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In Norbert Klugmanns erstem Krimi im Silberburg-Verlag erschüttert ein Toter in der Schlossgruft das beschauliche Badenweiler. Kaum ist Amadeus Graf Wolffheim, Spross eines alten Badenweiler Adelsgeschlechts, nach zwanzig Jahren an den Oberrhein zurückgekehrt, findet er im Kellergeschoss des halb verfallenen Familiensitzes eine sorgfältig verpackte Leiche. Der Tote, eine verkrachte ortsbekannte Künstlerexistenz, war mindestens so unbeliebt wie untalentiert. Doch das ist nicht das einzige, was die Bäderstadt in diesen Tagen umtreibt. Denn Badenweilers Vorzeigebetrieb, dem allseits geschätzten Kosmetikhersteller "Deine", steht das 150-Jahr-Jubiläum ins Haus. Und bald fragt sich nicht nur der smarte Graf, wer hier eigentlich die Leichen im Keller hat ...
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Seitenzahl: 393
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Norbert Klugmann
Ein Baden-Württemberg-Krimi
Norbert Klugmann wurde 1951 in Uelzen (Niedersachsen) geboren. Er studierte in Hamburg Soziologie, Psychologie und Pädagogik und arbeitete journalistisch unter anderem für das ZEITmagazin. Als Buchautor veröffentlicht er seit den achtziger Jahren unter anderem Kriminalromane, historische Romane, Jugendromane. Von den gemeinsam mit Peter Mathews geschriebenen Krimis wurde »Beule« und »Vorübergehend verstorben« für das Fernsehen verfilmt. Klugmann lebt in Hamburg.
© 2012 by Silberburg-Verlag GmbH,Schönbuchstraße 48, D-72074 Tübingen.Alle Rechte vorbehalten.Covergestaltung: Christoph Wöhler, Tübingen.Coverfoto: © Juanmonino – iStockphoto.Lektorat: Michael Raffel, Tübingen.
E-Book im EPUB-Format: ISBN 978-3-8425-1518-5E-Book im PDF-Format: ISBN 978-3-8425-1519-2Gedrucktes Buch: ISBN 978-3-8425-1189-7
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Die Gestalt nahm die Tasche von der einen Hand in die andere. Die Straße stieg an, es war nicht dramatisch, aber sie war nicht erst seit zehn Minuten unterwegs. Sie blieb stehen. Eine Zeitlang war der Geräuschpegel gleich, dann näherten sich Schritte, aus der Dunkelheit schälten sich Silhouetten heraus, Frauenstimmen, Männerstimmen, die Frauen lauter, die Witze ordinärer. Sie fürchteten, die Abzweigung zu ihrer Pension verpasst zu haben. Ihnen war warm vom vielen Essen und vielen Trinken. Plötzlich schrieen die Frauen auf und verfluchten einen Mann und sein Gefurze. Irgendwer jagte irgendwen, Kreischen, gute Laune, die Euphorie von Gästen mit Vier-Tage-Arrangements. Die Gestalt setzte ihren Weg fort.
Das schmale Haus mit den beiden erleuchteten Fenstern lehnte sich an die Mauer, die die Grenze zum weitläufigen Nachbargrundstück bildete. Die Mauer war höher als ein erwachsener Mensch und nicht mehr neu. Das Tor war geschlossen, Stäbe aus Eisen hielten den Blick aufs Ensemble dahinter nicht auf. Das Haupthaus, in der Dunkelheit nur zu erahnen, ragte drei Geschosse in die Höhe, zum Eingang führten breite Stufen. Links ein Gebäude für Fahrzeuge, rechts, nach hinten versetzt, die Ställe. Dahinter die Scheune und der Anbau, von der Straße nicht zu sehen.
Mit den Fingern der linken Hand fuhr die Gestalt die Initialen am Tor nach: ein Kreis in der linken Torhälfte, einer in der rechten. Ein G und ein W, von denen der Fingernagel Farbe kratzte.
Sie umrundete das Hauptgebäude und stand vor der Nebentür. Verrostet, verschmutzt, lange nicht gebraucht. Die Gestalt lehnte sich gegen die Tür und stieß sie mit der Schulter auf. Es war, als würde die Tür einen Schrei ausstoßen.
Das Feuerzeug begann zu brennen. Einen Raum nach dem anderen durchquerte die Gestalt. Kein Raum war vollständig möbliert und keiner leer. Überall schälte die Flamme Möbel aus dem Schwarz: Sofas, Sessel, Anrichten, Regale. Das Bild hing schief. Von einem anderen Bild war der zerschlagene Rahmen übrig geblieben. Die Kaminöffnung, die Eisen fürs Befeuern des Kamins, ein Tisch mit Stühlen, von denen einer auf dem Rücken lag. Die Fenster sahen aus wie Wunden in der Wand, zwei Scheiben waren kaputt, eingeworfen oder eingeschossen. In die Küche warf die Gestalt nur einen Blick.
Sie fand Papier und zertrat das Holz des Rahmens. Es wurde hell im Kamin, wärmer wurde es nicht. Ein Sessel wurde gerückt, der kleine Tisch ging auf Wanderschaft, der Plattenspieler war heil, was für eine Überraschung. Fünf oder sechs Schallplatten, die Wahl fiel leicht. Ein grünes Licht, Vinyl begann sich zu drehen. Zartes Vorspiel der Orgel, dann zogen Schlagzeug und Bass andere Saiten auf.
Der Mann im Nebenhaus erschrak noch mehr als die Frau. Angestrengt blickten sie auf den Bildschirm, wo ihnen ein aufgedrehtes Paar 24 Tiegel Nachtcreme zum Sonderpreis anbot.
Der Mann sagte: »Er ist wieder da.«
Die Frau stand auf und schlug zu, vierzehnmal. Danach hatten alle Kissen einen Knick.
Die Gestalt zuckte zusammen. Ein Fuß stieß gegen die leere Flasche, mit dunklem Geräusch rollte sie auf dem Parkettboden. Immer noch waren Wolken am Himmel, aber der Mond bekam seine Chance, es war hell genug, um zu sehen, wer für die Bewegung im Garten verantwortlich war. Eine Frau kniete auf dem Boden, es sah aus, als würde sie etwas suchen. Eine zweite stand in der Nähe.
Plötzlich spürte die kniende Frau den Lauf in den Nieren. Eine Männerstimme sagte leise: »Peng.«
Ohne Aufregung sagte die Frau: »Jetzt bin ich aber zu Tode erschrocken.«
Die andere Frau stand aufmerksam und wartete ab, wie sich die Sache entwickeln würde.
Der Mann sagte: »Beim letzten Mal hat sich der Spitzbube mächtig erschrocken.«
Die Frau erhob sich, der Mann sah die Sichel.
»Sie haben das beim letzten Mal nicht bei mir versucht. Sonst wäre Ihre Stimmlage jetzt höher.«
Pantomimisch führte sie einen Streich mit der Sichel aus, der Mann wich zurück. Sie standen sich gegenüber, die Frau mit der Sichel und der Mann mit der Flasche.
Ohne sich zu bewegen, sagte die zweite Frau: »Bevor wir einen Fehler machen, den wir hinterher bedauern, sollten wir uns vorstellen. Ich bin Verena Bittermann und komme in friedlicher Absicht.«
Die Frau mit der Sichel lachte: »Friedliche Absicht! Das haben die Indianer gehört, bevor sie massakriert wurden.«
»Amadeus von Wolffheim.«
Die Sichelfrau stieß einen Pfiff aus. »Gut gebrüllt, Löwe, aber schlecht gelogen. Das Anwesen, auf dem wir stehen, gehört dem Grafen. Er ist vor zwanzig Jahren verschwunden und nie wieder aufgetaucht.«
»Das ist richtig, bis auf den Schluss. Denn heute Nacht ist er doch noch aufgetaucht.«
»Können Sie sich ausweisen?«
Verdutzt starrten die Streithähne die abseits stehende Frau an.
