Ein Kommissar für alle Fälle - Norbert Klugmann - E-Book

Ein Kommissar für alle Fälle E-Book

Norbert Klugmann

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Beschreibung

Am Anfang war der Schrebergarten … Direktor Hassengier wollte sich gerade unauffällig entfernen, als plötzlich der alte Mann vor ihm stand. «Mit mir nicht», brüllte er sofort los. «Nicht mit mir. Ich gehe hier nicht weg. Ich lebe hier seit über dreißig Jahren. Hier ist meine Heimat. Hier will ich sterben, basta. Richten Sie sich danach.» Dem ist das ernst. «Mit den Beinen vorneweg», rief Rose. «Ich lasse mich nicht vertreiben. Nicht mehr. Nicht noch einmal.» … jetzt tritt Claudia in Aktion … Und dann war sie da. Sie zog einen faustgroßen knallroten Plastikschlauch aus der Tasche und schleuderte ihn mit den Worten «Mörder! Ihr seid alle Mörder!» gegen die Scheibe des Pelzgeschäftes. Mit einem reißenden Geräusch zerplatzte das Geschoß am Fenster. Das Blut spritzte nach allen Seiten weg und zog, als es nach unten lief, Spuren auf der Scheibe. … Kommissar Fleischhauer fängt Feuer … «Hör zu, Golze», sagte der Kommissar, «diese Frau ist ab sofort deine Frau. Diese Frau wird beschattet. Day and night. Rund um die Uhr. Lückenlos. Ich will wissen, was sie macht. Alles, was interessant sein kann. Alles, nicht mehr und nicht weniger.» … aber da ist jemand schneller, als die Polizei erlaubt. «Bitte nicht», flüsterte Hassengier. «Tun Sie das bitte nicht. Bringen Sie mich lieber um, aber nicht das. Das überlebe ich nicht. Diese Schande.» «Stellen Sie sich nicht so an», knurrte Rochus Rose, dann kettete er den Direktor der Passau-Paderborner an den zentralen Laternenmast des Parkplatzes vor dem Versicherungsgebäude.

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Seitenzahl: 320

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Norbert Klugmann • Peter Mathews

Ein Kommissar für alle Fälle

Polizeimärchen

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Am Anfang war der Schrebergarten …

Direktor Hassengier wollte sich gerade unauffällig entfernen, als plötzlich der alte Mann vor ihm stand.

«Mit mir nicht», brüllte er sofort los. «Nicht mit mir. Ich gehe hier nicht weg. Ich lebe hier seit über dreißig Jahren. Hier ist meine Heimat. Hier will ich sterben, basta. Richten Sie sich danach.» Dem ist das ernst. «Mit den Beinen vorneweg», rief Rose. «Ich lasse mich nicht vertreiben. Nicht mehr. Nicht noch einmal.»

… jetzt tritt Claudia in Aktion …

Und dann war sie da. Sie zog einen faustgroßen knallroten Plastikschlauch aus der Tasche und schleuderte ihn mit den Worten «Mörder! Ihr seid alle Mörder!» gegen die Scheibe des Pelzgeschäftes. Mit einem reißenden Geräusch zerplatzte das Geschoß am Fenster. Das Blut spritzte nach allen Seiten weg und zog, als es nach unten lief, Spuren auf der Scheibe.

… Kommissar Fleischhauer fängt Feuer …

«Hör zu, Golze», sagte der Kommissar, «diese Frau ist ab sofort deine Frau. Diese Frau wird beschattet. Day and night. Rund um die Uhr. Lückenlos. Ich will wissen, was sie macht. Alles, was interessant sein kann. Alles, nicht mehr und nicht weniger.»

… aber da ist jemand schneller, als die Polizei erlaubt.

«Bitte nicht», flüsterte Hassengier. «Tun Sie das bitte nicht. Bringen Sie mich lieber um, aber nicht das. Das überlebe ich nicht. Diese Schande.»

Über Norbert Klugmann • Peter Mathews

Norbert Klugmann und Peter Mathews, beide Jahrgang 1951, haben gemeinsam in der Reihe rororo thriller veröffentlicht: «Beule oder wie man einen Tresor knackt», «Ein Kommissar für alle Fälle», «Flieg, Adler Kühn», «Die Schädiger» und «Tote Hilfe».

