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Am Ende des letzten Bands ist es Hanif in letzter Sekunde gelungen, den verhassten Sedat – den Mörder Leilas - zu vernichten. Im siebten und vorerst letzten Teil der Reihe muss sich Rayan mit seinen Freunden aus einem Hinterhalt befreien, den sie erneut dem Erzfeind zu verdanken haben. Dies gelingt zwar, doch der Preis dafür ist hoch. In der Zwischenzeit steckt Kommissar Faris Hassan mitten in der Morduntersuchung. Es erweist sich als zäh, die Ereignisse zu rekonstruieren. Fest steht: es gibt noch einen Handlanger – oder ist dieser Ellert sogar ein Mittäter? Es wird schwierig, eindeutig zu belegen, wie tief der Mann in den Fall verstrickt ist. Muss Faris ihn vielleicht sogar aus Mangel an Beweisen gehen lassen? Rayans Sohn Tahsin fliegt trotz des ausdrücklichen Verbots seines Vaters zu seiner Liebe nach Irland – wird er dort finden, was er sich erhofft? Bei seiner Rückkehr nach Alessia wird er mit den Konsequenzen seines eigenmächtigen Handelns konfrontiert. Dann wird der Anführer der Tarmanen von seiner Vergangenheit eingeholt. Rayans alte Jugendliebe gesteht ihm ihren sehnlichsten Wunsch: vor ihrem Tod noch einmal in ihre Heimat Zarifa zurückkehren zu dürfen. Rayan kann sich des Gefühls nicht erwehren, dass an der Geschichte der todkranken Frau etwas nicht stimmt. Sie erhält trotzdem seine Erlaubnis, das große Tal zu besuchen – mit dramatischen Folgen. Rayan trifft daraufhin eine drastische Entscheidung – und der einsame Falke erhebt sich.
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Seitenzahl: 394
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Indira Jackson
Rayan - Der Einsame Falke
Band 7 - Teil 1
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Vorwort
Mai 1989 – Zarifa: Bergwelt – Die volle Wucht des Zorns
14. Mai 2016 – Rabea Akbar: Stadt: im Hotel – Der Tag der ersten Male
17. Mai 2016 – Alessia – Unbestätigte Vorurteile
Mai 1989 – Zarifa: Bergwelt – Der Zorn Allahs
14. Mai 2016 – Rabea Akbar: Stadt: im Hotel – Das eigen Fleisch und Blut
17. Mai 2016 – Alessia – Ein gewissenloser Bastard
Mai 1989 – Zarifa: Bergwelt – Eines wahren Anführers würdig
14. Mai 2016 – Rabea Akbar: Stadt: Im Hotel – Die unbemerkte Gefahr
17. Mai 2016 – Alessia – Erfolgreiche Ermittlungen
Mai 1989 – Zarifa: Bergwelt – Kein weiteres Blutvergießen
14. Mai 2016 – Rabea Akbar: Stadt – Todesgefahr
17. Mai 2016 – Alessia – Recherchen am Tatort
Mai 1989 – Zarifa: Bergwelt – Eine unblutige Lösung
14. Mai 2016 – Rabea Akbar: Stadt – Zielvorrichtungen
17. Mai 2016 – Alessia – Die entscheidende Befragung
Mai 1989 – Zarifa: Bergwelt – Die freien Tarmanen
14. Mai 2016 – Rabea Akbar: Stadt – Unterstützung und ein Plan
17. Mai 2016 – Alessia – Die überraschende Entwicklung
05. Juli 2016 – Zarifa: Großes Tal – Die Zeremonie
14. Mai 2016 – Rabea Akbar: Stadt – Null und nichtig
17. Mai 2016 – Alessia – Das Geständnis
05. Juli 2016 – Zarifa: Großes Tal – Die ersten beiden Übungen
14. Mai 2016 – Rabea Akbar: Stadt – Wer ist das Primärziel?
17. Mai 2016 – Alessia – Bertrands Geschichte
05. Juli 2016 – Zarifa: Großes Tal – Die Schrecken der Vergangenheit
14. Mai 2016 – Rabea Akbar: Stadt – Der unbekannte Retter
17. Mai 2016 – Alessia – Die selbst auferlegte Strafe
06. Juli 2016 – Zarifa: Großes Tal – Schwäche und Entschlossenheit
14. Mai 2016 – Rabea Akbar: Stadt – Kein Risiko mehr
17. Mai 2016 – Alessia – Der Jackpot
06. Juli 2016 – Zarifa: Bergland in der Nähe des Großen Tals – Der „Mut–Faktor“
14. Mai 2016 – Rabea Akbar: Stadt – Beurteilung der Lage
Ende April 2016 – Alessia – Sedat: Der Plan wird durchkreuzt
06. Juli 2016 – Zarifa: Bergland in der Nähe des Großen Tals – Instinkte
14. Mai 2016 – Rabea Akbar: Stadt – Noch immer keine Sicherheit
Anfang Mai 2016 – Alessia – Kein Ehrencodex
06. Juli 2016 – Zarifa: Bergland in der Nähe des Großen Tals – Das Messer eines Tarmanischen Kriegers
14. Mai 2016 – Rabea Akbar: Stadt – Schlechte Nachrichten
Anfang Mai 2016 – Alessia – Heisse Glut des Hasses
06. Juli 2016 – Zarifa: Bergland in der Nähe des Großen Tals – Wechsel beim Kampfpartner
14. Mai 2016 – Rabea Akbar: Militärkrankenhaus – In besten Händen
Anfang Mai 2016 – Alessia – Falsche Versprechungen
06. Juli 2016 – Zarifa: Bergland in der Nähe des Großen Tals – Kopflos
14. Mai 2016 – Rabea Akbar: Militärkrankenhaus – Wahre Wunder
Anfang Mai 2016 – Alessia – Kampf um Leben und Tod
06. Juli 2016 – Zarifa: Bergland in der Nähe des Großen Tals – Eine ideale Kombination
14. Mai 2016 – Rabea Akbar: Militärkrankenhaus – Krisenmanagement
Anfang Mai 2016 – Alessia – Der letzte Triumph
14. Mai 2016 – Rabea Akbar: Stadtrand – Gefährliche Standortangaben
Anfang Mai 2016 – Alessia – Volle Konzentration
14. Mai 2016 – Rabea Akbar: Stadtrand – Sandiger Heuhaufen
Anfang Mai 2016 – Alessia – Ein anderer Weg
14. Mai 2016 – Rabea Akbar: Stadtrand – Bescheidene Mittel
Anfang Mai 2016 – Alessia – Wenn und aber
14. Mai 2016 – Rabea Akbar: Lager der Söldner – Eine interessante Aktivität
Anfang Mai 2016 – Alessia – Kein Blick zurück
14. Mai 2016 – Rabea Akbar: Lager der Söldner – Mit bloßen Händen
06. Juni 2016 – Alessia – Die Sackgasse
14. Mai 2016 – Rabea Akbar: Lager der Söldner – Eine brandgefährliche Lage
06. Juni 2016 – Alessia – Eine alarmierende Begegnung
14. Mai 2016 – Rabea Akbar: Lager der Söldner – Hanifs Beschreibung
15. Juni 2016 – Alessia – Nachforschungen
14. Mai 2016 – Rabea Akbar: Lager der Söldner – Heißer Hass
18. Juni 2016 – Alessia – Die Adresse
14. Mai 2016 – Rabea Akbar: Lager der Söldner – Kein leichtes Unterfangen
18. Juni 2016 – Alessia – Kein Befehlsempfänger
14. Mai 2016 – Rabea Akbar: Lager der Söldner – Der Schlüssel ist der Sender
15. Mai 2016 – Rabea Akbar: Tierarztpraxis – Verwunderung und Neugier
18. Mai 2016 – Offene Wüste – Instinkt versus Rollenspiel
18. Juni 2016 – Alessia – Bittere Erkenntnisse
18. Mai 2016 – Offene Wüste – Unterschiedliche Reaktionen
20. Juni 2016 – Alessia – Echte Beweise
18. Mai 2016 – In der Höhle – Gewaltiges Naturschauspiel
21. Juni 2016 – Alessia – Ein höherer Stellenwert
18. Mai 2016 – In der Höhle – Wohlwollende Gesten
22. Juni 2016 – Alessia – Wortklaubereien
18. Mai 2016 – In der Höhle – Dem Untergang geweiht
24. Juni 2016 – Alessia – Erleichterung
19. Mai 2016 – In der Höhle – Ein erbitterter Feind
26. Juni 2016 – Alessia – Wut und Hass
19. Mai 2016 – Offene Wüste – Das blaue Wunder
26. Juni 2016 – Alessia – Das Urteil
21. Mai 2016 – Offene Wüste – Mathéos Ambitionen
10. Februar 2017 – Zarifa: Großes Tal: Herrenhaus – Eine plötzliche Reise
Namensverzeichnis Rayan – Der einsame Falke
Orte:
Weitere Bücher der Rayan – Reihe
Impressum neobooks
Liebe Freunde,
ich hatte gedacht, die Erstellung von Band 6 habe sich lange hingezogen, aber nun habe ich für den siebten Band sogar fast drei Jahre gebraucht.