»Wen haben Sie denn da mitgebracht?«, knurrte der Mann.
»Sie dürfen ihr das nicht übelnehmen. Sie ist bei der Polizei, da redet man so. Ich bin Emma Polt. Mal gehört? Aber Sie sind wohl nicht auf dem Laufenden.«
Die Stimmlage wurde freundlicher, die Körper verloren das angespannt Lauernde. Beide Frauen waren jünger als Amadeus. Freundinnen, die sich in den letzten Jahren aus den Augen verloren hatten. Die Kommissarin hatte mehrere Jahre im Osten verbracht. Die baltischen Republiken brauchten Hilfe beim Aufbau ihrer Polizeikräfte. Vor einem halben Jahr war sie nach Deutschland zurückgekehrt, sie arbeitete und wohnte in Freiburg.
Emma Polt arbeitete längst wieder mit der Sichel. »Das ist der beste Standort in der Stadt. Sie können stolz darauf sein.« Und nach einer Pause: »Sie sind wirklich der Graf? Ich dachte – entschuldigen Sie, aber ich dachte, die Sippe ist ausgestorben.«
»Na ja, eine Volksbewegung sind wir nicht. Aber einige Exemplare leben noch und führen ein zurückgezogenes Leben in den Wäldern.«
»Und wann genau sind Sie zurückgekommen?«
»Wie spät ist es? Halb drei? Dann vor fünf Stunden.«
»Das ist witzig«, sagte Emma. »Dann sind wir ja die ersten Menschen, denen Sie begegnen. Passen Sie auf, jetzt sind Sie geprägt auf uns und kommen nicht mehr von uns los.«
»Sie haben so eine Art, einem Angst einzujagen.«
»Die Sichel jagt Ihnen Angst ein. Sie stellen sich dauernd vor, was man mit einer Sichel anstellen kann. Und dann zieht sich alles zusammen.«
Amadeus wurde bewusst, dass er den Frauen nicht erlaubt hatte, mit ihrer seltsamen Ernte im Dezember fortzufahren. Aber nun hatte sich das erledigt.
Er wandte sich zum Haus.
Emma sagte: »Bevor Sie anfangen, hier alles plattzuwalzen, will ich gefragt werden. Die Kräuter stehen unter meinem persönlichen Schutz.«
»Was sind Sie? Eine Köchin, nehme ich an.«
»Keine Köchin.«
»Was dann? Eine Hexe?«
»Genau. Nur dass man mich heutzutage anders nennt.«
»Und wie?«
»Hebamme.«
Zwanzig Minuten vor dem verabredeten Termin hätte er am liebsten abgesagt. Zwanzig Jahre in vier Stunden, das konnte nicht gelingen.
In Badenweiler war viel passiert, Architekten und Stadtplaner schliefen nicht. Er betrat ein neues Kurviertel. Man hatte viel Geld ausgegeben, edel war es geworden. Die Therme ein Schmuckstück, Sanatorien und Kliniken, die nicht den Kassenpatienten im Blick hatten. Hier stiegen der Privatpatient und der Selbstzahler ab. Die Parkplätze sprachen eine deutliche Sprache, selbst im Dezember stand Audi neben BMW und Daimler. Viele Schweizer Kennzeichen.
Er war kurz davor, alles abzublasen, und kniff dann doch nicht. Er wollte sich nicht verstecken. Zwanzig Jahre in vier Stunden. Vielleicht war er der Einzige, der sich diesen Abend schwermachte. Vielleicht freuten sich alle anderen ohne Verstellung und Verrenkung auf das Wiedersehen mit ihm.
Am Eingang trat er einem Mann in die Hacken, der regte sich auf und stutzte, guckte genau hin. Sie umarmten sich; Weinhändler Ruprecht roch nach Kork und ließ Amadeus nicht mehr los. So legte er die letzten Meter, vor denen er sich gefürchtet hatte, lachend zurück; als er wieder zu Atem kam, saß er am großen Tisch und begrüßte einen nach dem anderen. Alle waren erschienen; nicht mit jedem war die Zeit im gleichen Maße gnädig umgegangen, aber keiner wirkte krank oder verkniffen. Natürlich herrschte zuerst ein großes Durcheinander. Viele Fragen wurden gestellt und nicht beantwortet, es ging kreuz und quer über den Tisch. Rena, die Zahnärztin, sah mit den Falten um die Augen attraktiver aus als zu der Zeit, wo sie die reizende Leere eines Cheerleaders ausgestrahlt hatte. Ruprecht war derselbe Großkotz wie beim Abiturball. Man hatte immer noch die Wahl: den Kerl erschlagen oder warten, bis ihn die Trunkenheit vermenschlichte. Hebamme Emma war ohne ihre Sichel erschienen, aber die Tasche stand in Griffweite, denn im Nachbarort atmete eine Frau ihrem großen Moment entgegen. Emma hatte die Kommissarin mitgebracht, worum Amadeus ausdrücklich gebeten hatte.
Die Altersdifferenz am Tisch war gering. Emma mit nicht viel über dreißig war die Jüngste, alle anderen stammten aus zwei Jahrgängen, Amadeus hatte vor zwanzig Jahren mit dem Weinhändler Abitur gemacht. Dessen Vater hatte vor kurzem das Geschäft übergeben, um seitdem zweimal am Tag im Laden vorbeizuschauen und den Filius zur Weißglut zu treiben.
Man war über zahlreiche Stränge verbunden: Schule, Nachbarschaft, Freunde, der Fechtverein, das Schloss der Wolffheims, Abenteuerspielplatz nicht nur für kleine Kinder. Pubertierende fanden hier elternfreie Räume; Liebespaare konnten ungestört für sich sein; hinter den Maschinen für die Bearbeitung von dreißig Hektar Land übte die Rockband; im Pferdestall tagte die Schülerzeitung und wurde auf der alten Maschine gedruckt. Hier tauchten die Nachwuchsstars der politischen Parteien auf, um den heranwachsenden Grafen für ihre Farben zu gewinnen. Hier verabredete sich Julia mit Markus, der sich zeitgleich mit Katinka verabredet hatte, was die Mädchen zu einem Liebespaar zusammenschmiedete, was Markus nie verwand und alle heute noch zum Lachen brachte.
Sie waren einer der letzten Jahrgänge vor Internet und Handy gewesen. Sie hatten sich noch persönlich getroffen und Bücher gelesen. Die Jugend von heute nannten sie »arme Technikwürste« und kamen sich dabei herrlich alt vor.
Vor dem Dessert tauchte der Lokalredakteur auf. Er schrieb für die Badische Zeitung, der Fotograf hatte kurzfristig abgesagt. Um das Porträt im Blatt würde Amadeus nicht herumkommen, nicht bei seinem Namen und seiner Vergangenheit und der Vergangenheit seiner Familie. Heute Abend und morgen würde ihm der Redakteur nicht von der Seite weichen. Der Medienmann sah aus wie viele Provinzredakteure: übermüdet, von einem Grauschleier überzogen, ausgestattet mit gutem Appetit. Er zählte die Termine der letzten Tage auf und genoss die mitleidigen Gesichter. Es gab kein Thema, das für die Lokalausgabe zu belanglos gewesen wäre. Die mit 98 Jahre älteste Bewohnerin bekam alle sechs Monate ihren Jubelartikel, denn, wie der Redakteur zwischen zwei Schlucken sagte: »Man muss das alte Eisen schmieden, solange es Stoffwechsel hat.«
Dann stand Barrakuda am Tisch, noch ein neues Gesicht für den Grafen. Niemand blickte ihn erfreut an, aber er schlawinerte so lange, bis Amadeus ihn einlud. Den Redakteur nannte er wohl zehnmal »mein Kollege«, und der Redakteur konterte zehnmal mit den Worten »Niemand will dein Kollege sein.«
Schnell lag das Blatt auf dem Tisch. »Badenheimer Glück«, ein Anzeigenblatt mit großem redaktionellen Teil. Alle vierzehn Tage steckte es in den Briefkästen von Badenweiler, Müllheim und umliegenden Dörfern, genoss einen guten Ruf bei den Geschäftsleuten und verschaffte Barrakuda das erhebende Gefühl, neben seinem Standbein als Betreiber einer Partnervermittlung auch ein weniger anrüchiges Gewerbe zu betreiben.
