist: „Wisst ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid und der Geist in euch wohnt?“ (1 Kor 3,16, EÜ) Diese Realität müssen wir uns immer wieder bewusst machen, um daraus leben zu können. Augustinus, einer der ersten systematischen Theologen der frühen Kirche, spricht davon, dass Gott uns auf Grund seiner Einwohnung in unserem Innersten näher ist, als wir uns selbst jemals nahe sein können: „interior intimo meo et superior summo meo“ („tiefer als mein Innerstes und höher als mein Höchstes“, in: Bekenntnisse, III 6. 11). In diesem Innewohnen des uns radikal liebenden Gottes in uns liegt die Bedingung der Möglichkeit, dass auch wir immer vollkommener zu lieben fähig werden, weil es dann nicht mehr unser Werk, sondern Gottes Werk in uns ist. Wir selbst sind offensichtlich auf Grund unserer gefallenen, gebrechlichen menschlichen Natur nicht in der Lage, so vollkommen und so radikal zu lieben, wie Gott es tut. Aber er, der liebende Gott in uns, kann das bewirken, wenn wir ihn in uns erkennen und ihn in uns wirken lassen, was er wirken will. Denn seit meiner Taufe gilt ja: „Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir!“ (Gal 2,20, EÜ)
Das ist auch eine der zentralen Thesen von Rainer Harter: „Wer das Innen pflegt, indem er als höchstes Ziel seines Lebens die Gegenwart Gottes gesetzt hat und danach strebt, ihm nahe zu sein, der hat den größten Schatz gefunden, den es gibt“. (Kap. 1,9) Diesen Gedanken des Gnadenwirkens Gottes „von innen nach außen“ hat auch Paulus mehrfach in seinen Briefen an die ersten christlichen Gemeinden formuliert. Einen davon habe ich mir als Wahlspruch für meinen bischöflichen Dienst gewählt, als ich 1997 zum Bischof geweiht wurde: „Die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist.“ (Röm 5,5, EÜ) Mit anderen Worten: Der Schatz, den Gott in uns hineingelegt hat, ist unermesslich groß und birgt ein enormes Liebespotenzial, sofern wir diesen Schatz entdecken, pflegen und heben.
Das Buch von Rainer Harter wird nicht allen gefallen. Manche werden sich schwertun mit seiner Radikalität, mit der er auf einer kompromisslosen Lebensübergabe an Gott als Notwendigkeit der Nachfolge Christi insistiert und dabei nicht lockerlässt. Doch eine Verwässerung oder Aufweichung seiner Grundüberzeugung, dass Gottes radikale Menschenliebe unsere radikale Gottesliebe provozieren und erzeugen will, kommt für einen Gottesmann wie ihn, der für die Nachfolge Jesu brennt, nicht in Frage.
Ob dieses Buch auch für Katholikinnen und Katholiken lesbar ist? Und ob! Schon allein wegen der vielen katholischen Stimmen, die Rainer Harter zu Wort kommen lässt: Tertullian, Johannes Chrysostomus, Papst Leo XIII., Theresia von Avila, Johannes Tauler, Thomas von Aquin, Bruder Lorenz von der Auferstehung und Karl Rahner. Aber nicht nur deshalb ist dieses flammende Plädoyer für eine brennende Gottesliebe auch für katholische Gläubige oder Suchende empfehlenswert. Getreu der Devise des Apostels Paulus, „Prüft alles und behaltet das Gute“ (1 Thess 5, 21, EÜ), bin ich davon überzeugt, dass sich in den folgenden Seiten für jeden Gott suchenden Menschen genügend Gutes findet, das sich zu bewahren, ja mehr noch: zu leben lohnt.
Weihbischof Thomas Maria Renz
Bistum Rottenburg-Stuttgart
Christlicher Glaube ohne Nachfolge ist eine Täuschung
Manchen meiner Vorträge stelle ich einen Satz voran, der die Zuhörer schockieren soll. Ich mache das, um Aufmerksamkeit für die Bedeutung der darauffolgenden Aussage zu wecken. „Die Zeit, an Jesus zu glauben, ist vorbei“, sage ich, mache eine kurze Pause, in der man für gewöhnlich die sprichwörtliche Stecknadel fallen hören könnte, und führe dann weiter aus: „und die Zeit, ihm nachzufolgen, ist gekommen.“
Ich sage das jeweils aus der vollen Überzeugung heraus, dass wir uns ein Christentum ohne sichtbare und kompromisslose Nachfolge einfach nicht mehr leisten können. Wir leben in einer sich unglaublich schnell wandelnden Welt, in der wir als Kirche den Anschluss an die Entwicklungen fast schon verloren haben. Einstmals sinnvolle Strukturen und Hierarchien sind zu Bremsklötzen geworden, die zur Erstarrung führen, weil wir noch immer daran festhalten wollen, obwohl sie sich ändern müssten. Doch wenn sich die Kirche nicht radikal wandelt, wird sie verschwinden. Das Christentum war von Beginn an als eine Bewegung gedacht. Die ersten Jünger wurden „Anhänger des Weges“ genannt.[1] Diese frühe Bezeichnung der christlichen Gemeinde weist namentlich auf die Dynamik hin, die dem neuen Glauben innewohnte.