Inhaltsübersicht

Die HauptpersonenEntsprechend dem Informationsbedürfnis ...«Liebe Kleingartenfreunde! Liebe ...

Die Hauptpersonen

Rochus Rose

Nachtportier und falscher Kommissar mit richtiger Spürnase.

Wieland Fleischhauer

richtiger Kommissar, dessen zweiter Frühling Hildegard heißt.

Willi Rose

Vater von Rochus, wurde zeit seines Lebens vertrieben. Jetzt will er nicht mehr weichen.

Lucas Messerschmid

gilt in der Branche als «Mann für alle Felle».

Else Schislaweng

besitzt eine der größten Maklerfirmen der Stadt und kennt Willi Rose in- und auswendig.

James Hassengier

steht als Direktor der Passau-Paderborner Versicherung vor und hat die Schrebergärtner gegen sich.

Fred Frenzel

erster professioneller Dognapper der Stadt, macht alle Höhen und Tiefen dieses Berufsstandes durch. Vor allem die Tiefen.

Achim Golze

Kriminal-Assistent. Brennt vor Ehrgeiz. Und jagt einen Spion namens Sottje.

Hildegard Klingebiel

Charmant, alleinstehend und Besitzerin eines Rauhhaardackels. Diese Kombination bringt die Story mächtig auf Touren.

Entsprechend dem Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit über die Arbeit der Polizei haben alle Dienststellen Anregungen, Vorschläge und Berichte an die Polizeipressestelle heranzutragen, wie z.B. …

Vorkommnisse tragischer oder komischer Art, die geeignet erscheinen, die Öffentlichkeit anzusprechen;

lobenswerte Taten (Geldfunde, Hilfe für Tiere …)

Aus der ‹Vorschrift für den täglichen Dienst der Polizei der Freien und Hansestadt Hamburg›

«Liebe Kleingartenfreunde! Liebe Familienangehörige, Angeheiratete und Gäste! Lieber Herr Hassengier und liebe andere Herren von der lieben Passau-Paderborner Versicherung …»

«Bist zu früh auf den Topf gesetzt worden, was Fritz?» rief Willi Rose dazwischen. «Da redet man selbst im Greisenalter noch verdächtig viel von Liebe.»

Ein Mann von vielleicht 40, der neben Rose stand und trotz des brotterigen Juni-Tages einen Trenchcoat trug, stieß dem alten Mann einen Ellenbogen in die Seite. Rose wandte sich zu ihm um. Breit grinsten sich die Männer an. Der Kopf des Vereinsvorsitzenden Fritz Elstner, 54, schoß hektisch nach rechts und links. Die klare Mehrheit der 384 Kleingärtner und Besucher des Sommerfestes applaudierte ihrem Vorsitzenden. Vereinzelt erklangen Rufe.

«Fritz, bleib ruhig.»

«Laß dich nicht anmachen, Chef.»

«Wir kennen doch unseren Willi.»

Willi Rose, du bist ein Giftzwerg, und ich hasse dich.

Wie ein Kleingärtner die Mistforke hebt, damit den Pferdedung auf die Beete ausbringend, warf Elstner beide Hände von sich.

«Silenzio», rief er.

Willi Rose juxte sich.

«Ruhe, Ruhe, Ruhe. Kein Grund zur Aufregung. Wir hatten auf dem Sommerfest unserer geliebten Kolonie ‹Blüh auf› soeben eine klitzekleine Irritation in Form einer Verhaftung, deren Unrechtmäßigkeit sich, das hoffen wir alle, schnell herausstellen wird.» Elstner, auf dem zur Tribüne umfunktionierten Anhänger stehend, dessen Seitenteile heruntergeklappt waren, räusperte sich ins Mikrofon, daß der schlafmützige Caritasmann, der für die Erste Hilfe angeheuert worden war, beide Augenlider gleichzeitig hob.

«Aber», tönte Elstner wichtig, «das soll uns nicht vergessen lassen, aus welchem Anlaß wir hier und heute …»

«… und morgen», krakeelte Willi Rose.