»Geh weg«, sagte der Lokalredakteur und stieß mit Barrakuda an. Zu diesem Zeitpunkt war es am Tisch schon laut geworden. Amadeus landete neben Emma, holte Atem zum ersten Satz und sah zu, wie sie zu ihrer Schwangeren aufbrach.
Aber bevor sie ging, hielt die Zahnärztin ihre Rede, in der sie den Rückkehrer begrüßte und ihm alles erdenklich Gute für den neuen Start wünschte. Ruprecht war zur Theke gegangen und hatte einen eingewickelten Gegenstand herangetragen. Er reichte ihn der Zahnärztin, sie reichte ihn Amadeus.
Ein Schiff mit Schornstein und Segeln läuft in den Hafen von New York ein. In die rechte Bildseite ragt eine Häuserzeile. Die Striche waren stark und rücksichtslos, der Weinhändler erklärte: »Auf dem Schiff fahren Auswanderer in die Neue Welt. Das Bild ist für den Auswanderer, der in die Alte Welt zurückkehrt. Mach was draus. Wir sind für dich da. Und damit meine ich nicht nur meine tolle Auswahl an preiswerten Weinen. Wenn dir die hiesigen Tropfen zum Hals heraushängen, keiner ist in Lateinamerika besser sortiert.«
Emma brach eilig auf, Amadeus sah ihr hinterher.
»Künstlerpech«, sagte Barrakuda lächelnd, rückte einen Platz auf den Grafen zu und informierte ihn über die letzten lokalen Skandale. Wie den in der Pension, in der sich eine Busladung ukrainischer Gäste und eine Busladung russischer Rekonvaleszenten als Angehörige der Mafia und der Polizei herausstellten und den schockierten Pensionsbesitzern demonstrierten, dass deutsche Wertarbeit nicht für die Ewigkeit ist, wenn man lange genug mit einem Stuhlbein draufschlägt. Die Versicherungen hatten den Schaden auf 200 000 Euro beziffert. In der Eile hatten die bei Nacht und Nebel aufbrechenden Gäste aus dem Osten ihre Busse verwechselt, was niemand mehr bedauerte als die Busfahrer. Zwei Autobahnraststätten weiter war die Sache geradegezurrt worden. Diesen Schaden hatten die Versicherungen auf 120 000 Euro beziffert.
Die Kommissarin berichtete über Freiburg, wo Bett und Schreibtisch standen. Sie trug keinen Schmuck und wirkte sehr privat. Aber die berufsmäßige Fragenstellerin brach sich doch Bahn: »Ich habe mich gewundert, dass im Schloss noch Strom fließt.«
»Ich wundere mich, dass Sie das wissen. Sie waren doch nicht drinnen oder? Und außen brannte keine Lampe.«
Ruprecht bekam große Ohren, der Redakteur kaute leiser, es war so weit. Zwei Stunden hatten sie Amadeus gegeben, jetzt war die Zeit gekommen. Zwanzig Jahre in zwei Stunden. Der junge Graf und seine stürmische Jugend. Dreihundert Jahre hatten alle Vorfahren getan, was der Name von ihnen verlangte. Die Gehorsamsten verzichteten sogar auf die obligatorische Grand Tour zu den Stätten der Klassik, sie stießen sich keine Hörner ab, weil ihnen keine Hörner wuchsen. Sie sprengten in Baden-Baden nicht die Bank und zogen sich in Paris keine pikanten Krankheiten zu.
Graf Amadeus war der erste Spross des Hauses, der seinem Namen keine Ehre machen wollte. Der Knabe tanzte nicht einmal gerne, dabei waren die Wolffheims traditionell die besten Tänzer in der Region. Jede Heirat war auf Bällen eingefädelt worden, auf denen die Stühle der Grafenfamilie leer geblieben waren, weil die Wolffheims die Tanzfläche nicht verließen.
Als Amadeus wenige Tage nach dem Abitur seine Habseligkeiten in den Kombi warf, der vor einem halben Jahr noch als Leichenwagen gedient hatte, war die Gräfin überzeugt gewesen, es könne sich nur um einen der störrischen Anfälle handeln, und der Filius werde bald aufgeben.
Aber der Filius war nicht ins Schloss zurückgekehrt; und als der Unfall auf der Bundesstraße geschah, waren auch die Eltern nicht mehr ins Schloss zurückgekehrt; und als die letzten Bediensteten Tücher über die Möbel legten, war die Zeit stehengeblieben – in den ersten Jahren auch Spaziergänger, die vorbeikamen und die Geschichte kannten. Dann waren auch die nicht mehr stehengeblieben, jeder kannte die Geschichten von adeligen Sippen, die das Schicksal wegsprengte, dass nichts mehr übrig blieb als Gebäude, die alt wurden und verfielen.
»Das wissen wir doch alles«, sagte Ruprecht ungeduldig, »steht in jedem Stadtführer. Sag uns, ob es wahr ist, dass du nach England gegangen bist, um den Manager für diese Band zu spielen.«
Das hatte Amadeus getan, ein Jahr lang, in dem er mehr erlebt hatte als man im Schwarzwald in zwanzig Jahren erlebte. Er war ohne bleibende Schäden von den Drogen heruntergekommen. In Irland hatte er sich erholt und war weitergezogen nach Indien, zurück nach Italien und Portugal, und in Israel war er auch gewesen. Er hielt das kurz und nannte keine Gründe, auch nicht die Namen von Frauen, obwohl es nur drei waren, die zählten. Oder vier, aber es gab Namen, die er nicht einmal sich selbst nannte. Besonders einen Namen. Nicht mehr genannt, nie mehr. Und nie gewesen.
Sie spürten, wie bewegt er war, und ließen ihm die Zeit, die er brauchte. Amadeus kam nach Italien, wohin er nicht wollte, und blieb in Italien, was er nicht wollte. Er war damals dreißig, er sprach die Sprache und kannte die Manufakturen, auf deren Höfen die Möbel standen, für die der deutsche Mittelstand bereitwillig in die Tasche griff. Es war nicht leicht, in einer Mode der Erste zu sein, aber hier, bei kleinen Erbauern von Möbeln und Lampen, funktionierte es. Diese Anrichten und Sofas hatte sonst keiner, auch nicht die Designadressen in München und Stuttgart.
»Keine Ehefrau? Keine Kinder?«
Keine Ehefrau, keine Kinder. Ein einziges vielleicht? Zeit genug wäre ja gewesen? »Kein einziges. Ich war auch nicht ein einziges Mal in der Toskana, abgesehen von Florenz. Und nur einmal im San Siro bei Milan gegen Inter.«
Er fütterte sie mit Tourismus ab, sie schluckten es anstandslos. Keiner fragte, wie lange die Phase in der Basilicata gewesen war. So musste er sich für keine der Unwahrheiten entscheiden, die in der engeren Wahl standen. Eine Viertelstunde fühlte er sich trauriger, als er sich vorgenommen hatte. Es war die Weihnachtsbeleuchtung, die ihn rettete. Am Nebentisch setzten die Vorweihnachtskerzen einen Jackenärmel in Brand. Zwei Gäste waren nötig, um der Kellnerin den Feuerlöscher zu entwinden. »Ich kann das!«, rief sie. »Ich habe das im Kursus gelernt!«
Aber sie erstickten die Flammen ohne Chemie, nur mit Vernunft und Muskelkraft. Das Lokal spendierte seinen erschreckten Gästen einen Birnenschnaps, sanft gebrannt, fast nicht mehr flüssig, eine Wolke der Wohltat.