Die christliche Gemeinde verstand sich als Gruppe von Jesus ausgesandten Menschen, die sich aufmachen, um die Welt durch die Kraft und die
Botschaft des Evangeliums zu verändern. Wenn Kirche aufhört, eine Bewegung zu sein, beginnt sie, sich um sich selbst zu drehen, und verliert sowohl ihre Bestimmung als auch ihr Leben. Wo Stillstand ist, findet sich bald der Tod ein. Leben ist Bewegung und Kirche muss Nachfolge sein.
Wenn ich im Folgenden von „der“ Kirche spreche, meine ich damit „Kirche“ im Sinne der „Ecclesia“, also die Gesamtheit der Christen. Wann immer der Begriff im Text auftaucht, ist damit also weder die Kirche als Institution gemeint noch eine bestimmte christliche Konfession, sondern der „Leib Christi“, der aus den an Jesus Christus gläubigen Menschen besteht.
Im vorliegenden Buch geht es um die Frage, wie wir als Christen des 21. Jahrhunderts leben, und wie wir die revolutionären Werte und die Kraft des Evangeliums von Jesus Christus in eine Welt bringen können, die sich immer schneller zu drehen scheint und in der die meisten Menschen nur ein Ziel haben: die Erreichung materiellen Wohlstands.
Wie können wir wieder zu einer Bewegung werden, die einen so positiven Sog erzeugt, dass wieder Menschen davon angezogen werden, die mittlerweile bereits in der zweiten Generation keinen Bezug mehr zum christlichen Glauben oder ganz generell zu Transzendenz haben? Was bedeutet es heute, Christ zu sein? Wer will überhaupt noch die Botschaft vom Kreuz und der Auferstehung hören? Es lebt sich schließlich doch sehr gut ohne Gott!
Die Kirche ist angesichts einer totalen Säkularisierung und der Auflösung christlicher Werte erstarrt und hat in manchen Bereichen bereits resigniert. Die Kirchenleitungen sorgen beispielsweise mit neuen Strukturen für die Zeit vor, in der es erwartungsgemäß kaum noch Geistliche oder Christen geben wird. Sie erwarten nicht mehr, dass die Abwärtsspirale enden und es einen neuen Aufschwung zu einem lebendigen Glauben an Jesus Christus geben könnte. Zu viel Energie fließt in die Eigenverwaltung, den Erhalt von Gebäuden oder den Versuch der Aufrechterhaltung des Status quo, also den Versuch, ihre Mitglieder irgendwie zu halten oder nicht zu verschrecken. Viel zu wenig Kraft hingegen fließt „auf die Straße“ – dorthin, wo die Menschen sind.
Anstatt die durchaus vorhandenen Chancen zu erkennen, die unsere Zeit bietet, und sich darauf vorzubereiten, Antworten
geben zu können, wenn die Blase des Materialismus platzen wird, schaut die Kirche nach innen und beschäftigt sich mit sich selbst. „Draußen“ aber gärt es. Man muss kein Prophet sein, um in unserem Zeitalter Parallelen zu anderen Hochkulturen früherer Epochen zu finden, die letztlich an sich selbst zerbrochen sind. Wo Image-Besessenheit und Dekadenz allgegenwärtig sind, befindet sich die betreffende Gemeinschaft bereits auf dem Weg der Auflösung. Der Preis, den wir Menschen der sogenannten „Boom and Bust-Economy“[2] des späten Kapitalismus für unsere Gier und unseren Narzissmus zahlen müssen, ist vielen noch nicht bewusst, denn noch leben sie in der Illusion, dass es immer so weitergehen wird wie in den letzten Jahrzehnten. Wir gehen davon aus, dass Wachstum unendlich ist und sich unser Wohlstand weiter vergrößern wird. Obwohl die letzte Weltfinanzkrise noch nicht einmal fünfzehn Jahre zurückliegt, haben wir deren massive Auswirkungen auf das Leben so vieler Menschen bereits wieder verdrängt, um erneut dem Glauben an endloses Wachstum anzuhängen. Während ich diese Zeilen schreibe, befinden wir uns mitten in der Corona-Pandemie, die uns zeigt, wie schnell sich beispielsweise die Versorgungslage mit materiellen Gütern selbst in hochtechnisierten Ländern wie Deutschland ändern kann. So hat sich die gewohnte Versorgungssicherheit auf drastische Weise als ein fragiles Bauwerk herausgestellt, das leicht ins Wanken geraten kann.
