Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Am Ende des ersten Buches wird Rayans Sohn bedroht, sein Leibwächter Jassim ist verschwunden. Und es gibt einen Verräter in Zarifa, der jeden seiner Schritte an die Hintermänner verraten würde. Wie kann Rayan diese Person finden? Erst danach kann er zusammen mit Hanif nach London eilen, um die beiden zu retten. Dabei wird er selbst zum Opfer und kann nur mit Mühe aus England entkommen. Hat der mysteriöse Jason recht, der behauptet, die Lösung liege in der Vergangenheit bei seinen Verbindungen in amerikanische Regierungskreise? Rayan beschließt, erst einmal mit Carina ins Reine zu kommen und lädt sie zu einem gemeinsamen Wochenende ein. Doch trotz all seiner Bemühungen entscheidet sie sich für Sven, ihren neuen Freund in München. Hat Rayan sie für immer verloren? Und dann schlägt der Feind erneut zu: Ein Killerkommando entführt Tahsin und Carina – Rayans Leben, gegen das Leben der Menschen die er liebt. Können sie dieser Falle entkommen?
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 573
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Indira Jackson
Rayan - Zwischen zwei Welten
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Vorwort
September 2014 – Flug von Alessia nach London – Traum oder Erinnerung
September 2014 – Flug von Alessia nach London – Bericht aus der Vergangenheit
September 2014 – Cityairport London – Willkommen im Regen
September 2014 – Einige Tage früher - Tal von Zarifa – Sturm der Gefühle
September 2014 – Tal von Zarifa – Reisevorbereitungen
September 2014 – Tal von Zarifa - Enttarnung des Verräters
September 2014 – Tal von Zarifa – Ende einer langjährigen Freundschaft
September 2014 – Tal von Zarifa – Aufbruch in der Nacht
Mai 2002 – Große Wüste – Eigentlich Routine
September 2014 – Irgendwo in den Bergen von Zarifa – Jede Minute zählt
Mai 2002 – Große Wüste – Heimreise mit Hindernissen
September 2014 – Flughafen von Alessia – Wiedersehen mit Leila
Mai 2002 – Große Wüste – Unbarmherzige Verbrecher
September 2014 – Alessia – Déjà-vu
September 2014 – London - Check-in
Mai 2002 – Große Wüste – Die Spur ist noch heiß
September 2014 – Flughafen von Dubai – Mazin
Mai 2002 – Große Wüste – Der Sklavenmarkt
September 2014 – London - Nächtliche Treffen
September 2014 – London – Unerwarteter Besuch
Mai 2002 – Große Wüste – Die weitere Vorgehensweise
September 2014 – Nahe Eston Castle – Erkundungen
Mai 2002 – Große Wüste – Leilas Geschichte
September 2014 – Dubai – Ein alter Freund
Mai 2002 – Große Wüste – Rachegedanken
September 2014 – Eston Castle – Die Flucht
Mai 2002 – Große Wüste – Rettungskommando
September 2014 – Dubai – Abschied von Dubai
September 2014 – Nahe Eston Castle – Die Befreiung - Hanif
Mai 2002 – Große Wüste – Späte Erkenntnis
September 2014 – Nahe Eston Castle – Die Befreiung - Rayan
Mai 2002 – Große Wüste – Der Urteilsspruch
September 2014 – Flug nach München - Sven
Mai 2002 – Große Wüste – Zwei Fürsprecher
September 2014 – Im Hotel in London – Weitere Recherchen
September 2014 – München – Eine neue Beziehung
Mai 2002 – Große Wüste – Stimmungswandel
September 2014 – Auf dem Weg zum Flughafen – Morddrohung
Mai 2002 – Große Wüste – Ein Abschied und ein neuer Anfang
September 2014 – London City Airport – Auslegung von Pflicht
April 2005 – Universität von London – Besuch mit Überraschungen
September 2014 – Innenstadt von London – „Mit Begleitung“
April 2005 – London – Rendezvous am Freitagabend
September 2014 – London Innenstadt – Sei vorsichtig was du dir wünschst
April 2005 – London – Neue Erfahrungen
September 2014 – Krankenhaus London – Das Verhör
April 2005 – London – Auslöschung der Vergangenheit
September 2014 – Irgendwo in London – „Nosy Nutter“
April 2005 – London – Der Blick in den Spiegel
September 2014 – Irgendwo in London – Smiths langer Arm
September 2014 – Irgendwo in London – Eingreifen in letzter Minute
September 2014 – Zurück im Club – Zufluchtsort
September 2014 – Irgendwo in London – Vom Retter zum Flüchtling
September 2014 – Isle of Wight – Die nächste Etappe
September 2014 – Vorort von Paris – Auf dem Weg nach München
September 2014 – München – Weitere Vorgehensweise
September 2014 – München – Und wieder Nachforschungen
September 2014 – Flughafen München – Überraschende Beobachtung
September 2014 – Flughafen München – Ahnungslos
September 2014 – Alessia – Ein Versprechen
Anfang November 2014 – München – Besessenheit
Anfang November 2014 – München – Überraschende Verfügung
Anfang November 2014 – München – Ein Angebot
Anfang November 2014 – Carinas Wohnung – Wieder einmal der Anwalt
Anfang November 2014 – Carinas Wohnung – Stilvolles Geleit
November 2014 – Flughafen München – Unerwartete Einladung
November 2014 – Flughafen München – Endlich die Wahrheit?
November 2014 – Flughafen München – Immer ein Balanceakt
November 2014 – Flughafen München – Abflug ins Ungewisse
November 2014 – Im Flugzeug – Nächtliche Landung
Juli 2005 – In den Bergen von Zarifa – Stiller Abschied
November 2014 – Flughafen von Las Palmas – Ein Kurzurlaub
Juli 2005 – Alessia – Ehrerweisung
November 2014 – Finca – Nachtaktiv
Juli 2005 – Alessia – Vorurteile
November 2014 – Finca – Die Insel und Ihre Schönheiten
Juli 2005 – Alessia – Vom Regen in die Traufe
November 2014 – Sonias Haus – Ungewohnter Verlauf eines Besuches
Juli 2005 – Alessia – Eine heiße Spur
November 2014 – Finca – Abwägung von Chancen
Juli 2005 – Alessia – Genug der Höflichkeiten
November 2014 – Finca – Erster Schritt zur Annäherung
Juli 2005 – Alessia – Ein schlechtes Gewissen
November 2014 – Finca – Zurück in die Vergangenheit
Juli 2005 – Alessia – Setzen von Prioritäten
November 2014 – Finca – Drohende Entscheidung
August 2005 – Alessia – Endlich am Ziel
Ende November 2014 – Flughafen München – Die Entscheidung ist Gefallen
Ende November 2014 – Flug von München nach Alessia – Aus der Starre Erwacht
Ende November 2014 – Ankunft in Alessia – Neue Wege
Anfang Dezember 2014 – Tal von Zarifa – Die Rückkehr nach Zarifa
Anfang Dezember 2014 – Tal von Zarifa – Sinnloses Unterfangen
Anfang Dezember 2014 – München – Das falsche Pferd
Anfang Dezember 2014 – Tal von Zarifa – Gute oder schlechte Nachrichten
Anfang Dezember 2014 – Flughafen München – Sven: ein kurzer, bedeutungsloser Flirt
Anfang Dezember 2014 – Flughafen München – Sven: Auf dem Weg zum Erfolg?
Anfang Dezember 2014 – Flughafen München – Sven: Gefallen mit Folgen
Anfang Dezember 2014 – Flughafen Dubai – Sven: Ursache und Wirkung
Ende Januar 2015 – Tal von Zarifa – Hanifs Verzweiflung
Ende Januar 2015 – Tal von Zarifa – Pflichtenthebung
Ende Januar 2015 – Tal von Zarifa – Ruhi schreitet ein
Ende Januar 2015 – Alessia – Offene Aussprache
Ende Januar 2015 – Alessia – Der denkbar ungünstigste Zeitpunkt
01.02.2015 – München – Ein unerwarteter Anruf
01.02.2015 – München – Vorbereitungen für den nächsten Tag und die Zukunft
02.02.2015 – München – Fehleinschätzung
02.02.2015 – München – Treffpunkt zum Showdown
Namensverzeichnis
Vorschau auf Teil III
Über die Autorin
Impressum neobooks
Rayan –
Zwischen Zwei Welten
von
Indira Jackson
Irrtum vorbehalten.
Alle Rechte bleiben bei der Autorin.
Die Namen, Personen und auch die meisten Orte sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten zu realen Personen oder Ereignissen sind rein zufällig und keinesfalls beabsichtigt.
An meine Fans,
jedes einzelne Exemplar von „Rayan – Sohn der Wüste“, dem ersten Teil meiner kleinen Reihe, das ich als E-Book oder Taschenbuch verkauft habe, hat mich gefreut. Nicht etwa des Geldes wegen! Glaubt mir, vom Bücherschreiben reich zu werden, ist verdammt schwer …
Nein, es war mir wichtig, dass ich mit jedem Exemplar meine Ideen an Euch vermittelt habe. Beim Lesen taucht Ihr in eine von mir erschaffene Welt ein und ich hoffe, dass es mir gelungen ist, Euch damit zu faszinieren.
