Es muß im Leben doch mehr als alles geben - Norbert Klugmann - E-Book

Es muß im Leben doch mehr als alles geben E-Book

Norbert Klugmann

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Beschreibung

Das Leben besteht aus vielen kleinen Erlebnissen, Träumen, Wünschen und Enttäuschungen. Aber ist die Summe dieser Teile schon alles? Felix ist achtzehn Jahre alt, er stammt aus sehr geordneten Verhältnissen, hat gerade das Abitur gemacht, und nun erwarten alle von ihm, daß er anfängt zu studieren. Aber er nimmt sich erst mal Zeit, über seine Zukunft nachzudenken. Felix versucht herauszukriegen, was es so an Möglichkeiten für ihn gibt, in der Bundesrepublik zu Beginn der achtziger Jahre. Kann man hier überhaupt leben? Oder kann man hier nur konsumieren und Karriere machen? Felix hat viele Fragen und noch keine Antwort. Ein großes Wort, aber es stimmt: Felix sucht nach dem Sinn seines Lebens.

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Norbert Klugmann

Es muß im Leben doch mehr als alles geben

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Über dieses Buch

Das Leben besteht aus vielen kleinen Erlebnissen, Träumen, Wünschen und Enttäuschungen. Aber ist die Summe dieser Teile schon alles?

Felix ist achtzehn Jahre alt, er stammt aus sehr geordneten Verhältnissen, hat gerade das Abitur gemacht, und nun erwarten alle von ihm, daß er anfängt zu studieren.

Aber er nimmt sich erst mal Zeit, über seine Zukunft nachzudenken. Felix versucht herauszukriegen, was es so an Möglichkeiten für ihn gibt, in der Bundesrepublik zu Beginn der achtziger Jahre. Kann man hier überhaupt leben? Oder kann man hier nur konsumieren und Karriere machen? Felix hat viele Fragen und noch keine Antwort.

Ein großes Wort, aber es stimmt: Felix sucht nach dem Sinn seines Lebens.

Über Norbert Klugmann

Norbert Klugmann, geboren 1951 in Uelzen, lebt seit 1970 in Hamburg. Studium der Sozialwissenschaften. Tätigkeit als Journalist und Schriftsteller.

Inhaltsübersicht

1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel

1

Der Weg war derselbe wie immer. Er führte durch die morgendliche hektische Aufbruchstimmung der kleinen Stadt, diese immer wieder vergebliche Vortäuschung von Aufbruch. Felix war derselbe und der Weg zur Schule auch. Aber er hatte ihn hinter sich. Er ging ihn heute zum letztenmal.

Heute, das mußte noch mal sein. Ohne den Lappen hätte sich der ganze Streß nicht gelohnt. «Der Besuch des Gymnasiums endet nach dreizehn Schuljahren mit dem Erwerb des Abiturs.» Ende, aus und neuer Anfang. Abschluß der einen Mühle, Eintrittskarte für die nächste: Die Universität läßt bitten.

Felix sah sich in dem schräggestellten Dreimeterspiegel des Schuhhauses Tafelbach sich selbst entgegenkommen. Für die frühe Tagesstunde sah er schon wieder ganz gut aus, vor allem wenn er bedachte, daß er auf Heiners Fest nach solidem Beginn am Ende doch ziemlich versackt war. Außerdem war der Versuch, seine mittellangen braunen Haare in eine passable Form zu bringen, fehlgeschlagen, so daß er nicht mehr erwarten konnte.

Frau Wernemeier – Sekretärin am Gymnasium – sah Felix kummervoll entgegen und suchte aus dem alphabetisch geordneten Papierhaufen den für ihn bestimmten Doppelbogen heraus. «Ist doch schade, Herr Haunissen, ist doch irgendwie schade.»

Felix hatte geahnt, daß er hier nicht so schnell wieder rauskommen würde. «Wieso?» fragte er: «Was meinen Sie damit?»