Die aktuelle Periode ist eine Zeit des Trauerns und der Chancen zugleich. Konfrontiert mit der Pandemie, wurde auch die Kirche von einer Schockstarre ergriffen. Sie ist so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass Antworten auf eine Zeit wie diese erst einmal ausblieben. Von einer hoffnungsvollen und die Menschen ermutigenden Botschaft war wenig zu hören. Doch einige Christen ergriffen die Chance, die durch die Pandemie und damit durch die zwangsweise Reduzierung des Lebensradius der Menschen entstand. Sie traten mit kleinen und großen Aktionen an die Öffentlichkeit und zeigten: Christen sind in dieser Zeit nicht verzweifelt.[3] Sie haben Hoffnung und sie geben diese weiter. Diese punktuellen Aufbrüche dürfen jetzt nicht aufhören, sondern müssen sich hin zu einer echten Bewegung entwickeln, die das Christentum mit seiner Botschaft ins Bewusstsein der Menschen bringt und ihnen so eine Alternative zum Lebensstil der Vergötterung des Materialismus bietet.
Die Kirche wird immer schneller mit neuen Herausforderungen konfrontiert. Entwicklungen wie die in großen Sprüngen verlaufenden Erfolge im Bereich der künstlichen Intelligenz, der Humangenetik, die Genderdebatte, die in ihren extremsten Ausprägungen so weit geht, die natürlichen Geschlechter infrage stellen zu wollen, oder einer Medizin, die mehr und mehr in der Lage ist, Körperteile und Organe künstlich herzustellen, steht sie oft ratlos gegenüber. Doch anstatt sich auf die grundlegenden und ewig gültigen Worte Jesu zu besinnen und diesen in radikaler Hingabe zu folgen, reagiert die Kirche auf die rasant zunehmenden Veränderungen mit Verleugnung oder Anpassung. Während die eine Gruppe Christen versucht, die Entwicklungen alternativlos zu ignorieren, passt sich eine andere Gruppe einfach an.
Diejenigen, die sich für den Weg der Verleugnung entscheiden, wählen den Blick nach innen und verweigern sich der Auseinandersetzung mit dem Jetzt und dem Morgen. Sie entscheiden sich für ein Festklammern an Traditionen und versuchen, den aktuellen Wandel auszusitzen. Oder sie stützen sich auf die Überzeugung, dass die Bibel dieser Welt den Untergang und uns Christen den Himmel prophezeit. Wozu sollten sie sich also noch anstrengen oder der Kritik aussetzen?
Andere Christen haben sich – viele durchaus unbewusst – an den postmodernen Zeitgeist angepasst. Dieser hat den Heiligen Geist in vielen kirchlichen Institutionen und Gemeinden abgelöst. Eine Kirche jedoch, die sich am Zeitgeist orientiert, drückt sich damit selbst den Stempel der Vergänglichkeit auf. Sie akzeptiert nicht nur, dass ihre Botschaft nicht mehr gültig ist, sondern kapituliert vor dem gesellschaftlichen und politischen Druck, sich endlich an die aufgeklärte Zeit anzupassen, und gibt ihr Beharren auf die Gültigkeit von Worten, die zweitausend Jahre alt sind, auf. Unsere Gesellschaft ist vom wilden Strom des postmodernen Wahrheitspluralismus ergriffen. Für die Propheten der Postmoderne gilt: anything goes, es gibt nicht nur eine Wahrheit, sondern viele. Wer hier von „der Wahrheit“ spricht, macht sich sofort verdächtig. Die postmoderne Gesellschaft reagiert wütend auf jeden, der an eine ewig gültige Wahrheit glaubt. Bisherige Werte und Normen haben für sie vielfach ausgedient. Dies sollte uns als Christen jedoch nicht einschüchtern, sondern erkennen lassen, dass unsere Worte und Überzeugungen gerade jetzt gebraucht werden, um ein Gegenkonzept zu dem Ziel anzubieten, auf das der oben genannte Strom zufließt: die Auflösung der Allgemeingültigkeit aller christlichen und moralischen Werte und damit die Mündung ins Chaos.
Zu Jesu Zeiten waren die Zustände gar nicht so viel anders: Da gab es die religiösen Bewahrer und innerlich hart gewordenen Traditionalisten, deren Glaube nicht mehr von Beziehung, sondern von immer feiner ausformulierten Regeln geprägt war. Und es gab die herrschende Klasse von Heiden: die Römer. Sie stellten mit ihrem Verhalten alles in Frage, was das Judentum als den Willen Gottes verstand. In diese explosive Zeit voller religiöser und politischer Spannungen trat der Sohn Gottes hinein. Seine Botschaft war radikal. Er wurde von allen Seiten angefeindet, sowohl von den Religiösen als auch von den Nichtreligiösen. Und dennoch trat er mit seiner Radikalität eine Welle los, die bis heute unvergleichlich in der Geschichte der Menschheit geblieben ist. Er bot einen neuen Weg an und legte dar, dass dieser endgültig und für alle Zeiten einmalig und alternativlos sei. Er passte sich nicht an, sondern war bereit, Verfolgung, Folter und schließlich sogar den Tod in Kauf zu nehmen für das, was ihm sein Vater aufgetragen hatte.
Es ist Zeit, dass wir Jesus nachfolgen und dem Zeitgeist eine Absage erteilen.
