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Der Asteroid "Apophis" hat die Erde in ein apokalyptisches Trümmerfeld verwandelt. Nur wenige Menschen überlebten die Katastrophe und überdauerten tief unter der Erde in sogenannten Archen die Zeit. Jahrhunderte später sollen diese Auserwählten eine neue Zivilisation auf dem verwüsteten Planeten erschaffen. Als Lieutenant Nick Raine seine Arche verlässt, findet er eine Zukunft vor, wie er sie sich in seinen schlimmsten Albträumen nicht vorzustellen wagte. Nicht alles Leben wurde durch den Asteroiden vernichtet. Stattdessen hat sich eine neue Gesellschaft etabliert, in der das Leben rau, hart und unmenschlich ist. Mutanten und Banditen machen gnadenlos Jagd auf die Schwachen und Wehrlosen und auch die mysteriöse paramilitärische Gruppe "Authority" scheint wenig von den Zukunftsplänen der Neuankömmlinge zu halten ... der Kampf um die Erde hat begonnen! Ein actionreiches Abenteuer basierend auf dem neuen Videogame-Bestseller von id Software, den Entwicklern von DOOM und QUAKE.
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Seitenzahl: 443
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RAGE –
jetzt erhältlich für PC, PS3 und Xbox360
www.rage.com
Matthew Costello
Aus dem amerikanischen Englisch
von Timothy Stahl
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in
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sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
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In neuer Rechtschreibung.
Deutsche Ausgabe: Panini Verlags GmbH, Rotebühlstraße 87, 70178 Stuttgart. All Rights Reserved. This translation published by arrangement with Ballantine Books, a division of Random House, Inc.
Amerikanische Originalausgabe: „RAGE“ by Matthew Costello published by Del Rey, an imprint of the Random House Publishing Group.
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Übersetzung: Timothy Stahl
Lektorat: Caspar D. Friedrich, Luitgard Distel
Redaktion: Mathias Ulinski, Holger Wiest
Chefredaktion: Jo Löffler
Umschlaggestaltung: tab indivisuell, Stuttgart
Satz und eBook: Greiner & Reichel, Köln
ISBN 978-3-8332-2367-9
Gedruckte Ausgabe:
ISBN 978-3-8332-2329-7
www.paninicomics.de/videogame
PROLOG
Apophis 99942
1. NACHTFAHRT INS UNGEWISSE
Raine sah von seinem Bier auf, als der Barkeeper den Fernseher lauter stellte.
Die Nachrichtensendung zeigte Bilder von Tumulten in den Straßen von Kabul, dann folgte ein Schnitt auf den Reporter, der auf dem Dach eines Hotels stand, von dem aus man einen Blick auf die vielen Brände in Bagdad hatte.
„Die Folgen des Rückzugs der amerikanischen Streitkräfte destabilisieren die Region auch weiterhin. Die Gewalt droht ebenfalls auf die benachbarten Staaten überzugreifen. Der Minister …“
„Schalt den Mist aus, Eddie.“
Der Ton verstummte.
Raine hob das fast leere Schnapsglas, das neben seinem Bier stand, und trank es aus.
Es war schon komisch, hier zu sitzen, in dieser Kneipe in Red Hook, die passenderweise auch noch The Hook hieß, genau wie seinerzeit sein Alter, als er sich in seinem Viertel in Brooklyn zur Ruhe gesetzt hatte. Sein Dad – ein Berufssoldat im Dienste der Marines – war ein Mann, der für seine beiden Söhne nur eines im Sinn hatte: Sie sollten nicht nur zum Militär.
Beide sollten zum Corps.
Keine Frage.
Und Nicholas Raine hatte nicht einmal den Gedanken infrage gestellt, seinem Bruder Chris nachzufolgen.
Unterm Strich hieß das, dass er ihm auf all jene endlosen Übungsmissionen und verdeckten Operationen folgte, die den ewigen Krieg des 21. Jahrhunderts bestimmten.
Dann änderten sich die Dinge.
Wahrscheinlich an dem Tag, als sein Bruder einer USBV zum Opfer fiel. Da holte ihn die bittere Realität dieses Krieges ein.
Und es kam noch schlimmer – sein Alter starb. Der Herzschlag traf ihn härter, als es irgendein Mann je gewagt hätte. Es war ihm schon seit einiger Zeit nicht gut gegangen – kein Wunder, nachdem er sein Leben jahrelang genossen, gern einen über den Durst getrunken und zu viel Zeit totzuschlagen hatte. Chris’ Tod hatte ihm den Rest gegeben.
Der Herzanfall hatte den Alten nicht gleich umgebracht. Doch das chaotische Veteranenkrankenhaus in Bay Ridge hatte keine Wunder auf Lager gehabt, um den alten Sergeant zu retten.
Trotzdem war Raine Soldat geblieben.
Damit kannte er sich aus. Das konnte er. Und das war auch das Einzige, worauf er sich verstand.
Er versuchte, stets daran zu denken, dass sein Vater an diesen ganzen „Im Dienst für Gott und Vaterland“-Kram geglaubt hatte und dass „Semper Fi“ für ihn mehr gewesen war als nur ein enthusiastisches Motto.
Also blieb Raine Soldat und machte weiter. Das heißt, bis der Befehl zum Abzug kam. Aus scheinbar heiterem Himmel verschwanden über Nacht ganze Einheiten und Kommandos.
Und jetzt saß Raine dort, verkrochen in einem Einzimmerapartment in Red Hook, wo diese Kneipe sein Büro darstellte – und wartete, ob sein Land ihn noch brauchte.
„Diese gottverdammten Soldaten haben doch einfach aufgegeben.“
Raine hörte die Worte. Sie waren für eine Bemerkung, die nur für eine kleine Runde bestimmt war, zu laut gewesen. Der Gast sah sich offenbar selbst als eine Art Nachrichtensprecher.
Dann ging es weiter: „All die Jahre, unser ganzes verdammtes Geld – und jetzt geben sie einfach auf und laufen davon? Gottverdammt.“
Eddie, der Barkeeper, warf Raine einen Blick zu. Zwar hatten sie an all den Abenden nie ihre Lebensgeschichten ausgetauscht. Zwar waren sie keine Freunde geworden. Aber wie jeder einigermaßen fähige Barkeeper hatte Eddie einen guten Riecher.
Eddie ging zu dem Mann, der am anderen Ende des Tresens saß und lautstark seine Meinung über die Männer und Frauen kundtat, die für ihr Land kämpften; darüber, was geschehen war und dass sie sich einfach davongemacht hätten. Wie Feiglinge, meinte er damit. Ohne den Mut zu haben, es auszusprechen.
Raine wandte sich um und sah Eddie nach, verfolgte, wie sich sein Kopf bewegte, als er dem Kerl kaum hörbar zuraunte: „Komm schon, Mikey, behalt deine Meinung für dich, ja?“
Der Typ auf dem Barhocker sah zu Raine hinüber und zählte eins und eins zusammen. „Ich hab ein Recht auf meine Meinung. Es ist meine verdammte Meinung. Wir sind da rüber und dann, nach Jahrzehnten, nach verdammten Jahrzehnten hauen wir einfach ab? Ich sag euch, die Truppen, diese Frischlinge, die hatten einfach keinen Mumm.“
Raine war bereits aufgestanden.
Jetzt ging er an der hölzernen Theke entlang.
Montagabend. Es war ruhig. Im Hintergrund spielten ein paar Leute Billard und bekamen nicht mit, was sich am Tresen zutrug.
In einer Nische saß ein Pärchen, das sich unterhielt und wahrscheinlich merkte, wie sich die Situation zuspitzte. Vermutlich wünschten sich die beiden gerade, sie hätten sich ein besseres Plätzchen für ihr Rendezvous ausgesucht.
Im Näherkommen taxierte Raine den Kerl: Ein riesiger Kopf wie eine Bowlingkugel, der scheinbar halslos mit dem Körper verbunden war, als habe man den Schädel direkt auf den stämmigen Rumpf geklebt. Gewaltige Popeye-Arme. Vielleicht ein Dockarbeiter. Ein großer, kräftiger Typ jedenfalls.
Gut.
Das machte die Sache interessanter.
Raine sagte nichts. Was gab es auch zu sagen?