»Und was wird jetzt?«, fragte der Weinhändler. »Wirst du aus der Ruine wieder ein Schloss machen? Der alte Stammsitz mit frischer Farbe? Eine Million reinstecken? Oder zwei?«
Dass er eine Zeitlang bleiben würde, bestritt er nicht und äußerte es nicht erst auf Befragen. Der Lkw mit den Möbeln war unterwegs.
Beim Abschied war ihr Atem heiß, nichts, was auf den Tisch gekommen war, hatte so gerochen. Ihre Umarmung dauerte lange, und sie flüsterte: »Gib mir das Beste von dir.« Amadeus erschrak, und sie fuhr fort: »Gib mir dein Gebiss.« Sie lachte schallend, als sie seine Beklommenheit sah. »Medizinerhumor«, knurrte er.
Die Zahnärztin wollte ihm erklären, was Mediziner für Humor hielten und erzählte einen schockierend ordinären Witz. Keiner lachte lauter als Barrakuda. »Darf ich den abdrucken!?«, rief er. »Ich druck den ab. Wenn’s einem zu ferkelhaft ist, schicke ich ihn zu Ihnen. Für jeden neuen Patienten erwarte ich ein Fläschchen.«
Es ging ans Bezahlen. Eine Frau, die Amadeus nicht erkannte, reichte ihm die Hand und sagte: »Wir sind alle so froh, dass wir Sie zurückhaben.«
Schon vor zwanzig Jahren war in diesem Ort nichts so schnell gegangen wie das Verbreiten von Neuigkeiten. Zur Not nahm man auch Gerüchte, der Unterschied war nicht erheblich.
Amadeus wandte sich gerade ab, als sie noch sagte: »Jede Stadt braucht ihren König.«
Er fuhr herum. Verblüfft war auch die Wirtin, denn nicht sie war es gewesen, die gesprochen hatte, sondern die Frau, die mit ihrem Begleiter einige Meter entfernt stand. Amadeus starrte sie an, sie erwiderte den Blick, ohne in Bedrängnis zu geraten, und sagte: »König ist gestrichen. Sagen wir Graf.«
Draußen fragte er den Lokalredakteur. Wie aus der Pistole geschossen ratterte der Profi die Besetzungen der Nachbartische herunter. Er kannte neun von zehn Namen, wen er nicht kannte, nannte er »Kurgast« – Synonym für eine Lebensform, die für ihn nur als Inhaber von Kaufkraft von Interesse war, nicht als individuelles Schicksal.
»Die, die Sie meinen, war die Deine.«
Clarissa Deine, die zwei Klassen unter ihm gewesen war. Clarissa, die seine erste Liebe geworden wäre, wäre sie nicht so kompliziert gewesen. So gründlich und langsam. Die gehorsame Tochter aus dem Hause Deine. Nicht der größte Name im Ort, aber der mit dem besten Geruch. Deine & Co., Fabrikation für Parfümerie und Toilettenartikel, gegründet Mitte des 19. Jahrhunderts, eine Adresse, deren Einzugsbereich den süddeutschen Raum abdeckte. Auch die Franzosen und Schweizer ließen sich nicht lange bitten. Nach Deine zu riechen, hatte in der Kindheit des Grafen als Ausweis von Lebensart gegolten. Als er Clarissa geküsst hatte, war er danach in dem Bewusstsein nach Hause gekommen, von einer Duftwolke umgeben zu sein, die alles verraten würde.
»Ein energisches Mädchen«, berichtete der Redakteur. »Die hat Haare auf den Zähnen.«
»Clarissa? Aber ich kenne sie. Sie ist … sie war … sie war weiblich.«
Der Redakteur lachte. »Manchmal verwächst sich das bei den Frauen, wenn sie älter werden. Manchmal innerhalb von einem Jahr. Jedenfalls bei meinen Frauen.«
Sie kamen an einer Vierergruppe vorbei, die aufgeregt miteinander stritt. »Weihnachtsmarkt« hörte Amadeus, und: »Krippen-Quatsch.« Es hätte ihn kaltgelassen, wären nicht schon im Restaurant Gesprächsfetzen herübergeweht, in denen es um einen Konflikt ging, den offenbar die hiesigen Geschäftsleute austrugen. Ob untereinander oder mit anderen, hatte sich ihm nicht erschlossen und ihn auch nicht interessiert.
Der Redakteur hatte dem Grafen einen Rundgang abgebettelt: der Heimkehrer und die Stätten seiner Jugend.
»Fangen wir an«, rief der Redakteur enthusiastisch. »Lassen Sie’s einfach laufen. Erlegen Sie sich keine Hemmungen auf.«
»Und Sie erzählen mir im Gegenzug, wovon eben die Rede war.«
»Unser Einzelhandelsverband? Hat nur noch ein Thema, seitdem die Krippen stehen. Die meisten haben sie schon wieder aus den Fenstern genommen.«
Ein Dutzend Schritte später standen sie vor dem Weinladen, und Amadeus verstand besser. Alles hatte mit der Erkenntnis begonnen, dass die umsatzstarke Adventszeit nach einer größeren Attraktion verlangte als Lichterketten. Künstler aus der Region hatten Szenen der Weihnachtsgeschichte gestaltet, die in den Adventswochen ausgestellt wurden, in den Schaufenstern von fünf Läden. Obwohl angeblich künstlerisch wertvoll, bevorzugten die Ladenbetreiber eine andere Bezeichnung: blasphemisch. Der Stall von Bethlehem als Wohncontainer einer Asylantensiedlung; Maria und Joseph mit einem so dunklen Teint, dass sie beim besten Willen nicht als Schwarzwaldbewohner durchgehen konnten; ein Jesuskind, das die meisten für ein Mädchen hielten – es lag kein Segen über der Gestaltung der weihnachtlichen Installationen. Nur noch zwei Geschäftsleute hielten die Flagge der künstlerischen Ausdrucksfreiheit hoch. Einer war der Weinhändler, den selbst sein Vater nicht überreden konnte, die Installation einzumotten. Wer den Vater kannte, wusste den Widerstandswillen des Sohns zu würdigen.
Eine Abbiegung, noch eine Abbiegung, und sie standen vor den Streifenwagen. Einer parkte auf dem Bürgersteig, der zweite blockierte die Straße, auf beiden kreiselte das stummgestellte Blaulicht. »Badenheimer Glück. Partnervermittlung und Anzeigenblatt«, so stand es auf dem Schild über dem Schaufenster. Das Spinnennetz der Risse im Glas sah aus wie Gegenwartskunst. Im Schaufenster verhinderte eine Trennwand den Blick ins Büro. Die Weihnachtsszene besaß Ähnlichkeit mit der Installation im Weinladen, jedenfalls das, was man noch davon erkannte.
Der Redakteur stand vor dem Fenster, seine Handykamera arbeitete. Ein uniformierter Polizist kam aus dem Büro. »Heh Sie! Was soll das werden, wenn es fertig ist?«, rief er dem fotografierenden Redakteur zu. Dann erkannte er den Journalisten, sein Tonfall mäßigte sich. Das nächste Motiv der Kamera war der Uniformierte. »Ich habe keine Schokoladenseite«, sagte der eitel.
»Lass dich doch von hinten knipsen«, murmelte Amadeus, als er den Laden betrat. Hinter ihm erklärte der Redakteur, wen der erzürnte Uniformierte festnehmen wollte, woraufhin der Beamte seinen Eifer zu zügeln wusste.