Wir können die Realität nicht mehr länger ignorieren. Die beiden Großkirchen haben ihre über Jahrhunderte gültige Vorreiterrolle, die Lebensführung der Menschen prägen zu können, verloren. Sie sind vielfach gefangen im systemimmanenten Versuch, sich selbst zu erhalten und ihre Existenz zu rechtfertigen. Der Versuch der Anpassung an den Zeitgeist ist bereits gescheitert, denn er hat nur zu einer Verweltlichung der Kirchen und damit zu Unsichtbarkeit geführt. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir einsehen, dass sich unsere Ziele tatsächlich kaum von denen unterscheiden, welche die Taktgeber der Medien den Menschen präsentieren. Auch wir Christen wollen als erstes Ziel „besitzen“. Dabei geht es nicht einmal nur um materiellen Besitz, sondern um den Besitz Gottes selbst. Wir wollen ihn uns gefügig machen und ihn in unser Denkmuster pressen. Gott soll sich uns anpassen.
In diesem Buch möchte ich einen anderen Weg aufzeigen, auf dem die Kirche in die Zukunft gehen kann. Ich verwende bewusst nicht den Begriff „neu“, denn es gibt keine Alternative und keine Neuerfindung des christlichen Wegs, wie ihn Christus uns gezeigt hat. Der Weg nach vorne ist schlicht und einfach die Besinnung auf die Spur, die Jesus gelegt hat. Der aufmerksame Blick auf die Aussagen der Heiligen Schrift, die Betrachtung der Kirchengeschichte und die jahrzehntelange Zugehörigkeit zur Kirche hat mich zu dem Schluss geführt, dass nur das Evangelium Jesu, wie er es uns verkündigt hat, uns in die Zukunft führen kann. Allein die kompromisslose Nachfolge Jesu und der unbedingte Glaube an die ewige Gültigkeit seiner Worte werden verhindern können, dass wir Christen zu einer Randerscheinung werden. Im grellen Blitzlichtgewitter des Zeitenwandels sind wir Christen gegenwärtig höchstens vergleichbar mit Teelichtern, die einfach übersehen werden, anstatt selbst das Licht der Welt zu sein.[4] Wir können es uns nicht erlauben, zu glauben, dass sich schon alles wieder einrenken wird. Die Kirche muss sich jetzt rückbesinnen, indem sie wieder zur nachfolgenden Kirche Jesu Christi wird. Dann wird sie auch wieder zu einem Licht in der Dunkelheit und zu einem Anlaufpunkt für diejenigen, die sich nicht mehr mit den Angeboten des Zeitgeistes zufriedenstellen lassen und nach Alternativen suchen.
Wie aber „geht“ Nachfolge Jesu heute? Wie sieht der radikale Weg für jemanden aus, der mitten im Berufsleben steht? Wie kann unser Licht wieder so hell scheinen, dass es alles andere überstrahlt und nicht nur als Nebeneffekt des Feuerwerks dieser Welt empfunden wird? Wie können wir das Interesse der Menschen von heute wecken, deren Aufmerksamkeitsspanne so extrem kurz ist?[5] Dies sind einige der Fragen, die ich im Folgenden stellen und dann versuchen werde, zu beantworten.
Ich weiß nicht, wie Sie die Sache sehen oder wie sehr Sie bereits in der Nachfolge Jesu stehen. Aber ich möchte Sie gerne auf eine herausfordernde Reise mitnehmen, die uns alle aus der Gewöhnlichkeit und der Anpassung an den Mainstream und hin zu einem echten Leben führen kann. Dieses Leben wird Ihnen viel abverlangen, aber Sie werden dafür mit großem Reichtum an Schönheit und einem Abenteuer belohnt, das Sie auf andere Weise niemals erreichen können. Nach fast vier Jahrzehnten, in denen ich versuche, Jesus nachzufolgen, kann ich sagen:
Ein Leben mit Jesus ist das beste Leben, das es gibt.
TEIL 1
Das Problem, wenn man heute von radikaler Jüngerschaft spricht, ist, dass wir in den letzten sechzig bis siebzig Jahrzehnten zu wenige Beispiele dafür gesehen haben. Die meisten Zweige des Christentums produzieren Konsumenten christlicher Angebote. Wir sahen über Jahrzehnte Menschen, die sich den Gemeinden gegenüber wie Einkäufer verhielten, die auf der Suche nach dem besten Angebot für ihre eigene Seele waren.[6]
Bill Easum[7]
Wir sind vom Weg abgekommen. Viel zu viele Christen sind zu Konsumenten geworden und viele Kirchen drehen sich um sich selbst. Wir sind zu Verwaltern des Glaubens geworden, die versuchen, den Status quo der Kirche zu bewahren, und haben vergessen, dass wir eigentlich Gesandte sein sollen. Von Dynamik oder von einer echten Vorwärtsbewegung ist in der Kirche von heute wenig zu sehen.
Wenn Jesus Christus von Nachfolge sprach, dann war damit immer eine neue Lebensrichtung verbunden, die ein Nachfolger einschlagen musste. Er machte ganz deutlich, dass diejenigen, die an ihn glauben wollen, ihre Zelte abbrechen und aus ihrer Komfortzone in ein neues Leben aufbrechen mussten. Viele der Worte Jesu zeigen, dass seine Nachfolger in Bewegung sein würden. Er sprach vom „schmalen Weg, der zum Leben führt.“ (Mt 7,14) Er sandte seine Jünger immer wieder aus,[8] und am Ende seines irdischen Lebens gab er ihnen und all denen, die nach ihnen kommen würden, den so genannten „Missionsbefehl“:
Geht hin in die ganze Welt und predigt das Evangelium der ganzen Schöpfung!
