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Bezaubernd-schöne Landschaften, ein weltgewandter Weinliebhaber, der sogenannte Marchese, der von all dem unbeeindruckte Gelegenheitsdieb Rikki, der schließlich beim „Marchese“ in die Lehre geht - und der grausame Mord am weinseligen Bischof: alles in allem ein mehr als schwieriger Fall für Kommissarin Kaja. Zumal die Kriminalistin große Mühe hat, sich dem Charme des Marchese und seiner Weine zu entziehen ...
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Seitenzahl: 202
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Norbert KLugmann
Rebenblut
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Der Meister ist alt und sehr weise.
Es gibt eben doch einen großen Unterschied
zwischen dem Meister und dem Lehrling.
Denn der Lehrling ist sehr jung, impulsiv
und zudem unerfahren.
Hat der alte Hexenmeister
Sich doch einmal wegbegeben!
Und nun sollen seine Geister
Auch nach meinem Willen leben.
Seine Wort und Werke
Merkt ich und den Brauch,
Und mit Geistesstärke
Tu ich Wunder auch.
28 Meter in der Länge, 18 Meter breit. Der glänzende Fußboden aus bestem Parkett. Auf der Bühne standen die Requisiten bereit, links das Pult mit Mikrophon für den Auktionator, daneben die Tischreihe, auf der später die Flaschen stehen würden. Die Stuhlreihen füllten die Hälfte des Raums, auf den Plätzen lagen Ziffer-Tafeln, traditionelles Utensil der Bieter.
Alle Fenster gingen nach Westen, sie waren deckenhoch und reichten bis fast zum Fußboden. Tief und dick hingen Wolkengebirge über dem Hotel. Der Ort hatte schlimmere Novembertage gesehen. 1949, nach verregnetem Sommer, der in einen stürmischen Herbst überging; 1960, als alle dachten, nach dem Jahrhundertsommer des Vorjahrs könne es nie mehr schlechter werden; 1976, als kleine Wetterstationen den Verlust von Windmessern und Regengefäßen meldeten, abgebrochen und zerdrückt von Stürmen, die nach herrschender Lehre in dieser Region nicht vorkommen durften; 1988 natürlich, 1988, das Jahr, in dem die Karten neu gemischt wurden, als manche Menschen lernten, dass die Stürme auch im Inneren des Körpers vorkommen können.
»Oh Pardon, ich habe Sie gar nicht bemerkt.«
Der Mann trat auf das Mädchen zu und nahm ihr die Blumen ab.
»Nein, nein, geht schon«, sagte sie beschämt. »Es war nur … man konnte Sie gar nicht sehen, weil Sie hinter der Gardine gestanden haben.«
»Ich habe mich zu entschuldigen«, sagte der Mann lächelnd. Unwillkürlich begann das Mädchen zu kokettieren. Sie hatte sich das nicht vorgenommen, sie war im Gegenteil dafür bekannt, Jungen die kalte Schulter zu zeigen und älteren Männern erst recht. Niemand konnte ihr vorwerfen, ohne Not freundlich zu älteren Männern zu sein – kein Wunder, dass sie es im Haus nicht leicht hatte. Das Grand Hotel – vor zwei Jahren hatte es den hundertsten Jahrestag seiner Eröffnung gefeiert – wurde von vielen männlichen Gästen besucht, die das Alter des Mädchens um mehr als 40 Jahre hinter sich gelassen hatten. Das hielt sie nicht davon ab, sich wie Schweinepriester zu benehmen – bevorzugt dann, wenn sie dem Mädchen an einem Ort begegneten, wo es keine Augenzeugen gab, im Flur etwa oder in ihren Suiten. Gut, bisher hatte sich noch niemand der alten Daddys zu einer Ungehörigkeit hinreißen lassen. Aber sie arbeitete ja auch erst 18 Monate im Haus, es konnte sich nur noch um Wochen handeln. Oder Tage. Aber wer immer dann die traurige Ehre haben würde, sich als erster daneben zu benehmen – er würde nicht solche Augen haben wie der Mann, der am Fenster gestanden hatte. Er würde nicht so eine Stimme haben, nicht so ein Gesicht, nicht so eine Art, sich zu bewegen.