Ganz herzlichen Dank an alle, die mich in dieser Zeit unterstützt und weiter an mich geglaubt haben.
An erster Stelle muss da natürlich Micha genannt werden – Micha, ganz lieben Dank für deine aufmunternden Worte, du hast es wirklich verstanden, mich immer wieder zu motivieren.
Ein Dankeschön auch an Doktor Schabenberger aus Altusried, den ich bezüglich der medizinischen Themen um Rat fragen durfte.
Des Weiteren muss ich zugeben, dass Rayan ohne meine Testleser Oli, Eva und natürlich meinen Ehemann nicht das Gleiche wäre. Alle drei haben selber genug um die Ohren, umso mehr freut es mich, dass ihr euch die Zeit genommen habt – vielen Dank dafür.
Rayan-Fans wissen schon, dass ich versuche, Bezüge zu vergangenen Geschichten so zu wiederholen, dass diejenigen, die die anderen Bücher nicht gelesen haben, die Zusammenhänge nachvollziehen können. Trotzdem möchte ich empfehlen, auch die Bände 1 bis 6 zu lesen, denn inzwischen umfasst Rayans Welt so viele Personen, Handlungsstränge und Zusammenhänge, dass man deren Bedeutung nur erfassen kann, wenn man miterlebt hat, wie sie sich immer weiterentwickelt und aufgebaut haben.
Die Ereignisse des siebten Bandes haben sich als derart umfangreich herausgestellt, dass ich ihn in zwei Teile aufspalten musste. Anbei findet ihr also den ersten Teil. Ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen!
Zuletzt wie immer der Hinweis, dass „Rayan – Der einsame Falke“ einige nicht jugendfreie Szenen enthält, in denen Gewalt oder sexuelle Handlungen beschrieben werden. Ich bitte um entsprechend altersgerechte Handhabung!
Eure Indira, Oktober 2020
(2.Überarbeitung 23.12.2020)
“I live in two different worlds
One that I may regret and the one that I won’t forget
Two different worlds, but I can’t live in both,
I know One world I must let go.”
(Foreigner – Two Different Worlds)
Scheich Sedat Suekran al Medina y Nayran sah mit starrer Miene auf die Gefangenen, die seine Männer im Laufe der letzten Tage zusammengetrieben hatten. Stolz stand er hochaufgerichtet da und bewegte sich nicht. Wie ein Reiterstandbild der Helden aus alten Zeiten. Nur der Wind zerrte von Zeit zu Zeit an seinem Gewand, ansonsten verharrte er vollkommen reglos. Für die Tarmanen, wie auch die überwältigten Rebellen, sah es aus, als blicke er voller Genugtuung von der kleinen Felserhebung aus auf sie herunter – zufrieden angesichts seines Sieges. Und genau diesen Eindruck wollte er – nein, musste er! – auch vermitteln. Denn er musste nun Stärke zeigen, um weitere kriegerische Auseinandersetzungen in seinem Volk zu verhindern. In seinem Inneren jedoch sah es ganz anders aus: Im Grund nahm er die Geschehnisse um sich herum kaum wahr. Seine stolze Haltung war zu einem Automatismus geworden. Nun machte sich die unerbittliche Erziehung seines Vaters bemerkbar, der ihm stets eingebläut hatte, niemals und unter keinen Umständen wahre Gefühle zu zeigen. „Ein Anführer kann sich den Luxus persönlicher Empfindungen nicht erlauben. Du bist geboren, um zu herrschen – also herrsche!“, waren die Worte gewesen, die Sedat so oft hatte hören müssen.
Dank jahrelanger Einübung der absoluten Körperbeherrschung schaffte er es nun, irgendwie auf den Beinen zu bleiben. Denn am liebsten würde er kraftlos zu Boden sinken und sich ganz seinem Schmerz hingeben. War es nicht ironisch, dass seine Selbstbeherrschung nun sein einziger Schutz war, obgleich sie noch vor wenigen Tagen sein Fluch gewesen war? Was wäre so schlimm daran gewesen, seinen Sohn, seinen einzigen Erben, sofort losbinden zu lassen und ihn in den Arm zu nehmen? Rayan! Der Name hallte durch sein Gehirn wie ein Donnergrollen. Er war es gewesen, der diesen Namen zum Tabu erklärt hatte. Und nicht nur den Namen! Vor allem auch den Jungen, der ihn trug. Dieses unglaubliche Kind, das seiner Mutter, seiner verstorbenen Ehefrau Miriam, so ähnlich war. Warum hatte er weiter auf dessen Verbannung beharrt? Er hätte ihm sofort medizinische Versorgung zukommen lassen müssen. Das wäre seine verdammte Pflicht als Vater gewesen!
Somit hatte er seinen Sohn gleich zweimal im Stich gelassen: Zunächst, als er ihn vor zwei Jahren durch seine Strenge förmlich in die Flucht getrieben hatte, und nun erneut. Er verstand, dass er sich mit seinem Fehlverhalten gegen Allahs Willen gestellt und nun die gerechte Strafe dafür erhalten hatte: Sein Sohn war tot; gestorben durch Sedats eigene Hand. Dass nicht er selbst die Peitsche geführt hatte, sondern einer seiner Männer, und er zudem viel zu spät über die Ereignisse um Rayans Ergreifung informiert worden war, spielte keine Rolle. Die Männer hatten lediglich das getan, was er ihnen befohlen hatte. Also gab es nur einen einzigen Schuldigen: er selbst. „Ich habe meinen Sohn getötet“, dieser Satz war ihm in den letzten Tagen so oft durch den Kopf gegangen, dass er es nicht mehr zählen konnte. Und trotzdem drang die volle Bedeutung dieser Information erst jetzt, angesichts dieser „Rebellen“, zu ihm durch. Diese Menschen sahen kein bisschen gefährlich aus. Wieso hatte er sie derart gehasst und so verbissen gejagt? Hätte er sich nicht diesem Hass hingegeben, hätte es ihn nicht so erzürnt, dass sich sein Sohn ausgerechnet diesen Abtrünnigen angeschlossen hatte. Und nun war Rayan tot, und mit ihm auch Sedats Zukunft und die seiner Familie.