Markus 16,15
Von Wanderpredigern sind wir Christen zu Menschen geworden, die zwar glauben, aber nicht mehr in Bewegung sind. Es stimmt, dass sich unsere Lebensbedingungen und unsere Kultur heute stark von den in den ersten Jahrhunderten vorherrschenden unterscheiden. Aber noch immer geht es im Christentum vor allem um Nachfolge, um Bewegung, um Hingabe.
Das ursprünglich größte Abenteuer, nämlich als „Gesandter Christi“ (2 Kor 5,20) das Licht des Evangeliums dorthin zu bringen, wohin wir jeweils gehen, wählen nur noch wenige Christen. Glaube ist Privatsache geworden und damit erstarrt. Wir sind keine „Menschen des Weges“ mehr, wie die ersten Christen genannt wurden.[9] Wir haben unseren Schwung verloren, als wir damit angefangen haben, den christlichen Glauben von konkreter Nachfolge zu trennen.
Vor allem in der westlichen Welt herrscht im Leib Christi ein Denken vor, das eine Trennlinie zwischen Glaube und Nachfolge zieht. Während die Bibel denjenigen einen Christen nennt, der sich auf den Weg gemacht hat, um Jesus nachzufolgen, haben wir im Laufe der Zeit die beiden Begriffe voneinander getrennt. Deswegen gibt es heute auf der Welt zwar viele Christen, aber nicht so viele Nachfolger. Ein Großteil der Kirche in der westlichen Welt unterliegt einer Täuschung, denn die Trennung zwischen Glaube und Nachfolge entbehrt der biblischen Grundlage und ist deshalb schlicht und einfach falsch. Die großen Schwierigkeiten, in die wir als Kirche geraten sind, rühren maßgeblich von dieser Zweiteilung her. Sie prägt das zeitgenössische Christentum entscheidend. Die Trennung hat dazu geführt, dass der christliche Glaube keine Bewegung mehr ist, sondern sich in selbsterhaltenden Strukturen verfestigt und damit seinen Elan und seine positive Anziehungskraft verloren hat.
Eigentlich sollten alle Christen zugleich Nachfolger sein. Wir sollten als Menschen leben, die mit Gott etwas in Bewegung bringen, etwas, das seinem Willen entspricht und sein Reich vergrößert. Stattdessen sind wir zu Konsumenten geworden, denen es genügt, sonntags in die Kirche zu gehen. Während wir als Jünger „draußen“ in der Welt für Jesus unterwegs sein sollten, leben wir unser nachfolgeloses Christsein hinter verschlossenen Türen. Zur selben Zeit schrumpft die Kirche der Belanglosigkeit entgegen.
An Jesus Christus als den Erlöser zu glauben, bedeutet nach den Aussagen der Bibel unumgänglich auch, ihm als Herrn zu folgen. Das neue Leben, welches Gott uns schenkt, führt unweigerlich und folgerichtig auch zu einer neuen Lebensweise, die Gottes Ziele zum Inhalt hat. „Wie der Leib ohne Geist tot ist, so ist auch der Glaube ohne Werke tot“ [10]schreibt der Apostel Jakobus. Wo also die Nachfolge fehlt, bleibt der Glaube stecken. Wenn wir unseren Glauben nur auf uns und unsere persönlichen Bedürfnisse beziehen, jedoch nicht nach außen aktiv werden, kreisen wir um uns selbst.
In der englischen Sprachwelt wird eine Christenheit, die nicht mehr nachfolgt, als Spectator Christianity[11] bezeichnet, was ins Deutsche übersetzt so viel bedeutet wie „Zuschauer-Christentum“. Diese Bezeichnung macht auf schockierende Weise deutlich, dass es so etwas wie christliche Zuschauer gar nicht geben darf. Und doch gibt es sie massenhaft. Zu den „Zuschauer-Christen“ gehören diejenigen, deren Glaube sich an Angebote gebunden hat. Ihre persönliche Gottesbeziehung ist stark abhängig von angeleiteten Programmen, an denen sie sich beteiligen können, oder von der Dynamik einer Gruppe, von der sie sich mitreißen lassen. Als Individuum hat es ein Zuschauer-Christ entweder verlernt oder es wurde ihm nie beigebracht, alleine und von Angesicht zu Angesicht mit Gott in Beziehung zu treten. Ein Zuschauer-Christ braucht für seine religiöse Erfahrung immer einen Vermittler wie den Priester, Pastor oder den Lobpreisleiter, einen Hauskreis, den Gemeindegottesdienst, ein Lobpreiskonzert oder eine christliche Konferenz. Diese an sich positiven Handreichungen der Kirche dürfen den Platz der persönlichen Beziehung zu Gott jedoch nicht ersetzen. Sie können sie fördern und ihr einen Ausdruck verleihen, aber nicht an ihre Stelle treten.
