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Randi ist eine liebevolle Hausfrau und Mutter, die sich mit viel Hingabe um ihre sechs Kinder und ihren Mann Michael, einen Rechtsanwalt, kümmert. – Mit viel Humor und Lebensklugheit erzählt Lise Gast die Alltagsgeschichte einer Familie. Lesenswert!Lise Gast (geboren 1908 als Elisabeth Gast, gestorben 1988) war eine deutsche Autorin von Kinder- und Jugendbüchern. Sie absolvierte eine Ausbildung zur landwirtschaftlichen Lehrerin. 1933 heiratete sie Georg Richter. Aus der Ehe gingen 8 Kinder hervor. 1936 erschien ihr erstes Buch "Tapfere junge Susanne". Darauf folgen unzählige weitere Geschichten, die alle unter dem Pseudonym Lise Gast veröffentlicht wurden. Nach Ende des zweiten Weltkriegs floh Gast mit ihren Kindern nach Württemberg, wo sie sich vollkommen der Schriftstellerei widmete. Nachdem sie erfuhr, dass ihr Mann in der Tschechoslowakei in einem Kriegsgefangenenlager gestorben war, gründete sie 1955 einen Ponyhof und verwendete das Alltagsgeschehen auf diesem Hof als Inspiration für ihre Geschichten. Insgesamt verfasste Gast etwa 120 Bücher und war neben ihrer Tätigkeit als Schriftstellerin auch als Kolumnistin aktiv.-
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Seitenzahl: 313
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Lise Gast
Roman
Saga
Randi und das halbe Dutzend
© 1960 Lise Gast
Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711509937
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com - a part of Egmont, www.egmont.com
Randi stieß den Spaten in die Erde, als sie zum zweiten Mal die Haustürglocke hörte. Hier klingelte sonst kaum jemand, die Tür stand den ganzen Sommer über offen und den halben Winter, zu Randis ewigem Ärger, ebenfalls. Wer kam, ging ins Haus, begegnete bestimmt einem der Kinder oder ihr selbst, oder er trat in den Garten hinaus und rief, ob denn niemand da sei. Randis und Michaels Haus glich, was Besuch anbetraf, einem Taubenschlag.
Heute aber klingelte jemand. Na schön, Lust zum Umgraben hatte Randi sowieso nicht, ganz allein hier – hätte nicht eins der Kinder helfen können? Natürlich hatten sie alle etwas Besseres vor. Selbst Misch, der sonst gern im Garten arbeitete, hatte heute unbedingt für Latein büffeln müssen, als sie davon sprach. Randi schlug die erdigen Hände gegeneinander und strich sich mit dem Unterarm die Haare aus dem Gesicht. Womöglich war es Besuch, richtiger, offizieller, und sie stand hier in Niethosen und der allerältesten Bluse, die Eva abgelegt und ihr vererbt hatte.
Dabei war es so schön im Garten, gerade jetzt, daß es schade war, hineinzugehen. Eine blasse Herbstsonne ließ die beiden Birken am Zaun matt aufleuchten. Sie waren schon groß. Randi dachte flüchtig, wie schnell Birken doch wachsen. Michael und sie hatten sie gepflanzt, als die Zwillinge geboren waren – vor siebzehn Jahren also. Misch und Angeli waren die ersten ihrer Kinder, die hier im eigenen Haus zur Welt kamen. Bei der Geburt der drei älteren Töchter hatten sie noch zur Miete gewohnt. So wurde für jedes dieser Kinder ein Baum nachgepflanzt, für Eva eine Linde, drüben am Sandkasten, wo jetzt die Luftkegelbahn stand, für Munne ein Nußbaum – Munne hatte nußbraunes Haar – und für Rönt ein tausendblütiger Apfelbaum. Diese Bäume waren also genauso alt wie die Birken der Zwillinge, das war nun einmal so. Und neben der Veranda stand noch ein kleiner Baum, der dem Jüngsten, dem Nachkömmling, gehörte. Der war jetzt dreizehn. Michael hatte darauf bestanden, daß es eine Eiche sein müsse. Die nahm sich Zeit zu wachsen.
Dies alles huschte durch Randis Gedanken, während sie der Veranda zuging, sie dachte es nicht direkt, es dachte in ihr. Die Kinder – die Bäume – der ganze Garten – das Haus – alles war ein bißchen verwildert und wie unabsichtlich hingetupft in das bunte Bild des Herbstes, keineswegs ausgerechnet und systematisch geordnet, aber lebendig und heimatlich, warm und beglückend. Randi atmete tief. Sekundenlang wieder war sie unbeschreiblich und beinah angstvoll dankbar dafür, daß sie hatte behalten dürfen, was unzählige andere Frauen verloren: den Mann, die Kinder, das Haus, die Heimat ...
»Kommste endlich? Da wartet einer«, schrie in diesem Augenblick eine rauhe Jungenstimme, und Misch zog sich wieder ins Wohnzimmer zurück, aus dessen Tür er auf die Veranda herausgetreten war. Randi sah, daß er die Hände voller Ölschmiere hatte, er stieß die Tür deshalb mit dem Ellbogen auf. Nach Schularbeiten und Latein sah das nicht aus! Wahrscheinlich baute er sein Rad auseinander, aber zur Gartenarbeit mit ihr hatte er keine Zeit gehabt!
Ach ja, die Kinder! Mima durfte umgraben – »Mima, das macht schlank!«, »Mima, dann kannst du wiedermal Schlagsahne essen!«, »Mima, in deinem Alter ist körperliche Ausarbeitung sehr gesund für den Kreislauf.« Ärgerlich sprang Randi die drei Stufen der Verandatreppe hinauf und wollte Misch durchs Wohnzimmer folgen, um ihn zu erwischen und an ihre liegengebliebene Arbeit zu schikken, da wurde sie aufgehalten. Der Besuch, des nutzlosen Klingeins müde, hatte den Weg durch Diele und Arbeitszimmer bereits gefunden und trat ihr gegenüber. Randi blieb stehen.