Vor seinem geistigen Auge war Rayan schon bei seiner Geburt dazu bestimmt gewesen, einst ein großer Herrscher zu sein, der von allen Stämmen geachtet und gefürchtet werden würde. Doch stattdessen hatte Sedat vor wenigen Tagen fassungslos an dem frischen Grab gekniet und über sich und sein elendiges Leben nachgedacht. Wann war er so grausam wie sein Vater geworden? Sedat kannte die Antwort: mit dem Tod von Miriam. Erst jetzt, wo die tragischen Ereignisse seine Augen weit geöffnet hatten, erkannte er, dass er auch damals schon als Vater versagt hatte. Anstatt für seinen Sohn da zu sein, der vermutlich unter dem Verlust seiner Mutter genauso gelitten hatte wie Sedat selbst, hatte er ihn von sich gewiesen. Statt ihm Liebe zu geben, hatte er ihn mit unnachgiebiger Strenge gezüchtigt.
Als einzige Entschuldigung konnte Sedat vorbringen, dass er nicht eigennützig gewesen war, denn woran er gedacht hatte, war die Zukunft seines Stammes gewesen: Sein einziger Erbe musste zu einem harten Mann werden, um einst ein starker Anführer zu werden. Sedat war nicht bewusst gewesen, wie sehr er diese „Ausbildung“ übertrieben hatte. Rayans verzweifelte Flucht in die Berge hätte ihn wachrütteln müssen, doch sein übermächtiger Stolz hatte ihn nur wahrnehmen lassen, was die Krieger vielleicht denken mochten: Wenn er nicht in der Lage war, seinen eigenen Sohn zu bändigen, wie sollte er dann über das Volk herrschen?
Somit hatte er die Flucht nicht als Ausdruck der Verzweiflung seines Erstgeborenen gesehen, sondern als Herausforderung. Er war davon besessen gewesen, dass Rayan ihn beschämt hatte. In seiner Arroganz hatte er noch prophezeit, dass Rayan innerhalb weniger Tage „reuig zurückgekrochen“ käme und sich damit gebrüstet, wie sehr er ihn dann bestrafen würde. Voller Entsetzen vor seinem eigenen Ich, erkannte Sedat in diesem Moment, dass dies keine leeren Worte gewesen waren. Wäre der Junge zurückgekommen, hätte er ihn mit Sicherheit die volle Wucht seines Zorns spüren lassen. Es war also kein Wunder, dass seine Männer sich seine Drohungen zu Herzen genommen und Rayan misshandelt hatten. Sedat ekelte sich vor sich selbst. Überdeutlich erinnerte sich der Scheich an den Blick des jungen Mannes namens Djadi an diesem vermaledeiten Nachmittag vor wenigen Tagen, der ihn, noch mit der Peitsche in der Hand, voller Stolz angesehen hatte, heischend nach Sedats Anerkennung, wie nachhaltig er die befohlene Bestrafung durchgeführt hatte.
Sedat war in den vergangenen zwei Jahren zu dumm und zu stolz gewesen, die einmal im Zorn ausgesprochene Verbannung zurückzunehmen. Er selbst war es gewesen, der seine Männer dazu aufgefordert hatte, Rayan für seinen Verrat erst noch büßen zu lassen, bevor man ihn hinrichtete. Bei Allah! Der Rücken seines Jungen war von blutigen Striemen derart überzogen gewesen, dass kaum noch unverletzte Haut zu sehen gewesen war. Bei der Erinnerung an diesen schaurigen Anblick, glaubte Sedat einen Moment lang, alles würde sich um ihn drehen. Er musste all seine Körperbeherrschung aufbringen, um sich nicht auf der Stelle zu übergeben.
Als Rayan aus dem Hotel hinaus auf die Straße trat, musste er die Hand vor die Augen nehmen, um sich vor dem grellen Sonnenlicht zu schützen. Sein Kopf fühlte sich an wie eine Glocke, auf der man gerade zur Mittagsstunde schlug. Er fluchte.
„Tja, das ist der Preis dafür…“, ließ sich Hanif grinsend vernehmen, was ihm einen bösen Blick von Jassim einbrachte. Dem Scheich entlockte es nur einen weiteren Fluch. „Dein Respekt mir gegenüber lässt mit jedem Tag ein wenig mehr zu wünschen übrig“, knurrte Rayan gereizt. Aber im Grunde wusste er, dass sein Begleiter recht hatte und auch, dass er den gutmütigen Spott verdient hatte. Auch wenn er das nie laut sagen würde, schämte er sich für seinen Zustand. Er verfluchte den ganzen gestrigen Tag, denn er war in vielerlei Hinsicht ein Tag der ersten Male gewesen. War es wirklich erst gestern früh gewesen, da er seinem Cousin Sedat zum ersten und einzigen Mal in die Augen gesehen hatte? Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor.
Natürlich war nach den Schüssen erst einmal die Hölle losgebrochen, die Soldaten rund um den Stützpunkt waren mit lauten Rufen „Sniper“ – Heckenschütze – in Deckung gegangen. Auch der Oberst hatte sich flach auf den Boden geworfen. Irgendwer hatte auch einige Salven abgefeuert, doch nachdem alles so schnell gegangen war und niemand bemerkt hatte, aus welcher Richtung die Schüsse auf Sedat gekommen waren, blieb ihnen nichts anderes übrig, als nach einigen Minuten Entwarnung zu geben.
Es war nicht überraschend, dass der Oberst mehr als wütend gewesen war, dass sein wertvoller Informant direkt vor seinen Augen ermordet worden war. Rayan fragte sich noch immer, was für Lügen Sedat dem Amerikaner aufgetischt hatte, dass der ihn so versessen zu retten versucht hatte. Denn mit welchen Informationen hätte sein Cousin schon aufwarten können? Andererseits hatte er Sedat zu oft unterschätzt – was wusste er schon, was der Kerl in seinem Leben vor dem Anschlag auf Damaris und seinem Angriff auf Zarifa gemacht hatte? Vielleicht hatte er dem Amerikaner ja wirklich etwas zu bieten gehabt – doch dazu war es nun zu spät. Der feige Mörder hatte sein Wissen mit ins Grab genommen.
Zähneknirschend hatte Toad sie gehen lassen, denn er hatte keinerlei Beweis, dass die drei mit dem Heckenschützen zusammenarbeiteten. „Ich habe Ihnen doch gesagt, dass der Kerl ein gefragter Mann in dieser Region ist!“, hatte Rayan gerufen. Da er den Oberst nicht weiter hatte herausfordern wollen, verbiss er sich jegliches Gefühl von Genugtuung. Er leugnete nicht nur seine Verbindung zu der Tat, sondern gab sich zudem verärgert. „Ich wollte den Mann BEFRAGEN! Nicht ihn töten.“ Dabei gelang es ihm, so überzeugend erzürnt auszusehen, dass er erfolgreich beim Oberst Zweifel säen konnte, ob nicht tatsächlich noch eine dritte Partei mit im Spiel war. Gut so! Rayan war froh, dass Hummer diesmal auf seinen offenen Triumph verzichtete, schließlich wusste man nie, wann man sich noch einmal über den Weg lief. Doch der große Amerikaner war nicht dumm. Auch er wusste, wann es besser war, sich keine Feinde zu machen. Mit der Drohung, sie „beim nächsten Mal einfach über den Haufen zu schießen“, ließ der Kommandeur sie gehen.