Stattdessen schoss seine rechte Hand wie ein Projektil vor und zielte auf die rechte Hand des Mannes, als der gerade nach dem Bierglas griff. Raines Faust schloss sich um das Handgelenk des Mannes und drückte zu. Das Glas des Kerls rollte davon, während Raine ihm die Hand flach auf den klebrigen Tresen presste. Gleichzeitig fuhr Raines andere Hand unter das Kinn des Mannes. Mochte es auch so aussehen, als besäße er keinen Hals, hatte er doch einen. Irgendwo versteckt unter dem Fett seines Doppelkinns. Raines Finger schlossen sich. Jetzt durchrasten den Mann Schmerzen zweierlei Ursprungs – zum einen quetschte Raine ihm die Hand so fest, dass er glauben musste, sie würde ihm vom Gelenk fallen, und zum anderen grub er ihm die Finger tief in die Kehle. Der fette, besoffene, selbst ernannte Militärhistoriker bekam keine Luft mehr. Seine Augen traten vor.
Erst jetzt ergriff Raine das Wort. „Pass gut auf. Wenn ich noch einmal höre, wie du dich abfällig über unser Militär äußerst, und sei es nur mit einem einzigen Wort, dann wirst du mit deiner Hand da nichts mehr anfangen können. Und ob du dann noch sprechen kannst …“ Er verstärkte den Griff um den fetten Hals des Mannes noch eine Spur. „… bleibt abzuwarten.“ Er hielt inne. „Verstanden?“
Der glupschäugige Mann nickte mühsam.
Raine ließ ihn los und kehrte zu seinem Barhocker zurück.
Im Fernsehen lief inzwischen wieder das montagabendliche Footballspiel.
Giants. Minnesota.
Sein Schnapsglas war wieder voll.
Aber vielleicht sollte er sich das Spiel lieber zu Hause in seinem Apartment ansehen, das nur ein paar Blocks entfernt lag. Heute Abend war ihm die Lust, hier zu sitzen, vergangen.
Er warf ein paar Dollarscheine auf den Tresen und verschwand.
Es war ein kühler Herbstabend. Raine zog den Reißverschluss seiner Jacke bis oben hin zu und schlug den Kragen hoch. Den schwarzen Wagen, der mit laufendem Motor vor der Kneipe stand, nahm er kaum wahr; er bemerkte nichts Ungewöhnliches daran. Bis das Fenster auf der Beifahrerseite nach unten surrte und vom Sitz aus jemand nach ihm rief.
„Lieutenant?“
Raine blieb stehen und drehte sich um. Erst jetzt bemerkte er die Limousine wirklich. Nicht der typische fahrbare Untersatz, den man in dieser Gegend erwartete. Er stand einfach da, während die Beifahrertür aufging und ein Mann im Anzug ausstieg.
„Ja?“ Raine sah, dass der Mann in seiner Hand einen großen Umschlag hielt.
„Lieutenant, ich habe Befehle für Sie. Hier.“
Raine lachte. „Befehle? Von wem? Man hat mir gesagt, es werde eine ganze Weile dauern, bis mein Land mich wieder braucht. Darauf habe ich sogar gebaut.“
Anstatt zu antworten, reichte ihm der Mann den Umschlag.
Erst wollte er ihn nicht annehmen. Aber letztlich war er ein Soldat, ein Marine, und wenn jemand zu ihm sagte: „Spring!“, dann …
Er öffnete den Umschlag und entnahm ihm ein einzelnes Blatt Papier. Der Mann aus dem schwarzen Wagen zückte hilfsbereit eine kleine Taschenlampe und richtete sie auf das Dokument.
Raine sah den Mann an. „Hier steht … Ich soll sofort in den Wagen einsteigen und mit Ihnen zum Floyd Bennett Field fahren, wo ein Flugzeug wartet. Und das ist … alles?“
Der Mann sagte nichts.
„Wohl kein Mann großer Worte, wie?“
„Lieutenant, ich habe nur den Auftrag, Ihnen diesen Umschlag auszuhändigen und Sie aufzufordern, mich zu begleiten. Wie Sie sehen, trägt der Befehl die Unterschrift von General McWilliams. Es ist also alles …“
„Ich weiß … in Ordnung. Aber ich versteh’s nicht. Kann ich nicht wenigstens kurz in meiner Wohnung vorbeischauen und ein paar Sachen einpacken?“
Der Mann schüttelte den Kopf. „Nein, Lieutenant. Mein Befehl lautet, dafür zu sorgen, dass Sie sofort mit mir kommen. Kein Zwischenstopp, kein Gepäck.“
„Ihr Befehl? Zu welchem Verein gehören Sie? NSA? CIA? Irgendein anderes A?“
Der Mann schwieg wieder.
„Ich sag Ihnen was … Egal, wer Sie sind. Mein Dad hat mir das eingetrichtert. Es ist der Grund, weshalb ich zum Corps gegangen bin. Und beim Corps geblieben bin. Und das ist, Befehle zu respektieren. Damit rettet man Leben. Das heißt also …“ Raine wedelte mit dem Blatt Papier. „… das hier bedeutet mir etwas. Und wenn ich … weiß Gott, warum … mit Ihnen gehen soll, dann werde ich das eben tun, in drei Teufels Namen!“ Raine nahm an, dass er infolge der Reiberei in der Kneipe noch unter Strom stand.
Der Mann hielt ihm die hintere Wagentür auf.
Raine stieg ein, und nachdem sein Begleiter wieder auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte, fuhr der große schwarze Wagen an und die Kneipe blieb hinter ihnen zurück.
Die Fahrt führte sie über die Flatbush Avenue. Es wurde allmählich spät und so hatten nur noch wenige Läden geöffnet. Die dicht besiedelten Gebiete von Brooklyn wichen bald den freien Flächen in Atlantiknähe, ein mit hohem Gras bewachsenes Gelände, und sie erreichten den kleinen Floyd Bennett Flugplatz, den Raine eigentlich für aufgegeben gehalten hatte.
Es war eine Weile her, dass er dort draußen gewesen war und sonnige Tage am Strand verbracht hatte. In den Glanzzeiten Brooklyns.
Raine wusste, dass es einmal Pläne gegeben hatte, dort Wohnhäuser zu errichten und den Flugplatz – den historischen Flugplatz, von dem aus einst Amelia Earhart und Wiley Post aufgebrochen waren, um Weltrekorde zu brechen – in eine Siedlung umzuwandeln. Aber die Wirtschaft und auch seine historische Bedeutung hatten den Flugplatz gerettet. Das Geld reichte zwar nicht, um eine Siedlung zu errichten, aber es war genug da für eine Umwidmung in ein nationales Wahrzeichen, wodurch viele Hangars und auch ein paar der Rollfelder erhalten blieben. Nur benutzt wurde der Flugplatz nicht mehr, weder vom Militär noch von Zivilmaschinen.
Das hatte Raine jedenfalls gedacht.
Sie passierten den Belt Parkway und erreichten den Rand des Flugplatzgeländes. Der Zaun, der parallel zur Straße verlief, zeigte Spuren der Vernachlässigung: Unkraut und Schutt. Gab es kein Geld oder kümmerte es niemanden? Wahrscheinlich beides.
„Warum fahren wir hierher?“, fragte Raine.
Der Fahrer sagte nichts.
Dafür antwortete der Beifahrer. Er drehte sich dafür sogar extra um. „Ich weiß es nicht, Lieutenant.“
Große Hilfe, dieser Typ. Platzt ja geradezu vor Informationen.
Raine wünschte, er hätte auf das letzte Bier verzichtet. Es wäre schön gewesen, einen klaren Kopf zu haben … was immer ihn hier auch erwarten mochte.
Sie wurden langsamer und bogen an der Zufahrt auf die Aviation Road ab. Zwei Armeesoldaten standen Wache und die breiten Torflügel schwangen auf, als der schwarze Wagen darauf zurollte. Hinter ihm schlossen sie sich schnell wieder.
Als sie die Startbahn erreichten, beugte sich Raine vor und hielt Ausschau nach einem Transportflugzeug des Militärs. Stattdessen fiel sein Blick auf die Lichter eines kleinen Jets, der etwas abseits am Ende der Landebahn stand.
Als sie näher kamen, konnte Raine an der Maschine weder eine militärische Beschriftung ausmachen noch etwas, was den Flieger als Verkehrsmaschine gekennzeichnet hätte. Er sah eher aus wie der Privatjet irgendeines Geldsacks. Ein Jet, wie ihn wohl ein Geschäftsmann benutzte, um nach Palm Beach zu düsen. Um im Januar ein wenig Sonne zu tanken. Sich mit der Geliebten zu verlustieren. Und einen Konkurrenten neidisch zu machen.
Nicht das, was Raine erwartet hatte. Absolut nicht.
Der Fahrer lenkte den Wagen neben das Flugzeug. Wie aufs Stichwort wurde die Tür des Fliegers geöffnet und eine Treppe, die bis zum Boden reichte, ausgeklappt.