Manchen „Zuschauer-Christen“ fehlt der persönliche Glaube fast ganz. Sie bejahen die Werte und genießen die Gemeinschaft einer christlichen Gruppe, leben geistlich gesehen jedoch wie aus zweiter Hand – von den Erfahrungen, die andere mit Gott machen. Wie aber soll eine Person, die erstens keine persönliche Gottesbeziehung hat und zweitens gar kein Nachfolger ist, andere Nachfolger hervorbringen oder anleiten? Welche Inhalte kann derjenige vermitteln, der denjenigen gar nicht kennt, dem es nachzufolgen gilt? Ein Zuschauer bringt keine neuen Nachfolger hervor, sondern weitere Zuschauer.
Den meisten Zuschauern kann man keinen Vorwurf machen, denn es fehlen ihnen einfach die Vorbilder. Echte Nachfolger, deren Leben von Glauben und Bewegung zeugt, sind Mangelware. So weiß der Zuschauer entweder gar nicht, dass es so etwas wie Nachfolge gibt, oder er fühlt sich in seiner Komfortzone so wohl, dass er nicht dazu bereit ist, sich anderen Menschen zuzuwenden, um ihnen das Evangelium weiterzusagen. Sein Glaube ist geprägt von der Suche nach einem angenehmen Lebensstil ohne große Konfrontationen.
Die Aufmerksamkeit eines Zuschauers ist auf sich selbst gerichtet, ein Nachfolger hingegen versucht, seinen Blick auf Jesus gerichtet zu halten. Er ist bereit, zu gehen, wohin ihn Jesus auch führen mag.
Bevor ab etwa dem Jahr 40 für die an Jesus Christus Gläubigen die Bezeichnung „Christen“ immer häufiger verwendet wurde, nannte man sie vielfach „Jünger“. Zur Zeit Jesu gab es zahlreiche Rabbiner und andere geistliche Leiter, die ebenfalls Jünger hatten. Im Neuen Testament finden sich mehrere Belege dafür, dass beispielsweise Johannes der Täufer Jünger hatte,[12] die seinem asketischen Lebensstil und seiner Lehre folgten. Die Pharisäer, die immer wieder mit Jesus in Streit gerieten, betrachteten sich als Jünger Moses.[13] Der Begriff war den Menschen in der jüdischen Kultur des ersten Jahrhunderts geläufig und wenn jemand als Jünger bezeichnet wurde, wussten sie, welche Art der Lebensführung er gewählt hatte.
Das griechische Wort μαθητής (mathētēs), welches im Neuen Testament für „Jünger“ verwendet wird, bezieht sich generell auf einen Studenten, Schüler oder den Anhänger einer bestimmten Lehre. In der Antike wurde damit häufig eine Person bezeichnet, die hingebungsvoll nicht nur der Weltanschauung eines religiösen Führers oder Philosophen folgte, sondern ihm als Person. Der Lehrer verkörperte seine Lehre und wurde als ein besonderer Mensch angesehen, dessen Lebensführung seine Jünger nachahmten. Jünger eines Meisters zu sein, bedeutete damals, das eigene Schicksal in die Hände eines anderen zu legen und seine Selbstständigkeit aufzugeben. Eigentlich hat sich bis heute daran nichts geändert.
Heute ist Jesus für viele zu einer Art Glücksbringer geworden, der ihnen zu einem gesegneten Leben verhelfen soll, in dem sie ihrem Individualismus freien Lauf lassen und sich selbst verwirklichen können. Dieses Konzept ist den biblischen Aussagen über die Bedeutung von Jüngerschaft und Nachfolge fremd. Ein echter Jünger ist ein Mensch, der erstens glaubt, was sein Meister zu ihm sagt, der ihm zweitens sein Leben und seine Zukunft ganz anvertraut und der drittens dessen Beispiel unbedingt folgt. Ein Jünger handelt, spricht und denkt wie sein Meister. Was einen Jünger früher ausgezeichnet hat, gibt uns bis heute eine gültige Definition davon, was Nachfolge bedeutet, denn ein Jünger ist ein Nachfolger. Das grundlegende Merkmal der Jüngerschaft ist die Radikalität, die sich mit der Entscheidung zur Nachfolge im Leben des Jüngers fortan zeigt: Er gibt sein selbstbestimmtes Leben auf.
Wenn ich in diesem Buch von „radikaler Nachfolge“ spreche, dann klingt das nach etwas Besonderem, Außergewöhnlichem, ja sogar Fragwürdigem. Das liegt daran, dass wir das Wort „Radikalität“ mit negativen Dingen assoziieren. Wer jedoch einmal die Grundbedeutungen des Wortes betrachtet, dem fällt auf, dass Radikalität durchaus etwas Positives sein kann. Der Begriff trägt Bedeutungen wie „von Grund auf erfolgend, vollständig, gründlich, gänzlich“[14], die allesamt positiv sind. Der lateinische Ursprung ist radix, zu Deutsch: „Wurzel“. Ein radikaler Nachfolger ist also weder gewalttätig noch engstirnig, sondern schlicht und einfach fest in Jesus Christus verwurzelt und entschlossen, ihm nachzufolgen.