Das zweite Novum war dann am gestrigen Abend passiert: Rayan hatte sich nicht lange überreden lassen, seinen beiden amerikanischen Freunden Hummer und Cho in eine Kneipe zu folgen und sinnlos dem Alkohol zu frönen. Es war sein Versuch, mit Leilas Verlust und dem viel zu gnädigen Tod des Mörders Sedats klarzukommen. Hanifs Kugel mitten in die Stirn hatte zu einem sofortigen Tod geführt – und die Tarmanen ihrer Chance auf blutige Rache beraubt. Der Trost, dass der Hund ihnen dadurch zumindest nicht wieder entwischt war, war nur gering. Woher sollten sie nun Informationen bekommen, wer Leila getötet hatte? Wie es aussah, hatte sein Cousin ihm selbst im Tod noch einmal ein Schnippchen geschlagen. Denn mit ihm war vermutlich jede Chance gestorben, zu erfahren, was wirklich in Alessia passiert war.
Der Scheich konnte nur noch hoffen, dass sich aus den Ermittlungen des Kommissars Faris bei der Transportfirma und am Flughafen ein klares Bild ergeben würde. Doch so wie bisher alles gelaufen war, hatte er seine Zweifel, ob dies möglich sein würde. Sedat war einfach zu vorsichtig und auch zu clever gewesen, um Spuren zu hinterlassen. Immerhin blieb ihnen noch die Hoffnung, Leilas Mörder zu finden, denn dass dies nicht Sedat selbst gewesen war, war ihnen klar geworden, als sie feststellen mussten, dass dieser schon vor ihnen in der Kaserne eingetroffen war. Er war also zu Leilas Todeszeitpunkt gar nicht mehr vor Ort gewesen. Wenn sie diesen Mann fänden, könnten sie sicher von ihm die fehlenden Informationen erhalten. Rayan hatte schon eine sehr detaillierte Vorstellung davon, wie seine Vergeltung für die Ermordung seiner Schutzbefohlenen aussehen würde. Im Anschluss würde der Mann darum betteln, ihm die kompletten Abläufe in Leilas Haus haarklein schildern zu dürfen!
Nur mit Mühe war Jassim gestern Abend davon zu überzeugen gewesen, dass er besser im Hotel bleiben sollte, weil er sich in einer Kneipe, die noch dazu zu 95% mit amerikanischen Soldaten gefüllt war, bestimmt nicht wohlfühlen würde und dass sein Herr in der Begleitung seiner beiden amerikanischen Freunde sicher war. „Vor Fremden ist er mit Hummer und Cho bestimmt sicher“, dachte sich Jassim, „nicht jedoch vor sich selbst!“ Doch er behielt seine Bedenken für sich. Wie ein gefangener Tiger im Käfig war Jassim im Zimmer auf- und abgelaufen, bis die drei Männer irgendwann lange nach Mitternacht zurückgekommen waren. Dann hatte sich herausgestellt, wie berechtigt die Befürchtungen des Leibwächters gewesen waren, denn der Herr der Tarmanen hatte versucht, seine Emotionen im Alkohol zu ertränken – jede Menge davon. Wie es schien mit mäßigem Erfolg.
Jassim hatte seinen Herrn noch nie alkoholisiert gesehen und wusste nicht, wie er mit der Situation umgehen sollte. Natürlich hatte Rayan schon in der Vergangenheit Alkohol getrunken. Vor allem zusammen mit Frauen hier und da ein gutes Glas Wein oder Champagner. Auch den Genuss eines hochwertigen alten Whiskys wusste er durchaus zu schätzen. Doch hatte er stets nur so viel genossen, dass man ihm keinerlei Wirkung angemerkt hatte. Der Scheich hielt grundsätzlich nicht viel davon, seine Sinne zu betäuben. Doch diesmal ließ er sich zum ersten Mal in seinem Leben von Cho und Hummer zu einer Sauftour überreden. Die beiden waren außer Rand und Band, dass ihr Freund „endlich einmal Vernunft angenommen hatte“ und sie begleitete. Bisher waren all ihre Versuche, ihn von den Vorteilen einer Kneipentour zu überzeugen, stets vergebens gewesen. Also sahen sich Jassim und Hanif nun mit der Situation konfrontiert, dass ihr Anführer nicht mehr in der Lage war, gerade zu gehen, geschweige denn, normal zu sprechen. Zum Glück war Rayan trotz seines benebelten Hirns klug genug, sich einfach ohne weitere Worte auf sein Bett fallen zu lassen und war innerhalb von Sekunden eingeschlafen.
Faris Hassan legte zufrieden den Hörer auf. Als er dem Scheich bei ihrem Zusammentreffen im Haus der verstorbenen Leila Abdullah versprochen hatte, dessen Anwalt über den aktuellen Stand der Ermittlungen informiert zu halten, hatte er sich eines mulmigen Gefühls nicht erwehren können. „Ausgerechnet ein Anwalt“, war es ihm durch den Kopf gegangen. Würde dieser ihm nun jedes Wort im Mund umdrehen? Taib Riad hatte sich jedoch als überraschend effizienter – man mochte fast sagen angenehmer – Gesprächspartner herausgestellt. Er hörte aufmerksam zu, stellte lediglich einige gezielte Fragen und bedankte sich im Anschluss höflich für die Informationen. Faris war sich zudem sicher, dass Riad intelligent genug war, seine Zusammenfassungen im korrekten Kontext an seinen Auftraggeber weiterzugeben. Somit kam er – Faris – seiner Informationspflicht nach, die sein Vorgesetzter ihm auferlegt hatte. „Faris, ich will, dass Sie seine Exzellenz Scheich Rayan Suekran vollständig mit in die Ermittlungen einbeziehen. Er wünscht, zu einhundert Prozent über alles informiert zu sein“, hatte sein Chef ihm mit ernstem Gesicht mitgeteilt. „Nehmen Sie das nicht auf die leichte Schulter!“, hatte er gemahnt. „Der Scheich ist kein Mann, den man zum Feind haben will. Diese Leila war seine Schutzbefohlene, und nun ist sie tot. Ich möchte nicht in der Haut der Täter stecken…“
Faris hatte sich zu diesem Zeitpunkt noch gewundert, warum sein Vorgesetzter, den sonst nichts aus der Ruhe bringen konnte, beim letzten Satz ein Gesicht gemacht hatte, als liefe es ihm alleine bei der Vorstellung, was dieser Rayan mit den Tätern tun würde, kalt den Rücken herunter. Natürlich hatte der Kommissar ebenfalls die diversen Gerüchte gehört, die man sich über den Anführer der Tarmanen erzählte, doch hatte er sie für übertriebene Ammenmärchen gehalten.
Seitdem er jedoch die Ehre gehabt hatte, seine Exzellenz persönlich kennenzulernen, war er geneigt, zumindest dem größten Teil der Geschichten Glauben zu schenken. „Wenn ich Leila ermordet hätte, würde ich Ihnen das an dieser Stelle sagen, und Sie könnten nichts dagegen tun“, hatte der Scheich damals zu ihm gesagt. Zum ersten Mal hatte Faris verstanden, dass bei diesem Fall nicht die üblichen Maßstäbe gelten würden. Er sah den kommenden Tagen mit Bedenken entgegen und fürchtete, dass er vor jeder Aktion erst eine Art Erlaubnis würde einholen müssen, was die Effektivität seiner Ermittlungen erheblich eingeschränkt hätte.