Frau Wernemeier schien sich über die Frage zu freuen und sagte ihren Spruch auf. «Na, die Feier. Die Abschlußfeier. Ich hatte mir so gewünscht, daß wir in diesem Jahr endlich wieder eine Abschlußfeier erleben würden.»

Felix räusperte sich. Er hatte einen schlechten Geschmack im Mund. «Ich finde offizielle Abschlußfeiern verlogen.»

Das fand Frau Wernemeier natürlich nicht. «Ich weiß noch genau, wie schön das früher immer war. Wenigstens einen Tag lang eine festliche Stimmung, das war noch was.»

Frau Wernemeier geriet mit Felix’ Zeugnis in seine Reichweite. Rasch wollte er zugreifen, aber noch gab sie den Zettel nicht her.

«Da ist doch nichts Verlogenes dran, wenn man sich mal für einen Vormittag in Schale wirft.»

«Grauenvoll», murmelte Felix und betrachtete seine schmutzigen Schuhe. Er drehte sich um. Richtig, da standen sie auf dem blitzsauberen Scheuerlappen unter dem Waschbecken, Frau Wernemeiers Halbschuhe aus dem einzigen am Ort ansässigen Gesundheitshaus. Während der Arbeit trug Frau Wernemeier stets ein Paar bequeme Schuhe zum Reinschlüpfen, ebenfalls aus dem Gesundheitshaus.

«Dabei haben in diesem Jahr einige Abiturienten den Wunsch geäußert, mal wieder eine Abschlußfeier zu veranstalten.»

«Ja, einige», murmelte Felix, «eine kleine radikale Minderheit. Aber schließlich leben wir in einer Demokratie, und deshalb gibt es keine Feier. Aber warten Sie doch ab», rief er aufmunternd: «Im nächsten Jahr, vielleicht klappt es da. Wenn ich mir die Leute angucke, die im nächsten Jahr Abitur machen, würde mich das nicht wundern.»

Frau Wernemeier schien sich wirklich zu freuen. «Ach, wäre das schön.»

Er konnte es nicht mehr mitanhören. «Frau Wernemeier, das ist doch scheußlich. Da weinen die Mütter doch regelmäßig so laut, daß man es bis in die hintersten Reihen hören kann.»

«Das ist einfach feierlich, Herr Haunissen. Bei einem solchen Anlaß braucht man sich seiner Tränen wahrhaftig nicht zu schämen.»

«Na, ich weiß nicht», sagte Felix, und er wußte genau.

«Schließlich ist es doch ein Lebensabschnitt für Sie.»

Himmelherrgott, wie brachte man diese Frau zum Schweigen? Sein Blick fiel auf den protzigen Steinaschenbecher, in dem seines Wissens noch nie jemand eine Zigarette ausgedrückt hatte. Schnell guckte er woanders hin. Ein Totschlag wäre nicht gerade der richtige Abschluß seiner Schulzeit gewesen. Felix entschloß sich, Frau Wernemeier einfach nicht mehr zu Wort kommen zu lassen.

«Natürlich freue ich mich über den Abschluß. Ich wollte auf dieser Schule schließlich nicht alt und grau werden. Außerdem bin ich umgeben von lauter Freude: Meine Eltern freuen sich. Meine Freunde sind ganz aus dem Häuschen. Das liegt aber mehr daran, daß sie ihren Schein auch in der Tasche haben. Wir feiern seit Tagen wie die Teufel.» Er grinste sie mit einem zweideutigen Blick an und registrierte zufrieden die wachsende Empörung, die sich in ihrem Gesicht breit machte. «Aber das reicht dann auch, selbst wenn wir dadurch unserem Herrn Direktor die Gelegenheit nehmen, aus dem Stegreif eine Rede zu halten, die er insgeheim seit Weihnachten vorbereitet.»