Es war ihr nicht recht. Als Frau von Dr. Michael Peters, Rechtsanwalt und Notar, durfte man eigentlich so, wie sie aussah, keinen Besuch empfangen, jedenfalls nicht in der Kleinstadt. Aber – ach was, Arbeit adelt, frischer Dreck ziert nicht nur den Sportsmann, sondern auch den Gärtner. Und wer ungefragt eintritt, muß sich auf etwas gefaßt machen. Randi sagte sich das alles, ohne ihren Ärger ganz verschlucken zu können, überhaupt, war es eine Art, daß Misch die Tür nicht öffnete, sondern in den Garten brüllte: »Kommste endlich? Da wartet einer!?« Sie sagte etwas Ähnliches, während sie den Besuch bat, sich zu setzen. Sie wollte sich wenigstens schnell die Hände waschen.
»O bitte. Ich bin ja der Eindringling«, sagte der Besucher und setzte sich erst, als sie wiederkam und ihm die Hand gab. Er war nicht übermäßig groß, breitschultrig und hatte angegrautes, schon ein wenig dünnes Haar. Randi musterte ihn flüchtig und nicht sehr interessiert. Vermutlich ein Mandant.
Sie hatte richtig vermutet. Aber seine Angelegenheit habe Zeit, sagte er sogleich, und es sei hier so schön – sein Blick ging dabei über die Verandabrüstung hinüber zum Wald. Randi fühlte sich, wie immer, warm angerührt, wenn jemand ihren verwilderten Garten lobte.
Sie fragte noch einmal nach dem Namen. Dr. Eisentraut. Er habe eine Frage an Dr. Peters, das Urheberrecht betreffend. Randi sagte, sie wisse nicht, wann Michael heute heimkomme. Es wurde in letzter Zeit meist sehr spät, eigentlich dauerte es jeden Tag länger.
»Viel zu tun«, sagte sie und runzelte einen Augenblick die Stirn, wie immer bei dieser Auskunft, wobei ihr Gesicht, das ernsthaft erwachsen aussehen wollte, überraschend kindlich wirkte. Im nächsten Augenblick war sie schon wieder bei ihren eigenen Angelegenheiten. Juristische Fälle interessierten sie nicht – leider und Gott sei Dank.
»Entschuldigen Sie, daß der Junge sich so benahm, statt aufzumachen und ordentlich Auskunft zu geben.« Der Besucher lachte.
»Ist er Ihr einziger?« fragte er ein wenig hinterhältig. Es machte ihm Spaß, diese nicht mehr junge, zugleich jungenhafte und mütterliche Frau zum Reden zu bringen. Randi, ahnungslos, tat ihm den Gefallen.
»Nein, er ist einer von sechsen. Das heißt, von sechs Kindern – Söhne habe ich nur zwei«, sagte Randi. Er lachte noch mehr.
»Nur zwei – und vier Töchter also. Größere, kleinere? Oder gar noch Wickelkinder?«
»Leider nicht. Wickelkinder sind das Schönste, was der liebe Gott sich ausgedacht hat. Nein, größere – das heißt, drei davon sind größer als er. Die vierte ist seine Zwillingsschwester«, erklärte Randi eifrig. »Jungen in diesem Alter sind furchtbar schwierig – Mädel übrigens auch. Obgleich, ich will mich nicht beklagen. So verketzert zu werden, wie es der heutigen Jugend geschieht, das hat sie nicht verdient, wahrhaftig! Ich meine, wenn man ihr nachsagt, sie habe keine weiteren Interessen als Jazz und Petticoats – das stimmt einfach nicht! Aber vielleicht haben Sie selbst Kinder und wissen das alles?« bremste sie ab und sah zu ihm auf.
Dabei blickte sie ihn zum ersten Mal richtig an. Er hatte eine breite Stirn mit weit hinaufgezogenen, sogenannten Geheimratsecken, ein glattrasiertes, gefurchtes Gesicht und hinter der Brille braune, sehr klare, ein wenig einsame Augen. Im selben Augenblick bereute sie ihre Frage. Sicher würde er sie verneinen.
Er hatte den Blick einen Augenblick gesenkt. Jetzt hob er ihn und sah sie an, freundlich, ein wenig bedauernd, aber trotzdem so, daß es sie jeder Peinlichkeit enthob.
»Mich hat der liebe Gott zum Junggesellen geschaffen, sieht man mir das nicht an?« sagte er und lächelte entschuldigend. »Aber fahren Sie doch fort! Ich liebe junge Menschen, ich – nein, bitte, erzählen Sie doch!«
Randi schwieg und sah ihn an. Es hatte eindringlich geklungen, wie er bat: »Erzählen Sie doch!«, gar nicht konventionell und nur höflich. Überhaupt war dieser Besucher von einer Art, die ihr lag – ruhig, ein wenig belustigt und gleichzeitig herzlich. Herzlich: voller Herz.
»Wirklich? Ich fürchte, wenn ich erst anfange – aber Sie trinken vielleicht eine Tasse Kaffee mit mir? Es ist doch jetzt die Zeit, und mir wär’ es sehr recht.«
»Mit Vergnügen!« sagte Eisentraut.
Randi stand auf.
»Vielleicht erwische ich eine der Töchter.«
Sie lief ins Haus. Eisentraut hörte sie rufen. Er rückte mit seinem Korbstuhl ein wenig nach vorn, dorthin, wo die Sonne ihn erreichte. Dabei lächelte er. Es war wahrhaftig schön hier!
»Ja, von Kindern kann ich Ihnen nichts berichten. – Aber Geschwister hatte – vielmehr habe – ich genauso viel wie jedes Ihrer Kinder«, sagte er, als Randi wiederkam, ein Tablett in den Händen, das sie auf der Verandabrüstung abstellte, um den Tisch freimachen zu können. Es klang ein bißchen so, als wolle er sich rehabilitieren. »Ich meine, ich kann mir sehr wohl vorstellen, wie schön das ist, so viel Jugend um sich zu haben.«
»Schön, ja, sicher«, sagte Randi, ein wenig atemlos, »aber auch zum Totärgern. Sechs Kinder hat man, aber wenn eins mal zugreifen soll ...«
»Vielleicht sind sie anderweitig engagiert?« fragte er.