«… und morgen», wiederholte Elstner, wurde seines Irrtums gewahr und blitzte den renitenten Rose an.

«Mannchen, nun kommen Sie doch endlich zu Potte», forderte ihn Direktor Hassengier von der Passau-Paderborner Versicherung mit klagender Stimme auf. Elstner zuckte zusammen.

«Hier», rief er, machte einen Ausfallschritt nach hinten und gab den Blick auf die Männer frei, die den Anhänger bevölkerten. «Hier sehen Sie die Damen und Herren …»

Rufe ertönten, Elstner kam sofort wieder aus dem Gleichgewicht. «Die Herren also, nicht die Damen, die sehen Sie hier. Wenn ich mal eben vorstellen dürfte: Direktor Ehre von der lie … von der Passau-Paderborner Versicherung von 1870/71.»

Ehre zeigte Kieferknochen-Aktivität.

«Direktor Hassengier von der Passau-Pa …»

Hassengier machte eine kurze, scharfe Handbewegung, die Elstner in der Seele weh tat.

«Herr Lindemaier von der Werbeabteilung der Passau …»

Lindemaier lächelte den Vereinsvorsitzenden stumm an.

«Herr Bock und Herr Gärtner von unserer Bezirksversammlung, die es eingerichtet …»

Zwei Lächler: messerscharf der eine, butterweich der andere, je nach ihren politischen Vorbildern.

«Und Lutz», sagte Elstner lustlos ins Mikrophon. «Lutziputzi, der bekannte Discjockey, bekannt aus dem Rundfunk.»

Lutz, der als Diskussionsleiter engagiert worden war, zeigte unter aufgeknöpftem Hemd absolut haarreine Brust und riß Elstner das Mikrophon vom Mund. Mit lächerlichen Sidesteps sprang Lutziputzi auf der Bühne herum, dröhnte ins Mikro, daß er ein «fairer Diskussionsleiter» sein wolle, und kam nach einigen Anekdoten, die alle ihn als Mittelpunkt hatten, zum Thema. Vor der Bühne alberte eine Handvoll höchstens 13jähriger Mädchen herum. Diese Tatsache machte Lutziputzi den Abschied vom Mikro leichter. Er fand gerade noch Gelegenheit, es Hassengier auf den ausgeklappten Tapeziertisch zu stellen. Dann sprang er zwischen die Mädchen.

Direktor Hassengiers Blick flog über die Köpfe der dichtgedrängt stehenden Besucher des Sommerfestes. Du bist stark, James. Du bist klug. Du siehst gut aus. Dir kann keiner. Nur Käthe kann dir. Aber Käthe ist nicht da.

«Verehrte Anwesende. Irgendwo heißt es, daß man die Grausamkeiten gleich am Anfang begehen soll. Nun denn, ich nehme es auf mich.» Er machte eine Verbeugung, die, da im Sitzen vorgetragen, von den meisten in der ganzen Tragweite ihrer Symbolik gar nicht erkannt wurde.

«Ich sage ‹Ja›.»

Hassengier wartete ab, sah einem Vogel beim Vorbeifliegen zu. «Ich sage ‹Ja›. Es ist sachlich nicht von der Hand zu weisen, was in dem feigen, weil anonymen Brief steht, den alle Mitglieder Ihrer entzückenden Schrebergarten-Kolonie vor einigen Tagen in den Briefkästen gefunden haben. Die Passau-Paderborner Versicherung von 1870/71, für die ich hier die Ehre habe zu sprechen, sie muß sich vergrößern. Sie muß dies tun aus Fürsorge für ihre Beschäftigten. Sie muß es tun aus Fürsorge um die Millionen Versicherungsnehmer, die uns ihr Geld anvertraut haben und die nun verdammtnochmal zu Recht von uns erwarten, daß wir treuhänderisch, verantwortungsvoll und zukunfts- sowie renditeorientiert mit dieser ihrer Leihgabe umgehen.»

Du bist drauf, du bist sehr gut drauf.

«Wir sind zu Tränen gerührt», rief Willi Rose. «Nun mal Klartext.»

Hassengier starrte ihn an. Dich merk ich mir, du Lümmel.

«Ich sage nur: Arbeitsplätze.»