Ich habe mich bemüht, auch den zweiten Teil genauso spannend und abwechslungsreich zu gestalten, wie den ersten.
Auch in „Rayan – zwischen zwei Welten“ – gibt es wieder unterschiedliche Handlungsstränge und Zeitebenen. Daher sind auch diesmal wieder die Kapitelüberschriften extrem wichtig! (Das hatte wohl einige Leser im ersten Buch zunächst etwas verwirrt)
Und nun möchte ich Euch nicht länger aufhalten, sondern wünsche viel Spaß beim Lesen!
Eure
Indira Jackson
„Nein!“ Rayan stieß das Wort so plötzlich und heftig aus, dass Hanif vor Schreck fast von seinem Flugzeugsessel aufgesprungen wäre. Sie waren beide an Bord des Learjet von Scheich Rayan Ibn Sedat Suekran al Medina y Nayran und flogen in Richtung London.
Sie würden einen Zwischenstopp in München zum Auftanken machen müssen, hatte der Pilot ihnen vor dem Start gesagt. Die Flugzeit dorthin betrug etwas mehr als sechs Stunden. Sie würden also gegen 20 Uhr dort ankommen. Danach waren es nur noch etwas mehr als eineinhalb Stunden, bis sie in London am Cityairport landen würden.
Seit ihrem eiligen Aufbruch aus Zarifa vor fünf Tagen, hatten beide nicht viel Rast gehabt, aber Rayan hatte besonders schlecht geschlafen. Er war erst jetzt, wo sie an Bord und auf dem Weg in Richtung England waren, endlich in einen unruhigen Schlummer gefallen. Einige Minuten lang hatte er noch über Hanifs und Leilas offensichtliche Zuneigung nachgedacht, dann hatte der Schlaf ihn übermannt.
Er hatte bereits einige Minuten vorher undeutliche Worte gemurmelt, doch nun sprach er auf einmal ganz klar. Hanif beugte sich vor, um zu sehen, ob er wach war, aber Rayan war definitiv noch immer im Land der Träume. „Wohl eher ‚Land der Albträume‘ “, dachte Hanif für sich.
Es musste der Stress und die Sorge um seinen Sohn Tahsin sein, die ihn derart zu beunruhigen schien. Denn Hanif hatte bereits so viele Stunden bei ihren unzähligen Ritten durch die Wüste mit Rayan verbracht, auch während dieser schlief, aber niemals hatte er auch nur geschnarcht, geschweige denn während des Schlafes gesprochen.
„… kann es nicht sagen, wir werden alle sterben … muss sie beschützen.“ Dann stöhnte er leise und murmelte wieder vor sich hin.
„Aufhören! Es tut so weh … nein, nicht das Salz!“
Hanif lief es eiskalt den Rücken herunter. Salz? Zwischen den Wortfetzen, die er verstehen konnte, stöhnte Rayan immer wieder und murmelte vor sich hin, doch die letzten Worte waren so deutlich, dass ein Irrtum ausgeschlossen war.
Er überlegte, ob er seinen Freund und Herren wecken sollte, denn dass dies kein angenehmer Traum sein konnte, war ihm klar. Er streckte gerade seine Hand nach Rayan aus, als dieser wieder zu sprechen begann: „Vater! Sag ihnen, sie sollen aufhören! Ich - ich sterbe!“ … und Hanif hielt wie vom Donner gerührt inne, denn nun wusste er, von welchem Ereignis Rayan da träumte.
„Vater, warum hilfst du mir nicht …?“
Noch bevor Hanif sich entscheiden konnte, ob er Rayan nun wecken sollte, schreckte dieser mit einem letzten Laut hoch und wachte auf.
Im ersten Moment wusste Rayan nicht, wo er war. Das passierte ihm äußerst selten und war eine Folge des Albtraums, den er gerade gehabt hatte. Er sah sich nach Hanif um, doch der schien zu schlafen.
Vorsichtig stand er aus seinem Sessel auf, er wollte Hanif nicht wecken, denn nach einem Gespräch war ihm jetzt nicht zumute.
Er ging zur kleinen Bar des Fliegers, nahm sich ein paar Eiswürfel in ein Gefäß und etwas Sodawasser.
Seine Hände zitterten leicht beim Einschenken der Flüssigkeit.
Er hob das Glas und hielt es an seine Stirn, er fühlte sich, als hätte er Fieber. Rayan trank einige Schlucke des kalten Getränks und spürte erleichtert, dass er etwas ruhiger wurde.
„Nur ein Traum“, sagte er leise zu sich selbst. Dabei fiel sein Blick in den Spiegel der Bar.
Eine Weile musterte er sich selbst, wie er so dastand. Die teure, europäische Kleidung stand ihm gut. Das weiße Hemd betonte die Farbe seines Teints, das Dunkelblau des Anzugs passte hervorragend zum Blau seiner Augen. Diese Augen waren das auffälligste an der ohnehin bemerkenswerten Erscheinung des Scheichs.
Sie waren ein Erbe seiner deutschen Großmutter, der er zusätzlich auch noch seine Sprachbegabung zu verdanken hatte. Denn Rayan sprach mehrere Sprachen fließend. Deutsch unter anderem sogar so gut wie akzentfrei. Meistens ließ er seine Gesprächspartner allerdings über diese Veranlagung im Dunkeln. Er liebte es nicht, zu viele Informationen über sich selbst preiszugeben. Umso interessanter, wenn manche Personen unvorsichtig genug waren, sich in seinem Beisein offen zu unterhalten, weil sie der Meinung waren, er verstünde sie nicht. Am liebsten noch über ihn. Die einfachste, aber äußerst effiziente Methode, ihre wahre Meinung zu erfahren.
Auch sein Körper ließ kaum Wünsche offen: Er war 1,89 m groß und durchtrainiert. Von seinem Vater hatte er das tief dunkelbraune, fast schwarze Haar geerbt. Alles in allem ein Anblick, der es ihm in der Frauenwelt einfach machte, zu bekommen, was er wollte.
Allerdings nicht nur dort. Denn wenn sich der Scheich etwas in den Kopf gesetzt hatte, war es unter Umständen gefährlich, ihm zu widersprechen. Er hatte den Einfluss, die Mittel und vor allem auch die Ausstrahlung, sein Umfeld in seinem Sinne zu beeinflussen.
Gegenüber seinen Feinden galt er als gnadenlos und war daher gefürchtet. Bei seinen Freunden dagegen zeichnete er sich durch Treue und Großzügigkeit aus. Lediglich sein Temperament machte ihm manchmal zu schaffen.
Heute jedoch sah Rayan im Spiegel nur, dass er aufgrund der Strapazen der letzten Tage und der psychischen Anspannung und inneren Unruhe trotz seiner natürlichen Bräune ungewöhnlich blass wirkte und tiefe dunkle Augenringe hatte. Einen Moment schloss er die Lider und sinnierte wieder dem Albtraum nach, den er soeben gehabt hatte. Als er die Augen wieder öffnete, sah er, dass Hanif ihn beobachtete, was seine Meinung bestätigte, dass dieser sich vorher nur schlafend gestellt hatte.
Ihre Blicke kreuzten sich und dabei realisierte er Hanifs Gesichtsausdruck: eine Mischung aus Verlegenheit und Entsetzen.
Rayan seufzte und fragte noch immer mit dem Rücken zu Hanif: „Ich habe wohl im Schlaf gesprochen?“, dabei beobachtete er dessen Reaktion. Hanif zögerte einen Moment. „Ja, Ihr habt einen sehr unruhigen Schlaf gehabt und Euch hin und her geworfen und auch einiges Unverständliches gemurmelt …“, dabei wurde er leicht rot.
Rayan lächelte sanft: „Seit wann lügst du mich an Hanif?“
Nun glich Hanifs Gesicht der Farbe einer Tomate. „Verzeiht mir Herr, ich wollte nicht …“ Er brach ab, denn er wusste nicht, was er sagen sollte.
Rayan schenkte ein zweites Glas Wasser ein, drehte sich um und ging zu seinem Platz zurück. Er reichte Hanif das Wasser und setzte sich hin.
„Also Hanif, sag mir, was habe ich im Schlaf erzählt?“
Einen Moment lang war Hanif noch verlegen, doch dann setzte er sich gerade hin, schaute Rayan direkt in die Augen und sagte:
„Es war offenbar ein Albtraum. Ihr habt gesagt, dass es wehtut, und Ihr es nicht mehr aushalten könnt. Aber müsst, weil Eure Freunde sonst sterben werden. Dann habt Ihr mit Eurem Vater gesprochen und ihn angefleht, er möge Euch helfen und ‚sie‘ dazu bringen aufzuhören, weil Ihr sonst sterbt.“
Nun war es an Hanif, Rayan prüfend zu beobachten. Dieser entgegnete nichts und sinnierte eine Weile über die Worte seines Freundes. Dann fragte er ihn: „Und was denkst du von diesem Traum?“
Ohne zu zögern antwortete Hanif: „Ich glaube nicht, dass es ein Traum war – ich bin mir sogar sicher, dass es eine Erinnerung war.“
Rayan nickte und sagte mehr zu sich selbst: „Diesen Albtraum hatte ich schon eine lange Zeit nicht mehr, früher träumte ich ihn allerdings fast jede Nacht. Nur dass ich dieses Mal zum ersten Mal IHN deutlich vor mir gesehen habe.“
Und er versank wieder in seinen Gedanken. Ab und zu nippte er an seinem Wasserglas.