Der Wagen stoppte.
„Wir sind da, Lieutenant.“
Der Beifahrer stieg aus und Raine folgte ihm.
2. WILLKOMMEN IN BUCKLEY
Der kleine Jet schien geradezu in den Nachthimmel emporzuschnellen, dann beschrieb er eine scharfe Rechtskurve, nach der er zunächst auf den nahen Atlantik hinausraste, bevor er Kurs Richtung Westen nahm.
Es geht also nicht nach Lejune, erkannte Raine. Lejune war der Stützpunkt in North Carolina, auf dem er stationiert gewesen war, bevor man ihn nach Hause geschickt hatte. Interessant.
Er blickte nach unten und sah die Lichter von Coney Island. Ein weiteres aufgegebenes Projekt. Aus irgendeinem Grund war es nie zur Renovierung von „America’s Playground“ gekommen.
Wenn kein Geld da ist, läuft eben nichts.
Trotzdem sah er im Widerschein der Lichter, die bei Nacht brannten, den hohen, stets beeindruckenden Turm, von dem man mit dem Fallschirm springen konnte. Jedenfalls bis vor … na, sechzig oder siebzig Jahren. Die einst atemberaubende Vergnügungseinrichtung war seit Langem nur noch ein stillgelegtes Wahrzeichen, ein Skelett, ein Denkmal, das an Zeiten erinnerte, als solche Dinge noch gebaut wurden. An die Zeiten großer Freizeitparks und Weltausstellungen.
Sein Vater hatte oft von einem Ort namens Steeplechase auf Coney erzählt.
„Nicky, ich kann dir sagen, das hätte euch gefallen! Völlig verrückt war’s da. Pferde rannten rings rum. Da hat einem das Herz geklopft, sag ich dir! Und die Sicherheit? Vergiss es! Aber jetzt? Alles dahin. Heute muss alles so verdammt sicher sein.“
Alles dahin.
Das war eine der liebsten Redensarten seines Vaters.
Dieses Restaurant, jenes Kino, sein bevorzugtes Angelboot in Sheepshead Bay.
Alles dahin.
Dann starb seine Frau, Raines Mom, und das war sein ultimatives „Alles dahin“.
Danach war er ein anderer Mann gewesen. Still. Zurückgezogen. Als hätte er aufgegeben. Und als Chris im Sarg heimkam? Die Militäreskorte. Die Salutschüsse. Die wehenden Flaggen.
Raine hatte sich unglaublich zusammengerissen, um nicht zusammenzubrechen. Sein Vater hatte ungehemmt geschluchzt und Raine eine andere Facette dessen gezeigt, was es hieß, ein Mann zu sein.
Alles dahin.
Da hatte Raine seinem Bruder etwas geschworen. Er hatte ihm geschworen, weiterzukämpfen – damit er nie würde sagen müssen: „Alles dahin.“
Ich mache für uns beide weiter, Chris. Ich geh zurück. Ich werde tun, weswegen sie uns rübergeschickt haben. Darauf kannst du dich verlassen, Mann.
Und dieses Versprechen würde er halten, bis jemand beschloss, dass es vorbei war mit allem, was sie für die Freiheit und Sicherheit der Welt unternahmen.
So musste es sein.
Wie hieß es noch gleich? Es steht uns nicht zu, nach dem Warum zu fragen. Unsere Pflicht ist es, zu handeln …
Coney und die Küste blieben zurück. Der Jet stieg immer noch.
„Lieutenant Raine?“
„Einfach nur Raine, Mister …“
„Also gut, Raine. Mein Name ist Jackson. Es gibt an Bord Sandwiches und Getränke. Ein Bier vielleicht?“
„Haben Sie auch diese kleinen Erdnusstütchen, Jackson?“
Der Scherz entlockte dem Mann im Anzug endlich ein Lächeln. Ein kleines.
„Ich nehme an, Sie können mir nicht verraten, wohin die Reise geht, wie?“
„Jetzt, da wir uns in der Luft befinden, darf ich es Ihnen sagen.“
Raine hob die Augenbrauen.
„Es gibt einen Grund für all diese Sicherheitsvorkehrungen, Lieutenant. Ich vermute, dass man Ihnen bald Genaueres darüber mitteilen wird.“
„Das will ich hoffen. Und unser Ziel?“
„Buckley Air Force Base.“
„Colorado? Ehrlich? Verdammt weit weg.“ Er schüttelte den Kopf. „Und was erwartet mich in Buckley?“
Jackson stand auf. „Ich sehe mal nach, ob ich Erdnüsse finde.“
Die Nacht schritt voran. Eine mondlose Nacht, in der die Sterne hell und fast reglos am wolkenlosen Himmel standen. Und ab und zu entdeckte Raine einen. Einen gelblich roten Streif am Himmel.
Seit etwa einer Woche sah man sie allnächtlich, diese sporadischen Meteorenschauer, die mit dem Asteroiden zu tun hatten– Apophis 96… 95… irgendwas –, der noch weit draußen im All war. Offenbar flog ihm ein Haufen Trümmer voraus, die auf die Atmosphäre trafen.
Es war ein großer Asteroid – fast so groß wie die Stadt. Gut, dass er die Erde nicht treffen würde.
Da – wieder ein Streif. Er flammte auf, bevor er verschwand.
Ein Glück, dass der Asteroid an der Erde vorbeiziehen würde. Denn trotz all der verrückten Hollywoodideen zur Abwehr eines großen Asteroiden – was zum Teufel hätte man denn wirklich tun können?
Dennoch fragte sich Raine, warum so viele dieser Meteore zu sehen waren. Es kam ihm merkwürdig vor. Andererseits hätte man mit dem, was Raine nicht über Astrophysik wusste, eine Menge Bücher füllen können. Und das hat man ja auch, dachte er.
Er legte den Kopf gegen das kleine Fenster und klemmte ein Kissen zwischen Scheibe und Sitz.
Das Fenster war kalt, aber das tat gut.
Die Augen fielen ihm zu.
Er spürte eine Kursänderung und öffnete die Augen. Einen Moment lang wusste er nicht, wo er war. Er war es nicht gewohnt, in einem Flugzeug aufzuwachen. Aber er beklagte sich nicht – diese Art zu fliegen war ungleich besser, als in einem Militärtransporter durchgerüttelt zu werden.
Er blickte zu Jackson hinüber, der auf der anderen Seite zum Fenster hinausschaute. Dann sah Raine durch sein Fenster hinaus nach unten. Viel gab es nicht zu sehen. Die kleinen Punkte, die Häuser waren, und die Lichter auf den Straßen hatten aus dieser Höhe betrachtet einen unheimlichen Stich ins Gelbliche. Ein paar Minuten später sah er aus dem Dunkel eine Landebahnbefeuerung auftauchen.
Das musste Buckley sein.
Jackson blickte zu ihm herüber. „Angeschnallt?“
„Haben Sie das auf der Flugbegleiterschule gelernt?“
Wieder ein kleines Lächeln. Vielleicht genoss der Typ es, Dinge zu wissen, die Raine nicht wusste. Das gefiel diesen Sicherheits- und Spionageheinis. Geheimnisse. Das war ihr Ein und Alles – ihre verdammten Geheimnisse. Raine hielt nicht viel von Geheimnissen.
„Wir werden in ein paar Minuten landen.“
„Und meine ‚Magical Mystery Tour‘ geht weiter.“
„Genau.“ Das Lächeln war aus dem Gesicht des Mannes verschwunden und durch etwas anderes ersetzt worden, etwas, was in seinen Augen lag. Sorge? Trauer?
Raine hatte Männer in Situationen geführt, die einfach die Hölle gewesen waren. Die echte Hölle – ohne Übertreibung –, und er hatte viele von ihnen auch wieder herausgebracht. In dieser Zeit hatte er in ihren Augen zu lesen gelernt, die Angst, die darin nistete. Die Sorge. Die verräterischen Anzeichen dafür, dass einer der Sache nicht gewachsen sein würde und vielleicht ausflippte oder einfach erstarrte. Ein paar hilfreiche Worte konnten dann genau das sein, was es brauchte, um das sich ankündigende Problem aus der Welt zu schaffen.
Die Menschen waren schon ein komisches Volk. Sie hatten so viele Bedürfnisse. Aber ihr größtes Bedürfnis schien die Kommunikation zu sein.
Versteht mich jemand?
Hört mich jemand?
Das Flugzeug sank tiefer. Wurde langsamer. Surrend fuhren die Landeklappen aus.