»Ja. Immer. Immer anderweitig. Und immer beleidigt, wenn ich etwas möchte. Ich sage schon ›möchte‹, von ›müssen‹ wagt man gar nicht zu reden. Bitte, hier ist Milch. Übrigens bin ich Ihnen sehr zu Dank verpflichtet, daß Sie gekommen sind und mich aus dem Garten gerufen haben. Ich hatte den Kuchen im Backofen total vergessen. Pflaumenkuchen, wir haben einen ganz nett ertragreichen Obstgarten. Wenn Sie also keine Angst vor zu frischem, noch warmem Pflaumenkuchen haben ...«
Sie sah ihn prüfend an. Seine Augen bekamen einen geradezu sehnsüchtigen Glanz.
»Pflaumenkuchen, noch warm – meine Mutter buk ihn quadratmeterweise. Solche Bleche.« Er beschrieb mit beiden Armen ein Viereck in der Luft. Randi sprang auf. »Hoffentlich ist er so gut geworden wie der Ihrer Frau Mutter. Ja, Misch, meinetwegen. Bring dir eine Tasse mit!« Sie hatte die Tür zur Diele nicht zugemacht, Eisentraut hörte sie sprechen und lachen. Durch die offenen Türen drang ein süßer, herbstlicher Geruch herüber – und der schien nicht nur ihm in die Nase zu stechen. Schritte, Laufen, rauhe und helle Stimmen: die Kinder. Da waren sie also.
»Wie die Fliegen ums Honigbrot«, schalt Randi lachend, »wer sagt euch denn, ob wir nicht lieber unter uns bleiben wollen? Das ist Eva, meine Älteste, studiert Medizin, hat seit Ostern das Physikum. Das ist Rönt, eigentlich Rosmarie, Nummer drei – Marianne ist nicht da? Misch, du holst dir vielleicht einen Stuhl von drin, ich glaube, das ist passender, als deiner lieben Schwester einfach einen wegzuziehen.«
»Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Aber natürlich, die süßen Töchter, die können nicht –«, brummte Misch ziemlich deutlich im Abschieben. Randi ärgerte sich. Hoffentlich hatte der Besuch es nicht gehört!
»Wo ist Angeli? Schwimmen? Jetzt? Ihr seid wohl nicht normal!«
Randi schob die Tassen, die Misch hereingebracht hatte, auf dem breiten Tisch zurecht. Immerhin, er hatte auch an die Schwestern gedacht. Eva setzte sich neben Eisentraut, ihr feines, ein wenig zu zartes Profil sah schön aus gegen das Braun der Verandawand. Der Besucher aber sah das natürlich nicht. Er sah – wie alle Männer, die zum ersten Mal hier waren – nur Rönt.
Randi kannte das. Trotzdem verstand sie es nicht. ›Ich bin eben eine Frau‹, dachte sie in solchen Fällen, ›keine Frau versteht, was Männer an jungen Mädchen finden. An solchen jungen Mädchen – und an anderen manchmal überhaupt nichts, obwohl die anderen auch hübsch, auch jung, auch entzückend mit beneidenswert faltenloser Haut und fröhlich wippendem Haar sind.‹
Rönt war durchaus nicht das, was man im landläufigen Sinne hübsch nennt. Ihr Gesicht jedenfalls hatte nicht den ebenmäßigen Schnitt wie das ihrer Schwestern. Es war länglich, mit weichen Wangen, in denen Grübchen kamen und gingen, je nachdem, ob sie sprach oder lachte. Und ihre Augen standen eine winzige Kleinigkeit schräg und waren graugrün; manchmal, wenn sie einen bestimmten Pullover trug, sogar ganz grün, grün wie Schilf in der Sonne. Rönt war braungebrannt, nicht dunkel, sondern sanft haselnußbraun, überall da, wo man Haut sah – und man sah eine ganze Menge bei Rönt. Sie gehörte zu der Art junger Mädchen, die tiefe Ausschnitte unbefangen und selbstverständlich tragen können, Ausschnitte, die den Müttern Bauchweh machen und den Männern Stielaugen.
»Rönt? Ich habe diesen Namen nie gehört«, sagte eben Dr. Eisentraut. Randi lachte. Auch das sagten alle Männer. Rönt erklärte, daß dies ein Kindername sei. Sie formulierte das jedesmal ein bißchen anders, jedenfalls, sooft jemand von der Familie dabei war – sie besaß eine eigenartige und treffsichere Art, sich auszudrücken, ohne sich zu wiederholen. Randi glaubte zu bemerken, daß Eva die Schwester beobachtete – ›Welche Platte hat sie nun heute aufgelegt?‹ mochte Eva jetzt denken, ›die kesse oder die bescheidene, die verruchte oder die hilflose?‹
Diese Töchter. Nein, in einer Art waren Jungen eben doch einfacher zu haben. Wie Misch jetzt in stummer Beharrlichkeit ein Stück Kuchen nach dem andern in den Mund schob, das war doch etwas herzerfrischend Beruhigendes und Normales. Gerade hörte man Schritte, und Angeli erschien, erhitzt vom Radeln bergauf, mit noch feuchtem Haar und einer erquickend uneitlen Art, sich vorzustellen.
»Ich bin die andere Ausgabe von dem da«, sagte sie und wies mit einer Kopfbewegung auf Misch, »er hört’s nicht gern, aber ich kann nichts dafür. Rück mal ein Stück, ich habe auch Hunger, und was für welchen!«
Misch knurrte, machte aber Platz. Eva stand auf und ging, neuen Kuchen zu holen – Randi hatte ihr kurz und ein wenig resigniert zugenickt: ›da back’ ich eben nochmal welchen.‹ Es war der Sonntagskuchen, und viel blieb zweifellos nicht davon übrig.
Kleine Sorgen, geliebte Sorgen! Sorgen um einen zu schnell aufgegessenen Kuchen, um zerrissene Jungenhosen oder eine Vier in Latein. Ärger darüber, daß die eine Tochter wie durch eine geschliffene Linse alle Strahlen männlicher Augen auf sich sammelte und die andere, auch nette, vielleicht wertvollere – hier verbesserte Randi sich in Gedanken sofort und ein wenig schuldbewußt –, daneben saß und nicht gesehen wurde ...