Doch der Kommissar musste nun zugeben, dass er den Anführer der Tarmanen erneut unterschätzt hatte. Faris hatte die Visitenkarte des Anwalts widerstrebend eingesteckt, sich dann aber entschieden, dass es das beste war, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Immerhin blieb ihm somit der direkte Kontakt zum Scheich erspart; er hatte schon aufwändige persönliche Treffen befürchtet. Getreu seinem guten Vorsatz griff der Kommissar bereits am nächsten Morgen zum ersten Mal zum Telefonhörer, um Taib Riad anzurufen. Der Anwalt war gemäß der Aussage seiner Sekretärin in einer Besprechung, sie hatte ihn jedoch ohne weiteren Zeitverlust durchgestellt. Faris hatte daraufhin mit Vorwürfen gerechnet, weil er Riad ohne Neuigkeiten, quasi „einfach so“ angerufen hatte. Es war lediglich sein Bestreben, erst einmal den Kontakt herzustellen, um die Erwartungen des Anwalts auszuloten. Entsprechend vermutete er, dass dieser seinen Anruf als Störung empfinden würde.
Doch der Kommissar wurde überrascht: „Ich freue mich, dass Sie sich so zeitnah bei mir melden“, hatte Taib Riad gesagt. „Leila war eine unglaubliche Frau! Ich hatte leider nur einige wenige Male die Ehre, sie persönlich zu treffen, doch war ich jedes Mal erneut bezaubert. Dass ausgerechnet sie ein Opfer Sedats geworden ist, ist eine Tragödie. Entsprechend habe ich meine Mitarbeiter instruiert, dass dieser Fall absolute Priorität hat.“
Faris war es aufgrund seiner langjährigen Berufserfahrung gewohnt, herauszuhören, wann Menschen ihm die Wahrheit sagten und wann nicht. Er hatte sofort gespürt, dass Riad jedes Wort ernst meinte. Dann hatte ihm der Anwalt hundertprozentige Unterstützung zugesagt: „Wie Sie sicher wissen, hat mein Klient mächtige Freunde. Sie wären vielleicht überrascht, wie weitreichend diese Verbindungen sind. Wenn Sie also auf Schwierigkeiten stoßen, die Sie in Ihren Ermittlungen behindern – egal welcher Art – dann zögern Sie nicht, mich das wissen zu lassen. Rufen Sie mich bitte unverzüglich an, zögern Sie nicht! Dies gilt zu jeder Tages- und Nachtzeit!“
Wieder erkannte Faris klar, dass dies keine leeren Worte waren. Aber auch, dass es ein Angebot war, das Riad nicht leichtfertig machte. Er konnte nicht leugnen, positiv angetan zu sein, angesichts der unkomplizierten Kommunikation mit dem Anwalt. Der letzte Rest seiner Vorurteile schwand, als Faris sich nach den Erwartungen Taib Riads in Bezug auf die Regelmäßigkeit des Austauschs von Informationen über die Ermittlungen erkundigte. Der Kommissar hatte mit einer Aussage wie „rufen Sie mich jeden Mittag um 11 Uhr an“ gerechnet, am besten noch verbunden mit einer Phrase wie „und ich will Ergebnisse sehen“. Er hätte nicht sagen können, wie er auf diese Art der Bevormundung reagiert hätte. Doch erneut hatte Taib Riad ihn positiv überrascht: „Herr Kommissar, wie mir Ihr heutiger Anruf zeigt, sind Sie ein Profi, der weiß, was er tut“, hatte er geantwortet. „Mein Klient möchte informiert sein, nicht Ihre Ermittlungen behindern. Ich überlasse es also ganz Ihrer Einschätzung, wann Sie der Meinung sind, über Ergebnisse oder neue Entwicklungen berichten zu können.“
Der Anwalt ließ Faris also freie Hand. Besser konnte es für den Kommissar nicht laufen. Offenbar wusste seine Exzellenz, wie wichtig es war, ihn seine Arbeit auf seine Weise machen zu lassen. Er musste zugeben, dass er den Scheich damit gleich in mehrfacher Hinsicht falsch eingeschätzt hatte.
Seitdem hatte er noch zwei weitere Male mit dem Anwalt telefoniert, und jedes Gespräch war genauso unkompliziert gelaufen. Noch mehr freute es Faris jedoch, dass er immer positive Nachrichten zu vermelden gehabt hatte. Seinen Mitarbeitern war ebenfalls klar, wie sensibel dieser Mordfall war. Das Wichtigste war jedoch, dass Leila keine Unbekannte in Alessia war. Sie hatte sich in den letzten Jahren aus dem Nichts einen Namen aufgebaut, der stets mit Sympathie und Respekt genannt worden war. Nicht nur in finanzieller Hinsicht, sondern oft genug auch durch persönlichen Einsatz hatte sie diverse Hilfsprojekte unterstützt. Niemand wusste zwar genau, was ihr und ihrem Vater damals angetan worden war, als man ihre Karawane überfallen hatte, denn weder sie noch der Scheich hatten Details preisgegeben. Doch die Anzahl der Toten sprach für sich – nur ein Bediensteter und Leila selbst hatten die Tragödie überlebt. Man munkelte, dass Leila damals durch die Hand der Mörder ihrer Familie körperliche Misshandlungen hatte erleiden müssen, weshalb es ihr stets besonders am Herzen gelegen hatte, sich für Frauen in schwierigen familiären Situationen einzusetzen. Wie ungerecht, dass Leila nun erneut das Opfer einer Gewalttat geworden war. Und nicht nur das: Auch derselbe Bedienstete, der damals überlebt hatte, war mit betroffen. Er war eine der beiden weiteren Leichen, die man im Vorratsraum des Anwesens gefunden hatte.
Faris‘ Leute hatten in den letzten beiden Wochen jeden Stein in Alessia umgedreht. Mit jedem Tag waren neue Informationen hochgekommen, die Licht in die einzelnen Stationen dieses Sedats in der Stadt gebracht hatten.
Sedat spürte Erleichterung, als ihn in diesem Moment einer seiner Männer aus seinen peinigenden Gedanken und Selbstvorwürfen riss: „Herr, wir sind nun mit der Durchsuchung des Lagers fertig. Diejenigen, die Ihr hier vor Euch seht, sind alle, die noch geblieben sind. Was sollen wir mit ihnen machen?“
Sedat brauchte nur Sekundenbruchteile, um in die Realität zurückzufinden. Auch jetzt kam ihm dabei seine jahrelange Erfahrung zugute. Und doch gab es einen entscheidenden Unterschied zu früheren Situationen: Erstmalig machte sich der Scheich die Mühe, in der Miene seiner Untergebenen zu lesen. Was sahen die umstehenden Krieger in ihm? Das Resultat erschreckte Sedat. Denn ohne Zweifel verrieten die grimmigen Mienen, dass seine tarmanischen Krieger erwarteten, nun ein Todesurteil von ihm zu hören. Und sie versuchten, sich so gut es möglich war, auf diesen grausamen Befehl vorzubereiten.
Es waren etwas mehr als 200 Personen, die seine Krieger zusammengetrieben hatten. Viele von ihnen waren aufgrund der Auseinandersetzungen verwundet. Ohne den vergifteten Einfluss seines gekränkten Stolzes und seiner unbändigen Wut, sah Sedat zum ersten Mal, was die „Rebellen“, die er so sehr verteufelt hatte, wirklich waren: eine Ansammlung von teils zornigen, überwiegend aber verängstigten Individuen, denen nichts mehr geblieben war. Sie waren keine feindlichen Kämpfer, sondern einfache Menschen, Handwerker, Bauern, Frauen und Kinder. Und seine Männer trauten ihm zu, diese nun abschlachten zu lassen wie Vieh? Erneut ekelte sich Sedat vor dem, was aus ihm geworden war. Denn hatte er nicht genau diesen Befehl schon mehrfach erteilt? Alle zu töten, auch die Frauen? Schlagartig erkannte Sedat, dass sein Leben an einem Wendepunkt angelangt war. Glasklar sah er, dass er zum Mörder geworden war. Ihm würde einst kein edler Platz im Paradies reserviert sein. Sein Stern würde, genau wie seine gesamte Linie, für immer vergehen. Und genau das hatte er verdient, nicht mehr und nicht weniger.