Hassengier hielt inne. Nicht zu kurz und nicht zu lange.

«Die Entscheidung für den Standort des neuen Verwaltungsgebäudes unserer Gesellschaft ist nach monatelanger, ach was sage ich: nach jahrelanger sorgfältiger, ach was sage ich: nach penibelster Abwägung aller Güter gefällt worden.»

Dadamdadammdadamm. (Narhallamarsch)

«Wir wollen Sie, liebe verehrte Kleingärtner nicht brutal von Ihrer liebgewonnenen Scholle reißen. Doch wir leben auch in einer Demokratie. Demokratie läßt den Wettstreit der Interessen zu. Demokratie setzt auf Argumente. Wir haben Argumente. Wir haben den Auftrag unserer Kunden.»

Dadamdadammdadamm. (Woll’n wir ihn reinlasse?)

«Die Passau-Paderborner ist sich bewußt, daß sie gerade auf diesem Grund und Boden ein schweres Erbe antritt. Wo Generationen von Schrebergärtnern Schweiß, Schwielen, Dung und Kali ausgebracht haben, kann ein Dienstleistungsbetrieb wie unserer sich nur jeden Tag aufs neue bemühen, diesem Erbe gerecht zu werden. Diesem Auftrag, denn als das betrachten wir das Land, das wir übernehmen: als Auftrag.»

Hassengier winkte leicht zu Direktor Ehre hinüber. Der schnappte sich das Mikrophon und referierte mit einer etwas nöligen Stimme über den zu erwartenden Zuwachs an Dauerarbeitsplätzen im neuen Verwaltungsgebäude. Hassengier warf fast übermütig die Höhe des Auftragsvolumens für den Hoch- und Tiefbau sowie die diversen Handwerke ein. Anschließend stellte Ehre einige Behauptungen in die Sommerluft. Eine davon lautete «Fachkompetenz», eine andere «Ohr am Puls der Bürgerbedürfnisse», wieder eine andere «Der Kleingarten im Licht der demokratischen Entscheidung». Bei diesen Worten blickten sich die beiden Nachwuchspolitiker erstaunt an. Ehre spielte den Politikern das Wort zu, einer nahm es.

«Die Erstellung des Bebauungsplans hat ihren ordnungsgemäßen bürokratischen, verwaltungsrechtlichen und auch baupolizeilich korrekten Weg genommen. Dieser Weg ist äußerst mühsam. Nur seriöse Pläne haben eine Chance, überhaupt durchzukommen.»

«Erzähl noch einen», rief Willi Rose.

Eingeschnappt verstummte der Nachwuchspolitiker.

Hassengier gab Lutziputzi ein Zeichen. Der riß sich von den kleinen Mädchen los, wollte auf die Bühne flanken und kletterte nur mühsam herauf. Dann sabberte er seine üblichen Lautfolgen ins Mikro und kündigte eine Dixieland-Kapelle an, die sich auf die Bühne helfen ließ, zu den Instrumenten griff und das Unausweichliche folgen ließ: Dixieland.

In der Viertelstunde, für die die schon betagten Jazzer Kondition besaßen, kamen unter den Kleingärtnern nur zähflüssig Gespräche auf.

«Hoijoijoi, das war ja ein Trommelfeuer.»

«Sauber, sauber.»

«Ist doch alles perfekt, was soll’s denn dann noch?»

Lutziputzi rief das Ende der Pause ins Mikro. Innerhalb weniger Sekunden produzierte er nicht weniger als sieben Wortspiele, davon fünf verunglückte und zwei äußerst peinliche. Hassengier nahm das Wort und gab es nicht mehr her. Er sprach von den Fristen, die zwischen Stadt und Versicherung und danach zwischen Versicherung und Fritz Elstner als Repräsentanten des Kleingartenvereins besprochen worden seien.

«Fritz, du bist eine miese Ratte», rief Willi Rose.

Daraufhin machte ihn Hassengier wegen seiner Wortwahl in einem furiosen, vor Scheinheiligkeit kaum mehr erträglichen Monolog an. Einige Kleingärtner klatschten. Rose stieß seine gespreizten Hände wiederholt gegen Hassengier und rief dabei die Worte «Hex hex». Hassengier lehnte sich leicht nach hinten, griff dann wieder zum Mikro. Läuft doch phantastisch. Alle machen belämmerte Gesichter, keiner kriegt die Zähne auseinander.