Eine Weile wartete Hanif ab, ob Rayan ihm von sich aus mehr erzählen würde. Dann stellte er fest, dass dieser so tief in Gedanken verloren war, dass er wohl keine weiteren Erklärungen abgeben würde. Es ärgerte ihn, dass Rayan nach all den Jahren über viele Dinge noch immer nicht mit ihm sprach. Also versuchte er, ihn aus der Reserve zu locken: „Ihr habt auch etwas von Salz gesagt – der Wortlaut war in etwa „nein, nicht das Salz.“
Rayan wurde durch die Bemerkung tatsächlich aus seinem Grübeln gerissen, aber statt etwas zu sagen, schaute er ihn eine Weile sinnierend an und Hanif dachte schon, er würde seinen Satz einfach ignorieren. Dann begann er doch noch leise, wie zu sich selbst, zu reden:
„Als mich die Handlanger meines Vaters damals verhört haben, hatten sie eine ganz bestimmte Methode, mit der sie mich zum Reden bringen wollten: immer zehn Peitschenhiebe, danach einen Kübel mit Salzwasser, direkt auf die offenen Wunden, die die Striemen hinterlassen hatten. Dann ließen sie mich stundenlang in der prallen Sonne warten, nur um dann von Neuem zu beginnen.“
Er sagte es bewusst teilnahmslos, beobachtete Hanif dabei jedoch, um dessen Reaktion zu sehen. Der war etwas blass geworden, aber nachdem er die abscheulichen Narben auf Rayans Rücken kannte, hatte er Ähnliches erwartet.
„Ihr sprecht nie über Euren Vater …“, entgegnete Hanif, auch um das Thema zu wechseln.
Rayan lächelte matt: „Das stimmt nicht. Ich spreche lediglich nicht mit DIR über meinen Vater.“ Wie er erwartet hatte, spiegelte Hanifs Gesicht zuerst Überraschung und dann Kränkung wider, doch bevor dieser wirklich beleidigt sein konnte, fuhr Rayan fort: „Weißt du, dass ich dich beneide, Hanif?“
Wieder wartete er erst die Reaktion des anderen ab und Hanif fragte erwartungsgemäß überrascht: „Ihr? Mich? Das verstehe ich nicht.“
„Als ich damals von Zarifa weggegangen bin, hatte ich nichts. Manchmal hatte ich noch nicht einmal etwas zu essen und musste tagelang hungern, bis ich genug verdient hatte, um mir Essen zu kaufen. Anderen Males habe ich für ein wenig Essen stundenlang gearbeitet. Aber wenn man mich in dieser Zeit gefragt hätte, was ich mir am meisten wünsche, hätte ich die gleiche Antwort wie heute gegeben.“ Vor sich hin reflektierend schwieg er erneut eine ganze Weile. Wieder überlegte Hanif, ob das alles gewesen sei, und holte gerade Luft, um etwas zu sagen, da fuhr Rayan leise fort:
„Nach dem Angriff auf deine Familie und dem Tod deines Vaters hat mein Vater dich wie seinen Sohn angenommen. Diese – wie viel? – sechs, sieben Jahre sind es, um die ich dich beneide. Ihr habt gemeinsam gegessen, über alles geredet, gemeinsam gelacht …Wenn ich an die Jahre zurückdenke, bevor ich weggelaufen bin, fallen mir lediglich Begriffe wie: ‚Unnahbar, unbarmherzig, ehrgeizig, verbittert‘ ein.“
Er hielt inne, machte eine wegwerfende Handbewegung, zuckte die Schultern und fügte hinzu: „Ach was soll‘s – das ist lange her.“ Sein Tonfall machte klar, dass er nicht weiter über das Thema reden wollte.
Hanif war aber entschlossen, sich dieses Mal nicht wieder abspeisen zu lassen und fragte: „Seid Ihr deshalb damals weggelaufen?“
Rayan sah ihn prüfend an und antwortete abweisend und mit einem bewusst arroganten Tonfall: „Glaubst du eigentlich, nur weil wir nicht mehr auf dem Boden sind, hat sich etwas geändert? Warum sollte ich dir diese Fragen beantworten wollen?“
Es war klar, dass er Hanif in seine Schranken weißen wollte. Doch dieser hatte mit genau der Reaktion gerechnet. Er kannte sie nur zu gut aus der Vergangenheit. Immer wenn sie dieses Thema anschnitten, baute Rayan eine unüberwindbare Mauer auf. Doch dieses Mal würde er nicht zurückstecken. Vielleicht lag es auch tatsächlich daran, dass sie über den Wolken waren, dass er sich auf einmal traute, auf einer zufriedenstellenden Antwort zu beharren. Er spürte, dass sich ihm eine Chance bot. Daher reagierte er nicht etwa verlegen oder gar beleidigt, sondern bemerkte mit kühlem Kopf:
„Nein, geändert hat sich überhaupt nichts. Ihr seid nach wie vor mein Herr und ich Euch verpflichtet. Doch glaube ich, dass ich nach so vielen Jahren einige Antworten verdient habe …“
Rayan war verblüfft. War Hanif die Höhenluft zu Kopf gestiegen? Seit wann stand es ihm zu, in einem derartigen Tonfall mit ihm zu reden?
Bevor er eine passende Antwort für Hanif parat hatte, fuhr dieser schon fort: „Immer wenn das Thema aufzukommen droht, stoßt Ihr mich von Euch. Ihr habt es gerade aber selbst gesagt: Ich hatte ein sehr enges Verhältnis zu Eurem Vater – und darum habe ich es auch verdient, endlich zu verstehen, was zwischen euch vorgefallen ist.“
Einen Moment lang war Rayan verärgert – musste er sich vor Hanif rechtfertigen? Dann jedoch gestand er sich ein, dass er dem Thema auswich, weil es ihm unangenehm war. Er wusste, dass es der sehnlichste Wunsch seines Vaters gewesen war, dass sie sich gut verstünden und so etwas wie Brüder würden.
Also zuckte er resignierend die Achseln und fragte Hanif: „Bist du sicher, dass du das alles wissen willst? Ich möchte nicht deine guten Erinnerungen an meinen Vater mit schlechten Gedanken vergiften. Du musst das verstehen: Ich habe dir gerade gestanden, dass ich dich um die schönen Jahre mit meinem Vater beneide. Gerade deshalb will ich nicht derjenige sein, der nun ein ungünstiges Licht auf ihn wirft. Man redet nicht schlecht über die Toten.“
Doch Hanif nickte überzeugt: „Ich möchte es endlich verstehen.“
Also begann Rayan zu erzählen: „Die einzigen schönen Erinnerungen, die ich an meinen Vater habe, stammen aus der Zeit vor dem Tod meiner Mutter. Da war ich keine sieben Jahre alt. Ab diesem Moment hat sich alles verändert.
Freunde hatte ich nie welche, denn ich war für alle nur der Ehrgeizling, der immer alle übertreffen musste, immer besser als die anderen sein wollte. Wie habe ich das gehasst! Aber das war IHM egal.
Wenn du ehrlich bist, hast du mich auch so gesehen, nicht wahr?“
Hanif nickte verlegen. Er konnte sich gut an seine Kindheitserlebnisse mit Rayan erinnern.
Rayan nickte zufrieden über diese Bestätigung und fuhr fort: „Doch das war niemals ich selbst – es war ER, der mich dazu gezwungen hat.“
Er hielt wieder einen kurzen Moment inne, als überlege er seine nächsten Worte. „Du hast mich vor einigen Jahren einmal gefragt, warum ich mein Büro in Zarifa oben im ersten Stock habe, wenn doch die Bibliothek unten viel größer ist und mehr Platz bieten würde. Die Antwort lautet: weil ich diesen Raum hasse! Es ist das ehemalige Büro meines Vaters. Dort war ich damals lediglich aus einem einzigen Grund: weil er mich zu sich befehlen ließ. Um mir zu sagen, wo ich versagt hatte und welche Strafe er sich deshalb für mich ausgedacht hat. Er war darin sehr erfinderisch. All die Male, als ich nicht zusammen mit den anderen Jungen meines Alters an Ausflügen oder anderen Aktionen teilnehmen durfte. Und dann ließ er mich von seinem persönlichen Diener verprügeln. Er machte sich nie selbst die Hände schmutzig. Ich kann und will mich nicht mehr daran erinnern, wie viele Male ich noch am folgenden Tag kaum laufen konnte … und so begann ich bald nicht nur den Raum, sondern IHN zu hassen.
Der Tag, an dem ich weggelaufen bin, ist mir noch gut in Erinnerung. Ich hatte beim Kampftraining wieder einmal nicht gut genug abgeschnitten. Zwar war ich der Schnellste beim Laufen, doch hatte ich vor lauter Eile zu oft danebengeschossen. Als Strafe sollte ich die Ställe ausmisten, anstatt mit den anderen Jungen einen schon lange geplanten Ausflug zu machen. Ich wäre - wie so oft - der Einzige gewesen, der nicht dabei war und alle hätten - wieder einmal! - gedacht, ich wäre zu arrogant, um mitzukommen. Da ist etwas in mir zerbrochen. Ich denke, es war das letzte bisschen Respekt, das ich noch vor ihm hatte. Ich habe ihn angeschrien. Vor seinen Männern. Ein böser Fehler! Das Andenken an die Ohrfeige, die er mir versetzt hat, habe ich noch heute im Gesicht. Von seinem Rubinring.“ Rayan wies mit dem Zeigefinger auf die etwa einen Zentimeter lange strichförmige Narbe auf seiner rechten Wange.