Raine streckte sich, bog den Rücken durch, um sich von den Auswirkungen stundenlangen Schlafens, zusammengekrümmt in einem Sessel, zu befreien – auch wenn es ein ziemlich bequemer Sessel gewesen war. Und wenigstens hatte sich die Wirkung des Biers und des Schnapses größtenteils verflüchtigt.
Das war gut. Zumal wenn er Befehle entgegennehmen musste.
Er schaute wieder aus dem Fenster und verfolgte, wie die Flugzeuge dort unten größer wurden. Der kleine Jet kreiste über Hangars, von denen einige F-16-Kampfflugzeuge in den frühen Morgen spuckten. Trotzdem wirkte hier alles ziemlich ruhig, selbst für diese Uhrzeit.
Es musste etwa halb fünf sein, schätzte er. Ungefähr eine Stunde vor Sonnenaufgang.
Er sah auf seine Uhr: 5:07.
Nicht schlecht. Aber hätte der Himmel nicht schon hell werden müssen?
Dann fiel ihm der Zeitunterschied ein. Mountain Standard Time.
Er drückte einen Knopf an seiner Uhr und stellte sie um zwei Stunden zurück.
3:07 … 3:08.
Er entspannte sich. Er konnte es nicht erklären, aber er fand es seltsam erleichternd, die richtige Zeit am Handgelenk zu haben.
Quietschend setzten die Reifen des Jets auf der Landebahn auf.
Die Nase senkte sich. Die Triebwerke heulten auf, als der Pilot den Umkehrschub einschaltete. Die Bremsen machten sich bemerkbar.
Der Jet wurde langsamer. Auf dem Weg dorthin, wo er ihn abladen würde, fiel Raine etwas ein, was ihm vor ein paar Stunden noch gar nicht so komisch vorgekommen war: Er hatte nichts mitgebracht.
Keine Uniform. Keine Unterwäsche zum Wechseln, keine Laufschuhe. Keine Zahnbürste, keine persönlichen Dinge. Nichts bis auf das, was er getragen hatte, als er in die Kneipe ging, und einen Geldbeutel mit zu wenig Bargeld. Der Gedanke traf ihn mit der Wucht eines Schlags.
Das ist verrückt. Mit nichts hierher zu fliegen. Sicher, Befehl ist Befehl …
Aber er hatte keine Ahnung, was das alles zu bedeuten hatte.
Das Flugzeug wurde noch langsamer. Raine öffnete den Sicherheitsgurt, während die Maschine noch rollte. Als der Jet hielt, hörte er, wie das Heulen der Triebwerke leiser wurde und schließlich erstarb. In der Kabine gingen helle Lichter an.
Jackson erhob sich noch vor ihm. „Willkommen in Buckley, Lieutenant.“
Er ging zu der kleinen Tür des Jets, zog einen breiten Metallhebel nach links und entriegelte sie. Und wie ein Zauberportal öffnete sich der Ausstieg und eine Treppe klappte nach unten.
Raine stand auf und war gespannt, was ihn da draußen erwarten würde.
3. DIE REINE WAHRHEIT
Raine trat hinaus in die kalte Gebirgsluft, wo ein Air-Force-Jeep mit laufendem Motor wartete.
„Ich nehme an, der Jeep ist für uns?“, sagte er an Jackson gewandt.
„Ja.“
Raine ging zu dem Fahrzeug und stieg hinten ein, sein Begleiter nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Der Jeep fuhr los, noch ehe Raine richtig saß.
„Sind wir spät dran, oder was?“
Keine Antwort. Natürlich. Raine ließ den Blick über den still daliegenden Flugplatz schweifen. In den beleuchteten Hangars standen gewaltige Bomber und Jets wie zur Schau gestellt. Ein paar Angehörige des Bodenpersonals liefen umher, aber abgesehen von ihrer Landung eben schien sich auf dem Stützpunkt nicht viel zu tun.
Er sah über die Schulter zu dem kleinen Jet zurück. Er hatte sich schon wieder in Bewegung gesetzt und rollte in die andere Richtung.
Um den Nächsten abzuholen?
Während der Jeep auf eine entfernte Ecke des Stützpunkts zuraste, merkte Raine, wie seine düsteren Vorahnungen – wenn es das war, was er spürte – sich verdichteten.
Er hatte darüber nachgedacht, was das alles bedeuten mochte. Mitten in der Nacht abgeholt und hierher geflogen zu werden. Der Privatjet. Nichts aus seiner Wohnung holen zu dürfen.
Es war, als sei er einfach verschwunden.
Was allerdings niemandem auffallen würde. Seine Familie war tot und sein letzter Versuch, eine Beziehung zu führen, war daran gescheitert, dass er von Berufs wegen ständig unterwegs war. Wer also sollte nach ihm suchen?
Sein Vermieter vielleicht. Wenn die Miete fällig war. Aber selbst die wurde automatisch von seinem Konto abgebucht.
Was also steckte hinter dieser ganzen Sache?
Er wusste es nicht. Aber er wusste eines – worum es auch ging, er würde es in Kürze erfahren.
Raine blickte auf seine Hände. Sie ruhten zu Fäusten geballt auf seinen Knien.
Entspannt euch, befahl er ihnen. Locker bleiben. Was immer die US-Regierung mit ihm vorhatte, es lag – buchstäblich – nicht in seinen Händen.
Der Jeep jagte weiter und schon bald lag der Hauptteil des Stützpunkts mit den Hangars, in denen die teure Hardware stand, hinter ihnen. In der Ferne ragte ein großes Gebäude auf, drei oder vier Stockwerke hoch. Es sah aus wie etwas, was die NASA brauchen konnte, bestand aber aus Fertigteilen und war rasch hochgezogen worden.
Raine beugte sich vor, während der Jeep direkt auf das Gebäude zuhielt.
Ein von Stacheldraht gekrönter Zaun zog sich um das Gebäude. Vier Soldaten mit schussbereiten M16-Gewehren bewachten das Tor. Und hinter dem Zaun stand – für den Fall, dass es jemand immer noch nicht begriffen hatte – ein Abrams-Kampfpanzer, im offenen Turm ein weiterer Soldat, der im Bedarfsfall das Geschütz bedienen würde.
Im Gebäude gibt es sicher noch mehr Wachen. Raines Neugier wuchs. Hier ging es offenbar um etwas sehr Wichtiges.
Der Jeep kam mit quietschenden Reifen zum Stehen und niemand brauchte Raine zu sagen, dass dies der nächste Stopp war. Er öffnete die Tür.
„Danke fürs Mitnehmen“, sagte er zum Fahrer.
Er folgte Jackson zum Tor. Jackson zog etwas aus der Gesäßtasche, was er den Wachen zeigte, woraufhin einer der Soldaten ein Zeichen gab. Dann öffnete sich das Tor in der Umzäunung.
Raine trat neben Jackson. „Wenigstens ein warmes Mäntelchen hätte ich mir mitnehmen sollen.“
Jackson trug nur seinen Anzug. „Kann ich nachfühlen.“
Ein Scherz? Interessant.
Sobald das Tor offen war, ging Jackson ihm voraus zu einem Seiteneingang des Gebäudes. Raine bemerkte, dass auch dieses Gebäude riesige Tore hatte. Das hieß, dass darin etwas entsprechend Großes vorgehen musste.
Oder dass etwas entsprechend Großes herauskommen musste.
Auch vor der Tür, die sie ansteuerten, stand ein Soldat, der diese Tür jedoch schon geöffnet hatte. Die beiden Männer traten ein. Raine fiel auf, dass Jackson mit der Schnelligkeit und auch Zielstrebigkeit eines Menschen vorausging, der wusste, wo er hinmusste.
Er war nicht zum ersten Mal hier.
Nachdem sie das Gebäude betreten hatten, wandte Jackson sich scharf nach rechts und ging einen langen Korridor mit geriffelten Metallwänden hinunter. Raine hatte den Eindruck, es gäbe keinen Weg, der tiefer in das Gebäude hineinführen könnte.
Aber dann knickte der Gang nach links ab und gleich wieder nach rechts, wie in einem Labyrinth. Jackson ging schnell und führte Raine durch ein Gewirr von Gängen, bis sie schließlich einen Aufzug erreichten. Die Kabine bestand aus Metallgittern und war darauf ausgelegt, sperrige Güter zu transportieren. Jackson zog die Tür auf. Die Kabine klapperte und schepperte.
Raine sah nach oben. Das Dach des Gebäudes befand sich hoch über ihnen. Dann richtete er den Blick auf das Tastenfeld des Fahrstuhls.
Es zeigte eine 0 und darunter nur negative Zahlen.