Es mussten mehrere Täter gewesen sein, unvorstellbar, dass einer allein so viel Zerstörung anrichten konnte. Polizisten standen herum, einer blätterte in einer Ausgabe des Anzeigenblatts und zeigte seinem Kollegen einen Artikel oder eine Anzeige. Jedenfalls sagte der Kollege: »Das wirst du nie los, das kauft man im Baumarkt neu.«
Dann tauchte Barrakuda auf. War sofort auf hundert, wurde laut und unsachlich, nannte zehn mögliche Täter und wiederholte so lange den Namen eines der bekanntesten Geschäfte im Ort, bis die Polizisten ihn aufforderten, sich wieder einzukriegen. Der rief: »Ich will mich aber aufregen! Das ist mein Büro! Hier kann ich tun und lassen, was ich will! Und jetzt will ich mich aufregen!«
Er bemerkte Amadeus, deutete anklagend auf das Zerstörungswerk und rief: »Und was sagen Sie jetzt!? Halten Sie es immer noch für eine tolle Idee, aus dem sonnigen Land, wo die Zitronen blühen, in dieses Drecksloch zu kommen?«
»Wer macht denn so ein Büro kaputt? Das ist doch alles billigste Technik.«
»Na, na«, erwiderte Barrakuda eingeschnappt, um in alter Lautstärke fortzufahren: »Das war der Mob! Sie wollen mich vernichten! Mich und meine Existenz! Sie ertragen es nicht, wenn einer aus der Reihe tanzt!«
»Sie meinen, es war wegen der Weihnachtsszene?«
Barrakuda deutete in eine Ecke: »Da! Das ist, das war … der Esel! Sie haben den Esel getötet! Was sind das nur für Menschen?«
Sie brachten den zeternden Barrakuda dazu, nach draußen zu gehen und alles zu benennen, was am Weihnachtsbild fehlte. Er vermisste nur den Esel. Der war ins Büro geholt worden, wo man ihn in seine Einzelteile zerlegt hatte. Ein Bekennerschreiben fand sich nicht, auch keine Zeichen an der Wand. Im Büro standen drei Schreibtische und ein Tresen, an dem Kleinanzeigen entgegengenommen wurden. Zu jedem Tisch gab es einen Stuhl und einen Computer.
Der Redakteur kannte alle Polizisten und sie kannten ihn. Man wusste, woran man miteinander war. Danach ging es um die Künstler, die die Weihnachtsszenen gebaut hatten. Barrakuda bat darum, den Prozess der Entstehung eines Kunstwerks als »erschaffen« zu bezeichnen. Damit drang er bei den bodenständigen Cops nicht durch.
»Ich kenne den Bermbach«, sagte ein Cop, »der hat noch nie etwas erschaffen. Der ist praktisch Tischler.«
»Kunsttischler«, sagte Barrakuda eindringlich.
Der Cop blickte ihn an. Jeder im Raum spürte, wie schwer es ihm fiel, sich das zu verkneifen, was ihm auf der Zunge lag.
Barrakuda gab an, bis halb neun hier gewesen zu sein. Er habe ein intaktes Büro verlassen. Er gab auch an, in den letzten Tagen mehrfach wegen der Weihnachtsszene kritisiert worden zu sein. Stets von Bürgern und Kunden, nie von Geschäftsleuten, auch nicht von denjenigen, die in den Gremien das Wort gegen die blasphemische Aktion führten.
Die Außentür war nicht beschädigt worden. Es gab einen Zugang vom Hinterhof, der in eine Abseite und von dort in die Küche führte. Hier fanden sich Spuren, ein Eisen zwischen Tür und Rahmen hatte das Schloss zersprengt. Das Eisen lag vor der Tür, am Eisen klebte ein beschrifteter Post-it-Zettel. Der Text lautete: »Ich enthalte keine Fingerabdrücke.«
»Hier fühlt sich einer so gar nicht bedroht«, knurrte ein Polizist.
»Ich bin ein rechtstreuer Bürger«, stellte Barrakuda klar, »ich habe keine Feinde.«
»Jeder hat Feinde. In meinem Dorf heißen sie ›Nachbar‹.«
Nun ging es um die Namen. Eine Gruppe ortsansässiger Künstler hatte den Kaufleuten ihr Projekt vorgestellt: Der Entstehungsprozess der Kunstwerke sollte öffentlich stattfinden, alle Bürger und Kurgäste waren eingeladen, der Kunst beim Entstehen zuzusehen.
Ein Polizist sagte: »Lassen Sie mich raten: Schmied war auch dabei.«
»Natürlich war Schmied dabei«, entgegnete Barrakuda. »Bei uns darf doch kein Kulturschaffender einen Furz lassen, ohne dass Schmied den Darmwind absegnet.«
»Aber der Mann ist doch Dichter. Oder Poet. Wie nennt man das, was der ist?«
»Ein Quälgeist.«
»Nein, nun mal ehrlich.«
»Ein großer Quälgeist. Wenn es nicht etwas schwierig wäre, ein Violinsolo zu spielen, hätte er das auch schon gemacht. Aber mit Pappe und Tapetenkleister ein paar krumme Figuren zusammenlöten, das traut der Mann sich allemal zu.«
»Wollen Sie damit sagen, dass dieser Esel …?«
»Schmied«, sagte Barrakuda ohne Begeisterung. »Mein Schaufenster hat Schmied gestaltet.«
»Na, dann haben wir ja ein starkes Tatmotiv«, freute sich der Polizist. »Der Kerl hat es sich doch mit jedem Zweiten in der Stadt verdorben. Adresse und Telefon bitte.«
»Tannenweg irgendwas«, knurrte Barrakuda. »Aber ich habe ihn schon länger nicht gesehen.«
»Wieso nicht? Er hat doch seine Figuren aufgestellt.«
»Das war er nicht, das waren Kollegen.«
»Aber die Figuren stammen von ihm?«
»Glauben Sie, das lässt der Mann sich nehmen? Haben Sie nicht die Schilder gesehen, die ihn als Künstler ausweisen?«
»Als Erschaffer, meinen Sie.«
»Oder so.«
Der Graf und der Redakteur verschoben ihre sentimentale Reise durch den Ort, morgen würde auch der Fotograf zur Verfügung stehen. Amadeus stand schon auf dem Bürgersteig, als der jüngste der Uniformierten ihm folgte. »Ich will eigentlich gar nichts«, sagte der Polizist aufgeregt. »Es ist nur so, dass … na ja, mein Opa, was mein Großvater ist, er hat für den Grafen gearbeitet, damals, als es noch einen Grafen gab. Hat in der Landwirtschaft gemacht, was anlag. Er war auch gut mit Fußböden, alles, was Holz war eigentlich. – Ja, das wollte ich nur sagen.«
»Ach ja. Und – warum?«
»Na, weil das doch schön ist, wenn man eine Vergangenheit hat, eine gemeinsame. Ich finde das jedenfalls schön. Dass du einen triffst und der hat was mit dir zu tun. Um vier Ecken herum, aber immerhin.«
Plötzlich erstarrte er: »Ich habe mich blamiert«, behauptete er. »Ich wollte doch nicht … ich habe doch nicht …«
Amadeus trat auf den Mann zu und nahm ihn in die Arme. Er spürte, wie der andere erstarrte, dann spürte der Graf die Berührung von Händen auf dem Rücken.