»Sie haben eine ausgesprochen hübsche Tochter, beinahe könnte man sagen, eine Schönheit«, sagte Dr. Eisentraut, als die Kinder den Kaffeetisch, nicht ohne kleine gegenseitige Rempeleien und Freundlichkeiten, geräumt hatten, »ich habe sie sehr gern und sehr lange angesehen. Wie alt ist sie?«
»Neunzehn«, sagte Randi und seufzte, »und hübsch? Ich weiß nicht. Apart, ja, aber –«
»Daß wir uns nicht mißverstehen: ich meinte die, die neben mir saß.«
Dies war der Satz, bei dem Randi aufhorchte.
Von diesem Augenblick an war sie hellwach, ernst und ganz bei dem Gespräch. Es geschah so selten bei dem vielen, vielen Besuch, der hier aus- und einging, daß jemand auf eine der Schwestern aufmerksam wurde, solange Rönt im Zimmer war. Randi strich dies sozusagen rot im Kalender an. Das Gespräch, das nun folgte, war kein alltägliches mehr, das man sofort vergißt.
Dabei sprachen sie eigentlich gar nichts Schwerwiegendes und schon gar nichts Problematisches. Trotzdem merkte man, daß dies ein Mann großer, wenn auch zurückhaltender Klugheit und unaufdringlicher Güte sein mußte. Er war wie seine Augen: klar. Es war schön, mit ihm zu sprechen. Es tat wohl. Es war ein richtiges Gespräch, eins, wie Randi es liebte, oft vermißte, immer ersehnte. Es war wie ein Bad in einem sonnigen Weiher, ganz allein mitten zwischen bitter duftenden Tannen, die dicht bei dicht um einen stehen und einen beschützen, während man sich im warmen Gold des klaren Wassers streckt.
›Merkwürdig‹, dachte sie, als sie etwas später in fliegender Eile in der Küche hantierte und nachholte, was durch dieses Gespräch an Zeit verlorengegangen war – Michael hatte, heimkommend, Dr. Eisentraut in sein Zimmer gebeten und ihr zerstreut, wenn auch freundlich zugewinkt, als sie fragte, wann es Abendbrot geben solle.
»Später – ganz egal.«
Renate, Randis junge Haushalthilfe, hatte heute frei. Sie verstand es vorzüglich, immer einen Grund zum Freihaben zu finden. Randi nahm das hin – wenn man selbst Töchter in diesem Alter hat, versteht und entschuldigt man vieles. Und Abendbrot richten war nicht so schlimm, wenn einem nur mittags das tägliche Problem »Was kochen wir heute?« und die Einkauferei erspart blieben. Heute aber würde der Besuch mitessen, sie mußte sich also anstrengen.
Michael war gar zu gleichgültig und uninteressiert am Essen; er wurde auch immer dünner. Randi sah ihn noch vor sich, wie er vorhin Dr. Eisentraut begrüßte: Schmal war er, und sein Gesicht verriet, daß er müde war. Besonders an den Schläfen sah man es, wenn man ihn kannte. Sie hatten bläuliche Schattentäler.
Ach ja. Aber was nützte alles Reden und Reden. Urlaub müßte er nehmen, langen, richtigen, monatelangen Urlaub – Randi beschloß, nachher im Schutze der Öffentlichkeit, also im Beisein des Besuchs, dieses Thema wieder einmal anzuschneiden. Michael mußte einmal heraus aus dem Alltag, und zwar allein. Allein erholte man sich am besten. Er hatte noch nie Urlaub ohne sie genommen, jetzt aber war es an der Zeit, fand sie. Dieser Dr. Eisentraut mit seiner ruhigen und klugen Güte brachte vielleicht mehr fertig als sie mit ihrem ewigen Gequäle.
Michael war nicht der Stärkste. Er war zäh, zweifellos, sonst hätte er damals die Strapazen nicht überstanden, und wer von seiner Verwundung nichts wußte, merkte nicht einmal, daß er das Bein nachzog. Er ging langsam, aber gleichsam unauffällig langsam – auf eine geschickte, jahrelang trainierte Art. Seltsam, daß Männer Verletzungen, auch Kriegsverletzungen, irgendwie als Schmach empfinden, dachte Randi. Das aber war es nicht allein.
Randi war sich nicht klar darüber, seit wann sie es wußte, vielleicht sogar nicht einmal, daß sie es bisher gewußt hatte. Heute aber stand es, vielleicht durch das Gespräch mit diesem ruhigen und klugen Mann, auf einmal klar vor ihr: das Wissen, daß Michael verändert war. Schon länger, schon lange. Es war etwas in ihm gesprungen, das früher gespannt und federnd war.
Er wußte es auch. Er mußte es wissen. Vielleicht kam daher seine Art, sich abzusondern, seine Art, sie abzuwehren, wenn sie, wie früher, spontan und laut, rücksichtslos gesund und unbefangen auf ihn zugelaufen kam. Früher winkte er anders, wenn er kam – er winkte mit den Handflächen auf sich selbst gerichtet mit beiden Händen. Sie hatte, ohne es ihm je zu sagen, diese Art zu winken entzückend gefunden und immer wieder einen Stoß junger Verliebtheit gespürt, wenn sie es sah. Jetzt hielt er, schon ein paar Jahre lang, die Hände beim Winken anders herum.
»Quatsch«, sagte Randi ganz laut vor sich hin. »Er ist abgespannt und müde, weiter nichts. Er wird auch nicht jünger. Urlaub muß er nehmen, und zwar bald, Punkt. Alles andere ist Unsinn.«
»Mit wem unterhältst du dich denn, Mima?«
Randi, die vor dem Backrohr kniete, sah auf. Winnetou stand in der Tür.
»Mit mir. Ich befinde mich also in bester Gesellschaft«, sagte sie und stemmte sich hoch. »Würden der Herr so freundlich sein und das Tablett mit hineinnehmen? Es dauert noch etwas mit dem Abendbrot. Bist du sehr hungrig?«
»Ich muß erst Hände waschen.«
Randi wettete mit sich selbst, daß er jetzt hinaus- und ins Badezimmer gehen und von dort nicht zurückkommen würde. Winnetou war wie ein Aal, er entwischte einem stets, aber immer auf die liebenswürdigste und ganz und gar unangreifbare Art. Sie hob schon die Hand, um ihn am Schlafittchen zu packen und mit einem »Hiergeblieben, mein Sohn!« an den Wasserhahn zu schieben.