„Wir fahren nach unten?“
Jackson nickte, während Raine einstieg und die Tür sich hinter ihm schloss. Jackson hielt seine Karte vor einen Scanner – zu schnell, als dass Raine Details hätte ausmachen können – und ein grünes Licht blinkte auf. Der Fahrstuhl setzte sich in Bewegung. Es ging in der Tat nach unten – und das sehr lange.
Als der Lift hielt, stand jemand zu ihrer Begrüßung bereit.
„Lieutenant Nicholas Raine. Wie geht es Ihnen, Lieutenant?“
Raine sah durch das Gitter und erkannte seinen alten Captain.
„Captain Hill?“ Raine salutierte.
Hill öffnete die Tür. Erst war Raine überrascht, seinen Captain zu sehen, aber dann registrierte er, was sich hinter Hill befand, und er hatte das Gefühl, dass die Überraschungen gerade erst anfingen. Der Anblick erinnerte an die Hollywoodversion einer Kommandozentrale. Reihen von Computerbildschirmen, von denen einige Bilder und andere Daten zeigten. Leute liefen mit entschlossener Zielstrebigkeit umher. Und im Hintergrund führte eine Treppe zu einer höher gelegenen Tür. Davor standen zwei weitere Soldaten.
Raine trat aus dem Aufzug. „Sie hatte ich hier nicht erwartet, Captain.“
Captain Stephen Hill, ein Mann, den Raine stets respektiert hatte, auch wenn er nicht immer seiner Meinung gewesen war, lachte. „Ehrlich gesagt hatte ich auch nicht erwartet, Sie hier zu sehen, Raine.“ Das Lächeln verschwand. „Eigentlich hatte ich überhaupt nicht erwartet, Sie jemals wiederzusehen.“
„Ich … äh …“
„Ich weiß. Sie haben Fragen. Nun, ich habe Antworten. Kommen Sie mit in mein Büro. Es ist klein, aber es erfüllt seinen Zweck. Ich werde Ihnen alles erklären.“
Hill hatte seinen Blick fest auf Raine geheftet.
Als ob er mich taxieren würde. Wozu?
„Ich bin gespannt.“
Das Lächeln begann sich wieder zu zeigen. „Nun, Lieutenant, glauben Sie, dass Sie … die Wahrheit ertragen können?“
Was für eine Frage. Ein Filmzitat, das jeder Offizier, den Raine kannte, im Schlaf aufsagen konnte.
„Mir war die Wahrheit schon immer lieber als das Gegenteil, Captain.“
„Ja, das weiß ich. Okay, folgen Sie mir, dann fangen wir an. Sie haben nämlich … nicht viel Zeit.“
Auf dem Weg zu Hills Büro zeigte der Captain auf eine Kleinküche, die etwas abseits lag. „Kaffee? Ein Glas Wasser?“
„Nein, Sir. Danke.“ Warum hält er mich hin?
Sie erreichten sein Büro und Raine nahm auf einem Stuhl vor Hills Schreibtisch Platz. Darauf stapelten sich Papiere und Fotos, dazwischen stand ein aufgeklappter Laptop. Hinter dem Schreibtisch befand sich ein weiterer Bildschirm, auf dem das Standbild eines Videos zu sehen war.
„Raine, was wissen Sie über Apophis 99942?“
„Ein Asteroid. Passiert unseren Planeten. Ist groß. Habe Bilder davon gesehen.“
„Richtig.“
Hill drückte eine Taste auf seinem Laptop und das Video auf dem Bildschirm lief weiter. Es zeigte ein gewaltiges Objekt, das sich durchs Weltall bewegte. Der Asteroid.
„Ist das eine Animation?“
„Nein.“ Hill schüttelte den Kopf. „Das ist der echte. Wir hatten da draußen ein paar Solarsystem-Projekte. Nichts, wovon die Öffentlichkeit weiß. Sie kreisen durch unser Sonnensystem und liefern uns Videoaufzeichnungen. In erster Linie, um uns darüber zu informieren, was andere Länder womöglich im All treiben. Das war jedenfalls der Grundgedanke.“
„Meine Güte, Captain. Das Ding ist ja riesig.“
Gebannt verfolgte Raine das Video. Diese torkelnde Faust vernichtete sicher so ziemlich alles, was ihre Bahn kreuzte.
Falls dieser Felsbrocken aus dem All die Erde treffen sollte, hätten wir keine Chance.
„Mein Gott, dieses Ding muss so groß sein wie eine ganze Stadt. Über fünf Kilometer breit. Ein Glück, dass er die Erde verfehlen wird …“
„Genau das ist das Problem, Raine. Er wird uns nicht verfehlen. Er wird uns treffen. Und zwar voll.“
Die Worte hingen wie die Verkündung eines Todesurteils im Raum. Und in diesem Moment … wusste Raine, dass es genau darum ging.
„Ein Asteroid von dieser Größe? Das wäre …“
„Ein totaler Vernichtungsschlag.“
Das Bild auf dem Monitor wechselte. Jetzt handelte es sich um eine Animation. Sie zeigte, wie der Asteroid durch die Atmosphäre stürzte, wie eine gewaltige Druckwelle ihm vorausging, Wände aus Meereswasser sich aufbauten und den Einschlag ankündigten, bevor der Asteroid die Erde tatsächlich traf.
Dann …Einschlag.
Es gab keinen Ton. Aber Raine glaubte trotzdem, alles hören zu können, während die Animation eine Explosion zeigte, die ein gewaltiges Stück aus der Erdkugel herauszubeißen schien und Trümmer von der Größe ganzer Länder in die Höhe schleuderte.
Hill drückte wieder eine Taste auf seinem Laptop. Die Animation stoppte.
Raine schüttelte den Kopf. Hill war auf zwei Missionen sein Captain gewesen, in deren Rahmen sie gegen Aufständische vorgegangen waren, ein Offizier wie aus dem Bilderbuch, der zu seinen Männern und vor allem hundertprozentig zur Wahrheit stand. Darum stellte Raine nicht infrage, was Hill ihm gerade erzählt und gezeigt hatte. Dennoch kam es ihm unglaublich und irreal vor. Unmöglich.
„Ich versteh’s nicht“, sagte Raine. „Die ganze Welt glaubt, dass uns nichts passieren wird. Jedenfalls wurde das so kommuniziert.“
Hill nickte und wies hinaus zur Kommandozentrale, an der sie vorbeigekommen waren. „Sehen Sie das da draußen?“
„Ist ja nicht zu übersehen. Sieht aus wie in Kap Canaveral.“
„Genau. Das ist nur eine von vielen Zentralen, die den gleichen Zweck erfüllen. Hier in Amerika und auch in anderen Ländern. Apophis kommt und es gibt absolut nichts, was wir tun können, um ihn zu stoppen.“
„Das heißt …“ Raine holte tief Luft. Diese ganze verrückte Nacht hatte sich in etwas völlig Surreales verwandelt. Vielleicht brauchte er ja nur zu blinzeln, um mit dem Kopf auf dem Kneipentresen aufzuwachen. „… wir sind dem Untergang geweiht?“
Hill nahm Platz und beugte sich vor. Raine glaubte in den Augen des Captains etwas zu sehen, was er selbst in Afghanistan und Pakistan noch nie darin gesehen hatte, wo es wirklich ums nackte Überleben gegangen war. Hatte Hill wirklich Tränen in den Augen?
„Wir konnten Apophis nicht stoppen“, sagte Hill. „Aber das heißt nicht, dass wir gar nichts tun können.“
Nachdem er den Blick kurz niedergeschlagen hatte, sah er Raine erst jetzt wieder an. Ein kleines Lächeln. Der Captain sah wieder weg.
Raine erkannte, dass in Hill noch etwas anderes vorging.
„Sind Sie bereit, Ihren Befehl entgegenzunehmen?“, fragte Hill.
Raine zögerte kurz, bevor er antwortete. Aber er war Soldat und ein Offizier war im Begriff, ihn mit einer Mission zu betrauen. Ernst und mit professioneller Sachlichkeit erwiderte er: „Ja, Sir.“
Hill stand auf. „Dann kommen Sie.“
Captain Hill verließ das Büro und Raine folgte ihm.
4. DIE ARCHE
Sie stiegen die Treppe hinter den Computerarbeitsplätzen hinauf zu jener Tür, die Raine bereits aufgefallen war, als er mit dem Fahrstuhl in dieser Kommandozentrale angekommen war. Der Weg wurde von einem gigantischen Bildschirm erhellt, der über allem hing und nichts weiter zeigte als einen Countdown:
2 Tage – 4 Stunden – 37 Minuten – 37 Sekunden
Die Zeit bis zum Einschlag von Apophis.