Das Mädchen arbeitete in einem Hotel, das zu den 50 besten Adressen des Erdballs gezählt wurde. Sie hatte Präsidenten gesehen, Schauspielstars, weltberühmte Sportler, Angehörige des Hochadels, bedeutende Männer der Wirtschaft, denen Autofabriken gehörten und Modefirmen. Mit ihren 19 Jahren hatte sie mehr berühmte Männer gesehen als die meisten Frauen bis zu ihrem Tod sehen würden. Einige hatten sie beeindruckt, die Zurückhaltenden, Armin Mueller-Stahl und George Clooney. Sie hatte sie auffordern müssen, lauter zu sprechen, weil sie ihre Wünsche so defensiv äußerten. Dabei war es nur um Blumen gegangen, Getränke und Kopfkissen. An die beiden erinnerte sie der Mann, der am Fenster gestanden hatte. Und als er sie dann fragte, ob sie ihm verraten könne, an wen er sich wegen der Schlüssel für die Klimaschränke wenden müsse, war es für sie selbstverständlich, die Schlüssel für ihn zu holen. Sie nahm sich keine Zeit, um einen Blick auf den Karton zu werfen. Sie wusste ja, dass vor jeder Versteigerung wertvolle Flaschen angeliefert wurden; und wenn man glaubte, dass endlich alle Schätze in den Klimaschränken gelandet waren, tauchte garantiert noch ein Nachzügler auf. Oder zwei oder drei. Sie hatte in 18 Monaten alles erlebt.
Sie standen hinter der Bühne, verteilt auf zwei Räume. 15 Klimaschränke, die meisten bestückt mit mehr als 200 Flaschen. Hier waren längst nicht alle Flaschen untergebracht, die nachher in die Versteigerung gehen würden. Aber die Preziosen waren vertreten, auch das Mittelfeld, die Flaschen, für die vierstellig geboten werden würde.
Der Mann kam über die Bühne zu den Schränken, er hatte den Karton bei sich. Es war nicht leicht gewesen, dem Mädchen klarzumachen, dass sie sich langweilen würde, einem alten Mann dabei zuzusehen, wie er alte Flaschen in einen Schrank legt.
»Sie sind doch kein alter Mann«, hatte sie verlegen gesagt.
Und er hatte geantwortet: »Ich könnte Ihnen Sachen erzählen …«
Sie wusste nicht genau, was er damit meinte. Aber dann regte sich die Tante von der Auktionsfirma auf, weil der Blumenschmuck noch nicht an Ort und Stelle stand, und das Zimmermädchen musste ihn schweren Herzens ziehen lassen.
Bevor er einen Schrank zu Gesicht bekam, sah er Kempowski. Seit 15 Jahren 39 Jahre alt, seit der Konfirmation derselbe Anzug, seit dem Jüngsten Tag dieselbe Begrüßung: »Sieh an, sieh an. Der Marchese gibt sich die Ehre.«
»Kempowski, bei welchem Schneider lässt du arbeiten?«
»Höre ich da Neid heraus«, fragte der Bewacher der Schränke und drehte sich affektiert im Kreis.
Der Marchese trat an ihn heran, griff Kempowski in die Seiten und sagte: »Immer noch kein Gramm Fett. Wie machst du das bloß?«
»Nun«, sagte der andere wichtigtuerisch, »ich bleibe aktiv.«
Er gierte danach, dass der Marchese eine Bemerkung fallen lassen würde, die bewies, dass er die Anzüglichkeit verstanden hatte.
Und in der Tat: »Wäre ich eine Frau, was ich nicht bin, und ich würde dich treffen, dann wüsste ich, dass meine Suche zu Ende ist.«
»Hat sich noch keine beschwert«, sagte Kempowski angeberisch. Er hielt den Kopf schief, als wäre ihm gerade etwas eingefallen.
»Wieder für Grünfeldt unterwegs«, fragte Kempowski dann betont geschäftsmäßig.
»Erzähl mir nicht, dass deine Rente reicht.«
Als er sah, wie der andere zu einem Monolog über Altersversorgung und Politikerlügen ausholte, fügte er schnell hinzu: »Bin spät dran.«
»Gut, gut«, sagte der Wächter der Schränke. »Was dagegen, wenn ich draußen meinen Lungen den Gnadenschuss gebe?«
»Grüß die Bronchien von mir.«
Der Marchese sah dem anderen nach. Dann begann er. Mit ruhiger Zielstrebigkeit fand er den Schrank, schloss auf. Mit großer Geschwindigkeit prüfte er die Flaschen, zog sie heraus, legte sie zurück, zog, legte, behielt, tauschte gegen eine der mitgebrachten aus, legte die meisten Flaschen in den Koffer, der auf dem Flur stand. Vor einer Stunde hatte er dort noch nicht gestanden.