Einen kurzen Moment lang streiften seine Gedanken zu seinem zweiten Sohn, Daoud, der gerade einmal neun Jahre alt war. Doch aufgrund dessen Behinderung würde dieser wohl niemals einen Erben hervorbringen. Sedat hätte dieses Ereignis bei der Geburt als das erkennen müssen, was es wohl gewesen war: eine Prüfung Allahs. Anstatt sie mit Anstand zu meistern, wie es einem wirklich edlen Charakter geziemt hätte, hatte er versagt, war vom rechten Weg abgewichen.
Energisch verdrängte Sedat in diesem Moment das Selbstmitleid. Er war Krieger genug, dass er seine gerechte Strafe annehmen würde. Immerhin konnte er eines tun: diese Menschen, die man vor ihm zusammengetrieben hatte, verschonen. Vielleicht würde das den Zorn Allahs ein wenig besänftigen.
Hanif bereute es zunächst fast ein wenig, sich dem Trio nicht angeschlossen zu haben. Er hatte sich brütend aufs Bett gesetzt und war in seine düsteren Gedanken versunken. Normalerweise war es für den Tarmanen ein furchtbares Gefühl, ein Leben zu nehmen. Im Gegensatz zu seinem Bruder Rayan, der in dieser Hinsicht keinerlei Bedenken zu haben schien.
Doch dieses Mal war anders. Dieses Mal spürte er eine dämonische Freude, denn der Mörder seiner Verlobten war durch seine Hand gerächt worden. Auch wenn dieser Mann Leila nicht eigenhändig ermordet hatte, so war es doch auf seinen Befehl hin geschehen. Weder Rayan noch Hanif konnten ahnen, dass Sedat keinerlei Interesse an Leilas Tod hatte – im Gegenteil, sein Plan war darauf ausgelegt, dass die schöne Alessianerin von ihren „Erlebnissen“ mit Sedat berichten würde. Doch das sollten die beiden erst sehr viel später erfahren. Trotzdem war Sedat für Leilas Tod verantwortlich. Von den vielen Opfern in Zarifa und Damaris, die Sedat auf dem Gewissen hatte ganz zu schweigen. Im Grunde schämte Hanif sich ein wenig, dass ihm die Ermordung eines Menschen so viel Genugtuung verschaffte, das war für einen gläubigen Menschen keine korrekte Einstellung. Irgendwann war er eingenickt, weshalb er aus einem verwirrten Traum aufschreckte, als Rayan und seine beiden Freunde nicht gerade subtil, sondern laut polternd ins Hotel zurückkehrten.
„Na zum Glück halten ihn alle für einen Amerikaner – von denen erwarten die Leute nichts anderes als so einen peinlichen Auftritt“, schimpfte Hanif, kurz nachdem Rayan eingeschlafen war. Jassim starrte seinen Freund entsetzt an. „Vorsicht bei dem, was du sagst, Hanif! Auch wenn ihr euch nahesteht, ist er noch immer dein Herr. Ich lasse nicht zu, dass irgendjemand respektlos über ihn redet – das gilt auch für dich! Außerdem solltest gerade du wissen, wie sehr ihm Leilas Tod zu schaffen macht.“ Hanif wollte etwas Beschwichtigendes entgegnen, denn im Grunde verstand er Rayan sogar sehr gut. Aber der sonst eher wortkarge Jassim überraschte ihn, indem er ihn nicht zu Wort kommen ließ: „Und immerhin ist es sein Cousin, der da gestern gestorben ist. Hast du dir das schon einmal überlegt? Was würdest du empfinden, wenn dir klar wäre, dass es dein eigenes Fleisch und Blut war, das so viel Leid über Zarifa gebracht hat?“
So hatte Hanif die Situation noch nie betrachtet, und beschämt über seinen spöttischen Kommentar schwieg er.
Faris konnte wirklich stolz auf sein Team sein. Diese hatten in den letzten beiden Wochen Außerordentliches geleistet! In teils mühevollen Befragungen hatten sie sich immer weiter vorangearbeitet auf der Spur Sedats. Die Art und Weise, wie der Mörder aus dem Flugzeughangar entkommen konnte, war auf der Hand gelegen, also hatte man mit der Befragung der Monteure der Firma angefangen, die für die Wartung der Transall verantwortlich waren. Zwar erinnerten sich die beiden zuständigen Techniker an keine Auffälligkeiten an dem besagten Tag, doch hatte einer ihrer Kollegen Sedat eindeutig auf einem Foto erkannt. Er war ihnen auf der Straße vor ihrer Arbeitsstelle entgegengekommen, als sie von ihrer Mittagspause zurückkamen. Der Monteur wusste das deshalb so genau, weil er das selbstzufriedene Grinsen des unattraktiven Mannes eigenartig fand. Wie nahe er dem Tod gewesen war, noch mehr aber seine beiden Kollegen, die die Transall an diesem Tag gewartet hatten, ahnte keiner von ihnen. Hätten die Männer Sedat entdeckt, hätte dieser den Schraubendreher, den er sich aus dem Werkzeugkoffer im Transporter genommen hatte, ohne mit der Wimper zu zucken als tödliche Waffe eingesetzt. Nur der Kommissar dachte sich seinen Teil, behielt seine Meinung aber für sich, weil er niemanden unnötig beunruhigen wollte. Es war ja nichts passiert. Dort an der Werkstatt zumindest nicht.
Ein schwieriger zu erlangendes Puzzleteil war es gewesen, wo Sedat danach hin verschwunden war. Es waren aufwändige Befragungen einer Unzahl von Taxifahrern notwendig gewesen, bis derjenige gefunden war, der Sedat eine Straßenecke entfernt von der Firma der Flugzeugtechniker aufgenommen und am westlichen Stadtrand abgesetzt hatte. Dort war die Spur erst einmal wieder versandet, weil Sedat nicht so dumm gewesen war, sich bis vor die Haustür seines Freundes fahren zu lassen.
Nur dank weiterer Laufarbeit einer Vielzahl von Beamten, die von Laden zu Laden in dieser Gegend gegangen waren, Fragen gestellt und Sedats Foto herumgezeigt hatten, hatte ein junger Beamter die Fährte wieder aufnehmen können. Die Besitzerin eines Gemüseladens erinnerte sich, gesehen zu haben, wie Sedat mehrere Male im Hauseingang gegenüber verschwunden war. Wie viele Ladenbesitzer verbrachte sie die meiste Zeit damit, das Treiben auf der Gasse vor ihrem Laden mit Argusaugen zu beobachten. Misstrauisch registrierte sie jeden Fremden. Anfangs, weil so mancher Tourist es als „nicht schlimm“ empfand, sich im Vorbeigehen einen Apfel oder eine Tomate zu greifen, doch inzwischen war der Grund schlicht und ergreifend Neugierde gepaart mit Langeweile.