Die Zeit, die noch bis zum Untergang blieb.
Die beiden Wachen vor der Tür traten beiseite, als Hill mit einem Pass wedelte und die Tür aufging.
„Was Sie jetzt zu sehen bekommen, haben noch nicht viele gesehen.“
Hill trat ein mit Raine an seinen Fersen.
Und was er dann sah … dafür fehlten Raine die Worte.
Sie standen nebeneinander an einem Geländer und sahen hinab auf ein gewaltiges dunkles Objekt, das an einem Ende in einer kegelförmigen Spitze auslief. An den Seiten war es mit gezackten Metallschienen beschlagen, wie man sie von Maschinen kannte, die im Bergbau eingesetzt wurden und dazu dienten, sich in den Boden zu graben und Gestein beiseitezuräumen.
Die Basis war flach und breiter geformt, wie das Ende eines riesigen Projektils. Und sie hatte eine Tür.
„Captain, ich muss gestehen, ich weiß nicht, was das ist.“
Leute in weißen Kitteln liefen umher, Tablet-Computer in den Händen, die sie berührten, während sie auf andere Bildschirme blickten.
Und überall waren weitere Soldaten in voller Montur postiert, die ihre Schnellfeuergewehre bereithielten, als erwarteten sie einen Überfall.
„Das können Sie auch nicht“, erwiderte Hill. „Kommen Sie, ich zeig es Ihnen.“ Er führte Raine über eine weitere Treppe nach unten, an deren Ende sie sich dann am Boden direkt neben dem …Ding befanden. Als er danebenstand, beeindruckte es Raine, wie winzig er sich vorkam. Sie gingen um das Objekt herum. Dabei fielen Raine zwar einige Details ins Auge, aber er wusste nicht, wozu sie dienten.
Schließlich hatten sie die Umrundung abgeschlossen.
„Man nennt es eine Arche, Lieutenant.“
„Wie die von Noah?“
„Ja, ich nehme an, deshalb hat man sich für diese Bezeichnung entschieden. Die Franzosen nennen es L’Arche, die Chinesen – ohne Bezug auf Noah –Chun Jia. Das bedeutet Rettungskapsel oder so ähnlich.“
„Es gibt diese Dinger in allen Ländern?“
„In den Ländern, die über die entsprechende Technik verfügen und die von den Wissenschaftlern, die die Wahrheit über Apophis 99942 herausgefunden haben, als vertrauenswürdig eingestuft wurden. Viele Nationen wissen immer noch nicht Bescheid. Dort geht man nach wie vor davon aus, dass der Asteroid die Erde nur passieren wird.“
„Eine Arche. Heißt das, es werden Menschen da einsteigen?“
Hill wandte sich Raine zu. „Es sind bereits Menschen drin. Im Kryo-Tiefschlaf. Diese Arche wird in einer Stunde eingesetzt.“
„Und was bedeutet das?“
„Jede Arche wird irgendwo vergraben, manche fast eine eineinhalb Kilometer tief. Das hängt von der Bodenbeschaffenheit und den groben Voraussagen ab, was die seismischen Aktivitäten für die kommenden hundert Jahre betrifft. Die Überlebenden befinden sich darin im Kryo-Schlaf …“
„Moment mal. Sie sprechen von Überlebenden. Das wird also getan, um Menschen zu retten?“
„Richtig. Wie Noah es gemacht hat. Um einen Teil der Menschheit zu retten. Die Besten und Klügsten. Wissenschaftler, Ärzte, Gelehrte. Jedes Land mit einem Archen-Programm hat ein Komitee gebildet. Auch das unter strengster Geheimhaltung.“ Hill sah Raine an. „Ich kann Ihnen sagen, es ist ein gottverdammtes Wunder, dass niemand dahintergekommen ist.“
„Allerdings.“
Hill wies auf die Arche, die groß wie ein Truck vor ihnen stand. „Diese hier soll in 120 Jahren wieder zum Vorschein kommen.“
„Und wo …?“
„Für diese Information reicht mein Dienstgrad nicht, Raine. Ich weiß nur über den Zeitablauf Bescheid. Man geht davon aus, dass die Strahlung, die Apophis beim Einschlag freisetzt, sich bis dahin abgebaut haben wird. Auch die Dunkelheit, die dem Aufschlag folgen wird, wird dann längst vergangen sein. Es mag sein, dass nichts Lebendes überdauern wird, aber wenn diese Archen auftauchen, werden sie in irgendeiner Form Hoffnung für die Zukunft der Menschheit mit sich bringen.“
„Ich vermute, dass sie Saatgut, Werkzeuge und andere Sachen für einen Neuanfang enthalten?“
Hill hielt seinen Blick jetzt fest auf Raine gerichtet. Raine war so erschlagen von all diesen Offenbarungen – der nahenden globalen Zerstörung, dem Archen-Projekt, diesem streng geheimen Ort –, dass er fast vergessen hatte, weshalb sie hierhergekommen waren: Er sollte seinen Befehl entgegennehmen.
Wie zum Teufel konnte dieser Befehl lauten?
Hill legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Raine, in dieser Arche da ist noch eine Kryo-Kammer frei. Und Sie, mein Freund, werden Sie besetzen.“
Raine wandte sich ab. Seine erste Reaktion war: Gerade hat er mir noch gesagt, dass alles vorbei ist … aber das Ding da bedeutet Hoffnung.
Eine Hoffnung, die mehr als einhundert Jahre in der Zukunft lag.
War das überhaupt eine Hoffnung? Was war schlimmer? Auf der Stelle zu sterben oder aus der Erde zu kriechen und sich in einer Welt wiederzufinden, die womöglich die pure Hölle war?
Im Gegensatz zum Rest der Welt bot sich Raine nun eine Alternative – er konnte es sich aussuchen. Er durfte überleben, Hoffnung hegen, vielleicht eine Zukunft haben. „Ich versteh’s nicht, Captain. Sie haben gesagt, ‚die Besten und die Klügsten‘ sollen gerettet werden. In diese Kategorie falle ich mit Sicherheit nicht.“
„Wie wird die Welt in hundert Jahren aussehen? Der Einschlag könnte ganze Landmassen wegsprengen, Gewässer könnten verschwunden, neue entstanden sein. Wird irgendetwas überlebt haben? Ja, wir schicken eine Menge Wissenschaftler unter die Erde. Das gesammelte Wissen der Welt ist in den Computern der Arche gespeichert. Aber neben all diesem Wissen und Können wird man vielleicht noch etwas brauchen, nämlich …“
Eine Frau – weißer Kittel, scharf geschnittenes Gesicht, das blonde Haar nach hinten gebunden, Bibliothekarinnenbrille – trat auf Hill zu. „Sie werden unten erwartet, Captain.“ Sie warf Raine einen Blick zu. War das Eifersucht in ihren Augen? Neid?
Oder Mitleid?
Die Wissenschaftlerin drehte sich abrupt weg und ging davon.
„Man wird jemanden brauchen, der für Recht und Ordnung sorgt, Raine. Für Sicherheit. Die Dinge könnten etwas haarig werden. Führungsqualität könnte sich als die Fähigkeit herausstellen, die über Leben und Tod entscheidet.“ Ein dünnes Lachen. Es klang unecht. „Also haben wir in den Archen auch Angehörige des Militärs platziert, allesamt für Problemsituationen ausgebildet. Krieg, Naturkatastrophen, alle möglichen Krisen. Sie sind bewaffnet und ihre Mission besteht darin, die Überlebenden aus der Arche zu beschützen und nötigenfalls zu führen.“
„Und warum gerade ich?“
„Nun, eigentlich hatte die Wahl gar nicht auf Sie fallen sollen. Ich sollte gehen. War nicht meine Entscheidung. Man hat mich hergebracht, mir die Sache erklärt und ich war einverstanden. Aber dann …“ Hill wandte den Blick ab. „Man hat bei einer der letzten medizinischen Untersuchungen etwas gefunden. Eine Form von Krebs. Behandelbar, wenn genug Zeit wäre. Verdammt, ich könnte es sogar überleben. Aber wir haben keine Zeit. Darum …“ Hill sah Raine wieder an. „Würden Sie jemanden, der möglicherweise an Krebs stirbt, in die Zukunft schicken? Ich habe meinen Rücktritt angeboten, noch bevor die Verantwortlichen selbst auf die Idee gekommen sind.“ Er holte Luft. „Und ich habe einen Ersatzmann vorgeschlagen.“
Einen Moment lang schwiegen sie beide.