Da – Felix sah es genau: Frau Wernemeier hatte für den Bruchteil einer Sekunde gelächelt. Das nahm ihm die Lust, weiterzureden. Er mußte sie jetzt unbedingt dazu bringen, sich von seinem Zeugnis zu trennen. Also streckte er die Hand aus, und es klappte. Frau Wernemeier legte das Papier hinein, und ruckartig zog Felix den Lappen an die Brust.

«Ihr jungen Leute von heute versteht gar nicht mehr richtig zu feiern.»

Frau Wernemeier zog sich auf den Schatz ihrer Lebenserfahrungen zurück, und Felix dachte mit Schaudern an die peinlichen Szenen bei Frau Wernemeiers letztjährigem Geburtstag, an dem auch er hatte teilnehmen dürfen. Ein buntes Potpourri aus Oppenheimer Krötenbrunnen, leicht zotigen Witzen und verschwitzten weißen Blusen und Hemden hatte ihm ein lebendiges Bild davon vermittelt, was sich Wernemeiers unter ausgelassenen Feiern vorstellten.

«Tschüs, Frau Wernemeier, machen Sie’s gut, ich versuch es auch!» rief Felix, zog die Tür hinter sich zu und atmete erleichtert auf. Zu früh, wie er entsetzt sah. Mit weit ausgestreckten und heftig wedelnden Armen lief Studienrat Bombosch – der «Liberale» – auf ihn zu (der einzige Lehrer auf der Welt mit einer Wochenarbeitszeit von 168 Stunden). Er nutzte die Gelegenheit, sich ein letztes Mal aufzudrängen. Für Felix war es klar, daß der Lehrer sich an diesem Vormittag unterrichtsfrei genommen hatte, um alle Abiturienten der Reihe nach überfallen zu können.

«Felix, wie schön.» Bombosch rüttelte an Felix herum. «Wie schön, daß wir uns noch einmal sehen, bevor du die große weite Welt eroberst, was?» Er lachte sich halbtot.

Felix wartete, bis Bombosch sich wieder eingekriegt hatte.

«Tach, Herr Bombosch», sagte er so eisig, daß jeder andere sich sofort verzogen hätte. Aber Bombosch mit seinem völlig falsch verstandenen Verständnis für die Jugend ließ nur von Felix ab, um einen Schritt nach hinten machen zu können und ihn augenzwinkernd anzuschauen. In Felix’ Klasse hatten sie sich schon vor langer Zeit über den «Liberalen» geeinigt und ließen ihn gewähren, zumal sein Unterricht ohne Zweifel zu den erträglichsten gehörte.

«Du siehst ganz schön mitgenommen aus. Wohl bißchen viel gefeiert in den letzten Nächten, was?»

Bombosch brüllte so laut, daß Felix’ Klassenkamerad Heiner, der in diesem Moment im Flur auftauchte, die Gelegenheit nutzen und unbemerkt ins Sekretariat gelangen konnte.

«Na ja», sagte Felix, «es war schon ganz schön hart.»

«Ha, ha, das mag wohl angehen!» Bombosch näherte sich ihm in plump vertraulicher Art. «Man erzählt sich ja so dies und das von euren sagenhaften Gelagen.»

Das war nun eindeutig gelogen, denn in den letzten Tagen war auf keiner Feier etwas passiert, was eine solch übertriebene Beschreibung gerechtfertigt hätte. Abgesehen von vorgestern; da war Bombosch samt Ehefrau Jane bei Wolfgang aufgetaucht, um das Fest «aus dem Feuer zu reißen», wie er es nannte, was zu einem spontanen Ausweichfest bei Felix geführt hatte, dem Bombosch dann nicht so schnell hatte folgen können.

«Nee, nee, unsere Feiern sind ganz solide.»

Felix hörte hinter sich die Tür aufgehen. Heiner war offenbar schneller mit Frau Wernemeier fertig geworden. Bombosch stürzte sich auf ihn, und Heiner brachte gerade noch ein «Au weia» heraus, als der «Liberale» ihn auch schon hemmungslos vereinnahmte. Felix fühlte sich von einer schweren Last befreit und ging schnell den Flur hinunter in Richtung Ausgang.