Die ältere Frau hatte sich Sedat deshalb gemerkt, weil er ihr unsympathisch erschien, nie grüßte und sich vor allem stets scheinbar unauffällig umsah – so jemand musste doch einfach etwas zu verbergen haben! „Ich habe es gleich gewusst!“, teilte sie dem jungen Polizisten triumphierend mit. „Meine alte Nase riecht so etwas!“, fügte sie selbstgefällig hinzu und tippte sich an ihr Riechorgan. Sie konnte sich auch noch haarscharf daran erinnern, wie lange Sedat im Haus gegenüber übernachtet hatte. Wenn man sonst den ganzen Tag über nicht so viel zu tun hat, waren derlei Abwechslungen willkommen und wurden zelebriert. Entsprechend konnte sie nun zum Glück den Polizisten detaillierte Hinweise geben, die sie dazu auch noch freigebig mit den Beamten teilte. Sie hatte lediglich drauf bestanden, ihre Aussage im Polizeirevier zu machen. Der Hintergrund war Faris schnell klar: Sie würde im Anschluss diese Geschichte bei ihren Freundinnen ausschlachten. Lächelnd stellte er sich die älteren Damen beim Kaffeeklatsch vor. Doch als ihm wieder bewusst wurde, weshalb er hier ermittelte, verging ihm das kurze Amüsement schnell.
Danach war der Freund Sedats schnell gefunden, obwohl in dem Gebäude mehrere Wohnungen waren. Zum einen war Leugnen bei einer derart detaillierten Zeugenaussage zwecklos, der Mann kannte seine neugierige Nachbarin, zum anderen wollte er keinen Ärger mit der Polizei. So eng war die Freundschaft zu Sedat nun auch wieder nicht. Faris knöpfte sich den Mann persönlich vor und stellte dabei sicher, dass diesem bewusst war, in welch heißen Fall er da auf einmal verwickelt war. Die Aussicht, dass anstelle der hiesigen Beamten demnächst einige Tarmanen vor seiner Tür stehen könnten, löste die vorher verstockte Zunge des Mannes, und er gab freiwillig jede noch so kleine Information preis. Allerdings versicherte er glaubhaft, dass Sedat ihn nicht über seine Aktivitäten ins Bild gesetzt hatte. Die beiden hätten sich deswegen sogar fast überworfen. Er habe ihm mehrere Male sein Auto geliehen; wo der Mörder damit jedoch gewesen war, wisse er auch nicht. Er sei aber froh gewesen, als Sedat nach einigen Tagen wieder verschwunden war. Faris glaubte ihm seine Geschichte. Rückblickend gab der Mann zu, dass er geahnt habe, dass der ehemalige Anführer von Karral etwas ausheckte, was ihm Ärger bringen könnte. Ängstlich fragte er, ob er nun sicher sei, wo er doch der Polizei weitergeholfen habe? Im ersten Moment dachte Faris, er spräche von der Angst, dass Sedat sich an ihm rächen könnte, doch dann wurde ihm klar, dass er den angedrohten Besuch der Tarmanen fürchtete. Faris versicherte ihm, dass er nichts zu befürchten habe. Zwar traute er den Tarmanen in ihrem Durst nach Rache für Leilas Tod einiges zu, er hatte aber vorsichtshalber nie den Namen des Mannes erwähnt oder die Adresse weitergegeben. Taib Riad hatte auch nie weiter nachgefragt, denn im Grunde war der Mann nur ein kleines Licht. Wichtig war, dass Faris ihm seine Schilderungen glaubte. Der Kommissar sah in ihm in gewissem Maße auch nur ein weiteres Opfer Sedats. Denn der hatte mehrere Tage lang in seiner Wohnung logiert, sich auf seine Kosten den Bauch vollgeschlagen und sein Benzin verfahren, sich aber nicht ein einziges Mal revanchiert oder wenigstens einige Lebensmittel mitgebracht. Immerhin wurde so klar, wie lange Sedat in der Wohnung untergekommen war: fünf Tage. Von dort aus hatte er den „Transport“ in Leilas Haus organisiert. Am 28. April hatte er sich dann auf den Weg zur Transportfirma gemacht, um sich selbst an die Adresse von Rayans Schutzbefohlener liefern zu lassen. „Was für ein gewissenloser Bastard!“, knirschte Taib Riad mit den Zähnen, als er von diesen Ermittlungsergebnissen hörte.
Sedat hob die Hand zum Zeichen, dass er Sprechen wollte, und sofort wurde es still. Keiner wagte mehr, etwas zu äußern, denn jeder erwartete atemlos den unbarmherzigen Befehl des grausamen Despoten. Die Gefangenen, weil es ihr Todesurteil sein würde, die Krieger, weil sie die Henker wären. Schon so mancher von ihnen hatte die Erfahrung gemacht, dass es wenig half, sich dahinter zu verbergen, dass man lediglich auf einen Befehl hin gehandelt hatte. Die Toten kamen trotzdem des Nachts, um einem heimzusuchen. Vor allem die getöteten Frauen verfolgten selbst die harten Krieger bis in ihre Träume. Denn im Grunde wussten sie, dass diese Menschen nicht der Feind gewesen waren, sondern frühere Nachbarn und Stammesbrüder.
„Ich bin froh“, begann Sedat mit glasklarer, fester Stimme, der man noch nicht einmal ansatzweise seine inneren Dämonen und Zweifel anmerkte, „ich bin froh, dass die kriegerischen Auseinandersetzungen endlich ein Ende gefunden haben.“ Er hielt einen Moment inne und der einzige Laut, den man hörte, war das Stöhnen einiger Verwundeter, die zu sehr im Delirium waren, um die Tragweite der Ereignisse erfassen zu können. Die nächsten Worte fielen ihm schwer, denn am liebsten hätte er einfach seine wahren Gefühle an dieser Stelle enthüllt. Und wer weiß, wie das Schicksal des jungen Rayan dann ausgesehen hätte? Vermutlich hätte dieser nicht unter dem Namen seines Urgroßvaters Yasin in die Fremde fliehen müssen, dazu verdammt, sich jahrelang als Geächteter zu sehen, den jeder x-Beliebige wie ein Stück Vieh hinschlachten könnte, sobald er seinen wahren Namen erführe. Doch dazu war es zu früh. Sedat hatte gerade erst begonnen, das ganze Ausmaß seiner Taten zu begreifen. Hätte er an dieser Stelle auch nur geahnt, dass Miriams Mutter Eleonora, Rayans Großmutter, ihn hinters Licht geführt hatte und sein Sohn zu dieser Zeit langsam aus einem mehrere Tage andauernden Zustand an der Schwelle zum Tod endlich ins Leben zurückkehrte, vielleicht hätte er seine Wandlung zum Guten nie zu Ende geführt. Sedat musste durch den brutalen Schmerz des vermeintlichen Verlustes seines Sohnes gehen, um auf den Weg der Menschlichkeit zurückzufinden. Und die Pein, die Sedat gerade verspürte, drohte ihn um den Verstand zu bringen. Alleine das Wissen um den Tod seines Erstgeborenen war schier unerträglich – die Tatsache, dass dieses Dahinscheiden unter grausamen Umständen erfolgt war, die Sedat zu verantworten hatte, führte dazu, dass der in diesem Moment noch große Scheich in den kommenden Jahren zu einem Schatten seiner selbst werden würde.
Doch jetzt war noch nicht die Zeit, sich seine Selbstzweifel anmerken zu lassen. Also tat Sedat, was er tun musste, um die Rebellen ein für alle Mal zu zerschlagen und den Frieden für das Große Tal von Zarifa zu bringen: er zeigte Stärke.
„Ihr alle habt euch schuldig gemacht! Ihr habt gegen die bestehenden Gesetze verstoßen. ICH bin gemäß meiner Abstammung euer Herr und ihr seid mir zur Treue verpflichtet. Und doch habt ihr euch gegen mich aufgelehnt!“
Dies waren genau die Worte, die die Krieger erwartet hatten zu hören. Gleich würde der Befehl zum Zuschlagen folgen! Doch zu ihrer Überraschung sprach Sedat mit versöhnlichen Worten weiter:
„Dafür hättet ihr den Tod verdient. Doch ich sehe unter euch auch Menschen, die nichts anderes gesucht haben, als eine Zuflucht. Und zu lange haben wir gegeneinander gekämpft – Bruder gegen Bruder“, fuhr Sedat fort.