Spreche ich von radikaler Nachfolge, geht es mir um die von der Bibel her selbstverständliche Nachfolge, die wir heutigen Christen zu großen Teilen verlassen haben. Biblische Nachfolge ist immer radikal, oder sie ist keine Nachfolge.
Heute denken wir, dass die Zugehörigkeit zu einer Gemeinde das Kennzeichen für einen lebendigen Glauben ist. Doch eine Mitgliedschaft allein reicht nicht aus. Es gibt Christen, die dem frommen Anspruch, jeden Sonntag zur Kirche zu gehen, vielleicht nicht gerecht werden, aber in ihrem Alltag als radikale Nachfolger Jesu leben. Umgekehrt kann ein Mensch jahrzehntelang die Gottesdienste einer Kirche besuchen, ohne jemals ein echter Nachfolger zu werden.
Vielfach rührt das fehlende Verständnis über Nachfolge daher, dass in unseren Gemeinden nicht mehr gelehrt wird, was es heißt, Christ zu sein, und dass „Nachfolger“ nur ein anderer Begriff für „Christ“ ist. Die Predigten unserer Tage klingen zum Teil ganz anders als Jesu Ansprachen. Seine Worte waren herausfordernd, leidenschaftlich und kompromisslos, sie waren eben radikal. Ein Beispiel:
Als wieder einmal viele Menschen zu Jesu gekommen waren, um ihm zuzuhören, versuchte er nicht, sie mit schönen Worten für sich zu gewinnen, sondern konfrontierte sie gleich mit den ersten Worten, die er an sie richtete:
Wenn jemand zu mir kommt und hasst nicht seinen Vater und die Mutter und die Frau und die Kinder und die Brüder und die Schwestern, dazu aber auch sein eigenes Leben, so kann er nicht mein Jünger sein; und wer nicht sein Kreuz trägt und mir nachkommt, kann nicht mein Jünger sein. Denn wer unter euch, der einen Turm bauen will, setzt sich nicht vorher hin und berechnet die Kosten, ob er das Nötige zur Ausführung habe? Damit nicht etwa, wenn er den Grund gelegt hat und nicht vollenden kann, alle, die es sehen, anfangen, ihn zu verspotten, und sagen: Dieser Mensch hat angefangen zu bauen und konnte nicht vollenden. Oder welcher König, der auszieht, um sich mit einem anderen König in Krieg einzulassen, setzt sich nicht vorher hin und ratschlagt, ob er imstande sei, dem mit zehntausend entgegenzutreten, der gegen ihn mit zwanzigtausend anrückt? Wenn aber nicht, so sendet er, während er noch fern ist, eine Gesandtschaft und bittet um die Friedensbedingungen. So kann nun keiner von euch, der nicht allem entsagt, was er hat, mein Jünger sein. Das Salz nun ist gut. Wenn aber auch das Salz kraftlos geworden ist, womit soll es gewürzt werden? Es ist weder für das Land noch für den Dünger tauglich; man wirft es hinaus. Wer Ohren hat zu hören, der höre!
Lukas 14,26-35
Jesus sprach Klartext. Er verheimlichte den Preis der Nachfolge nicht und zeigte den Menschen, dass es keinen Graubereich für denjenigen geben würde, der sich entscheidet, sein Jünger zu werden. Ganz oder gar nicht, das war die Baseline seiner Botschaft.
Wie anders hören sich unsere Predigten an. Wir wären höchst begeistert, wenn denn einmal viele Menschen vor der Tür unserer Gemeinde stünden. Unsere Priester und Pastoren würden wahrscheinlich versuchen, durch ansprechende Worte zu erreichen, dass die vielen Besucher auch am nächsten Sonntag wieder in die Gemeinde kämen und nicht durch herausfordernde Botschaften verschreckt werden. Für uns zählen Zahlen, für Jesus veränderte Leben. Wer viele Menschen um sich sammelt, ist ein erfolgreicher Leiter – denken wir heutzutage. Jesus dachte ganz anders. Mit seinen Worten aus Lukas 14 warf er Fragen auf, die die Menschen durchdenken sollten, bevor sie sich dazu entscheiden würden, ihm nachzufolgen. Er verheimlichte die Konsequenzen der Nachfolge nicht.
Seine herausfordernden Worte zu den Bedingungen der Nachfolge könnte man folgendermaßen umschreiben:
Seid ihr sicher, dass ihr mir folgen wollt? Wenn ja, muss ich euch künftig wichtiger sein als eure Familie und sogar wichtiger als euer eigenes Leben. Ich werde bald ein Kreuz tragen müssen, daran aufgehängt werden und sterben – seid ihr bereit, das auch zu tun? Ihr solltet wirklich darüber nachdenken, ob ihr den Preis der Nachfolge zahlen könnt – es wird euch nämlich alles kosten! Es würde nichts bringen, wenn ich zwar viele Menschen um mich sammeln würde, sie aber nur wie ein großer Haufen Salz wären, der nach nichts schmeckt. Ich will mit euch die Welt durchwürzen! Habt ihr verstanden, was ich euch sagen will?