Er hielt erst an, als die Schule nicht mehr zu sehen war. Da hatte er es also, sein Zeugnis der Reife. Der Name war das lächerlichste daran. Er schlug den Doppelbogen auf. Die Zensuren waren gut durchwachsen bis leicht überdurchschnittlich, und wenn er sich vorstellte, wie wenig er dafür getan hatte, befiel ihn ein Gefühl der Zufriedenheit: endlich mal ein gesundes Verhältnis von Aufwand und Ergebnis.

Felix hörte Schritte hinter sich, steckte das Zeugnis wieder ein und ging auf ein Bier in Rudis Kneipe. Noch vor zwei Wochen hätte er sicher sein können, dort um diese Zeit zwei oder drei Freunde vorzufinden, die Skat spielten oder einfach nur rumhingen und sich gegenseitig bestätigten, daß hier zu sitzen immer noch besser sei, als in der Schule zu hocken. Doch heute war noch keiner da von ihnen.

Die Garderobe und ein riesiges Aquarium teilten den Raum in zwei Hälften, eine vordere, in der alle Zufallsgäste und Nicht-Stammkunden landeten, und die schummrige hintere, in der sich nur drei Tische befanden. An dem letzten, ganz hinten an der Wand neben der Tür zur Küche, hatte sich alles abgespielt, das war ihr Tisch gewesen. Manchmal, wenn sie gegen elf Uhr in die Kneipe eingefallen waren und ihren Stammplatz besetzt fanden, hatte sich sogar Rudi eingeschaltet und den Gast gebeten, sich an einen anderen Tisch zu setzen.

Felix reichte sein Zeugnis über die Theke. Als Rudi sah, um was für einen Zettel es sich handelte, wischte er sich sorgfältig beide Hände an einem Handtuch ab. Trotzdem faßte er das Papier nur an den äußersten Rändern an.

«Siehst du», sagte Felix, «jetzt kann ich es schwarz auf weiß nach Hause tragen: Ich bin reif.»

«Na, das ist doch was, das hat doch Hand und Fuß. Gratuliere.» Rudi goß zwei Malteser ein. Sie prosteten sich zu. «Verdammt noch mal, jetzt haut ihr also auch ab und erobert die Welt.» Rudi schien bedrückt. «Das ist schon traurig, euch hier Jahrgang für Jahrgang rumlungern zu sehen, und wenn ich mich endlich an euch gewöhnt habe, macht ihr die Mücke.»

«Ach Rudi, dafür kommen neue. Schule geschwänzt wird immer. Das Leben muß weitergehen.»

«Ach, Scheiße.» Rudi guckte irgendwo zwischen die Gläser.

Felix trauerte ihm und seinem Lokal schon jetzt nach. Er mochte den kleinen häßlichen Mann mit dem ewig fettigen, schütteren Haar sehr gern. Besonders seitdem er Rudis Geschichte kannte: Seine Eltern hatten ihn aufs Gymnasium getrieben, irgendwann war er abgegangen, hatte sich mit Jobs durchgeschlagen, Bundeswehr gemacht, sich für vier Jahre verpflichtet, anschließend versucht, das Abendabitur zu schaffen und abgebrochen. Damit war er bis heute nicht fertig geworden. Die Geschichte seiner verkorksten Bildung kleidete er immer in so launige Worte, daß man erst nach einiger Zeit spürte, welche Verbitterung sich hinter den flapsigen Reden verbarg. Felix überlegte, wie die Sache mit seinem Abitur, das er jetzt in der Tasche hatte, wohl auf Rudi wirken würde und ob er ihm den Tag damit verdarb. Aber Rudi schien gar nicht deprimiert. Er freute sich anscheinend wirklich. Sie bewältigten den zweiten Malteser.

«Was hast du denn jetzt vor? Eigentlich müßte doch der Bund zugreifen. Schon Musterung gehabt?»