Der Schlaf wollte nicht kommen. So viele Gesichter, so viele Reize. Dabei war es nicht schlecht gelaufen. Keine Distanz, keine vielsagenden Bemerkungen. Im Grunde war der Abend ein Erfolg gewesen, mehr ging nicht nach zwanzig Jahren. Es würde einen zweiten Abend geben und einen dritten. Vor allem würde es Alltag geben. Der Check bei der Zahnärztin, der Einkauf beim Weinhändler. Amadeus sehnte sich nach Normalität. Vor zwanzig Jahren hatte er den kleinen Ort hinter sich gelassen, weil er nicht mehr atmen konnte. Jetzt machte die Kunde von seiner Rückkehr die Runde in den Häusern. Er würde noch dumme Bemerkungen zu hören kriegen, Unterstellungen, Ablehnung. Das war nicht zu umgehen. Aber er musste offen sein.
Die Rückkehr hatte er lange in sich getragen. Letztlich war es eine schnelle Entscheidung gewesen. Nun musste endlich der Umzugswagen erscheinen. Momentan hatte er nur das, was sich in der Tasche befand. Auch kein Auto. Und kaum Bargeld.
In einem Winkel des Hauses hatten sich Decken gefunden, dennoch fror er. So kündigte sich keine Krankheit an, es lag tiefer. Eingehüllt in eine Decke machte er sich auf die Runde. Sie roch nach etwas, was vor langer Zeit in die Kiste gelegt worden war, um Ungeziefer abzuhalten.
Dass Räume so leer sein konnten. Sie befanden sich in einem Ruhezustand, sehr lange schon. Den Farben hatte das nicht geschadet. Am Tage hatten ihm die ausgeblichenen Töne gefallen. Der Fußboden erst recht. Er hatte lange in Ländern gelebt, in denen herrliche Böden vorkamen. Dieser musste sich nicht verstecken, so einen mutigen Mix aus Holz und Stein hatte er selten erlebt.
In jedem Raum brannte eine Glühbirne, nackt und ohne Lampenschirm. Jemand hatte zwanzig Jahre den Strom bezahlt. Und wie kam es, dass alle Glühbirnen funktionierten? Waren sie jahrzehntelang intakt geblieben, oder hatte eine aufmerksame Hand nachgeholfen?
Er stieg in den Keller hinab, die Abenteuerwelt vergangener Tage. Er erstreckte sich unter dem Haupthaus und lief in einem Verbindungsgang zum Nebengebäude, wo er sich erneut ausbreitete. Insgesamt waren es mehrere hundert Quadratmeter. Damals war alles in Schuss gewesen. Heute war es schlimm, das lag nicht nur am Staub und Dreck, am Schimmel, an Brennholz, Töpfen und Pfannen, an Resten der Waschbottiche, an Einweckgläsern, Dosen, Getränkekisten. Hier unten lagerte tonnenweise Gerümpel.
Im Wohnbereich hatte er alles wiedererkannt und war kein einziges Mal in die Irre gegangen. Hier unten fand er mehr Türen, als er für möglich gehalten hatte. Waren damals schon so viele Rohre unter der Decke entlanggelaufen? War das Lampenglas mit Draht geschützt gewesen? Wo kamen die Fahrräder her? Ein Wolffheim fuhr nicht Rad, er fuhr Auto und Ski. Der alte Graf war in St. Moritz auf den Skeletonschlitten gesprungen, als das noch für eine blaublütige Variante des Suizidversuchs galt. Am Rand der Bahn hatte ein kleiner Graf gestanden, voller Angst um den Vater und stolz, als ihn dessen Freunde hochleben ließen.
Der Weg zur Heizungsanlage. Er nahm eine Tür zu früh und stand in dem Nebenraum. Als Schlaflager war der Raum geeignet, deshalb wunderte sich Amadeus nicht über die beiden Schlafplätze, aus allem hergerichtet, was der Keller zu bieten hatte: Pappe und Kartons als Unterlage. Darauf die Schlafsäcke: verschlissen, aber sorgfältig gefaltet. Plastiktüten mit Füllung dienten als Kopfkissen. An der Wand standen Spiegel, Flaschen. Und Zahnbürsten, zwei Zahnbürsten! Die Zahnbürsten ließen Amadeus nicht los.
Immer tiefer drang er in den Keller vor. Zuerst stellte er sicher, dass sie durch die Nebentür gekommen waren. Er musste viel Kraft aufwenden, um sie aufzudrücken. Davor lag Holz, mit zwei Handgriffen ließ es sich wegräumen. Hier legte jemand Wert darauf, dass der Zugang nicht ins Auge sprang.
Der Heizungskeller. Vier Öltanks, jeder fasste 3000 Liter. Manches vergaß man nicht. Er klopfte gegen die vorderen Tanks, hohl klang es. Der dritte und vierte Tank standen in zweiter Reihe dahinter. Es war immer noch Öl darin. Aber Amadeus wusste, wie sich Öl mit der Zeit verändert, wie es versulzt und den Brenner verstopft. Er war froh, dass sich hier keine Vandalen ausgetobt hatten. Eine Flamme hätte genügt, um das Ende des Anwesens in Gang zu setzen.
Am Raum mit den Einweckgläsern konnte er nicht vorbei, nirgendwo sonst lagerte so viel Persönliches. Geschirr, Gläser, die Töpfe, in denen Marmeladen eingekocht worden waren. Pressen für die Früchte, sogar alte Weckringe fand er. Sie waren mürbe geworden und zerbröselten zwischen zwei Fingern. Einige Dosen gab es noch, sie stammten aus dem Laden, das war kein Problem. Aber die Gläser mit der Marmelade waren ein Problem. Jedes trug ein Etikett. Pflaumenmus. 24. September 1987. Er hielt das Glas gegen die Glühbirne. Ihm war es zu süß gewesen, aber sie hatten Marmelade gegessen, die fünfzehn Jahre alt war und einwandfrei. So hart, dass man sie mit Messer und Gabel schneiden musste.
24. September 1987, zehn Tage nach dem 16. Geburtstag von Amadeus. Damals war die Luft schon bleihaltig gewesen. Laute Reden, Einfordern von Respekt. Damals stand noch die Ritterrüstung auf dem Sockel in der Eingangshalle. Amadeus hatte es nicht darauf angelegt, sie umzuwerfen, als er sich vor dem zeternden Vater in Sicherheit bringen wollte. Das Scheppern des Eisens auf dem steinernen Boden! Laut und grell, und es wollte nicht aufhören.
Die Kartoffelkiste war auch noch da. Zweimal im Jahr kam Nachschub, dann kollerten harte Knollen auf die Holzbretter. Unvergessliche Geräusche. Vorne, wo die schiefe Ebene die Kartoffeln ablegte, lagen leere Hüllen, schwarz vertrocknete Triebe.
Die Kiste stand schief, rechts ragte sie in den Raum. Amadeus übertrieb es nicht mit der Ordnungsliebe, aber er drückte gegen das Holz. Die Kiste war ja fast leer und nicht im Boden verankert. Welchen Grund gab es, dass sie sich partout nicht gegen die Wand schieben lassen wollte? Erst drückte er noch manierlich, dann mit ganzer Kraft. Nun hätte er es gut sein lassen können, aber er wollte es wissen und zog die Kiste nach vorn. Mit einem satten Geräusch kippte eine große Rolle zu Boden. Bisher hatte die Kiste sie daran gehindert, umzufallen. Amadeus wusste gleich, dass diese Rolle jünger war als zwanzig Jahre. Sein Vater hätte es nicht zugelassen, dass sich im Keller Unordnung ausbreitete. Schon gar nicht im Vorratskeller, einem Raum, der Respekt einforderte. »Wirf Essen weg, und du kriegst den Ärger deines Lebens!« Man hätte es Amadeus freundlicher sagen können, aber er verstand auch so und hielt sich daran. Mit Nahrungsmitteln wurde nicht geaast.
Noch ein Ruck, dann streckte sich der Plastiksack und gab dabei ein Geräusch von sich, als würde er es genießen. Endlich Platz! Jemand hatte sich große Mühe gegeben, den Inhalt zu verschnüren. Alles saß stramm. Viele Lagen Folie übereinander. Aber das Gesicht war immer noch sichtbar. Aufgerissene Augen starrten Amadeus an. Er starrte zurück, es wollte einfach nicht aufhören, das Starren.