«Ich sehe sie vor mir, Ihre glücklichen Gesichter, wenn Sie in diesem Sommer die verdienten Früchte Ihrer kleingärtnerischen Bemühungen in die Scheuer fahren, die man heute wohl Tiefkühltruhe nennt.»

Hassengier ließ ein Schmunzeln in seinem Gesicht aufgehen und verglimmen. So viel Zeit muß sein.

«Ich sehe voraus, daß bei nicht wenigen von Ihnen eine gehörige Prise Wehmut in den reich gefüllten Gabenkorb der Natur hineinfallen wird. Es wird Ihre letzte Ernte auf diesem Grund und Boden sein», sagte Hassengier unendlich traurig. «Aber», fuhr er fort, «es gibt Trost. Der Trost trägt einen Namen. Der Name, er ist Jenfeld.»

«Da liegt meine Cousine auf dem Friedhof», krähte Willi Rose dazwischen, guckte kurz zu dem Mann im Trenchcoat und rief: «Cousin. Mein Cousin.»

Hassengier faßte einen Punkt zwischen Himmel und Erde ins Auge. «In Jenfeld hat die Passau-Paderborner ein Gelände erworben. Ich darf Ihnen sagen, daß wir einen harten Strauß mit unserer hauseigenen Revision ausfechten mußten, bevor sie uns das Plazet zum Erwerb des Geländes gab. Aber dann hat sie, wenn auch zähneknirschend. Zähneknirschend. Denn es hat uns ein kleines Vermögen gekostet, das ist wohl wahr.»

Hassengier hielt inne, wartete. Unglaublich, was die alles schlucken.

«Doch wir haben es getan. Wir mußten es einfach tun. Wir waren es Ihnen schuldig.»

«Taschentuch?» kam es von Willi Rose. Er wedelte mit einem großen Stofftaschentuch.

«Für die Tränen. Nach meiner Einschätzung kann es sich nur noch um Sekunden handeln, bevor sie Ihnen kommen.»

Viele Kleingärtner lachten, es klang wie befreit. Hassengier sammelte sich.

«Vom ersten September an stehen Ihnen in Jenfeld Parzellen von jeweils 350 Quadratmetern Größe zur Verfügung.»

«Und natürlich heißt das Ganze da auch wieder ‹Blüh auf›», rief Fritz Elstner dazwischen.

Hassengier zuckte zusammen. Du trübe Tasse.

«Eine neue Kolonie, ein neues Glück. Ich möchte einen gewagten Vergleich bemühen. Die Pioniere, die den unerschlossenen Wilden Westen der Vereinigten Staaten vor über 100 Jahren in Angriff nahmen, und Sie, die Sie in Jenfeld den Spaten in jungfräuliches Erdreich stoßen, ja, nun sagen Sie mal selber, spüren Sie nicht, welch reizvolles Abenteuer da auf Sie zukommt?»

Die Kleingärtner spürten in sich hinein. Währenddessen reichte Hassengier das Mikrofon an den Kollegen Ehre weiter. Während der sofort wieder aus dem Zusammenhang gerissene Zahlen vom Anhänger warf, ging eine junge, nicht unattraktive, wenngleich etwas verhungert aussehende Frau einige Schritte zur Seite und griff nach dem Diktiergerät in ihrer Handtasche, die so groß war, daß ein halbes Schwein darin Platz gehabt hätte.