«Klar, im Januar.»

«Na und, hast du dir was einfallen lassen?»

«Nee, war ich zu blöd zu. Sie haben mich für tauglich befunden und zurückgestellt, bis ich mit der Schule fertig bin. Aber ich habe gleich nach dem achtzehnten Geburtstag vorsorglich verweigert. Jetzt kommt irgendwann die Verhandlung.»

«Na, dann brauchst du dir über deine Zukunft ja vorerst keine Gedanken zu machen. Die stecken dich in ein Altersheim, und da machst du dich sozial nützlich.»

Daran wollte Felix jetzt lieber nicht denken. «Ich gehe bis auf weiteres davon aus, daß ich irgendwie drumrum komme. Es gibt ja auch immer noch viel zu wenig Plätze für Verweigerer.»

Rudi griff zur Malteserflasche, und Felix drehte sein Glas um. Mit Wehmut sah er, wie sich der letzte Tisch mit einer Skatrunde aus seiner Schule bevölkerte.

«Hast du denn deinen alten Herrschaften die bittere Wahrheit schon mitgeteilt?»

«Wieso?» Felix war mit seinen Gedanken bei den Skatspielern.

«Na, hör mal, du hast doch hier ganz schön rumgetönt, daß Studieren für dich gar nicht in Frage käme.»

«Na ja, na ja», wiegelte Felix ab, «ich bin am Überlegen.»

«Na, aber zu Hause», Rudi ließ nicht locker, «wissen die schon Bescheid?»

«So halb und halb. Also, Genaues wissen sie nicht. Das weiß ich ja auch noch nicht.»

«Rückzieher, was?»

«Frag mich was Leichteres. Das steht mir alles noch bevor.»

«Na», sagte Rudi und legte die Flasche ins Eisfach zurück, «ich drücke dir jedenfalls den Daumen. Die denken doch garantiert, daß der Sohnemann jetzt die große Karriere startet. Oder sind deine Eltern nicht von dieser Sorte?»

Felix kaute auf der Unterlippe herum. Dann sah er Rudi an. «Doch, ich glaube schon, daß sie von der Sorte sind. Morgen verreise ich jedenfalls erst mal. Amrum. Ein paar Tage.»

Rudi reichte ihm sein Zeugnis zurück. Felix überlegte, ob er es in der Mitte zusammenknicken sollte. Er ließ es dann und ging.

Zum Glück hatte Rudi nicht nach Iris gefragt. Für ihn war wohl klar, daß sie mitfahren würde. Das hatten sie ja auch so geplant gehabt. Bis vor zwei Wochen. Die Grippe, die Iris vom Besuch der Schule befreien sollte, hatten ihre Eltern ausnahmsweise im voraus genehmigt. Iris und er hatten sich beide darauf gefreut, für eine Woche zusammen auf die Insel zu fahren, die im Mai noch weitgehend frei von Urlaubern war. Tage, in denen sie ungestört miteinander reden könnten, um sich wieder näherzukommen.

Felix ging in Richtung Grünanlagen. Es gab verschiedene Gründe, die mehrere hundert Meter lange Wiese, die sich am Fluß entlangzog, aufzusuchen. Zum Beispiel konnte man sagen, man habe Lust auf einige Minuten Ruhe inmitten der brodelnden Stadt, oder es sei der sentimentale Reiz, die Stätten der Schulzeit noch einmal aufzusuchen. Aber Felix wußte, daß er nur hinging, weil Iris in der Straße wohnte, die parallel zu dem Fluß verlief. Er kannte ihren Stundenplan auswendig, und wenn sie ohne Umwege nach Hause gegangen war, könnte er sie jetzt antreffen. Er mußte es nur wollen. Felix blickte abwechselnd auf die Enten und auf die Häuser der Straße. Sollte er hingehen? Er ging immer weiter. Schließlich befand er sich mit dem Haus auf gleicher Höhe. Jetzt. … Er konnte nicht. Er hätte ja doch nur einige Stolpersätze hervorgebracht, mit dem Zeugnis herumscharwenzelt und wäre mit dem pflichtschuldigen Lob, das man in solchen Fällen austeilen muß, wieder in die frische Luft geschickt worden. Da er aber gerne bei ihr sein wollte, hätte er so tun müssen, als wäre er einfach so vorbeigekommen. Doch sie hätte das Papier auf den ersten Blick entdeckt.