Aber, o Wunder, er ging von selbst hin.
»Weißt du, Mima, was ich nicht verstehe? Wovon die Elefanten gelebt haben – damals. Dort ist doch ein ganz anderes Klima als in Afrika.«
»Wo denn?« fragte Randi und suchte nach dem geriebenen Käse.
»Na, auf dem Weg über die Alpen! Dort oben wächst doch ganz was anderes, wenn überhaupt was wächst, und so viel mitnehmen konnten sie doch auch nicht. Ein Elefant frißt am Tag zwei Zentner Heu, stell dir das mal vor, wenn man da viele Elefanten mithat!«
»Hannibal?«
»Na klar! Überleg doch mal, wie weit das war. Erst von Nordafrika nach Spanien – bei Gibraltar, denke ich – ob Elefanten eigentlich seekrank werden können? Dort sind doch immer solche Stürme.«
»Warum sollten sie denn nicht?«
»Pferde können nicht. Das weiß ich. Sie haben einen andern Verschluß in der Kehle als wir. Auch luftkrank werden sie nicht. Wenn sie zur Olympiade per Flugzeug geschickt werden, ist das schrecklich für sie. Ihnen wird womöglich schlecht und sie können nichts herausbringen. Aber wie das bei Elefanten ist, weiß ich nicht.«
»Ich auch nicht«, sagte Randi schuldbewußt. »Aber du, hör mal! In den nächsten Ferien schicken wir dich mal nicht auf Fahrt, sondern in die Stadt. Vielleicht zu Onkel Ralph. Dort ist ein großartiger Zoo. Da siehst du mal alle die Tiere in Wirklichkeit. Es ist wahrhaftig eine Schande und ein Jammer, nie hat man Zeit für sowas.«
»Kann man die Wärter da fragen? Ich meine, was Elefanten fressen und wie weit sie am Tag laufen können? Es war doch eine Riesenstrecke, die ganze Ostküste von Spanien entlang –.« Er war schon wieder bei Hannibal. »Natürlich kannst du das. Aber du kannst auch an den Zoodirektor schreiben und dich da erkundigen.«
Man müßte Zeit haben. Man müßte mit dem Kind selbst hinfahren und erleben, wie es zu diesen Ur-Riesen aufstaunt, man müßte auf seine Fragen hören und sie zu beantworten versuchen, selbst weiterfragen, wenn man es nicht weiß, dasein für den Jungen. Statt dessen steht man hier und spült in Eile die Tassen vom Nachmittag, um sie fürs Abendbrot sauber zu haben.
»Trag mir das Tablett hinein, bitte, ich komme nach«, sagte sie hastig. »Wir fragen nachher Vater. Es ist Besuch da, weißt du, übrigens ein sehr netter Besuch. Ein Herr, der das alles vielleicht weiß, was du wissen möchtest, vielleicht sogar besser als Vater oder ich.«
»Könnten wir nicht den Kamin anfeuern; Sie bleiben doch noch etwas«, sagte Randi, als die Herren aufstanden, um zum Rauchen hinüberzugehen. »Winnetou möchte noch verschiedenes wissen – ich hatte vorhin gar keine Zeit für ihn und habe ihn mit dem Wissen der Männer getröstet, Micha, wie wär’s?«
»Klar, Mima«, sagte Misch an Michaels Stelle sofort. Kaminfeuer, vor allem das erste nach einem langen und warmen Sommer, war auch für die Kinder ein Fest. Misch und Angeli schubsten ihre Stühle an den Tisch heran, daß es krachte, und rannten um die Wette dem Flur zu, nicht ohne in der Tür zusammenzustoßen.
»Irre Ziege!« schimpfte Misch, und Angelis Stimme übertönte seine, während sie, gewandter als er, die Kurve nahm und als erste durchschlüpfte. Randi sah ihnen nach, sagte dann aber doch nichts.
Sie freute sich ja auch auf den Kaminabend mit den beiden Männern. Nur noch schnell abwaschen, Käse- und Salzgebäck zurechtstellen, Tee aufgießen – sie hatte eine neue Sorte sehr schönen Tee gefunden, und –
Da ging das Telefon. Im selben Augenblick wußte Randi, daß es mit dem gemütlichen Kaminabend aus war. Und sie hatte recht, sie hörte es an Michaels Antworten. Er hatte die Tür des Herrenzimmers nicht geschlossen.
»Doch, ja, kommen Sie ruhig. Wir haben Besuch, der Sie auch interessieren wird. Ja, selbstverständlich. Bitte. – Bitte.«
Mehr brauchte sie nicht zu hören. Michael hatte aufgelegt, kam ihr entgegen und traf sie in der Diele.
»Heyerdahl, ja, ich konnte ihn nicht ausladen«, sagte er und lächelte ein wenig zaghaft. »Und da wir sowieso noch ein bißchen zusammensitzen ...«
»Jaja«, sagte Randi. Aber sie dachte: ›Nein, nein‹. Der dicke Heyerdahl, Direktor eines großen Konzerns, war natürlich wichtig für Michael, sie sah das ein. Man konnte ihn nicht abwimmeln, weil man sich auf eine nette Stunde gefreut hatte. Man konnte nicht – warum eigentlich nicht?
Erstens: aus angeborener und anerzogener Gastlichkeit. »Der Gast, und wenn er noch so stört, er wird von allen hochgeehrt.«
Es gab noch drastischere Verse, die die Kinder mit Vorliebe zitierten. Zweitens: aus Klugheit. Wohin kam man, wenn man sich einigelte und allen die Stacheln zeigte? Ein Anwalt ist auf die Menschen angewiesen. Drittens: aus Gewohnheit.
Das vor allem.