Es dauerte weniger als fünf Minuten. Hinterher würde das Zimmermädchen der Polizei berichten, dass ein charmanter Mann gekommen sei, er habe einen Sechserkarton bei sich gehabt. Wie sollte er da mehr als 40 Flaschen mitgenommen haben?
Er hörte das Geräusch und blieb stehen. Das Geräusch kam aus dem zweiten Raum. Die Tür stand halb offen, er musste ihr nur noch einen leichten Stoß versetzen. Der Bursche war schmächtig, blaue Jeanshose, blaue Jeansjacke, nur die beiden Reisetaschen waren nicht blau. Billiger Kunststoff, Haltbarkeit zwei Jahre. Reparaturkosten so hoch wie der Anschaffungspreis. Der Bursche hielt etwas in der Hand, einen Stein. Er sah aus wie etwas, womit man Rabatten einfriedet, damit es naturnah wirkt. Mit dem Stein hieb er auf einen der Schränke ein, die mit einer Glastür ausgestattet waren. Das Glas splitterte, er vergrößerte das Loch, dann griff er hektisch zu und füllte seine Taschen. Er blickte nicht einmal auf das Etikett.
In dieser Sekunde endete das bisherige Leben des Marchese.
Der Wagen stand beim Haupteingang, nicht zu dicht und nicht zu weit entfernt. Er bewegte sich mit dem schweren Koffer zielstrebig, aber nicht eilig. Er schloss auf, packte ein, er drehte sich um. Neben ihm hielt ein Lexus, der Mann war jünger als die Frau. Die Frau saß am Steuer. Der Blick des Mannes begegnete dem des Marchese. Der Gigolo lächelte und wollte mit dem Marchese Einverständnis herstellen. Er war noch dümmer, als der Marchese gedacht hatte. Die Frau hakte sich bei dem Gigolo ein, der Gigolo lächelte sie an, die Frau war selig.
Er saß hinterm Lenkrad und starrte ins Nichts. Er spielte alle Verläufe durch, die jetzt möglich waren. Kempowski würde reden, das Mädchen würde reden, der im Jeanskostüm würde reden. Er würde lügen. Lügen machten die Dinge kompliziert. Er hatte keine Angst vor Komplikationen. Er mochte nur die Menschen nicht, die Komplikationen nicht gewachsen sind. Der Marchese stieg wieder aus.
»Sind Sie wahnsinnig, Mann! Was treiben Sie denn hier?«
Er sah aus, als würde er in einem Fell aus Jeans stecken. Noch nie hatte sich der Marchese von dieser Mode so abgestoßen gefühlt.
Und was er sagte, passte dazu wie die Faust aufs Auge. Er sagte: »Was? Ja, äh …«
Zu diesem Zeitpunkt stand der Marchese dicht vor ihm. Jetzt sah er erst, wie mager der Bursche war. Er war auch jünger, als er gedacht hatte. Anfang dreißig, höchstens. Er war blond, ein kraftloses Blond.
»Jetzt kommen Sie schon«, sagte der Marchese und ergriff eine der beiden Taschen. Sie war schwer, viel zu voll gepackt für die dünnen Griffe.
»Was wollen Sie«, sagte der Blonde alarmiert.
»Wo steht Ihr Wagen?«
»Woher wissen Sie, dass ich einen Wagen habe?« Noch alarmierter.
Der Marchese starrte ihn an. Dieser Dieb konnte nicht vom Planeten Erde stammen, mit dieser Dummheit hätte er nicht das schulpflichtige Alter erreicht.
»Verstehe«, sagte der Blonde zufrieden, »Sie bluffen nur.«
Er packte die zweite Tasche und starrte verdutzt auf den abgerissenen Griff.
»Scheiß Tasche«, sagte der Dieb. »Halten nichts mehr aus heutzutage.«
Immerhin packte er jetzt endlich zu. Die schwere Tasche mit beiden Armen umklammert haltend, folgte er dem Marchese Richtung Hinterausgang. Einen Moment erwog der Marchese die Variante, den Amateur auszuliefern. Linkerhand, wo es zu den Golfplätzen ging, stand eine Gestalt. Kempowski in seinen Hochwasserhosen. Der Marchese wandte sich nach rechts, der Blonde folgte ihm und lief auf, als der Ältere stehen blieb.