Um 7 Uhr 11 steckte er sich die Zigarette an. Um 7 Uhr 14 ging die Sonne auf. Um 7 Uhr 15 zertrat er den Tabakrest und pulte etwas aus dem Mund. Streng genommen hätte er sich nicht in die Decke einschlagen müssen. Aber ihm war danach. Die Decke beschützte ihn vor der Welt. Er hätte sie sich über den Kopf ziehen können, dann hätte ihn niemand gesehen, und er hätte niemanden gesehen, und alles wäre nicht wahr gewesen … und vom Bahnhof fuhren Züge zu anderen Bahnhöfen, wo große Züge hielten, die ihn zu jedem Fleck Europas bringen würden. Er besaß kaum Bargeld, aber das würde sich regeln lassen. Und wenn es sich nicht regeln ließ, würde er eben laufen. Er war ein guter Läufer, kein Sprinter, aber ausdauernd. Wenn er sein Tempo gefunden hatte, hielt er lange durch. Er war noch gar nicht richtig hier, er konnte wieder verschwinden, und alles wäre wie vorher. Niemand kannte die Kartoffelkiste, niemand würde Fragen stellen, die ihn in Bedrängnis brachten. Er war Amadeus, der verschollene Graf.
Nach zwanzig Jahren hatte er vorbeigeschaut, ob noch alles stehen würde, und weil er alles in guter Ordnung gefunden hatte, konnte er wieder gehen. So machten das verrückte Grafen, man las das immer wieder. Sie waren exaltiert, irgendwann würde sich die fehlende Blutauffrischung bemerkbar machen. Er wäre nicht der erste adlige Idiot gewesen. Und nicht der mutigste. Bisher hatte er sich für klug gehalten, aber Grafen mussten nicht klug sein. Grafen bezogen ihr Selbstverständnis nicht aus Bildung, sondern aus Vergangenheit und guten Manieren.
Wären die Augen geschlossen gewesen, wäre er mit diesem Unfug vielleicht durchgekommen. Aber sie hatten Blickkontakt gehabt: erstaunt und ungläubig der eine; erstaunt und ungläubig der andere.
Auf jedem Bahnhof fuhren morgens besonders viele Züge ab, jedenfalls wenn die Fahrpläne vom Kapital geschrieben wurden. Ja, Vater, nein, Vater, das ist nicht polemisch, das ist die Realität. Schon mal gehört? Schon mal gesehen? Schon mal profitiert von ihr? Schon mal an ihr geleckt? Kreuz und quer über ihr Gesicht, das mag sie, davon kriegt sie gute Laune, denn sie legt gerne Menschen aufs Kreuz, die glauben, sie seien besonders schlau. Dabei fährt kein Zug schnell genug, um die Realität abzuhängen. Ja, Vater, nein, Vater, wir müssen uns darum kümmern. Tote gibt es überall und zu allen Zeiten. Das darfst du nicht persönlich nehmen. Ja, Mutter, nein, Mutter, ganz meine Meinung, Mutter. Wir müssen uns darum kümmern. Ich drücke auf den Knopf und lass die Puppen tanzen. Der Leichen-Graf meldet sich zurück. Zwanzig Jahre bis zur ersten Leiche. Kaum in der Heimat, schon mausetot. So ein Alibi hat die Welt noch nicht gesehen. Ich war 800 Kilometer vom Tatort entfernt – ihr könnt in Ruhe weiterschlafen.
»Alle, die nichts zu tun haben, raus!«, rief Kommissarin Bittermann. Sie blieb mit dem Mann in weißer Schutzkleidung im Kellerraum zurück. Amadeus wusste nicht, ob sie ihn noch nicht bemerkt hatte oder ob er Heimvorteil genoss.
»Also«, sagte die Kommissarin.
»Zwei Wochen«, antwortete der Weiße. Amadeus sah, wie er sich an der Leiche zu schaffen machte. Er sah die Leiche nicht, aber er besaß Phantasie.
»Zehn Tage bis etwas über zwei Wochen. Die Folie hat das gemacht, was sie auch im Haushalt macht: Sie hält das Fleisch frisch. Keine sichtbaren Verletzungen. Wir werden zügig arbeiten, damit Sie Futter kriegen.«
Die Tür öffnete sich zaghaft, und erst auf halber Strecke sah man, wer sie öffnete.
»Hallo, Frau Bloch«, sagte Amadeus, »kennen Sie mich noch?«
»Rolf!«, rief sie alarmiert. »Rolf, komm doch mal! Du glaubst nicht, wer hier ist!«
Auftritt Rolf. Es sah aus, als hätte er hinter der Tür gewartet, so dass ein Ausfallschritt genügte, um im Flur zu stehen.
»Ja, der junge Graf!«, sagte Bloch mit falscher Tonlage.
»Sie haben mich längst entdeckt«, entgegnete Amadeus und befürchtete, dass Bloch leugnen würde.
»Klar doch«, sagte Bloch und kam zur Tür, wo er Amadeus heftig die Hand schüttelte. »Wir haben es noch nicht richtig kapiert«, behauptete er. »Nach so langer Zeit. Ich meine … da braucht man zwei Tage, um das zu verarbeiten.«
Amadeus stellte die Kommissarin vor. Sie sah ihn überrascht an, er lächelte und sagte: »Ich wollte immer schon mal eine Kommissarin vorstellen. Das sieht man in Krimis nie.«
»Wer weiß, wofür es gut ist«, knurrte sie.
Im Dienst war sie ein anderer Mensch. Nicht unfreundlich, nicht autoritär. Aber sie strahlte Bestimmtheit aus, ihr Körper besaß eine größere Spannung als im Restaurant.
Die Blochs aus dem Kutscherhaus hatten den Auftrieb nebenan mitbekommen und brannten vor Neugier. Sie war größer als die Ängste, was die unerwartete Rückkehr des Grafen für ihr Leben bedeuten mochte.
Zwei Minuten kommunizierte man zwischen Tür und Angel, danach war den Blochs klar, dass dies keine dauerhafte Lösung darstellte. Im Wohnraum sitzend, wehrte sich Amadeus gegen das irritierende Gefühl, zu Hause zu sein. Stumm musterte er die Möbelstücke, die ihn umgaben. Die Blochs guckten aus, wer die undankbare Aufgabe übernehmen sollte, dem Grafen reinen Wein einzuschenken.
»Wir haben gedacht, besser hier als nebenan, wo alles kalt und klamm ist«, sagte Bloch mit einer Aufgeräumtheit, die zu seinen verkniffenen Gesichtszügen im Widerspruch stand.
»Nette Geste«, murmelte Amadeus und überlegte, ob es ihm gelingen würde, den Aufsatz der Anrichte auf dem Kopf des Lumpen zu zerschlagen. Solange er denken konnte, hatte die Anrichte in einem Nebenflur gestanden, wo sie sich besser gemacht hatte als in dem überladenen Wohnzimmer der Dienstboten. Es sah aus wie in einem Lagerraum, wo man Möbel abstellt, bevor man eine lange Reise antritt.
Die Kommissarin, unbelastet von feudalistischen Aggressionen, eröffnete den Blochs, dass im Schloss eine Leiche gefunden worden war. Frau Bloch legte eine Hand auf den Mund und ließ sie bis zur Brust sinken, wo die Hand die Aufschläge ihrer Bluse zusammenhielt.
Ihr Mann reagierte gefasster. »Oha«, sagte er. Nun waren die Talente der Blochs als aufmerksame Nachbarn gefragt. Hatten sich in letzter Zeit Menschen im Schloss oder vor dem Schloss aufgehalten? Fremde? Oder bekannte Gesichter? Autos? Eine Bewegung, die auffallend war?