›Aus schlechter Gewohnheit‹, sagte sich Randi erbittert, während sie die Teetassen wegräumte und die Gläser holte. ›Warum muß einer, der sowieso mehr Sekt trinkt als andere, unbedingt damit, und nicht mit Tee und einem gemütlichen Kognak bewirtet werden, obwohl er gar nicht netter ist?‹
Randi mochte Heyerdahl nicht. Er hatte Geld, aber er war kein Protz, o nein. Dazu war er zu klug. Aber er hatte etwas zugleich Hochmütiges und versteckt Leutseliges; Randi haßte diese Mischung. Mitunter hatte auch ihr lieber Bruder Ralph etwas davon. Sie wußte das und schämte sich manchmal für ihn.
Sie merkte, daß Michael ihre Gedanken fühlte, obwohl sie selbstverständlich freundlich und gastlich auch gegenüber diesem Besuch war. Aber allein schon, daß sie sich nochmals hatte umziehen müssen, ging ihr gegen den Strich. Sie konnte sich sehr schlecht verstellen.
Auch die Kinder kamen nun zu kurz, das war vorauszusehen gewesen. Sie verabschiedeten sich denn auch bald, die Großen wohlerzogen und höflich-kühl, Winnetou mit einem sehnsüchtigen Blick auf Eisentraut und einem feindlichen zu Heyerdahl hinüber. Randi wollte aufstehen und ihm nachgehen, ihn vertrösten – Kinder sind wichtig. Wichtiger als Besuch, wichtiger als Höflichkeit ... da aber sprach Heyerdahl sie an.
Schön, so blieb sie eben sitzen. Sie sah den Konzerndirektor an, sein breites Gesicht und die gepflegten Hände, und antwortete ihm, überlegt und ruhig. Aber unter dieser Ruhe zitterte ein Zorn. Dieser Zorn galt nicht allein diesem Besuch, er galt allen Menschen mit Geld, die selbstverständlich und von einer manchmal entwaffnenden Harmlosigkeit der Meinung sind, daß sie immer und immer zuerst kommen.
»Ruhig. Ruhig. Er ahnt ja nichts«, sagte in diesem Augenblick eine halblaute Stimme neben ihr. »Lassen Sie ihn leben. Es lohnt nicht.«
Eisentraut! Daß er so genau wußte, wie es augenblicklich in ihr aussah! Sie blickte nicht zu ihm hinüber, aber die harte und böse Abwehr in ihr entspannte sich. Sie mußte lachen, verbarg es und sprach weiter.
»Ich schieß’ ja gar nicht«, sagte sie, als ihr Gespräch mit Heyerdahl beendet war und sie nach ihrem Glas griff.
Eisentraut hob das seine ein wenig dem ihren entgegen. »Ein Glück. Aber angelegt hatten Sie schon! Fragen Sie einen alten Waidmann. Nein, glauben Sie mir, da hätten wir viel zu tun, und es würde sozusagen ununterbrochen knallen.«
»Sieht man mir das denn so deutlich an?« fragte Randi.
»Man? Ich weiß nicht. Ich? Doch, ja. – Ich hatte mich auch auf diesen Abend gefreut.«
Dieser Satz, vor allem aber dieses »auch«, ging Randi nicht aus dem Kopf. Sie dachte noch daran, als sie im Badezimmer das heiße Wasser einließ. Michael badete gern, wenn es sehr spät geworden war ... ›auch auf diesen Abend gefreute‹.
Es war viel geredet worden. Geredet, nicht gesprochen. Schade. Aber vielleicht hatte wenigstens Michael etwas erreicht, er gehörte nicht zu den Männern, die geschäftliche Verbindungen bei Wein und Zigarre knüpfen, manchmal aber ergab sich so etwas von selbst. Dann war der Abend eben doch nicht verloren – für ihn.
»Kommst du? Es läuft jetzt richtig heiß.«
Sie sah sein Gesicht im Spiegel auftauchen. Es war anders als vorhin, hatte Farbe, die Augen Glanz. Er lächelte ihr zu, vielleicht halb mechanisch, halb aber herzlich und vertraut. Noch immer hatte er die schönsten Zähne.
Sie waren allein, endlich einmal, nachts um zwei, hier in ihrem Badezimmer, ungestört von Besuch und Kindern. Sie sah sein Gesicht im Spiegel und fühlte zwischen Kehle und Magen wieder einmal das alte, jetzt längst vertraute und trotzdem immer wieder überraschende Gefühl, das den Atem knapp und den Blick dunkel machte: geliebter Mann.
Niemals hatte man Zeit dazu, diese Worte dem anderen zu sagen. Entweder war der andere beschäftigt und abgelenkt, oder er war müde. Oder man selbst war eins von beidem. Vier Möglichkeiten – vier Unmöglichkeiten. Nein! Einmal sollte es doch möglich sein ...
»Du, Michael!«
»Ja? Eigentlich müßtest du doch sehr befriedigt sein, nachdem du immer und immer in mich hineingebohrt hast«, sagte Michael heiter und zog den Schlips vom Hals. »Nun nehme ich also Urlaub, und der wird gar nicht kurz sein. Was in Lissabon zu tun ist, kann man meiner Ansicht nach in zwei, höchstens drei Tagen erledigen. Alles andere ist Erholung. Und Heyerdahl ist nicht knausrig, das kannst du glauben! Außerdem will er selbst etwas von Spanien sehen, Barcelona auf jeden Fall, und auf Toledo werde ich bestehen, denn das ist ja ein alter Traum von mir. Tolle Sache, würde Misch sagen. Schade, daß du nicht mitkannst.«
»Ach, gar nicht schade.« Randi sagte es spontan, ehrlich und ohne die winzigste Einschränkung. »Hauptsache: du kommst raus. O Michael, ich freu mich so! Ihr fahrt mit einem Wagen? Mit Chauffeur? Einiges hab’ ich natürlich gehört, wenn auch nur einiges.«
»Ja, mit seinem Fahrer. Aber nur bis Lissabon. Dort schickt er ihn zurück, er fährt selbst gern, wenn es nicht eilt. Und er meint, wir hätten es schöner zu zweien, unter uns. Wenn ich wollte, könnten wir uns abwechseln. Natürlich fahre ich gern, vor allem so einen Wagen. Es ist ein dicker Cadillac, ja, er war schon einmal damit hier, besinnst du dich?«
»Ja, ich weiß.« Randi lachte. Sie waren beide, Kleinstadtbewohner seit zwanzig Jahren, verliebt in ihren Wagen, zumal Michael nicht jeden Tag fuhr. Er ging früh zu Fuß ins Büro, so oft es möglich war, erstens, weil er überhaupt gern lief, und dann auch, um den Kindern kein schlechtes Beispiel zu geben, die immer radeln und nie laufen wollten. So hatten sie die Lust an ihrem Volkswagen, der »der Depp« hieß, noch nicht verloren. Einen Cadillac zu fahren, bedeutete für Michael das gleiche Vergnügen wie das erste Motorrad vor dreißig Jahren.