»Der Wagen«, sagte der Marchese, ohne sich umzudrehen.
»Mir nach«, sagte der Blonde und lachte, als würde es sich um eine Schnitzeljagd handeln.
Er stand neben dem Lexus, ein giftgrüner Passat, 15 Jahre alt, ungepflegt, schmutzig, bis auf die Nummernschilder. Die sahen aus wie geleckt. Der Blonde öffnete den Kofferraum, er war unverschlossen.
Als er den Blick des Marchese bemerkte, sagte er: »Das mache ich immer so. Hier klaut doch sowieso keiner.«
Im Kofferraum fehlte eine verweste Leiche. Sonst enthielt er alles, was unappetitlich ist und auf einen Besitzer hinweist, der sein Leben nicht unter Kontrolle hat.
»Lassen Sie mich raten«, sagte der Marchese, »der Reservekanister ist leer.«
»Falsch geraten«, sagte der Blonde und schüttelte den orangeroten Plastikbehälter. Und als der Marchese dachte, dass nichts mehr kommen würde, sagte er: »Ist allerdings Diesel drin. Ich fahre einen Benziner.«
»Sicher haben Sie einen Grund dafür, Treibstoff spazieren zu fahren, der Ihnen nicht hilft.«
»Mit der Masche habe ich schon zwei geile Frauen kennen gelernt. Liegengebliebene. Ich meine, sie sind liegengeblieben beziehungsweise stehen geblieben, während der Wagen …«
Der Marchese wollte es hinter sich bringen. Er wuchtete die Flaschentasche in den Kofferraum und hätte sich nicht gewundert, wenn der Boden durchgebrochen wäre.
Rücksichtslos knallte der Blonde seine Tasche daneben.
Der Marchese ergriff die oben liegende Flasche, einen 88er Burgunder.
»Wollen Sie diese Flaschen etwa in Ihrer Rostlaube durch die Gegend fahren?«
»Geile Tarnung«, sagte der Blonde strahlend.
»Mann, wir kriegen Frost, Temperaturwechsel sind Gift für den Wein.«
»Bei mir hat er es schön warm und gemütlich«, sagte der Blonde. »Die Heizung funktioniert 1a.«
Er machte Anstalten, alles wieder herauszuholen, um es auf den Rücksitz zu packen. Der Marchese wandte sich dem Hotel zu.
»Wollen Sie etwa zurückgehen«, fragte der Blonde.
»Der Dieb von uns beiden sind Sie. Schon vergessen?«, konterte der Marchese.
Er war zehn Meter weit gekommen, als er das Geräusch hörte. Blech auf Blech. Giftgrün auf Gold. Der Kopf des Marchese sank tiefer zwischen die Schultern. Obwohl er nicht neugierig darauf war, drehte er sich um und wurde Zeuge, wie der Blonde im panischen Bemühen, endlich von dem Lexus wegzukommen, das Lenkrad falsch einschlug und nunmehr in spitzem Winkel gegen das Nobelgefährt fuhr.
Der Marchese saß am Steuer seines eigenen Wagens, rangierte rückwärts und sah das verwarzte Heck des Passats auf sich zukommen. »Verpiss dich, du Strolch!« hörte er eine Stimme rufen, von der er diese Worte nicht erwartet hätte. Er schlug den Vorwärtsgang hinein, der Passat verfehlte ihn knapp, mit dem Bild eines giftgrün zerkratzten Lexus vor Augen verließ der Marchese den Parkplatz.
Die Gabel stieß zu und traf das Würstchen in der Mitte. Im Zusammenspiel mit dem Sauerkraut öffnete sich ein weiter Geschmackshorizont, die gelungene Verbindung aus Bodenständigkeit und Phantasie. Deftig, aber nicht plump. Genau das Richtige auf den Schreck.
Als er der Kellnerin seinen Wunsch mitteilte, zögerte sie einen Moment. Augenblicklich stand der Patron neben dem Tisch und erkundigte sich, wie die Würstchen angekommen seien. Kein Wort über den Wunsch des Gasts, den Hauptgang gegen die Rahmsuppe von grünen Bohnen mit ausgelösten dünnen Scheiben vom Spanferkeleisbein zu tauschen.
»Ich habe meinen Appetit überschätzt«, sagte der Gast, nicht entschuldigend, nur zur Erklärung. Der Patron lächelte, nicht gönnerhaft, sondern auf gleicher Augenhöhe. Die Kellnerin verließ den Tisch, sie war zu jung, um die Sprache, die die Männer miteinander verband, zu verstehen.