„Für den nächsten Morgen hat er mir dann wieder eine unserer ‘speziellen ‚Unterredungen‘ angekündigt. In dieser Nacht habe ich meine Sachen gepackt und bin gegangen. Und ich hatte nicht die Absicht, jemals zurückzukehren.“
Lange Zeit schwiegen beide. Hanif versuchte, sich vorzustellen, was er getan hätte. Außerdem dachte er an seine Zeit mit Scheich Sedat Suekran zurück. Wie anders war dieser zu ihm gewesen!
Da fühlte er den prüfenden Blick Rayans auf sich und sah auf, er lächelte seinen Herren an: „Ich danke Euch für das Vertrauen, dass Ihr mir diese Geschichte erzählt habt. Es bedeutet mir viel.“ Und das meinte er auch genauso, wie er es sagte.
Der Zwischenstopp in München zum Nachtanken war ereignislos verlaufen. Zumindest aus Rayans Sicht, der solche Flüge schon öfter gemacht hatte. Für Hanif dagegen war diese Art des Reisens neu. Während des Tankvorgangs wurden sie in einer Limousine zum Gebäude gefahren und im VIP-Bereich abgesetzt, wo sie sich die Füße vertreten konnten. Rayan hatte außerdem eine Friseurin bestellt, die ihnen die Haare schnitt.
Rayan nutzte die Abwechslung, um mit der Dame zu flirten, Hanif flüchtete sich wieder in seine Verbissenheit und blickte misstrauisch vor sich hin. Als daraufhin die Friseurin eine Bemerkung machte, dass sein Freund aussehe, wie ein Bär, den die Bienen beim Honigklauen erwischt hätten, musste Rayan lauthals lachen, was Hanif, der kein Wort Deutsch verstand, nur dazu brachte, noch grimmiger zu schauen.
Bereits nach einer Stunde konnten sie weiterfliegen und nochmals eineinhalb Stunden später landeten sie in London.
Der Pilot warnte sie schon vor, dass „das typisch englische Wetter“ herrsche und stattete sie mit Schirmen aus.
Hanif hatte schon aus dem Flugzeug heraus den heftigen Regen bewundert. Er war fasziniert.
Doch als sie ausstiegen und ihnen die für Ende September schon durchaus empfindlich kalten Temperaturen entgegenschlugen, verbunden mit Windböen, die den Regen teilweise quer von der Seite kommen ließen, legte sich auch seine Begeisterung.
Die wenigen Schritte aus dem Flugzeug heraus bis zur bereits wartenden Limousine reichten aus, sie reichlich nass werden zu lassen.
Hanif schüttelte sich wie ein Hund, grinste aber trotzdem.
Rayan lächelte: „Willkommen in England - willkommen im Regen“, sagte er auf Englisch.
Dabei fiel ihm ein, dass er nicht wusste, wie es um Hanifs Sprachkenntnisse stand. Daher wechselte er nun die Sprache ganz und forderte Hanif auf, ihm ebenfalls in Englisch zu antworten.
Der machte häufig Fehler und vor allem die Aussprache ließ zu wünschen übrig, aber Rayan nickte trotzdem zufrieden. Es würde ausreichen, dass er nicht alles für Hanif übersetzen musste.
Ein erstes kleines Hindernis stellte die Passkontrolle dar. Rayan, jetzt als Yasin und somit amerikanischer Staatsbürger, wurde nach einer kurzen Kontrolle durchgelassen. Hanif, als Bürger der Vereinigten Arabischen Emirate, der noch keinerlei Einträge in seinem Pass hatte, wurde genau nach seinen Gründen für den Besuch in London befragt. Nachdem Hanif eine derartige Prozedur noch nie mitgemacht hatte, war er völlig überfordert. Sein Englisch, das gerade im Auto noch einigermaßen passabel gewesen war, schien plötzlich völlig verschwunden zu sein. Rayan eilte seinem Begleiter zu Hilfe, indem er ihn zu seinem Kunden erklärte, dem er die Londoner Filiale zeigen wollte. Er könne für ihn bürgen. Mit dieser Erklärung gaben sich die Zollbeamten zufrieden.
Hanif war die Situation aufs Höchste peinlich. Er war mitgekommen, um seinem Herren beizustehen, nicht dass dieser ihm umgekehrt zur Hilfe eilen musste. Zum ersten Mal fragte er sich, ob Rayan nicht recht gehabt hatte, dass er ihn nicht hatte mitnehmen wollen. Vielleicht hätte er doch nicht so stur sein sollen.
Direkt nach der Passkontrolle gingen sie weiter zum Schalter der Mietwagenfirma, wo der Angestellte sie bereits mit einem freudigen Grinsen erwartete. Die Piloten hatten vom Flieger aus für ihn bereits eine Vorbestellung platziert. Daher war der Rest der Formalitäten schnell erledigt.
Als Hanif zusammen mit Rayan in der Tiefgarage ankam, wusste er, wieso der Angestellte derart gut gelaunt gewesen war– Rayan hatte einen nagelneuen Audi R8 V10 für sie reservieren lassen.
Hanif selbst konnte nicht Auto fahren, er hatte in der Wüste nie die Notwendigkeit gesehen, einen Führerschein zu machen. Er konnte nur reiten wie der Teufel, egal ob es sich um Pferde oder Kamele handelte.
Aber er kannte natürlich aus Dubai und den anderen arabischen Städten die teuren Sportwagen, die dort im Überfluss gefahren wurden.
Rayan strich fast liebevoll über die Karosserie des Wagens, dann sprang er voller Vorfreude hinein. Hanif war einen Moment verwirrt, dass sich das Steuerrad auf der rechten Seite befand und musste daher erst noch einmal ums Auto gehen, bis er auf dem Beifahrersitz landete.
Breit grinsend ließ Rayan den Motor anspringen und einmal kräftig aufheulen, bevor er das Auto sicher aus der engen Tiefgarage steuerte.
Hanif dagegen ärgerte sich erneut über sich selbst, dass er so kurz nach seiner Blamage am Zoll nun erneut seine Unerfahrenheit zur Schau gestellt hatte. Wieso mussten die Engländer auch ihre Autos andersherum bauen?! – An jeder Ecke schienen neue Fettnäpfchen auf ihn zu warten - das konnte ja alles noch heiter werden.
Rayan stand bewegungslos am Fenster seines Schlafzimmers und sah auf die Stallungen hinunter.
Er wusste, dass man ihn von unten nicht sehen konnte, da die Fenster nur von innen durchsichtig waren. Einige Diener hatten die Pferde für Carina, Nihat, Halef und zwei weitere Männer gesattelt. Die Reiter schickten sich gerade an, aufzusteigen.
Carina blickte nicht nach oben. Sie hatte Mühe, die Tränen zurückzuhalten, aber ihr Stolz verbot ihr, zu deutlich zu zeigen, wie sehr ihr die kurzfristige Abreise aus Zarifa zu schaffen machte.
Sie hatte nichts von den Dingen, die Rayan ihr geschenkt hatte, eingepackt. Lediglich ihre eigenen Besitztümer, die sie hierher gebracht hatte, nahm sie wieder mit zurück. Er hatte sie abgefertigt, wie ein Kleidungsstück abgelegt und daher wollte sie keinerlei Erinnerungen an ihn zurückbehalten. Im Geiste ging sie noch einmal die überschaubare Liste durch: ihren Ausweis, ihre Kamera und ihr Notizbuch. Alles hatte sie in ihrer ledernen Umhängetasche verstaut, die inzwischen schon so viel mitgemacht hatte.
Einer der Diener reichte ihr noch einen prall gefüllten Wasserschlauch nach oben, als sie schon auf dem Pferd saß, dann ritten sie los. Sie widerstand die ganze Strecke entlang des Flusses durch die grünen Wiesen der Versuchung, sich noch einmal umzudrehen. Falls sie doch jemand beobachtete, sollte dieser nicht das Gefühl haben, dass es ihr leidtat hier wegzugehen. Doch die ganze Zeit fühlte sie sich, als würde ihr jemand stückchenweise das Herz herausschneiden.
Auch in Rayan tobten die Gefühle wie einer dieser Sandstürme, die alles mit sich rissen. Wie gerne hätte er Carina am Aufbruch gehindert, sie in die Arme geschlossen und ihr gesagt, dass er keine andere Wahl gehabt hatte. Dass auch er nur ein Opfer der Umstände war, welches im Moment nichts anderes tun konnte, als den Forderungen der Erpresser Folge zu leisten.
Stattdessen stand er still, wie die stolze Statue eines der Helden aus alten Tagen und beobachtete, wie der Trupp immer kleiner wurde, bis er schließlich in den Durchbruch im Felsen verschwand, der den Eingang ins große Tal von Zarifa bildete. In Gedanken segnete er Carina und ihre Begleiter und bat Allah um Schutz für ihren Weg durch die Wüste.