›Er ist doch noch jung‹, dachte Randi, warm angerührt, ›er ist nur abgeschafft und kaputt. Wer sich noch so freuen kann ...‹
»Und freimachen kannst du dich auch im Büro?«
»Es muß sich einrichten lassen. Friedrich ist ja tüchtig, er macht schon seinen Kram. Und bedenk die Reklame! Das Ganze ist ja in erster Linie geschäftlich von Vorteil. Heyerdahl ist ein Name ...«
»Natürlich. Nur so – als Mensch –, aber Hauptsache, du verstehst dich mit ihm!«
»Was hast du denn gegen ihn?« fragte Michael. Er streckte sich aufatmend in der Wanne aus. Randi stand am Waschtisch und ließ das Wasser auf ihre Strümpfe laufen, drückte sie zusammen und hängte sie über das Frottiertuch.
»Nichts«, sagte sie freundlich, »er ist nur – er ist – Eisentraut gefällt mir besser.«
»Ach, Eisentraut. – Heyerdahl hat Format, ganz abgesehen von dieser ganzen Sache – daraus kann sich etwas entwickeln, das für uns entscheidend werden kann. Finanziell, meine ich. Ich spreche nicht gern von etwas als der großen Chance des Lebens, das klingt so nach Film! Aber vielleicht ist es eine Chance für uns, sicher sogar. Und Heyerdahl hat Fingerspitzengefühl und Weitblick.«
»Sicher.« ›Und Eisentraut Herz.‹ Sie sagte es nicht. Es muß nicht alles ausgesprochen werden, was man denkt.
Natürlich, Eisentraut war kein Mandant, der einen im Cadillac nach Spanien mitnahm und neben einer dicken Sache auch noch einen phantastischen Urlaub bot. Randi ärgerte sich. Sie ärgerte sich über sich selbst, weil sie sich über Michael ärgerte. Er hatte ganz recht, von seinem Blickpunkt aus gesehen, und es war dumm von ihr, hier andere Werte in die Debatte zu werfen. Trotzdem kränkte es sie.
Sie dachte an vorhin, als sie die Sektgläser aus dem Schrank genommen hatte. Wer Besseres gewöhnt ist, muß besser behandelt werden. Schlechte Grundsätze, aber nicht zu ändern, zumal in einer Kleinstadt.
Sie ging ins Schlafzimmer hinüber und hörte durch die offenstehende Tür die kalte Brause rauschen. Michael stöhnte mit »Huh!« und »Brr!«, dann hantierte er am Waschtisch. Randi war schon im Bett.
»Hast du meine Zahnpasta gehabt? Ich finde sie nicht«, hörte sie ihn sagen. Er bevorzugte eine besondere Sorte, die nur für ihn da war. Sie verneinte.
»Vielleicht haben die Kinder wieder –«
Er kam im Bademantel herein.
»Nimm doch von meiner«, sagte Randi, die keine Lust hatte, nochmal aufzustehen.
»Ach, ich seh’ schnell mal nach.«
Er ging hinaus. Randi hatte schon geschlafen und geträumt, wurde aber hellwach, als er wieder hereinkam.
»Du, Marianne ist noch nicht da.«
»Was?«
»Ja, denk dir.«
Er hatte vom Kinderbadezimmer aus ins Mädelzimmer hineingeschaut und gesehen, daß das eine Bett glatt und unberührt dastand. Randi sah nach der Uhr: halb drei.
»Nanu. Das ist ja allerhand.«
Sie erinnerte sich jetzt, daß Marianne am zeitigen Nachmittag weggegangen war, zu einer Freundin, sie kannten die Familie. Hier in der Kleinstadt kannte sich alles untereinander. Es geschah häufig, daß die Kinder dann zum Abendbrot und noch darüber hinaus dort blieben, so wie die Kinder anderer Familien bei ihnen. Eigentlich sollten sie anrufen, wenn es später wurde, aber da Randi oft gar nicht dazu kam, sich zu wundern oder zu schelten, so wurde das meistens verbummelt. Ähnlich war es sicher auch heute gekommen.
Trotzdem, so spät brauchte es nicht zu werden!
»Vielleicht bleibt sie über Nacht? Ich erinnere mich nicht, daß sie mir irgendwas davon gesagt hat, aber möglich ist es.«
»Bei Hellwigs? Das paßt mir nicht«, sagte Michael verärgert. »Die Leute mit ihrer winzigen Wohnung, die haben ja kaum für sich selbst Platz. Und hier ist ein Heimweg ja auch wahrhaftig nicht weit. Wenn ich denke, was für Fußmärsche wir früher machten, durch die ganze Großstadt manchmal, nach Tanzereien!«
Randi schwieg. Aber es brodelte in ihr. ›Die Leute mit ihrer winzigen Wohnung‹ – aber vielleicht lag es an ihr? Hörte sie heute stets und immer nur dasselbe heraus? Hellwigs waren nette, vernünftige, handfeste Leute, hatten drei größere Kinder, die Frau arbeitete seit einiger Zeit auch, vermutlich, damit sie endlich aus dieser Enge herauskämen. Randi sagte es, sagte es unnötig heftig. Ob Hellwigs vielleicht nicht standesgemäß seien! Wenn Marianne bei jemandem wie Heyerdahls übernachtete ...
»Dann?« fragte Michael scharf. Randi sah trotzig zu ihm auf.