Er wappnete sein Herz gegen die nachfolgenden Worte, für die er sich selbst am meisten hasste: „Wie einige von Euch bereits wissen, ist der Verräter Rayan vor wenigen Tagen den Verletzungen aufgrund seiner Bestrafung erlegen. Ich weiß, dass dieser junge Mann, der sich einmal mein Sohn genannt hat, einer eurer Anführer war. Er hat die gerechte Strafe erhalten, die ihm zugestanden hat. Und er ist den unehrenvollen Tod eines feigen Verräters gestorben.“
Einen Moment lang wurde es laut, Stimmengewirr und Schluchzen verrieten, dass die meisten nichts von Rayans Tod gewusst hatten, oder gehofft hatten, dass es sich nur um ein Gerücht handelte. Vielen war noch nicht einmal bewusst gewesen, dass der Junge, der vor knapp zwei Jahren zu ihnen gestoßen war, der verschollene Sohn des Scheichs gewesen war. In der Abgeschiedenheit dieser Berge gab es keinerlei Kommunikationsmedien, die aktuelle Ereignisse wie Rayans Flucht oder dessen Verbannung verbreiteten. Und Rayan selbst hielt sich eher bedeckt mit seiner Abstammung. Die Einstellung von Nabil, der alles darangesetzt hatte, um ihn an seinen Vater auszuliefern, in der Meinung sich dadurch für die Rebellen gewisse Vorteile zu erkaufen, war ihm noch allzu deutlich in Erinnerung gewesen.
Sedat ließ die Menschen gewähren und wartete einige Sekunden, bis sich das Raunen wieder gelegt hatte. Die emotionale Reaktion überraschte ihn. Er konnte an den Gesichtern Betroffenheit ablesen, was ihm verriet, dass sein Sohn allgemein beliebt gewesen war. Einige reagierten zornig, und vergaßen anhand der Information über Rayans Tod und seiner Betitelung als Verräter sogar, dass ihr eigenes Schicksal auf Messers Schneide stand. Ein Anflug von Stolz übermannte ihn, gefolgt von einer Welle des inneren Schmerzes, die so stark war, dass der Scheich sich erneut zusammenreißen musste, um nicht die Fassung zu verlieren. Am liebsten hätte er nun ebenfalls seinen Gefühlen freien Lauf gelassen, wie einige der Gefangenen, die ihre Tränen nicht mehr zurückhalten konnten.
„Ich will nicht zu schnell über euch alle urteilen, denn es ist bereits zu viel Blut vergossen worden. Lasst euch das Ende des feigen Verräters ein Beispiel sein! Das gleiche Schicksal wird jeden ereilen, der sich noch weiter gegen mich stellt!“
Sedat ließ die Drohung auf die Menge wirken. Die meisten der Versammelten senkten eingeschüchtert die Köpfe. Zufrieden nickte der Scheich, bevor er fortfuhr: „Doch ich bin kein Unmensch. Diejenigen von Euch, die nach Zarifa in ihre Heimat zurückkehren möchten, müssen mir hier und jetzt einen Treueeid schwören. Kniet vor mir nieder und verpflichtet euch, zukünftig die eigenen Interessen denen des Stammes unterzuordnen. Im Gegenzug schwöre ich im Angesicht Allahs, dass keinem von euch, der diese Entscheidung trifft, die vergangenen Vergehen nachgetragen werden. Ich gewähre jedem, der vor mir niederkniet, Amnestie.“
„Und was ist, wenn wir das nicht wollen?“, rief eine aufmüpfige Stimme aus der Menge.
„Jeder, der sich dafür entscheidet, nicht nach Hause zurückzukehren …“, geschickt verwendete Sedat die Worte „nach Hause“, denn er spürte, dass viele der geplagten Menschen genau dies wollten: einfach nur ins Große Tal zurückzukehren und dort in Frieden zu leben.
„…jeder, der sich also anders entscheidet, wird aus Zarifa für immer verbannt! Er soll nie wieder einen Fuß in dieses Gebirge setzen. Wenn er es wagt, zurückzukehren, so wird er meinen vollen Zorn zu spüren bekommen und einen langsamen Tod erleiden! Die Verbannung wir derart durchgeführt, dass meine Krieger euch hinunter in die Oase begleiten, um von dort aus mit dem Nötigsten versorgt für immer fortzugehen.“ Er hielt einen Moment inne, um den Menschen Zeit zu geben, ihre Optionen auch wirklich zu verstehen, bevor er mit eisiger Stimme ergänzte: „Wer auch diese zweite Möglichkeit verweigert, ist des Todes. Er wird als Verräter genauso bestraft wie Rayan.“
Alleine den Namen seines Sohnes laut auszusprechen, schien Sedats Innerstes zu zerreißen. Doch er war zu sich selbst genauso hart wie zu seinen Mitmenschen. Dies war seine Form der Bestrafung, die er sich selbst auferlegt hatte. Denn trotz seiner Trauer und seines Leids war er in erster Linie noch immer der Anführer, der für den Frieden seines Volkes verantwortlich war. Ihm war klar, dass zu viel Vergebung in diesem Moment als Schwäche ausgelegt werden würde, was den Aufstand sofort aufs Neue angefacht hätte.
„Und was passiert mit den Verwundeten?“, fragte jemand. „Viele von uns können nicht laufen, oder sind nicht in der Lage im Moment eine Entscheidung zu treffen.“
„Jeder Verletzte wird hier vor Ort so lange behandelt, bis er in der Lage ist, auf eigenen Füßen fortzugehen“, antwortete Sedat ruhig.
Dann wandte er sich um, um in sein Zelt zurückzukehren. Für heute hatte er genug gesagt. Er hätte zu gerne beobachtet, was seine Krieger zu seinen Worten zu sagen hatten. War er zu gnädig gewesen? Doch sein Stolz verbot es ihm, auf die Meinung seiner Untergebenen zu hören. Und im Gegensatz zu Rayan später, hatte er keinerlei Freunde wie Hanif, die ihrem Anführer ihre Meinung sagten, auch wenn dies unangenehmen war.
Hätte Sedat seine Krieger gefragt, wäre er vermutlich überrascht gewesen, denn die tarmanischen Kämpfer waren ausnahmslos erleichtert. Zum ersten Mal seit Jahren hatte Sedat eine Entscheidung getroffen, um seinem Volk weiteres Leid zu ersparen, und damit gehandelt, wie es eines wahren Anführers würdig war.
Im Gegensatz zu Rayan waren Cho und Hummer am nächsten Morgen überraschend fit, offenbar machte Übung hier den Meister. Die beiden verabschiedeten sich schon in aller Frühe, denn diesmal würden sie nicht mit nach Zarifa kommen. Vor dem Hotel stiegen sie in ein Taxi. Ein Helikopter würde sie nach Alessia bringen, von wo aus sie via Dubai in die Staaten zurückkehren würden. Nachdem die Bedrohung beseitigt war, war ihre Anwesenheit in Zarifa nicht länger vonnöten.
Angesichts des angeschlagenen Zustands ihres Herrn, hatte Jassim den Zeitpunkt für ihre Abholung auf den Nachmittag gelegt. Dankbar war Rayan noch einmal eingeschlafen. Erst nach einer Dusche fühlte er sich etwas besser, jedoch verweigerte er jegliche Nahrungsaufnahme, was Hanif mit einem Grinsen quittierte.