Nihat hatte eines ihrer Satellitentelefone mitgenommen, über welches er Hanif über den Verlauf ihrer Reise informiert halten würde. Er hing noch fünf weitere lange Minuten seinen Gedanken hinterher, dann riss er sich zusammen.
Es ging um das Leben von Tahsin – seinem Sohn - und Jassim, seinem Leibwächter. Seine persönlichen Belange mussten hinten anstehen, wollte er sie retten.
Tahsin war wohlbehalten in seinem Internat in Eston Castle in England angekommen. Er hatte keine Ahnung von der Gefahr, in der er schwebte und das sollte auch so bleiben. Rayan wollte nicht, dass sein Sohn sich Sorgen machte. Außerdem schützte ihn im Moment noch die Unwissenheit. Je weniger er wusste, desto geringer war die Chance, dass die Unbekannten ihn angriffen. Schließlich war der Vater das Primärziel, der Sohn nur Mittel zum Zweck. Rayan würde Tahsin daher erst einweihen, wenn es sich überhaupt nicht mehr vermeiden ließ.
Jassim hatte den Sohn des Scheichs auf dessen Befehl hin den ganzen Weg von Zarifa nach England begleitet, im Schloss abgeliefert, danach war der Kontakt zu ihm abgebrochen. Rayan hatte am Vorabend mit Tahsin telefoniert, der ihm einige Episoden von ihrer Reise berichtet, ansonsten aber völlig normal geklungen hatte. Der Leibwächter dagegen hätte sich nach seinem Aufbruch aus Eston Castle auf dem Rückweg melden sollen und Rayan hatte inzwischen mehrfach vergeblich versucht, ihn anzurufen. Sein Satellitentelefon blieb unbeantwortet, es klingelte durch.
Und dann war die E-Mail gekommen:
„Wir haben Jassim, und wenn du nicht genau das tust, was wir dir sagen, dann schicken wir ihn dir in Einzelteilen zurück.
Außerdem haben wir eine Person unseres Vertrauens in Eston Castle. Wenn du nur einen Schritt von dem Weg abweichst, den wir dir vorgeben, dann stirbt dein Sohn auf die gleiche Weise wie seine Mutter.
Als Zeichen deines guten Willens mit uns zusammenzuarbeiten, schickst du auf der Stelle deine kleine ungläubige Freundin nach Hause. Keine Angst, an ihr sind wir nicht interessiert, also werde sie los – morgen noch. Sonst interessieren wir uns in Zukunft vielleicht doch noch für sie.
Wenn du tust, was wir sagen, wird keinem anderen etwas passieren - wir wollen DICH und nachdem du in Dubai mehr Glück als Verstand gehabt hast, haben wir uns jetzt etwas anderes einfallen lassen.
Der arme Khalid Raisuli, letzten Endes war er nur unser Werkzeug.
Jetzt tu‘ genau, was wir sagen und halte ansonsten die Füße still. Bleib, wo du bist.
Wir melden uns wieder.“
Diese E-Mail änderte alles. Rayan hatte zusammen mit seinem langjährigen Gefährten Hanif und seiner Adoptivmutter Julie einen Moment lang in Erwägung gezogen, Carina ins Vertrauen zu ziehen und ihr den Grund für ihre Abreise zu erzählen, doch war die Gefahr zu groß, dass sie dann ebenfalls ins Visier der Erpresser kommen würde.
Freilich konnte er sich nicht zu hundert Prozent darauf verlassen, dass Carina auf diese Weise sicher war, doch hoffte er, dass sein Gespür ihn nicht getrogen hatte.
Und so hatte er der Frau, die er liebte, kurzerhand eine Lüge über Leila aufgetischt, die angeblich hier die Frau des Hauses und bereits auf dem Weg hierher sei. Natürlich hatte es Carinas Stolz nicht zugelassen, dass sie auch nur einen Moment länger hierblieb.
Rayan grübelte noch einmal darüber nach, wie einfach es gewesen war, Carina diese Lüge glaubhaft zu machen. Er wusste, dass er überzeugend sein konnte, wenn er es wollte. Aber kannte sie ihn denn immer noch nicht gut genug? Hatte er ihr nicht in den letzten Tagen bewiesen, wie viel sie ihm bedeutete? Wieder hatte er das Gefühl, eine eiskalte Hand krampfe sich um sein Herz. Er seinerseits kannte Carina gut genug, um zu wissen, dass es nicht leicht sein würde, sie davon zu überzeugen, ihm diese Abfuhr jemals zu verzeihen, selbst wenn sie später irgendwann die Wahrheit erfuhr.
Er seufzte. Dafür hatte er jetzt keine Zeit, er musste einen Schritt nach dem anderen machen.
Er ging aus seinem Schlafzimmer hinaus in das nebenan liegende Büro. Auch in diesem Raum gab es eine Fensterscheibe, die über die ganze Breite der Wand ging und eine uneingeschränkte Aussicht auf den hinter dem Haus liegenden Garten bot, der wie eine blühende Oase im Kontrast zu den dahinterliegenden schroffen Felsen des Talkessels stand. Doch er hatte heute keinen Blick für die Schönheiten, die dieses Panorama bot.
Er setzte sich an seinen Schreibtisch aus poliertem, dunklem Holz und drückte den Knopf, der das Computerterminal aus der Tischplatte herausfahren ließ.
Dann checkte er zunächst seine E-Mails. Keine neuen Nachrichten, zumindest keine, die ihm im Moment weiterhelfen würden. Weder hatte sich Jassim auf diesem Wege gemeldet, noch gab es weitere Neuigkeiten von den Erpressern. Aber das hatte er auch nicht wirklich erwartet.
Als Nächstes griff er zum Telefon und machte sich daran, die Liste abzutelefonieren, die er in seinem Kopf hatte. Rayan war ein geschickter Stratege, der seine Gefühle völlig ausschalten konnte.
Erstens rief er noch einmal seinen technisch begabten Freund in Amerika, Cho, an. Der japanischstämmige Amerikaner hatte das Tracking des Satellitentelefons von Jassim übernommen.
Er war es auch gewesen, der all ihre Telefone mit GPS Sendern ausgestattet hatte. Keine schlechte Idee, angesichts der langen Strecken, die Rayan immer wieder in der offenen Wüste zurücklegte. So konnten sie im Notfall angepeilt werden. Nie hätte er gedacht, dass er diese Funktion einmal aus diesem Grund würde nutzen müssen.
Cho informierte ihn, dass der Sender von Tahsin sich innerhalb des Internats befand und sich hier in den üblichen kleinen Schritten bewegte, vermutlich, wenn Tahsin den Klassenraum wechselte. Hier in Zarifa war es inzwischen Nachmittag, für Tahsin in England musste aufgrund der vier Stunden Zeitverschiebung gerade Mittagspause sein.
Der Apparat von Jassim hatte sich dagegen nicht mehr bewegt. Es stand noch immer an der gleichen Stelle in England still, wie heute Morgen, als er die E-Mail bekommen hatte. Gemäß Koordinaten, schien dieser Ort ganz in der Nähe von Tahsins Internat zu sein.
Diesbezüglich also nichts Neues. Die interessanten Neuigkeiten, die Cho hatte, betrafen den E-Mail-Verkehr von und nach Zarifa. Es war ihm gelungen, einige Mails zu ihrem Ausgangspunkt zurückzuverfolgen. Diese Information bestätigte Rayans Verdacht über die Identität des Verräters. Er gönnte sich einige Minuten des Nachdenkens, was das bedeutete und wie er vorzugehen hatte, um diese Person auszuschalten.
Als Zweites rief er seinen Freund Harun Said an. Er hatte ihn vor dreizehn Jahren kennengelernt, als sie gemeinsam dafür gesorgt hatten, dass ihr Widersacher Scheich Yuemnue ein für alle Mal ausgeschaltet wurde. Seitdem trafen sie sich immer wieder, um sich über die neuesten Ereignisse auszutauschen oder unternahmen gemeinsame Reisen. Harun hatte nie vergessen, dass es Rayan gleich doppelt zu verdanken war, dass sein jüngerer Bruder Sarif noch am Leben war. Zum einen hatte der Scheich das Leben des Jungen in einer direkten Konfrontation geschont und dann hatte er ihm nach einer schweren Verwundung medizinische Versorgung gewährt, obwohl sie zu diesem Zeitpunkt noch offiziell Feinde gewesen waren.
Harun hatte gute Beziehungen zur saudischen Armee und genau diese Verbindung benötigte Rayan nun. Er wusste, wenn er nach England wollte, musste er schnell sein. Denn wenn Jassim verwundet war, konnten unter Umständen Stunden entscheidend für sein Leben sein. Er aber saß hier in Zarifa fest, von wo aus er alleine bis Alessia sechs Tagesritte benötigte. Harun hörte ihm aufmerksam zu, stellte einige wenige präzise Fragen und versprach dann, alles Notwendige zu veranlassen. Das war einer der Gründe, warum sich die Männer so gut verstanden – wenn es darauf ankam, hielten beide nichts davon, viele Worte zu verschwenden.
Als Drittes rief Rayan nochmals seinen Freund und Anwalt Taib Riad an. Mit ihm hatte er gleich mehrere Themen zu besprechen. Zum einen sollte er Mazin wissen lassen, dass Carina auf dem Rückweg war, damit er sich um ihre Flüge und angemessene Unterkünfte für sie in Alessia und Dubai kümmern sollte.