Der Aufruf zur Nachfolge Jesu stellte die Menschen damals vor die Wahl zwischen einem selbstbestimmten Leben oder einer unbedingten Hingabe an ihn. Er war bereit, sein eigenes Leben für uns zu geben, aber er fordert umgekehrt dasselbe von uns.
Aus den Evangelien ist uns überliefert, dass Jesus seine ersten Jünger mit den einfachen Worten: „Folgt mir nach“[15] berief. Ich habe mich immer wieder gefragt, wie es sein konnte, dass sich einige Menschen damals so augenblicklich und unbedingt auf diese Aufforderung eingelassen haben. Ich sehe nur eine mögliche Erklärung: Faszination. Jesus hatte ganz offenbar eine Persönlichkeit und Ausstrahlung, der sich die Menschen nur schwer entziehen konnten. Er trat mit einer Autorität und Selbstverständlichkeit auf, die eine klare Entscheidung seitens derer forderte, die er in die Nachfolge rief. Entweder ließen sie sich darauf ein, oder sie lehnten seinen Ruf und damit ihn selbst ab. Manche der von Jesus Angesprochenen hatten sicherlich schon von ihm und seiner vollmächtigen Lehre gehört. Bei ihnen wundert es vielleicht nicht so sehr, dass sie bereit waren ihm zu folgen. Doch es wird auch von Begegnungen berichtet, in denen die Gerufenen Jesus offenbar gar nicht kannten und sich ganz unvermittelt seiner Aufforderung gegenübergestellt sahen. Für sie muss sein „Folge mir nach“ überraschend, wenn nicht sogar verwirrend gewesen sein. Dementsprechend unterschiedlich reagierten sie auch, wie wir später sehen werden. Ich bin nicht sicher, ob den ersten Jüngern Jesu wirklich klar war, was es bedeuten würde, diesem neuen Lehrer und Meister zu folgen, der so plötzlich ans Licht der Öffentlichkeit getreten war.
Die Bezeichnung „Jünger“ war – wie schon gesagt – bekannt, aber sie bezog sich immer auf einen menschlichen Führer. Dieser neue Rabbi aber war ganz anders. Als er sich selbst taufen ließ, war eine Stimme zu hören, die ihn als Sohn Gottes bezeichnete,[16] er tat Zeichen und Wunder und behauptete später sogar, Gott in menschlicher Person zu sein.[17] Wie radikal würde die Nachfolge bei ihm wohl aussehen? Jesus selbst ließ keinen Zweifel daran, dass der Glaube an ihn einen Lebensstil der Nachfolge beinhalten muss.
In seinem berühmten Werk „Nachfolge“ schrieb der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer 1937 den folgenden Satz, dessen Wahrheitsgehalt ungebrochen ist:
„Ein Christentum ohne Nachfolge ist immer ein Christentum ohne Jesus Christus; es ist Idee, Mythos.“[18]
Bonhoeffer wurde später wegen seiner Teilnahme am Widerstand gegen den Nationalsozialismus verhaftet und 1945 kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs im Konzentrationslager Flossenbrück hingerichtet. Mit diesen Worten bringt er zum Ausdruck, dass es einen christlichen Glauben ohne Nachfolge schlicht nicht geben kann. Albrecht Schönherr, ein Zeitgenosse Bonhoeffers und ab 1972 Bischof der Evangelischen Kirche in Neubrandenburg, betonte dieselbe Wahrheit, indem er sagte: „Christliche Existenz ist Nachfolge“.[19]
Bonhoeffer und Schönherr fassen in ihrem jeweiligen Fazit, zu denen sie in ihrer theologischen Arbeit und der Beobachtung der christlichen Kirche ihrer Zeit gefunden haben, den Kern des Christentums zusammen: Es geht nicht in erster Linie um theologische Debatten wie der Frage nach der richtigen Liturgie, sondern darum, wie der Glaube an Jesus Christus sichtbar wird. Damit stimmen sie mit dem Zeugnis des Evangelisten Lukas überein, der in seinem Anschlusswerk, das wir als „Apostelgeschichte“ kennen, den Begriff „Jünger“ viele Male verwendet.[20]
Halten wir diese Wahrheit fest: Ein Christ muss ein Nachfolger sein. Es gibt keinen Unterschied zwischen Christsein und Nachfolge.
Jesus hat viel mehr Zeit damit verbracht, das Evangelium „auf die Straße zu bringen“, als damit, in den Synagogen zu predigen. Dietrich Bonhoeffers berühmter Satz: „Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist“[21], steht genau in diesem Kontext. Die Dynamik des gemeinschaftlichen, aber auch ganz individuellen „Für-andere-da-Seins“ auf der Basis eines lebendigen Glaubens wäre eine notwendige Wiederentdeckung für die heutige Kirche, weil sie gerade den jungen, „bewegten“ Generationen die Möglichkeit böte, sich bewegen zu lassen und die Kirche wieder zu einer Bewegung zu machen.