«Was hast du denn da?»

«Ach, gar nichts, guck einfach nicht hin.»

«Du spinnst, zeig doch mal. Das ist bestimmt dein Zeugnis», und so weiter. Felix hatte sich angewöhnt, Gespräche mit Iris bis in die feinsten Verästelungen der Bösartigkeit vorauszusagen.

Er setzte sich auf die, wie er fand, wichtigste Bank seines Lebens. Hier hatte er vor fast genau zwei Jahren mit Iris gesessen. Nach der Redaktionssitzung der Schülerzeitung, auf dem Weg von der Schule zu ihrer Wohnung, waren sie an der Stelle vorbeigekommen, wo links der Weg durch die Grünanlagen abzweigt. Auf der Wiese hatten ein paar Jungen Fußball gespielt. Felix hatte die Abzweigung schon lange im Visier gehabt, und als er gerade zum alles entscheidenden Satz hatte ausholen wollen, war Iris ihm zuvorgekommen.

«Eigentlich könnten wir noch eine Runde durch die Anlage machen, meinst du nicht auch?»

Felix hatte seinen Satz heruntergeschluckt und stumm genickt. Zum Glück lag die Grünanlage einen halben Meter tiefer als die Straße, auf der sie entlanggekommen waren. Vier Stufen führten auf den Schotterweg, und als Felix seine Hand um die von Iris gelegt hatte, nahm er sich vor, ihr, wenn sie fragen sollte, die Antwort zu geben: «Damit du nicht stolperst.»

Doch Iris sagte kein Wort, schluckte nur trocken. Das machte ihm Mut. Sie schien genausoviel Angst zu haben wie er. Schlagartig verlor ihre Unterhaltung alle Leichtigkeit, die sie während des gesamten Wegs ausgezeichnet hatte. Felix überlegte, mit welcher Begründung er sie zum Stehenbleiben veranlassen konnte. Enten und Schwäne schwammen auf dem Fluß herum. Er hatte sie vorher nie beachtet. Doch an diesem Abend, mit Iris an der Hand, waren sie ihm Anlaß genug, stehenzubleiben. Soweit war schon alles sehr gut. Leider standen sie noch nebeneinander. In Felix’ Kopf dröhnte und wummerte es, als er ihre Hand losließ und ihr den freigewordenen Arm um die Schulter legte. Größenmäßig ging das prächtig auf, da sie einzige Zentimeter kleiner war als er.

Felix begann zu frieren. Die Außentemperatur lag um zwanzig Grad. Als gerade ein Schwan einen Ententrupp in die Flucht biß, lehnte sich Iris an Felix an. Er war darauf nicht gefaßt gewesen und reagierte mit einem kleinen Ausfallschritt nach links. Einen Moment lang standen sie deutlich zur Seite geneigt. Felix verwünschte seine Dusseligkeit, und Iris sagte: «Komm.» Sie berührte ihn am Arm und zog ihn zu der bewußten Parkbank. Felix konnte damals nicht verhindern, daß er rechts von ihr zu sitzen kam. Das war nicht seine Seite. Er hatte nur von links Übung. Ohne die Ausrede, eine Ente, einen Schwan, eine Taube, einen Regenwurm oder einen ungewöhnlich geformten Stein zu betrachten, guckten sie beide stier nach vorn in die Abendluft. Dann fühlte er nur noch, wie er Iris küßte. Felix war völlig weg. Sie lachten, und er hatte keine Angst mehr. Es war ganz leicht und selbstverständlich.