Am Tisch ging es dann um den 2000er El Vinculo Crianza. Längst saß der Patron am Tisch, ein zweites Glas stand bereit, und der Gast sagte: »Vor zehn Jahren hätte ich Probleme gehabt, La Mancha ernstzunehmen. Zu viel Fläche, zu wenig Liebe.«
»Aber nur das ist der Reiz«, sagte der Patron und ließ den Wein im Glas kreisen. »Bordeaux und Burgunder und die Kalifornier langweilen mich. Ich will Entdeckungen machen. Wein lebt, er verändert sich, er bekommt Geschwister, und manchmal stirbt eine Linie aus – oft leider erst nach langer Krankheit, die viele von uns am Krankenbett schmerzhaft miterleben. Aber dann triffst du einen neuen Bekannten, manchmal überwindest du eine alte Abneigung, die jahrelang durchaus angebracht war.«
»Und wenn der Spaß dann noch bezahlbar bleibt«, sagte der Gast.
»Zur Kalkulation gehören nicht nur die Betriebskosten«, sagte der Patron, als er mit der zweiten Flasche zurückkehrte. »Ich will, dass der Gast wiederkommt. Ich hab’s einfach gern, wenn ich bei den Leuten in der Erinnerung bleibe. Die Erinnerung vergoldet so schön, da kommt das banale Leben nicht mit.«
Darauf stießen sie mit dem zweiten Wein von Alejandro Fernandez an. Der Gast lobte den Wein und verhehlte trotzdem nicht seine Skepsis gegenüber Eichenholz.
Das Gasthaus atmete, wenngleich in der Mitte des Landes gelegen, schon viel von der süddeutschen Klassenlosigkeit. Zwei Räume, der hintere für die Auswärtigen, vorne an der Theke saß, wer nur auf ein Bier hereinschaute. Der uniformierte Polizist trank, wie sich das gehörte, Kaffee. Der nächste Gast trug ebenfalls Uniform, der Polizist blieb in der Eingangstür stehen, der Kollege an der Theke suchte in seinen Taschen so lange nach Hartgeld, bis der Kellner den Kopf schüttelte.
»Fahrt vorsichtig«, rief der Patron hinüber.
»Wir fahren vorsichtig«, rief der Polizist von der Tür. »Aber die Rostlaube nicht.«
»Wo hat’s denn geknallt?«
»Hinterm Bauernwäldchen. Da wird es ja gern mal glatt.«
Der Gast bat um die Rechnung und war nicht zu einem Dessert oder Schnaps zu bewegen.
Er sah den Wagen schon von weitem. Das penetrante Grün biss alle anderen Farben aus dem Weg. Ein Streifenwagen, ein Krankenwagen. Aber der parkte einige Meter entfernt, kein Licht drehte sich, und die Sanitäter sahen nicht so aus, als ob Arbeit für sie im Wagen eingeklemmt wäre oder auf dem Waldboden lag.
Der Marchese fuhr am Passat vorbei. Er war in den Graben gerutscht und dann von einem Baum gestoppt worden. Der Kühler war zerdrückt, die Fahrerkabine sah intakt aus. Der Kofferraum war aufgesprungen.
Er stellte den Wagen in einen Waldweg, die Schnauze zur Straße. Die Dunkelheit fiel vom Himmel wie ein Tuch.
Schlagzeug und Basss trieben sich voreinander her. Das Klavier machte Dienst nach Vorschrift. Etwas mit vier Beinen stand im Rückspiegel und beobachtete aufmerksam den Wagen. Hinter ihm überquerten acht oder zehn kleine Vierbeiner den Weg. Im Gasthaus hatte Wildschweinbraten in der Kruste auf der Karte gestanden.
Zwei Stunden später fuhr der Wagen an. Der Graben war leer, die Scheinwerfer trafen auf die Stelle am Baum, wo die Rinde abgeschält worden war. Wenn ein anderer Wagen auffuhr, schaltete er das Warnlicht ein, damit der andere problemlos überholte. Zweimal wiesen Schilder auf Orte hin, deren Namen er nicht kannte. Er blieb auf der Bundesstraße, wendete, fuhr mit Warnlicht zurück, wendete, bog in den Weg.
Diesmal keine Musik, nur Stille. Das Fenster glitt herunter. Autogeräusche, die durchs Schwarze fuhren. Keine Sterne.