»Dann wäre es eine andere Sache, meinst du! Oder?«
»Du weißt genau, daß ich das nicht meine. Aber bei Heyerdahls – dieses Beispiel brachtest du, bitte! – könnten wir anrufen und fragen, ob sie dort ist.«
Freilich, Hellwigs hatten kein Telefon. Randi schwieg verdrossen. Gleich darauf hielt sie den Atem an und machte Michael ein Zeichen, daß er schweigen solle. Er horchte wie sie.
Wirklich, Schritte in der Diele. Michael öffnete die Tür und sah hinaus. Randi atmete auf. Es war Marianne.
»Komm mal her«, sagte Michael gedämpft. Marianne, die schon von draußen Licht im Elternschlafzimmer gesehen hatte, kam zögernd näher. Sie trug einen hellen, sportlichen Regenmantel und keine Kopfbedeckung. Ihr Haar, kurzgeschnitten wie ein Fell, schimmerte an manchen Stellen ins Rötliche. Auf der kurzen, geraden, noch ganz kindlichen Nase saßen ein paar Sommersprossen. Marianne blinzelte ins Licht, und ihr Mund leuchtete erdbeerrot vor lauter Jugend. Randi konnte nicht anders, sie fand ihre Tochter in diesem Augenblick trotz allen Ärgers bezaubernd.
›So hübsch war ich nie‹, dachte sie flüchtig und begeistert, ehe sie sich zusammennahm und zum Wesentlichen kam.
»Na hör mal, es wird ja Zeit«, setzte sie an, ehe Michael etwas sagen konnte. Es war, wie sie oft erfahren hatte, besser, ihm die ersten Worte vorwegzunehmen. Marianne zuckte die Achseln, nicht frech, eher ein bißchen resigniert, sagte aber nichts.
»Habt ihr getanzt?« fragte Randi weiter.
»Ja. Erst. Und dann wollte Hartmut mich nach Hause bringen, und da haben wir noch einen Umweg gemacht.«
Aha. Randi streifte Michaels Gesicht mit einem kurzen Blick: also auch die heutige Jugend machte Nachtwanderungen. Michael hatte die Brauen zusammengezogen. Randi sprach schnell weiter.
»Und? So weit könnt ihr ja gar nicht gelaufen sein, daß es so spät wurde.«
»Meinst du? Ich finde, man kann bis früh laufen, wenn man sich was zu sagen hat.«
Die Antwort klang schnippisch und kurz, zweifellos so, wie man nicht mit Eltern spricht – oder sprach, früher. Randi dachte das selbstverständlich, aber ebenso selbstverständlich sprach sie es nicht aus. Endlose Debatten waren dieser Haltung vorausgegangen. Sie schluckte also und beschränkte sich auf ein: »Na schön, zugegeben, wenn man immerfort im Kreise rennt.«
Marianne sagte nichts.
»Geh jetzt ins Bett, wir sprechen morgen weiter«, sagte Randi und mühte sich, weder zu kalt noch zu freundlich zu sprechen. Es gelang; der Ton lag ziemlich genau dazwischen. Jetzt aber schaltete sich doch noch Michael ein. »Es paßt mir nicht, daß du nachts mit diesem – wie heißt er? Hartmut – herumrennst«, sagte er verdrossen. »Ist das wirklich nötig? Könnt ihr euch nicht am Tag aussprechen?«
»Nein. Er arbeitet tags auf einem Bau. Für das Semester. Er muß sein Studium selbst bezahlen«, sagte Marianne. Diesmal war der Ton wirklich ungezogen. Michael und Randi fanden das beide.
»Um so mehr müßte er nachts schlafen und nicht spazierenrennen«, sagte Randi deshalb hastig, um Michael eine berechtigte, vielleicht aber zu ärgerliche Antwort abzuschneiden, »wenn er nicht soviel Vernunft hat, solltest du sie aufbringen! Und nun Abschub, los, verschwinde! Vater braucht seinen Schlaf auch.«
Marianne ging. Michael sagte nichts. Randi überlegte, ob sie noch einmal anfangen sollte. Erfahrungsgemäß war Michael vernünftigem und maßvollem Zuspruch zugänglich, er mußte nur zur richtigen Zeit und ruhig erfolgen. Sie aber war nicht ruhig.
Irgend etwas saß da quer in ihr, schon den ganzen Tag. Irgend etwas sperrte, wo es sonst – meistens wenigstens – glatt und reibungslos bei ihnen lief.
Vielleicht war es ein Überbewerten von Kleinigkeiten, das dies verursachte, und sie selbst war daran schuld. Aber sie vermochte es nicht zu entwirren.
Der schöne und wohltuende Nachmittag mit Eisentraut und der durch den anderen, hinzukommenden Herrn verdorbene Abend waren in ihr noch nicht verkraftet. Sie war enttäuscht; sie fand, daß Michael Eisentraut falsch einschätzte, sie war böse auf Heyerdahl. Michael mißgönnte sie wahrhaftig nicht die Reise, auf die er sich freute, aber sie dachte feindlich und abwehrend an den Partner dieser Fahrt. Wenn Michael ein paar Wochen mit dem zusammen war und nur in prächtigen Hotels und Bars und mit tollen Snobs verkehrte, vielen Dank!
Sie wußte im Grund ihres Herzens, daß dies ungerechtfertigt und daß es zum mindesten verfrüht war, sich darüber zu kränken. Aber sie konnte jetzt weder gerecht sein noch abwarten. Und sie fand, daß Hartmut Hellwig ein netter und sauberer und tüchtiger Junge war, dem Michael Unrecht tat. Wahrscheinlich hatte er Marianne auf diesem stundenlangen Spaziergang sein Herz ausgeschüttet über irgendwelche weltanschaulichen oder künstlerischen oder Gott weiß was für Probleme, jedenfalls über solche, die man in diesem Alter wichtig nimmt. So wichtig, daß einem auch bei schwerer körperlicher Arbeit der Schlaf nebensächlich wird. Weiter war es nichts, sicherlich. Hartmut gehörte in eine nette, vernünftige Familie und war außerdem Pfadfinder. Er stellte den Idealtyp des erfreulichen jungen Mannes von heute dar. Micha sollte sich nicht so haben! Aber freilich, Hartmut war aus kleinen Verhältnissen ...