Des Weiteren sollte er von seiner Seite aus ebenfalls schon einmal alle Kanäle anzapfen, ob es irgendwo Informationen gab, wer ihm schaden wollte.
Und schließlich würde er endlich das Projekt in Auftrag geben, welches Zarifa besser an die Zivilisation anbinden sollte. Bisher hatte er das absichtlich vermieden, denn hier war sein Zufluchtsort, den er sich bewahren wollte. Es hatte ihm bis dato nichts ausgemacht, dass Zarifa nur zu Pferd oder Kamel nach sechs Tagen Ritt durch die Wüste erreichbar war. Er war technisch bestens angeschlossen. Was brauchte er mehr als seinen Computer, E-Mails, das Internet und sein Hightech-Telefon? Doch nun sah er ein, dass diese langen Ritte nicht mehr zeitgemäß und in einem derartigen Notfall auch äußerst unpraktisch waren.
Er hatte bereits vor einigen Monaten einmal Pläne für den Bau einer Landebahn in einem Seitental von Zarifa anfertigen lassen. Damit wäre das Gebirge zwar lediglich für ganz spezielle Flugzeugtypen erreichbar, die mit einer sehr kurzen Landebahn auskämen und auch die Landung selbst wäre nur für geübte Piloten durchführbar, aber es wäre möglich, Zarifa besser zu erschließen.
Sein Zögern kam unter anderem daher, dass er bei seinen vielen Einsätzen genügend Erfahrungen gesammelt hatte, um zu wissen, dass auf diesem Wege neben dem Nutzen auch die Gefahr größer würde. Er war sich bewusst, dass er viele Feinde hatte. Was, wenn sie sich auf diesem Wege einschleichen konnten? In den undurchdringlichen Bergen rund um das große Tal konnte man sich jahrelang verbergen, wie er von seiner Kindheit aus eigener Erfahrung wusste.
Aber andererseits war er nun bereit dieses Risiko einzugehen. Er wollte für die Zukunft die An- und Abreise für sich, seine Familie und Freunde verkürzen. Taib sollte das Bauprojekt beauftragen und auch beaufsichtigen.
Bereits in wenigen Monaten konnte alles fertiggestellt sein.
Nach diesem Telefonat blieb er noch einen Moment sitzen und überlegte, ob er an alles gedacht hatte.
Dann rief er als Letztes Julie und Hanif an und bestellte sie zu sich in sein Büro. Er benötigte ihre Hilfe. Es galt, den Verräter so auszuschalten, dass er seine Hintermänner nicht mehr warnen konnte.
Wenige Minuten später trafen Hanif und Julie in Rayans Büro ein und setzten sich hin. Sie waren ohnehin nicht weit entfernt gewesen, um sofort zur Stelle zu sein, sollte es Neuigkeiten geben.
Rayan hatte ihnen verboten, Carina beim Abschied zu begegnen, aus Angst, sie würden sich verraten. Das hatte es für Carina noch schwerer gemacht, sie glaubte nun, auch ihre Freunde hätten sie verstoßen.
Aber genau das war wichtig für Rayans Plan: Ihre Emotionen mussten echt sein, wenn sie das Tal verlies. Der Weg führte sie durch die kleine Stadt und damit unmittelbar am Haus des Verräters vorbei. Cho hatte auf der Lauer gelegen, um zu kontrollieren, woher die E-Mail kam, mit der der Verräter seinen Hintermännern bestätigte, dass Rayan ihre Vorgaben erfüllte.
Anschließend hatte der Freund ihm die Identität verraten.
Julie und Hanif staunten nicht schlecht, als sie den Namen hörten. Seine Adoptivmutter stimmte Rayans Plan sofort zu, wie man den Verräter am besten stellen konnte und verließ daraufhin das Büro, um sich auf den Weg zu machen. Sie ging unter einem Vorwand in die Höhle des Löwen.
Zehn Minuten später brachen auch Rayan und Hanif auf. Beide waren erfahrene Kämpfer und konnten absolut lautlos sein, wenn sie wollten. Im Dämmerlicht der untergehenden Sonne achtete kaum jemand auf sie. Einen Moment lang hielten sie vor dem Haus inne. Dann öffnete Rayan ohne anzuklopfen die Tür und sie traten geräuschlos in den Flur ein. Sie hielten ihre Waffen schussbereit: Rayan seine kurze Armbrust mit den vergifteten Pfeilen und Hanif seine Pistole.
Sie lauschten auf die Stimmen der anwesenden Personen im Wohnraum. Da Rayan das Wohnzimmer aus seinen früheren Besuchen hier nur zu gut kannte, konnte er so ausmachen, an welcher Stelle Julie saß.
Die typisch arabische Ausstattung half ihnen bei ihrem Plan, denn beide würden auf dem Boden auf Teppichen und großen Sitzkissen sitzen, was ein schnelles Aufspringen so gut wie unmöglich machte.
Julie saß rechts vom Durchgang, ihr gegenüber saß der Verräter.
Hanif und Rayan wechselten einen Blick, dann traten sie lautlos in den Raum ein.
„Guten Abend Sachra“, sagte Rayan mit kalter Stimme. Die junge Frau zuckte zusammen. Sie hatte gerade Julie Tee einschenken wollen und sich daher auf das flache Tischchen vor ihr konzentriert.
Als sie die Waffen in den Händen der beiden Männer erkannte und dazu Rayans Gesicht sah, wurde sie blass. Ihr war sofort klar, dass man ihr auf die Schliche gekommen war. Doch überraschend schnell fasste sie sich und sagte ironisch: „Guten Abend großer Scheich, was verschafft mir die Ehre Eures späten Besuches?“ Sie grinste dabei höhnisch.
Kopfschüttelnd antwortete Rayan: „Einmal Rebell, immer Rebell, nicht wahr, Sachra?“
Das Gesicht der Angesprochenen verzog sich hasserfüllt: „Das Kompliment kann ich zurückgeben: wie der Vater, so der Sohn, was? Dein Vater war ein Tyrann und genauso bist du einer. Ein Tyrann und Mörder!“
Als Rayan ihre Verachtung sah, sagte er traurig: „Warum, Sachra? Damals vor so vielen Jahren warst du es, die mir das Leben gerettet hat, zusammen mit Ibrahim. Ich dachte, du bist meine Freundin? Was glaubst du, würde dein Ehemann dazu sagen, wenn er davon wüsste? Er hat sein Leben für meines gegeben - Dein Verrat entehrt seine Heldentat!“
„Sprich du nicht von Ehre! Du Monster hast mir alles genommen. Meine besten Jahre und nun auch noch die Liebe meines Lebens.“
Rayan sah sie verständnislos an, was ihr die Zeit gab weiterzusprechen: „Warum bist du nicht dort geblieben, wo auch immer du dich verkrochen hattest? Sedat war ein zahnloser Tiger, harmlos auf seine alten Tage. Dann bist du gekommen und hast uns „gerettet“ – die wundersame Auferstehung. Dass ich nicht lache! Und seitdem hatte Ibrahim keine Augen mehr für mich. Es hieß nur noch: ‚Rayan dies, Rayan das. Unser Heilsbringer!‘ Und ich habe hier auf meinen Mann gewartet, stundenlang, wochenlang. Ich wusste niemals wann und ob er überhaupt zurückkehren würde. Bis neulich, als es dann wirklich soweit war.“ Sie hielt inne, Tränen waren in ihre Augen getreten. „Und weißt du, was das Schlimmste ist? Die Gewissheit, dass Ibrahim ein großer Wunsch erfüllt wurde: Er konnte das Leben seines Helden retten. Was mit mir ist, hat sich niemand gefragt!“
Rayan konnte Sachra lediglich anstarren. Er hatte geglaubt, sie seit Jahren zu kennen. Noch vor wenigen Wochen war er bei ihr gewesen und sie hatten über Ibrahims Tod gesprochen. Mit keiner Miene hatte sie ihre Gefühle für ihn verraten – so viel Hass!
Er dachte bei sich, dass es wieder einmal ein Beweis war, dass niemand einen anderen Menschen vollständig kennen konnte. Das war früher schon immer seine Devise gewesen, als er sich jahrelang geweigert hatte, irgendjemandem außer sich selbst zu trauen. Erst im Laufe der Jahre hatte er etwas Zutrauen in andere Menschen gefasst. Wie zum Beispiel in Julie und Jack, seine Adoptiveltern. Die Gesinnung von Sachra warf ihn auf dem Weg zum Vertrauen in Andere erneut zurück und er beschloss für sich, wieder vorsichtiger zu werden.
„Was haben sie dir dafür versprochen?“, fragte er Sachra leise. Diese lachte höhnisch: „Nur deinen Tod. Deinen langsamen, qualvollen Tod. Ich habe ihnen vorgeschlagen, sie sollten da weitermachen, wo die Männer deines Vaters damals versagt hatten.“
Rayan war erschüttert, Sachra war bei seiner Misshandlung vor so vielen Jahren Zeugin gewesen – wie konnte sie ihm das noch einmal wünschen? Wie sehr hatte sie sich verändert und das quasi vor seinen Augen, ohne dass es ihm aufgefallen war.