Er hörte ihn lange, bevor der andere dachte, dass man ihn hören konnte. Es wurde ruhig, dann knackten Äste auf der anderen Seite.
Der Marchese sagte: »Wie lange willst du das Spiel noch spielen?«
Als er neben ihm saß, sagte er: »Wie konnten Sie mich bemerken?«
»Ich habe Indianer in der Familie.«
Der Blonde beugte sich nach hinten. Als der Marchese die Flasche sah, fragte er:
»Und was soll das werden, bitte schön?«
»Haben Sie mal einen Korkenzieher? Zur Not mache ich’s auch mit dem Finger.«
»Wenn Sie aus der Flasche trinken, steigen Sie aus.«
»Ich verschütte schon nichts. Ich trinke nicht zum ersten Mal aus der Fla … Heh! Warum halten Sie?«
»Raus!«
»Aber wieso?«
»Nicht aus der Flasche.«
Der Blonde suchte nach einem Zeichen, dass der Ältere einen Scherz gemacht hatte. Er fand nichts.
»Okay, okay«, sagte er beschwichtigend. »Was soll ich denn jetzt trinken?«
»Sie sollen gar nichts trinken.«
»Aber ich habe Durst. Ich sterbe.«
»Schon mal daran gedacht, Ihre Gelüste zu beherrschen?«
»Dran gedacht schon. Aber nie gemacht. Ich bin doch nicht blöd.«
Einige Minuten herrschte Ruhe. Gelassen zog der Wagen seine Bahn.
»Wo fahren wir hin«, fragte der Blonde.
»Nach Norden.«
»Nach Norden? Wieso nach Norden? Ich will nicht zu den Fischköppen.«
»Wo wollen Sie denn hin? Zu den Teigtaschen?«
»Ich muss nach Berlin.«
»Wartet da ein Korkenzieher auf Sie?«
Es dauerte jedes Mal quälend lange, bis sich die Bedeutung des zuletzt Gesagten zwischen den Ohren des Blonden zurechtfand.
Dann bekam er zum Durst auch noch Hunger.
»Ich habe schon gegessen«, sagte der Marchese.
»Dann gucken Sie eben zu. Da vorne! Halten Sie! Da ist ein Imbiss.«
Schaudernd blickte der Marchese auf die angebrannten und geschrumpelten Würste. Er roch verbrauchtes Fett und bemühte sich, die Parade der Flachmänner zu ignorieren.
»Geil«, sagte der Blonde händereibend. »Sie müssen mir was leihen.«
»Wieso sollte ich Ihnen Geld leihen?«
»Weil ich keins habe und weil ich mir denke, es wäre Ihnen nicht recht, wenn ich mit einer Weinflasche bezahle.«
Der Blonde bestellte eine Riesencurry rotweiß mit zweimal Pommes und zweimal Cola. Als der Mann an der Fritteuse fragte »voll oder light«, schüttelte sich der Blonde und fragte: »Sehe ich aus, als ob ich was am Kreislauf habe?«
Nein, dachte der Marchese. Du siehst aus, als hättest du was am Großhirn. Der Mann an der Fritteuse, der auf etwas Undefinierbarem herumbiss, blickte ihn auffordernd an.
»Einen Kaffee vielleicht«, sagte der Marchese unschlüssig. Als er die Kanne sah, fragte er: »Wie lange steht der Kaffee da schon?«
»Welches Datum haben wir heute?« Mit dieser Frage hatte der Imbissmann in der Vergangenheit viel Freude verbreitet. Der Marchese nahm eine Flasche Mineralwasser.
Schweren Herzens gestattete der Marchese, dass der Blonde den Fraß im Wagen verzehrte. Es würde Tage dauern, um den Gestank aus den Sitzen zu bekommen. Aber er wollte vermeiden, dass der Imbissmann zu oft zu ihnen hinüberblickte und sich Gedanken machte. Sie waren die einzigen Gäste.
»Schmeckt geil. Probier doch mal«, sagte der Blonde und hielt dem Marchese ein Stäbchen hin.
»Nein danke. Ich esse keine Pommes.«
»Habe ich mir irgendwie schon gedacht. Was essen Sie denn so? Kaviar?«
»Ja, bisweilen esse ich auch Kaviar.«
Die Frage war als Witz gemeint gewesen. Umso verdutzter fiel der Blick des Blonden aus.