„Dann … muss ich mich wohl bedanken. Aber ich habe das Gefühl, ich weiß nicht genug über die Sache. Wer befindet sich in der Arche? Womit muss ich rechnen, wenn die Zeit um ist? Wo …?“
„Ich weiß. Es gibt noch eine Menge Fragen. Kommen Sie.“ Hill ging zur Arche. Direkt auf die offene Tür zu.
Raine musste sich ducken, als er die Arche betrat.
Das Innere war in fahles Licht getaucht, es war still, ein technischer Tempel der Stille. Wissenschaftler schritten im Raum umher. Einige überprüften Monitore und machten sich Notizen, andere drückten Tasten.
Über ihnen war ringsum den Raum eine Reihe großer Monitore befestigt, der einzige sichtbare Teil eines leistungsstarken Computers, der irgendwo in den Wänden der Arche steckte.
Plötzlich erfüllte eine sanfte Frauenstimme den Raum: „Systeminitialisierung vollständig durchgeführt.“
Raine wandte sich an Hill. „Der Computer spricht?“
„Ja, und Sie können sogar mit ihm sprechen. Ihm Fragen stellen. Wenn die Zeit um ist …“
„Ein sprechender Computer. Ich weiß nicht, ob das etwas Gutes ist.“
Hill grinste. „Könnte sich als Ihr bester Freund erweisen, wenn Sie aus Ihrer Kammer kommen.“
Raine drehte sich um die eigene Achse und löste den Blick von den Monitoren. Die Kapseln – oder Kammern, wie Hill sie nannte – erinnerten an Sarkophage. Sie bildeten einen Kreis und waren wie die Speichen eines Rads angeordnet. Es waren genau ein Dutzend. Er kam sich vor wie in einem bizarren Bestattungsunternehmen, denn diese Dinger sahen in seinen Augen eher aus wie Särge als wie etwas, was Leben retten konnte.
Eine Wendeltreppe schraubte sich nach unten. Die Etagen dort mochten Lagerräume beherbergen, für Werkzeuge, Saatgut und Baumaterialien, die man in einer neuen Welt brauchen würde. Er hörte, wie jemand auf Hill zukam und ihn ansprach. „Wir sind so weit, Captain.“
Elf der Kapseln waren geschlossen. Eine stand noch offen.
„Die anderen liegen alle schon im Kryo-Schlaf, Raine. Diese Arche wird bald losgeschickt. Antworten auf Ihre Fragen werden Sie nach dem Aufwachen und während des Auftauchens erhalten. Der Computer wird Sie mit allen Informationen versorgen, die Sie brauchen. Er wird Sie außerdem über die dann aktuellen Außenverhältnisse aufklären, lange bevor Sie die Oberfläche erreichen.“
Raine nickte.
„Sie bitten mich also nicht, zu gehen, verstehe ich das richtig?“
Hill lächelte. „Richtig. Das ist ein Befehl, Raine. Komisches Gefühl, was? Zu wissen, dass die ganze Welt vernichtet werden wird – bis auf Sie und die anderen Insassen der Arche. Und trotzdem kommt es einem irgendwie nicht wie ein … Geschenk vor.“
„Werden sämtliche Archen zur selben Zeit auftauchen?“
„Nein. Die Wissenschaftler hielten es für das Beste, wenn die Archen in gestaffelten Zeitabständen auftauchen. Das bietet die größten Überlebenschancen. Wir wissen nicht, wie die Welt aussehen wird. Einige tauchen früher auf, andere später.“
„Und meine … in 120 Jahren.“
„Genau.“
Die Wissenschaftlerin mit der Bibliothekarinnenbrille betrat die Arche. „Alles bereit, Captain.“
„Okay.“ Hill wandte sich an Raine. „Lieutenant, wie gesagt, diese Arche ist zum Einsetzen bereit. Wir müssen nur noch Sie schlafen legen.“
„Jetzt?“, fragte er. Er hatte nicht gedacht, dass es so schnell gehen würde.
Hill ersparte sich die Antwort. Er trat zur Wand der Arche und nahm etwas zur Hand, was wie ein Raumanzug aussah. „Das ist ein Archenanzug. Ziehen Sie ihn sich bitte über.“
Er warf Raine den Anzug zu.
5. TIEFSCHLAF
Raine legte sich auf die kühle Unterlage der Kryo-Kapsel.
Drei Wissenschaftler schwirrten um ihn herum, prüften den Sitz des Anzugs, sahen auf die Monitore der Arche und kamen dann wieder, um einen Blick auf die kleinen Displays des Anzugs zu werfen.
Hill war verschwunden und das bereitete Raine Unbehagen.
Keiner der Wissenschaftler sagte viel, abgesehen von: „Heben Sie bitte den Arm“, „Drehen Sie sich auf die Seite“ und dergleichen. Ihre Manieren ließen zu wünschen übrig.
Schließlich kam Hill zurück. Gerade in dem Moment, als Raine mitbekam, wie von der Seite her etwas über die Kryo-Kapsel schwang. Es sah aus wie eine Injektionsspritze, von der ein Dutzend Drähte hingen.
Nur war diese Spritze so groß wie eine Bazooka.
„Mächtig dicke Nadel“, meinte Raine.
„Stimmt.“ Hill wandte sich an die Wissenschaftler. „Kann ich mich mit dem Lieutenant noch einen Moment lang unter vier Augen unterhalten?“
„Wir haben nicht mehr viel Zeit“, sagte einer der Weißkittel.
„Nur ein paar Minuten.“ Hills Tonfall erweckte nicht den Eindruck, als würde er um etwas bitten. Immer noch derselbe alte Captain, dachte Raine.
Die Wissenschaftler zogen sich zurück und beschäftigten sich mit den Konsolen, die sich an der Wand der Arche aneinanderreihten.
„In ein paar Minuten wird Ihnen dieses Gerät etwas implantieren, was man Nanotriten nennt. Eine experimentelle Sache. Wir würden sie nicht einmal auf dem Schlachtfeld einsetzen.“
„Und warum sollte ich mir die Dinger einsetzen lassen?“
„Wegen ihres Potenzials. In Tests hat sich gezeigt, dass Nanotriten einige ganz erstaunliche Dinge bewirken. Im Fall einer schweren Gewebeschädigung oder eines Organversagens – selbst beim kurzfristigen Ausfall lebenswichtiger Körperfunktionen – haben sich die Nanotriten als wunderbare zellulare Maschinen erwiesen. Sie sorgen für ein unfassbar schnelles Gewebewachstum und können sogar Organfunktionen neu starten.“
„Und die schlechte Nachricht?“
„Wir kennen die eventuellen Nebenwirkungen nicht. Ehrlich gesagt wissen wir gar nichts darüber. Es könnte sein, dass die Nanotriten einen Tribut fordern, aber wir hatten keine Zeit, um das herauszufinden. Und sie sind nicht ganz die Nano-Wundermaschinen, für die wir sie anfangs hielten.“
„Jetzt komm ich nicht mehr mit.“
„Nanomaschinen – biologisch produzierte Mikromaschinen. Wir spielen schon seit Jahrzehnten damit herum. Diese“, Hill wies auf die riesige, verdrahtete Spritze, „scheinen zu funktionieren. Und wegen ihres Potenzials sind wir der Meinung, dass wir nicht darauf verzichten sollten. Wir wissen nicht, in was für einer Welt Sie aufwachen werden, aber wir glauben, dass sich diese Nanotriten als sehr nützlich erweisen werden. Sie wurden allen Insassen der Arche implantiert.“
„Ich nehme an, dass ich in dieser Angelegenheit keine Wahl habe. Aber Sie haben gesagt, dass man sie nicht im vollen Umfang getestet hat. Wäre ich ohne sie womöglich besser dran …?“
„Nein. Sie gehören zur Arche-Besatzung, also bekommen Sie die Nanotriten. Betrachten Sie das als einen Befehl.“
„Na, dann drück ich mir mal die Daumen, was die Nebenwirkungen angeht.“
Hill grinste. „Lassen Sie uns wissen, wie es läuft.“
Raine sah zu den Wissenschaftlern hin, die immer noch abwartend herumstanden. „Captain …“, begann er leise.