Er zwang sich, ruhig zu bleiben: „Wie bist du an diese Menschen gekommen?“ Es blitzte in Sachras Augen und triumphierend sagte sie: „Durch das Internet. Ich sitze Wochen und Monate alleine hier herum – da musste ich mir doch eine Beschäftigung suchen? Ibrahim hat sich gefreut, dass ich so aktiv war. Immer wenn er an ein Terminal gekommen ist, haben wir uns geschrieben. Dabei bin ich auf sie gestoßen. Sie haben mich irgendwann einfach kontaktiert. Es hat mich einige Zeit gekostet, sie von meiner Echtheit und vor allem davon zu überzeugen, dass ich dich wirklich tot sehen will, aber seitdem sind wir gute Freunde.“ Sie lachte wieder höhnisch.
Es war Hanif, der nun nicht mehr ruhig bleiben konnte: „Und wer sind ‚sie‘? Was wollen diese Leute?“
Sachra zuckte die Achseln. „Keine Ahnung. Das war mir egal. Rache so wie ich, vermute ich.“
Auf einmal mischte sich Julie wütend ein und keifte Sachra an: „Du herzloses Miststück, diese Menschen bedrohen meinen Enkel! Und Jassim auch – willst du diese beiden auch tot sehen?“
Doch Sachra zuckte die Achseln: „Das ist ein bedauerlicher Nebeneffekt. In jedem Krieg gibt es Opfer. Und der große Jassim wird sicher genauso erfreut sein wie Ibrahim, für seinen ‚Helden‘ zu sterben.“ Das Wort „Held“ betonte sie höhnisch.
Julie wollte auf sie losspringen, doch Rayan rief mit klirrender Stimme: „Julie!“, und sofort hielt die ältere Frau inne. Etwas sanfter fuhr Rayan fort: „Reiß dich zusammen. Sie will dich doch nur provozieren.“
Hanif, der emotional am wenigsten von allen betroffen war, stellte die entscheidende Frage: „Was machen wir denn nun mit ihr?“
Noch bevor Rayan etwas erwidern konnte, antwortete stattdessen Sachra: „Ihr macht überhaupt nichts mit mir. Wenn ich nämlich nicht regelmäßig weiter meine E-Mails beantworte und Statusinformationen durchgebe, sterben sie alle beide. Richtig?“
Und eiskalt antwortete Rayan: „Falsch!“ Dann schoss er seine Armbrust ab und gleich zwei der vergifteten Pfeile trafen Sachra in die Brust.
Alle drei starrten Rayan entsetzt an, Sachra zusätzlich mit einem ungläubigen, verwirrten Gesichtsausdruck. Sie griff sich mit der linken Hand an die Eintrittswunden der Pfeile, hob die Hand dann vor ihr Gesicht und starrte noch immer ungläubig auf ihr eigenes Blut. „Aber …?“ Dann begann das Gift zu wirken und sie brach lautlos in sich zusammen. Es wirkte so schnell, dass sie bereits tot war, bevor sie auf dem Boden aufschlug.
Nun schauten alle drei auf die Tote. Rayan mit grimmigem Gesicht, aber auch mit einer gewissen Genugtuung, Julie und Hanif sprachlos.
Julie fasste sich als Erste: „Yasin was tust du? Wie sollen wir nun verhindern, dass die Hintermänner Jassim und vor allem Tahsin töten?“ Vor lauter Aufregung hatte sie nicht gemerkt, dass sie den amerikanischen Namen, unter dem sie Rayan kennengelernt hatte, verwendete, so sehr war sie von den Ereignissen der letzten Minuten mitgenommen.
Hanif riss sich nun ebenfalls aus seiner Starre: „Sie hat recht, Herr, was sollen wir nun tun?“
Rayan lächelte nur kalt, was Hanif einen Schauer über den Rücken jagte: „Julie wird die E-Mails beantworten.“
Seine Adoptivmutter war entsetzt: „Ich? Wie denn? Nein, nein, ich kann das ganz bestimmt nicht.“
Doch Rayan ignorierte ihre Bedenken einfach. Er trat an den Computer, der auf einem Schreibtisch in der rechten hinteren Ecke des Raumes stand. Ihm war vorher bereits aufgefallen, dass der Computer eingeschaltet war. Als Experte für Sicherheit wusste er, welche Einstellungen er verändern musste, um zu verhindern, dass sich das Terminal in Ruhemodus begab oder ein Passwort beim nächsten Mal notwendig wäre. Dann sahen sie gemeinsam eine ganze Zeit lang den ein- und ausgehenden Mailverkehr durch. Zum Glück hatte Sachra keinen Code verwendet, um mit den geheimnisvollen Hintermännern zu kommunizieren. Julie willigte letztlich ein, die Stellung am Terminal zu übernehmen. Schließlich musste sie nicht die ganze Zeit hier bleiben, sondern lediglich ab und zu nachzuschauen, ob neue E-Mails eingegangen waren. Sachra schien jeden Abend um etwa 20 Uhr einen Einzeiler gesendet zu haben. Zusätzlich hatte sie nur geschrieben, wenn es neue Ereignisse gab. Unter anderem hatte sie am Nachmittag eine triumphierende Mail abgesendet, nachdem Carina aufgebrochen war. Die Mail, die Cho zurückverfolgt hatte.
Rayan machte der Inhalt und der Tonfall dieser Notiz so wütend, dass er Sachra am liebsten zusätzlich noch erwürgt hätte, wäre sie nicht ohnehin schon tot gewesen.
Er riss sich zusammen und zischte angewidert: „Armer Ibrahim, er würde sich im Grabe umdrehen, wenn er davon wüsste.“ Hanif sah in etwas verständnislos an, aber er wusste, dass sein Herr ab und zu christliche Vergleiche nutzte, was an seinen langen Aufenthalten in Amerika lag und daher fragte er nicht weiter.
Rayan fuhr fort: „Wir dürfen Ibrahims Andenken nicht schmälern, indem wir bekannt geben, was seine Ehefrau verbrochen hat. Ruf Dr. Scott an, er soll kommen. Ein Notfall. Sie hat etwas Falsches gegessen. Nahrungsmittelvergiftung. Soll vorkommen.“ Und diesmal war es Rayan, der höhnisch lachte.
Der Arzt war Engländer und seit dem Krieg 2001 in Zarifa. Nach den Kämpfen hatten er und seine Frau beschlossen, sich in Zarifa zur Ruhe zu setzen. Rayan hatte seiner Bitte damals stattgegeben, weil er wusste, wie wichtig ein guter Arzt und Chirurg für sein Volk war. Er war sich sicher, dass der Doktor ihr Geheimnis über die wahren Umstände der Ereignisse für sich behalten würde. Sie erklärten ihm das Nötigste und er versprach, zusammen mit Julie, Sachras Ableben unauffällig und als natürliche Todesursache zu tarnen.
Rayan und Hanif jedoch hatten nun keine Zeit mehr zu verlieren. Sie waren frei zu gehen, niemand würde ihre Abreise mehr verraten. Julie würde ihnen den Rücken durch belanglose E-Mail Nachrichten frei halten. Sie machten sich auf den Weg.
Die Vorbereitungen für Rayans und Hanifs Abreise waren schnell erledigt. Sie ruhten sich noch ein wenig aus, doch keiner von beiden konnte nach den Ereignissen des Tages wirklich schlafen. Und so kleideten sie sich eine Stunde nach Mitternacht in ihre Gewänder für den längeren Aufenthalt in der Wüste, verabschiedeten sich von Julie und ritten los. Via Satellitentelefon hatten sie die Möglichkeit sowohl mit Julie, als auch mit Nihat jederzeit Kontakt zu halten. Letzteres war wichtig, um nicht dem kleinen Trupp um Carina in die Arme zu laufen, der nun schließlich nur wenige Stunden vor ihnen in die gleiche Richtung ritt.
Wiederum zog Rayan in Erwägung, statt sie zu umreiten, sie einzuholen und Carina einzuweihen. Doch er war sich nicht sicher, ob die Erpresser nicht noch andere Spione an den Flughäfen platziert hatten und er nahm sich vor, mit Carina zu sprechen, sobald es gewiss war, dass Tahsin und Jassim in Sicherheit waren. Mit etwas Glück war das bereits in wenigen Tagen. Solange musste er seine Ungeduld noch zügeln. Doch er hatte ein ungutes Gefühl dabei. Er glaubte Carina inzwischen gut genug zu kennen, um zu wissen, dass diese zu allerlei Kurzschlusshandlungen imstande wäre.
Diese Gedanken gingen ihm durch den Kopf, als er durch das Tal von Zarifa zum Felsdurchbruch ritt. War es erst heute Nachmittag gewesen, dass er Carina bei ihrem Aufbruch auf derselben Strecke beobachtet hatte? Er konnte es kaum glauben. Seine Gedanken schweiften zu Sachra zurück. Sachra! Sie war damals wie eine Schwester für ihn gewesen. Die Eifersucht konnte schon seltsame Dinge mit den Menschen anstellen. Bei diesem Stichwort fiel ihm seine erste Begegnung mit Hanif ein, als dieser ebenfalls aus Eifersucht versucht hatte, Rayan zu töten. Ohne das beherzte Eingreifen seines Vaters wäre ihm das auch gelungen.