»Habe ich auch schon gegessen«, sagte er großspurig. »Schmeckt nur nach Salz.«
»Ich wusste, dass Sie das sagen werden.«
»Ach ja? Was wissen Sie denn noch über mich?«
»Ich weiß, dass Sie ein kleines Licht sind. Verraten Sie mir, wie Sie auf die Auktion verfallen sind.«
»Was für eine Auktion? Ich weiß von keiner Auktion.«
»Die Wein-Versteigerung im Hotel.«
»Ich habe gar nicht gewusst, dass man Wein versteigern kann. Ich kenne nur Viehauktionen. Kühe und Schweine. Und Pferde.«
»Sie sind in der Welt herumgekommen, wie?«
»Na ja«, sagte der Blonde geschmeichelt. »Da kommt schon einiges zusammen. Mallorca, Sylt, Dänemark, Schwarzes Meer.«
»Alles mit dem Passat?«
»Das meiste. Bis auf Mallorca natürlich.«
»Natürlich.«
Der Marchese sah zu, wie der andere aß. Er musste völlig ausgehungert sein, schlang nur, kaute kaum.
»Ich habe auch einmal Pommes gegessen«, sagte der Marchese plötzlich.
Der andere grunzte nur.
»In Belgien. Wenn Sie gute Kartoffeln essen wollen, müssen Sie nach Belgien fahren.«
»Gibt’s da Strand?«
»Pardon?«
»Ich meine, haben die Strand da, die Kartoffelfresser? Weshalb soll ich sonst nach Belgien fahren?«
»Da haben Sie natürlich Recht.«
»Ich bin nämlich jung. Ich will was haben vom Leben. In die Berge kann ich auch noch fahren, wenn ich Rentner bin. Ich heiße übrigens Rico. Meine Freunde nennen mich Rikki.«
»Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde mehr.«
»Ich dachte nur.«
»Was dachten Sie?«
»Na, weil wir doch nun ein Team sind …«
»Erstens: Wir sind kein Team. Wir kennen uns gar nicht. Zweitens: Ich habe es nicht mit dem Duzen. Drittens: In zwei Stunden steigen Sie aus, und wir werden uns nie wieder sehen.«
»Schade.«
»Was ist daran schade?«
»Ich dachte nur, Sie wollen vielleicht Ihr Geld wiederhaben.«
»Betrachten Sie sich als eingeladen.«
»Geil. Ich nehme noch eine Cola. Sie wollen wahrscheinlich keine?«
»Sie lernen schnell.«
»Logisch. Rikki, die Rakete haben sie mich früher in der Schule genannt. Wo die anderen hingingen, kam ich schon zurück.«
Der Marchese fuhr an und hielt 100 Meter weiter vorne.
»Hey, was wird das«, rief Rikki alarmiert?«
»Was glauben Sie denn, was das werden könnte?«
»Ich denke, dass du mir vielleicht an die Wäsche gehen willst. Du gibst mir ein Essen aus, und dafür hole ich dir einen runter. So geht das doch zu bei euch.«
Der Marchese starrte den anderen an. Dann stieg er aus und verstaute die Flaschen aus den Taschen in die Schränke. Staunend stand Rikki daneben. »Einen Kühlschrank im Wagen habe ich ja schon gesehen. Aber eine ganze Batterie … Wahnsinn. Handeln Sie mit den Dingern?«
»Das Autofahren ist Gift für den Wein. Zu Hause braucht er einige Tage Ruhe.«
»Wahnsinn! Warum das denn?«
»Weil sich der Geschmack verbessert.«
»Wenn er kein Auto fährt, schmeckt er besser?«
»Ist daran irgendetwas komisch?«
»Eigentlich nicht. Eigentlich doch. Ach, was weiß ich. Was kümmert mich schon Wein.«
Der Wagen fraß sich in die Dunkelheit. Seit einiger Zeit waren sie auf der Autobahn. Wenig Betrieb, ständiger Regen.
»Für einen Lieferwagen fährt das Ding astrein«, sagte Rikki.