Die paar Schritte bis zu ihrer Wohnung hatten über eine halbe Stunde gedauert. Sie küßten sich durchschnittlich alle zwei Meter. Der Abschied vor der Haustür hätte auch noch viel länger gedauert, wenn nicht plötzlich im Flur das Licht angegangen wäre. Iris hatte sich losgerissen und war im nächsten Moment verschwunden.

An jenem Abend war Felix zu Fuß die sechs Kilometer nach Hause gegangen. Wäre die Schwerkraft nicht gewesen, er wäre geflogen. Aber auch so bezeichnete er seine Fortbewegungsweise als Schweben, also Schweben wenigstens.

 

Felix fühlte ein leichtes Ziehen in Richtung Vergangenheit. Das war seine Bezeichnung für die Beziehung zu Iris. Seit vierzehn Tagen war alles vorbei. Felix preßte die Kiefer aufeinander und guckte auf das Wasser. Er beneidete es, weil es keine Probleme hatte, in welche Richtung es mit ihm gehen sollte.

Schnell stand er auf, ging eilig zur Bushaltestelle und fuhr nach Hause. Er ging den Grünen Weg entlang und näherte sich der Holzpforte Nummer 3 von links. Caren, seine sechzehnjährige Schwester, knatterte mit dem Mofa von rechts heran. Sie winkte und riß das Gefährt in geübter Schleuderbewegung auf das elterliche Grundstück.

Sie bewohnten ein ziemlich neues einstöckiges Haus mit einer Wohnfläche von 140 Quadratmetern mit viel Rasen, vielen Rabatten, ein wenig Gemüse, ein paar Obstbäumen; eine überdimensionale Garage und ein Geräteschuppen dahinter.

«Zeig her.»

Felix gab Caren das Papier. Die Geschwister standen vor der Haustür, und Caren tat, als ob sie das Gewicht des Zeugnisses feststellen wollte. «Es ist ja nur ein Stück Papier. Aber was für eins. Mannomann. Ich gratuliere meinem großen klugen Bruder.»

Felix zog sich zusammen und konnte so der stürmischen Umarmung ein wenig von ihrer Heftigkeit nehmen.

«Nun tu nicht so, laß dich beglückwünschen. Wer weiß, ob du jemals wieder so einen Abschluß ins Haus schleppst.» Caren strahlte. Ihre kurzen dunklen Haare standen zu Berge Sie freute sich so sehr, daß Felix weniger Skrupel hatte, seine stille Art beizubehalten. Sie übernahm seinen Teil einfach mit. Caren holte zwei Stühle aus dem Schuppen und nötigte Felix in einen hinein. «Was meinst du, sollen wir schon die Korken knallen lassen, oder gelüstet es dich nach der Familie?»

Felix winkte ab. «Laß man, das kommt ja sowieso noch.»

«Und ob, und ob. Oh, wie ich mich freue. Dieser Lappen sorgt wenigstens zwei Wochen für gute Laune im Hause Haunissen. Vielen Dank.»

«Du weißt genau, daß ich morgen abhaue.»

«Das macht nichts. Du bist dabei nicht so wichtig. Du mußt nur das Zeugnis hierlassen. Das zählt. Aus dem Papier werden unsere alten Herrschaften Kraft und Freude schöpfen.»

Caren lief in die Küche und kam mit einer Flasche Sekt zurück. «Hier, das muß fürs erste reichen. Keine Spitzenmarke, aber schon auf dem Weg nach oben. Hier, mach auf.»

Felix fragte gar nicht erst nach Gläsern. Er schüttelte die Flasche, donnerte den Korken gegen die Regenrinne des Hauses, ließ den Schaum abtropfen und reichte Caren die Flasche hinüber.

Sie schüttelte den Kopf. «Erst der Held des Tages, dann das Fußvolk.»