Stattdessen traf die Kugel Sedat, was dann vier Jahre später zu dessen Tod führte. Basierend auf dieser Schuld hatte Sedat Hanif gezwungen, Rayan lebenslange Treue zu schwören – ein Leben für ein Leben. Die Alternative wäre Hanifs Hinrichtung gewesen und daher blieb ihm keine Wahl als den Treueeid zu leisten. So hart waren die Gesetze nun einmal.
Damals hatte Rayan gedacht, sein Vater hätte den Verstand verloren, ihn mit dem „Anhängsel Hanif“ zu belasten. Doch schon bald hatte er gemerkt, wie nützlich dieser für ihn war. Heute betrachtete er ihn eher als seinen Freund, denn seinen Untergebenen. Er merkte, dass er ihn vermisste, wenn er alleine unterwegs war. Wenn Hanif nur nicht immer so steif wäre. Rayan wusste, dass sein Begleiter von einem unglaublichen Stolz besessen war und das machte es manchmal schwierig mit ihm. Eigentlich war wohl eher das Problem, dass sie sich beide manchmal ZU ähnlich waren, musste Rayan vor sich selber zugeben. Er selber war auch oft schwierig, hatte aber den Vorteil, dass sich die anderen in der Regel nach ihm richten mussten.
Weiter überlegte Rayan, wie es mit Hanif wohl in England sein würde. Er selbst war bereits viele Male geschäftlich dort gewesen und wusste daher, wie er sich zu verhalten hatte, um nicht aufzufallen. Hanif dagegen war seinem Wissen nach überhaupt noch nie im Ausland gewesen. Es würden ihm einige Überraschungen bevorstehen. Bei dem Gedanken daran musste Rayan grinsen. Doch dann fiel ihm der Grund ihrer Reise ein und das kurze Gefühl des Vergnügens verging ihm wieder. Hoffentlich kamen sie nicht zu spät!
Hanifs Gedanken waren mit ähnlichen Themen beschäftigt. Er hatte Sachra erst nach ihrer Rückkehr aus der Wildnis kennengelernt, als Sedat sie freisprach und ihnen erlaubte, wieder in Zarifa zu leben.
Ibrahim hatte er besser gekannt, da dieser sie oft auf ihren Reisen begleitet hatte. Er hatte ihn immer für seine Hingebung zu Rayan beneidet. Er selbst war der ewige Zweifler, der dauernd kritische Fragen stellte.
Einmal hatte er Ibrahim nach den Narben auf Rayans Rücken gefragt und wie es zu dem Zerwürfnis zwischen Vater und Sohn hatte kommen können, doch Ibrahim hatte nur den Kopf geschüttelt. Er würde über diese Ereignisse nicht sprechen, wenn dann musste Rayan selbst darüber berichten.
Andererseits war Hanif stolz darauf, dass Rayan, immer wenn er eine andere Meinung hören wollte, zu ihm kam und nicht zu Ibrahim. Vielleicht war es also gerade sein kritisches Hinterfragen, was er benötigte und wollte.
Auch Hanif sinnierte über ihre bevorstehende Reise: Wie würde England sein? Er war noch niemals dort gewesen. Er hatte überhaupt das Land noch nie verlassen. Immerhin sprach er leidlich gut Englisch, was er seinem Vater zu verdanken hatte. Der hatte dafür gesorgt, dass er zwei Jahre lang in Rabea Akbar zur amerikanischen Schule gegangen war. Sein Vater war Händler gewesen und überzeugt, dass Sprachen die Zukunft seien. Hanif hatte seinen Vater damals nicht verstanden, jetzt dagegen war er froh, dass er zumindest in dieser Hinsicht nicht ohne Wissen dastehen würde.
Er wusste, dass Rayan meist nicht sehr gesprächig war und wenn er auf seinen Willen ihm etwas zu übersetzen angewiesen wäre, würde er vermutlich lange warten. Schließlich war Rayan der Herr und Hanif der Untergebene und nicht umgekehrt.
Insgesamt war Hanif also mehr als gespannt, was die kommenden Tage bringen würden.
Derart beschäftigt verging der Ritt durch die Berge hinab schnell. Kurz vor der Abenddämmerung machten sie Lager in den tieferen Ebenen von Zarifa. Bis zur Oase waren es nur noch wenige Stunden. Aber sie hatten ihre Reise mit Absicht zeitlich so gestaltet, weil Carina just in diesem Moment noch in der Oase weilte und erst am nächsten Morgen früh von dort aufbrechen würde.
Wie üblich zog Rayan seine Runden. Immer wenn er in der Wüste unterwegs war, waren alle seine Sinne geschärft. Er liebte die Wüste wie kein anderer. Aber genauso wusste er, dass sie ein Ort war, der keine Fehler vergab. Oft munkelte man, dass Rayan mit der Wüste sprach und noch viel wichtiger: dass sie ihm antwortete. Innerlich musste der Scheich grinsen, denn das war mystischer Blödsinn. Doch tat er nie etwas dazu, derartige Gerüchte zu zerstreuen. Im Gegenteil, wenn sich ihm eine Gelegenheit bot, bestärkte er sie noch.
Was allerdings stimmte, dass er ein Meister darin war, Hinweise zu deuten. Hier eine kleine Staubfontäne, die von einem Rudel Kamele oder anderer wildlebender Tiere stammte, dort eine Ansammlung von Kakteen. Die Art wie sich die Luft über dem Sand bewegte. Und daher wusste er, ja spürte er es, wenn ein Sandsturm kam. Oder er konnte mit Sicherheit sagen, wo sie Wasser finden konnten, auch wenn diese Quellen aufgrund ihrer Abgelegenheit in keiner Karte verzeichnet waren.
Aber es kostete ihm jedes Mal auch viel Kraft, den ganzen Tag über aufmerksam zu sein.
Anfangs hatten sich seine Männer gewundert, wieso er selten inmitten des Pulks blieb, sondern losritt, um Spuren nachzugehen, die er bemerkt hatte. Er war morgens stets der Erste, der sein Pferd fertigmachte, noch während die anderen Männer mit dem Essen zubereiten oder dem Zusammenpacken ihrer Habseligkeiten beschäftigt waren. Dann umrundete Rayan stets in einem weiten Bogen die Senke, in der sie ihr Lager aufgeschlagen hatten.
In der Wüste war es gut eine Senke zu wählen, auch wenn diese im Angriffsfall von Nachteil war. Aber zum einen war man so wenigstens ein bisschen vor dem Wind geschützt. Noch wichtiger aber war, dass das Feuer auf diese Weise nicht allzu weit zu sehen war.
Würde man mitten auf einem Dünenkamm ein Feuer entzünden, so könnte man das bereits aus vielen Kilometern Entfernung sehen. In einer Senke dagegen konnte es passieren, dass einem nachts ein anderer Trupp in kurzer Distanz passierte, ohne dass er das Lager überhaupt bemerkte. Da war es noch wahrscheinlicher, dass Gegner den Rauch rochen, den das Feuer verursachte.
Dafür war es aber umso wichtiger, am Rand der Senke Wachposten aufzustellen, die verhindern sollten, dass ein Feind, der sie trotzdem erspäht hatte, die Dünenränder besetzte und sie aus strategisch günstigerer Position angriff.
Während seiner Kontrollritte hielt Rayan oft an, stieg ab, um Tierfährten zu beobachten, aber auch die Windrichtung stets zu prüfen oder gar nach Spuren von Menschen oder Lasttieren Ausschau zu halten.
Auf die gleiche Weise beendete er den Tag. Es war bereits zwei- oder dreimal vorgekommen, dass er dem ganzen Trupp Reiter befohlen hatte, alles wieder einzupacken und nochmals weiterzuziehen. Das Murren der Krieger hatte er ignoriert. Vorsicht war das oberste Gebot.
Und schließlich hatten sich die Männer im Laufe der letzten Monate an die Eigenheiten ihres neuen Scheichs gewöhnt. Er war es schließlich gewesen, dessen Intuition und Einfallsreichtum sie damals gerettet hatte; wenn er also ihre aktuelle Lagerstätte als nicht geeignet empfand, so würde er schon wissen, warum.
Überhaupt hatte sich in den letzten Monaten ihr Leben drastisch geändert. War es vorher von Langeweile und Nichtstun geprägt, so gab es nun täglich Trainingseinheiten, Waffenübungen oder Erkundungsaufträge.
Rayan war unermüdlich auf den Beinen, um die Beziehungen zu den umliegenden Stämmen in seinem Sinne zu beeinflussen. Alle hatten von ihm und seinen Taten während des Kampfes gehört, weshalb er von einigen bereits mit entsprechender Ehrfurcht empfangen wurde. Diejenigen, die misstrauischer waren, überzeugte er aber ebenfalls bald.
Sein Name war in aller Munde. Niemals zuvor war es einem anderen Scheich gelungen, so intensive Beziehungen zu seinen Nachbarn aufzunehmen.
Eine weitere, bemerkenswerte Veränderung im Leben der Tarmanen war die Konsequenz, mit der ihr neuer Scheich seine Entscheidungen und Anordnungen durchsetzte. Ganz wie er es zu Anfang prophezeit hatte, hatte er strenge Regeln, auf deren Einhaltung er bestand. Zuwiderhandlungen wurden bestraft.