„Ja?“
„Der Asteroid. Der größte Teil der Welt sagt voraus, er werde die Erde nicht treffen. Dann kommt eine Handvoll Wissenschaftler und erklärt das Gegenteil. Wie ist es dazu gekommen?“
„Das ist die andere Sache. Ich muss gestehen, dass ich es selbst nicht ganz verstehe.“ Hill beugte sich weiter zu ihm herunter. „Ein Astrophysiker vom Mount-Palomar-Observatorium hat als Erster festgestellt, dass mit dem Asteroiden etwas nicht stimmt, dann fiel es auch jemandem vom Londoner Observatorium auf. Die beiden kannten sich beruflich und haben miteinander über ihre Erkenntnisse gesprochen. Kaum hatten sie ihre Regierungen alarmiert, wurden sie zum Stillschweigen verdonnert. Weitere Wissenschaftler haben dieselbe Feststellung gemacht … alle sahen etwas anderes als das, was man vorhergesagt hatte.“
„Und zwar?“
„Der Asteroid verhielt sich völlig unberechenbar, sobald er eine Zone mit messbarer Schwerkraft passierte. Irgendwie bewirkte diese Schwerkraft, die in den meisten Fällen eigentlich unbedeutend oder zumindest messbar und vorhersagbar hätte sein müssen, eine gravierende Veränderung der Flugbahn des Asteroiden, eine eindeutige Schwankung. Die meisten Astrophysiker hätten es wahrscheinlich als zufällige Unstetigkeit abgetan. Aber diese Gruppe sah – obwohl Apophis noch so weit entfernt war – etwas anderes darin.“
„Captain“, meldete sich der leitende Wissenschaftler zu Wort, „es wird Zeit.“
Hill hob kurz die Hand. „Schließlich gelang ihnen eine Messung, Raine. Die Ursache dieser Schwankung und Veränderung der Flugbahn konnte gemessen werden. Und man kam darauf, dass sich etwas in dem Asteroiden befinden müsse, etwas, was mit seiner unbekannten Mineralienzusammensetzung, mit seiner Herkunft zu tun haben musste …“
„Und das löst diesen Effekt aus?“
„Genau. Eine weitere Unbekannte in der Rechnung, Lieutenant.“
„Das scheint alles zu sein, was Sie mir heute anzubieten haben.“
„Es wird Zeit“, sagte der Wissenschaftler noch einmal, drängender diesmal.
Hill nickte.
Raine, der den klobigen Archenanzug trug, hob die rechte Hand so zackig wie möglich an die Stirn. „Das werde ich wohl nicht mehr machen müssen, Sir.“
Hill nickte abermals, grinste, dann salutierte auch er.
„Okay“, sagte er zu den Wissenschaftlern. „Es kann losgehen.“
Das lange, gewehrähnliche Gerät senkte sich langsam und zielgenau auf Raines Hals herab.
Die Wissenschaftlerin erklärte ihm, was geschehen würde: „Lieutenant, Sie werden gleich spüren, wie sich die Metallspitze gegen Ihren Hals drückt. Die Nanotriten müssen im Injektionsgerät die richtige Geschwindigkeit erreichen. Genau genommen handelt es sich dabei um eine Minizentrifuge. Direkt nach der Injektion machen sie sich auf den Weg zu Ihrem Hirnstamm.“
„Und Sie können mich vorher nicht betäuben?“
Die Wissenschaftlerin zeigte ein schmales Lächeln.
Ist vermutlich zu spät, um sie zu fragen, ob sie mit mir essen gehen würde, dachte Raine. Ungefähr hundert Jahre zu spät – oder zu früh.
„Zu Beginn darf sich nichts in Ihrem Kreislauf befinden, was Sie betäubt. Kein Sedativ. Die Nanotriten bedürfen der vollen Hirnaktivität.“
„Dann sollen sie die volle Hirnaktivität haben.“
„Kurz nach der Injektion der Nanotriten wird Ihnen über die Tropfinfusion, die mit dem Anzug verbunden ist, das Sedativ verabreicht. Wenn der Kryo-Prozess einsetzt, werden Sie nicht mehr wach sein.“
„Und das ist gut so, ja?“
„Ja.“ Eine Pause. „Viel Glück, Lieutenant.“
Raine spürte die Metallspitze auf seiner Haut. Kühl. Ein leichter Druck.
Dann – ein scharfer Schmerz.
Ein Stich, schlimmer als bei einer Blutabnahme oder einer Infusion.
Es tat weh, als die Nadel tief eindrang, danach folgte ein brennendes Gefühl, das ihm die Augen tränen ließ.
Es war, als stünde seine Kehle in Flammen. Er merkte, wie sich das Gefühl in Richtung seines Nackens verschob, auf den Hirnstamm zu.
Dann nach oben.
Die Lichter im Raum wurden blendend hell. Die Menschen verwandelten sich in gespenstische Schemen.
Raine spürte kaum, wie sich die Injektionsnadel aus seinem Hals löste, denn inzwischen erfüllte die Wärme seinen ganzen Kopf. Er hatte einmal gelesen, dass das Hirn keine Nerven habe, was hieß, dass es schmerzunempfindlich war. Das war wahrscheinlich gut so. Trotzdem wollte er sich am Kopf kratzen, den die Haube des Archenanzugs bedeckte.
Doch dieser Gedanke verging im greller werdenden Licht, das sich von einem einfachen Feuer zu einer weißen Glut entwickelte, die ihm den Eindruck vermittelte, er läge genau im Zentrum einer gewaltigen Glühbirne.
Dann erlosch die Helligkeit auf einmal.
Die sporadischen Hitzeexplosionen in seinem Schädel verebbten.
Er wollte etwas sagen, aber es war ihm irgendwie unmöglich geworden, sich zu artikulieren. Genau, fiel es ihm wieder ein, während er die Blicke des Teams auf sich spürte. Das Sedativ …
Selbst das Denken fiel ihm mittlerweile schwer. Ein Gedanke kam ihm noch: Augen zu.
Dann noch einer: Ich will nur schlafen.
Dann … nichts mehr.
6. LEBENDIG BEGRABEN
Hill stand am Einstieg der Arche und sah sich mit einem seltsamen Ausdruck in den Augen um.
Der Computer sprach mit gedämpfter Stimme. Sie sollte beruhigend wirken, war es aber nicht, jedenfalls nicht jetzt, nicht in dieser Situation.
„Sämtliche Kryo-Prozesse erfolgreich abgeschlossen. Arche 38 ist hibernationsbereit.“
Dann eine Pause.
„Hibernationsprozess beginnt in 120 Sekunden.“
Der leitende Wissenschaftler trat zu Hill. „Captain, es ist Zeit.“
Hill ließ den Blick noch ein letztes Mal umherschweifen, dann stieg er die Stufen hinunter, die aus der Arche führten.
„60 Sekunden bis zur Hibernation … 50 Sekunden …“
Hill gesellte sich zu dem Team von Wissenschaftlern, das sich um die Arche versammelt hatte. Die Wachen – zwar alle noch auf ihrem Posten und die Gewehre fest in den Händen – starrten jetzt alle wie gebannt auf die wundersame Maschine in der Mitte des Raums. Hill schob sich einen Knopf ins Ohr, über den er Kontakt zum Kommunikationsnetz des Stützpunkts hatte. Die Verbindung war absolut sicher. Niemand konnte mithören und sich wundern, was die Regierung da so heimlich im Boden versenkte.
„30 Sekunden … 20 Sekunden …“
Im ganzen Raum wurde leise mitgezählt, Lippen bewegten sich fast lautlos.
„Zehn … neun … acht … sieben …“
Hill sah sich um. Dachten einige dieser Menschen: Da geht sie hin, die einzige Hoffnung, die bevorstehende Katastrophe zu überleben? Wünschten sie sich, sie befänden sich darin? Es schmerzte, das alles mit ansehen zu müssen. Das spürte Hill am eigenen Leib.
Er war bereit gewesen, an Bord der Arche zu gehen. Aber manchmal schlug einem die Natur eben ein Schnippchen. Wie hieß es noch gleich? Wir schmieden Pläne. Genau wie die Narren. Und die Götter? Sie lachen.
„Null …“
Die Lautsprecher erfüllten den Raum mit der sanften Computerstimme. Dann faltete sich die Treppe zusammen und klappte in den Einstieg. Die Tür – so konstruiert, dass sie extremem Druck standhielt – glitt über die Öffnung und verschloss sie mit einem saugenden Geräusch.
Wuuusch.
Der Computer verstummte.
Die Arche war jetzt fest versiegelt.
Hill wandte sich ab und rief den Wachen am hangargroßen Tor zu: „Okay. Auf geht’s.“
Hill saß neben dem Piloten des Huey-Workhorse-Helikopters. Neben ihnen flog eine weitere Maschine des gleichen Typs.
Am Bauch der Hubschrauber waren zwei massive Ketten befestigt, deren gewaltige Glieder den Anker eines Kreuzfahrtschiffs tragen konnten. Oder ein Haus. Oder einen Stapel von Frachtcontainern.