Felix setzte an und schaffte zwei, drei Schlucke. Dann war Caren dran. Dann wieder er, dann sie, er, sie, und langsam fühlte Felix sich wohl.

Caren bestand darauf, ihm ein Eis aus dem Tiefkühlfach zu holen. Sie füllte es in eine Glasschale und garnierte es mit Obst. An sowas hätte Felix nie gedacht. Er aß sein Eis immer direkt aus der Verpackung.

Caren beobachtete ihn beim Essen, das war ihm unangenehm. Verbissen schaufelte er die Brocken in sich hinein. Während der ersten Hälfte ließ sie ihn dafür wenigstens mit Worten in Ruhe. Dann kam sie zum Thema: «Wie willst du es ihnen denn nun beibringen?»

Felix schluckte. Am liebsten hätte er sich wieder dumm gestellt. Nur die Aussicht auf einen überflüssigen Wortwechsel trieb ihn zu einer klaren Antwort. «Ich kann ihnen erst dann etwas sagen, wenn ich weiß, was ich tun will. Ist doch einleuchtend, oder?»

«Du könntest sie doch wenigstens schonend darauf vorbereiten, daß sie sich zu früh auf deine Karriere freuen.»

Felix schwitzte von außen und fror von innen. Er schob das Eis weit von sich und betrachtete leicht angewidert, wie Caren es in sich hineinstopfte.

«Kommen ja auch einige Geldprobleme auf dich zu», murmelte sie mit viel zu vollem Mund.

Ungefähr so hatte Felix sich den Tag vorgestellt, an dem er sein Abitur in der Hand hielt. Von allen Seiten nur endgültige Wahrheiten. Sie hatten ja alle so recht und meinten es so gut. Es war nicht zum Aushalten.

 

Ein Auto hielt vor dem Haus. Renates Rückkehr stand an. Sie arbeitete bis mittags in der Buchhaltung der Lokalzeitung. Felix sackte in sich zusammen. Der nächste Freudenausbruch würde über ihn hereinbrechen. Eine Tür schlug zu, satt und schmatzend. Das war nicht der kleine Audi seiner Mutter. So hörte es sich an, wenn Wernher abends dynamisch federnd seinen Wagen verließ. Felix guckte vorsichtig über die Mauer der Terrasse. Er sah gerade noch, wie seine Eltern den Plattenweg betraten. Und richtig, auf dem Parkstreifen vor dem Haus stand Wernhers dunkelgrüner BMW. Da bahnte sich etwas an. Felix erschrak. Ihm stand ein Überfall bevor. Seine Eltern ließen es sich offenbar nicht nehmen, den Sohn gemeinsam zu beglückwünschen.

«Mein Gott», flüsterte er, und dann waren sie auch schon über ihm. Renate, die sonst nicht das Weibchen herauskehrte, konnte vor Rührung kaum reden. Die Stimme seines Vaters steckte voller Frösche, so daß er seine sonstige Hektik noch um einiges steigern mußte. «Felix, du hast es geschafft. Wir gratulieren dir.»

«Wir gratulieren herzlich», riefen sie gleichzeitig, warfen sich auf ihn und zerrten ihn aus dem Stahlrohrstuhl, um ihn besser umarmen zu können. Renate drückte ihm rechts und links einen Kuß auf die Wange.

Felix schloß die Augen. Es war ihm nicht unangenehm, aber es war zu heftig und zu stürmisch.

Dann trat Renate einen Schritt nach hinten, wobei sie nicht daran dachte, seine Hände loszulassen. Stolz und stumm betrachtete sie ihren Sohn. Wernher trat hinter ihr ungeduldig auf der Stelle. «Jetzt laß mich doch auch mal ran.»

Felix erschrak noch mehr. Hoffentlich ließ sie ihn jetzt nicht los. Sie ließ ihn los, und Felix fühlte sich von seinem Vater angenommen. Der drückte den Sohn stumm an die Brust. Als Felix die Augen öffnete, sah er gerade noch Caren im Haus verschwinden.