»Streng genommen handelt es sich nicht um einen Lieferwagen.«
»Wieso das denn? Sieht doch wie ein Lieferwagen aus? Ich kannte mal einen Klempner, der hatte genau diese Kiste.«
»Hatte seine Kiste acht Zylinder, vier Liter Hubraum und 230 PS?«
»Das ist jetzt ein Scherz oder?«
Der Marchese schwieg. Andächtig strich Rikki über die Armaturen. »Sieht man ihm gar nicht an. Hätte ich auch gern«, murmelte er. »Hat nicht so gut geklappt bei mir in letzter Zeit. Wird wieder besser, logisch. Kann nur besser werden.«
»Sie sind also ganz unten.«
Spontan wollte er aufbegehren, den Überflieger markieren, denjenigen, der nur Lösungen kannte und keine Probleme. Er nippte an der Cola, die zwischen seinen Beinen stand. Der Marchese ließ den Dosenhalter ausfahren. »Ja, Wahnsinn«, sagte Rikki. »Da weiß man doch, wofür man sich krumm legt.«
Der Marchese kannte die Geschichte schon, bevor Rikki sie erzählte. Er hatte diverse Rikkis kennengelernt. Einige hatten Jeans getragen, einige Leder, einer einen Anzug, angeblich einem spanischen Adeligen in einer Gasse in Marseille ausgezogen, bevor er ihn in den Müllcontainer gesteckt hatte, den Adeligen, nicht den Anzug.
Rikki Benedikt, einer der ersten, die seinerzeit über Ungarn aus der DDR rausgekommen waren. Dafür hatte er alles hinter sich gelassen, Schule, Familie, überschaubare Welt. In den ersten acht Wochen nur gesoffen und gevögelt und danach Prügel bezogen, als ihm die neuen Westfreunde klar gemacht hatten, dass im Westen für das Vergnügen bezahlt wurde. Zwei Vorstrafen, ein Unfall mit Fahrerflucht, er wusste heute noch nicht, was er damals überfahren hatte. Es war kleiner gewesen als ein Bassketballspieler, aber größer als eine Katze, und es hatte sich nicht bewegt, wie es da auf der Straße gelegen hatte. Zweimal verlobt, beim erstenmal hatte ihn sein Nachfolger mit dem Kopf gegen die Hauswand geschlagen, beim zweitenmal hatte er der Frau in den schwangeren Bauch getreten. Acht Ortswechsel, vier Autos, darunter ein Camaro, von dem träumte er noch heute manchmal. Dutzende von Jobs, Handlanger auf dem Bau, Gartenarbeiten im Nobelvorort, Verhandlungen mit der Polizei über einen Job als V-Mann. Die Verhandlungen waren gescheitert, angeblich war er nicht intelligent genug, zu wenig Durchhaltevermögen. Im Suff einen Streifenwagen zerkratzt, eine Nacht in der Ausnüchterungszelle. Zwei Beamte hatten sich dabei abgewechselt, ein Telefonbuch auf seinem Körper zu zerschlagen. Hamburg, A bis K, 1100 Seiten. Er hatte die Schläger angezeigt. Beide waren freigesprochen worden. Rikki hatte ihrem Anwalt noch im Gerichtssaal mitgeteilt, dass er ihn im Auge behalten würde. Danach die große Liebe, Mona, gelernte Friseuse, Bedienung in der Kleinstadt-Diskothek mit Hang zu Männern mit großen Autos. Rikki nahm einen Kredit auf, übersah das Kleingedruckte, weil es so viele Seiten Kleingedrucktes gab. 22 Prozent Zinsen und ein Inkassobüro, das keinen Spaß verstand und keinen Kaffee annahm, als sein Abgesandter vor der Wohnungstür stand, der lieber das Geschirr zerschlug und Rikki Fotos von anderen Schuldnern angucken ließ – vor seinem Besuch und hinterher. Rikki hatte viel gekotzt an diesem Tag.
Mona war für ihn nicht mehr zu sprechen gewesen, in einer Pokernacht bis elf Uhr vormittags hatte er einen verwarzten Passat gewonnen, in dem er seitdem die Nächte zubrachte, seit acht Monaten.
»Das nennt man wohl krisenhafte Zuspitzung«, sagte der Marchese.
»Ich nenne das Formtief«, sagte Rikki. »Muss nur wieder in Form kommen. Ich stemme Gewichte, jedenfalls habe ich bis vor kurzem Gewichte gestemmt …«
»Nicht billig, diese Fitnessklubs.«
»Wem sagen Sie das?«
»Also, musst du nehmen, was du kriegen kannst.«
»So sieht das aus. Ein Kumpel hat gesagt, Hotels sind gut, weil da viele fremde Gesichter rumlaufen und weil sie nicht auf jeden achten können. Mache ich also Hotels. Rein ins Zimmer, raus aus dem Zimmer.«
»Aber guter Mann, das vorhin, das waren fünf Sterne. Und Sie in Ihrer Aufmachung …«