»Nichts«, sagte Bloch.
»Im Keller habe ich ein Lager gefunden«, teilte Amadeus mit.
»Das sind bestimmt die Obdachlosen.«
Die Kommissarin atmete hörbar ein.
»Die sind harmlos«, behauptete Bloch. »Die sind doch immer da.«
»Obdachlose.«
»Sag ich doch.«
»Sagen Sie mehr.«
»Mehr gibt’s eigentlich nicht zu sagen.«
»Herr Bloch!«
Man musste die beiden an die Kulturtechnik von Frage und Antwort erst heranführen, danach ging es besser. Das Schloss diente Obdachlosen als Nachtquartier, das ging seit Jahren so und geschah mit Diskretion. Sie kamen abends, nahmen den Nebeneingang aufs Grundstück und den Nebeneingang in den Keller. Morgens sah man sie selten verschwinden. Frau Bloch, eine Frühaufsteherin, hatte sie gesehen, immer zu zweit, und manchmal mit einer Tüte voller Müll.
»Das fand ich anständig von ihnen«, sagte sie.
»Woher wussten Sie, dass in der Tüte Müll ist und nicht der Hausstand der Obdachlosen?«
»Weil Obdachlose keine Tüten haben. Sie haben richtige Taschen.«
»Das stimmt nicht«, sagte die Kommissarin.
»Oder einen Koffer. Oder einen Einkaufswagen. Das sieht man doch im Fernsehen.«
»Was haben Sie durch Ihr Fenster gesehen?«
Sie hatte Männer gesehen, Männer ohne Gesichter, immer falsch angezogen, zu warm oder zu dünn. Scheue Gestalten, die froh waren, die Nacht sicher und trocken verbringen zu können.
Amadeus hielt es für nicht ausgeschlossen, dass sie ihre Abfälle entsorgt hatten. Der Schlafraum war nicht verschmutzt gewesen, in anderen Kellerräumen hatte er nichts gefunden, was wie Müll oder Küchenabfälle aussah, nichts, was aus jüngster Vergangenheit zu stammen schien. Auch in den oberen Geschossen deutete nichts darauf hin, dass sich dort Fremde aufgehalten hatten. Amadeus fand die Vorstellung bizarr. Menschen, die nichts besitzen, verfügen über ein komplettes Schloss und geben sich mit einem Kellerverschlag zufrieden.
Die Kommissarin telefonierte mit dem Kommissariat in Müllheim, wo sie ihre Zelte aufgeschlagen hatte. Dort nahm man Rücksprache mit Streifenbeamten. Ergebnis: Die Polizei wusste, dass Obdachlose und Landstreicher ins Schloss gingen, um dort zu schlafen. Nie war etwas vorgefallen, kein Feuer, kein Lärm, kein Vandalismus. Deshalb hatte man das Treiben geduldet. Einen Moment fand Amadeus die Vorstellung verstörend, dass die Habenichtse mit Duldung der Polizei seine Untermieter geworden waren. Dann war es vorbei.
Vor vier oder fünf Tagen hatten die Blochs zum letzten Mal Gestalten gesehen. Man musste Glück haben, um sie zu bemerken. »Oder sich auf die Lauer legen«, sagte Bloch. Sie retteten ihn nicht aus der Bredouille, in die er sich selbst gebracht hatte. So sagte er unwillig: »Es ist ja nicht so, dass ich zu viel Zeit haben würde …«
»Kenne ich«, stimmte die Kommissarin zu. »Ruheständler haben nie Zeit. Wir haben alle Eltern.«
Er suchte die Gemeinheit hinter ihrer Bemerkung und fand ein sachliches Gesicht.
Bloch hatte auf der Lauer gelegen. Nicht, um die armen Teufel anzuschwärzen.
»Ich wollte nur wissen, was nebenan vorgeht. Wir waren ja Nachbarn – auf eine gewisse Weise.«
Amadeus fragte: »Haben Sie die Glühbirnen ausgewechselt?«
Bloch zuckte zusammen, als habe man ihn eines Delikts bezichtigt. Instinktiv wollte der Mann alles leugnen, um dann einzuknicken. Mit leiser Stimme gab er zu, im Abstand von zwei Monaten »nach drüben« zu gehen, um nach dem Rechten zu sehen.
»Ich habe das Gefühl, das Haus freut sich, wenn einer kommt«, sagte er leise. »Ich meine, was ist trauriger als ein Haus, in dem niemand wohnt? Und das ist ja kein Haus, das ist ein Schloss.«
»Ich fand den Ausdruck immer übertrieben«, sagte Amadeus unvermittelt. Alle starrten ihn an, in allen Gesichtern las er die gleiche Botschaft: Deine Sorgen möchten wir haben.
Eine Erkenntnis hatte die Neugier der Blochs gebracht: Wenn noch vor vier Tagen Obdachlose im Schloss gewesen waren, war es unwahrscheinlich, dass der oder die Täter aus ihren Reihen stammten. Es sei denn … aber war so viel Kaltblütigkeit denkbar? Wer war imstande, in einem Haus mit dem Menschen zu schlafen, den er kürzlich zu Tode gebracht hatte? Doch wusste man streng genommen noch nicht, wie das Opfer gestorben war. Man wusste nur, dass sich jemand Mühe gegeben hatte, ihn unauffällig und geruchsfrei aufzubewahren. Sprach das für einen Obdachlosen als Täter? Und wenn nur einer der Täter war und alle anderen nichts davon wussten?
Die Kommissarin ging nach nebenan, um zu telefonieren. Nun war die Situation da, vor der sich Amadeus gerne gedrückt hätte.
»Da sitzen wir nun«, sagte Bloch tapfer. »Sicher haben Sie Pläne«, fuhr er fort. Vielleicht dachte er daran, dass zu den gräflichen Plänen ein Blick auf sein Konto gehören könnte, bei dem er feststellen würde, dass die Bewohner seines Kutscherhauses keine Miete gezahlt hatten. Seit dreizehn Jahren keine Miete. An dieser Tatsache arbeitete sich Bloch ab – um sich sogleich der zweiten unangenehmen Frage zu stellen: Was würde die Zukunft bringen? Man hatte sich daran gewöhnt, mietfrei zu leben, hatte nur in der ersten Zeit einige Scheine zur Seite gelegt, das aber bald eingestellt, um die neu gewonnene finanzielle Freiheit zu nutzen: für Reisen, einen häufigeren Wechsel des Autos, für ein besseres Zimmer im Krankenhaus und den Fernseher mit der Rundum-Beschallung, die einem die Ohren abriss. Das alles sah nun der Graf! Und er würde sich Fragen stellen. Wenn man Pech hatte, würde er die Fragen laut und vernehmlich stellen! Darauf waren die Blochs nicht vorbereitet. Nur auf ein Leben in der Etagen-Mietwohnung waren sie noch weniger vorbereitet.
Amadeus sagte: »Finde ich schön, dass Sie ein Auge auf das Anwesen hatten.«
Bloch war so felsenfest auf einen Angriff eingestellt gewesen, dass er ins Schleudern geriet. »Ist doch klar«, haspelte er, »würde ich wieder so machen.«
Und Frau Bloch sagte munter: »Willkommen zu Hause. Auf gute Nachbarschaft!«
Nachmittags tagte man in großer Runde. Als alle saßen, schoss Kommissar Sprecher herein. »Sitzenbleiben! Behalten Sie Platz!«, rief er und strahlte die Kommissarin an. Die hiesigen Kollegen verdrehten die Augen.
Sprecher stand so lange hinter dem Stuhl des älteren Beamten, bis der fragte: »Ist was?« Sprecher lächelte ihn an, der Sitzende sagte: »Nehmen Sie doch einen der tausend anderen Plätze!«