«Jo Puttel vom sogenannten vorgezogenen Sommerfest der Kleingartenkolonie ‹Blüh auf›, in Wirklichkeit natürlich eine Propagandashow der PP. Nachdem ein mutmaßlicher Tresordieb gefaßt wurde und die Polizei mit Oberkommissar Fleischhauer ins Präsidium gefahren ist[*], geht das Sommerfest weiter. Erster Eindruck nach knapp einer Viertelstunde Geseiche der Sonnenbankmasken und Charakterleichen auf dem Anhänger: Die Jungs haben die Chose voll im Griff. Besonders die beiden Direktoren von der PP werfen sich die Bälle zu, daß sich einem der Magen umdreht. Klasse Profis, die machen mit den intellektuell doch irgendwie luftmaschenähnlich gehäkelten Kleingärtnern, was sie wollen. Thema: Wie kriegt man die Krauter ohne Blutvergießen bis zum Herbst von der Scholle geekelt, ohne daß sie eine Bürgerwehr gründen oder sonstwie laut werden? Die Passau-Paderborner kann die Aufträge für den Bau ihres neuen Verwaltungspalastes nach meiner Einschätzung getrost kuvertieren und frankieren. Wahrscheinlich hat sie das schon längst gemacht. Hier steht Klasse gegen Masse. Einstweilen Schluß, nachher mehr. Dies war Jo Puttel, Allgemeine.» Die Frau steckte das Diktiergerät in die Tasche und mischte sich unter die Zuhörer.

Auf dem Anhänger war mittlerweile schon wieder Hassengier dran. «Ein Wort nur noch zu der unglaublich feigen Praxis des anonymen Schmierfinken, der sich nicht zu schade war, Privatbriefe zu fotokopieren und auch noch zu verschicken. Das Briefgeheimnis, liebe Zuhörer, ist ein Grundpfeiler unserer bürgerlichen Demokratie. Und wenn bei dem einen oder anderen von Ihnen nach Lektüre des Briefes etwa der Eindruck entstanden sein sollte, daß der auch von mir sehr geschätzte Herr Elstner – Ich brauche einen Schnaps – eine Zuwendung in Form von Geld aus meinem Hause angenommen haben könnte …»

«… geschmiert habt ihr ihn», rief Willi Rose, «das ist doch sonnenklar. Ihr habt dem Fritz sein Gewissen abgekauft. Aber das sage ich euch: Wenn ihr dafür mehr als drei Mark fünfundneunzig bezahlt habt, habt ihr zuviel bezahlt.»

Lutziputzi hatte das Gefühl, daß sein Erscheinen überfällig war. Er drängte sich in den Vordergrund und kündigte eine neue Ladung Dixieland an. Danach schmetterten Hassengier und Ehre eine Handvoll ungelenk vorgebrachter Fragen von Kleingärtnern ab, und Lutziputzi eröffnete grimassierend den gemütlichen Teil des Sommerfestes.

Direktor Hassengier wollte sich gerade unauffällig entfernen, als plötzlich der alte Mann vor ihm stand.

«Mit mir nicht», brüllte er sofort los. «Nicht mit mir. Da brauchen Sie sich gar keine falschen Hoffnungen machen. Ich gehe hier nicht weg. Ich lebe hier seit über 30 Jahren. Hier ist meine Heimat. Hier will ich sterben, basta. Richten Sie sich danach.»

«Na, na», sagte Hassengier besänftigend, «echauffieren Sie sich nur nicht.»

«Ich rege mich aber auf. Ihr wollt uns hier rausekeln. Ihr habt das geschickt angezettelt, Respekt. Aber mit solchen Mätzchen kriegt ihr vielleicht Angsthasen aus der Kolonie. Mich nicht. Mich kriegt ihr nur mit beiden Beinen vorneweg hier runter.»

Hassengier starrte den erregten alten Mann an. Dem ist das Ernst. «Mit den Beinen vorneweg», rief Rose. «Ich lasse mich nicht vertreiben. Nicht mehr. Nicht noch einmal.»

Er brach ab und drängte sich durch die Umstehenden.

Direktor Ehre stieß einen Pfiff aus, der wie alles, was aus ihm herauskam, leise ausfiel.

«Was wollte uns denn dieses geriatrische Erdbeben sagen?»

«Das war Willi», sagte Elstner beeindruckt. «Willi ist ein Sonderfall. Der ist so was wie die Seele der Kolonie.»

«Das wollen wir doch alle nicht im Ernst hoffen», rutschte es Hassengier heraus.

«‹Blüh auf› gibt es ja erst seit 52», fuhr Elstner fort. «Und Willi ist fast vom ersten Tag an dabei. Hat sich seine Laube pö a pö befestigt und winterfest gemacht. So richtig mit Steinen und Zement. Für die Ewigkeit eben.»

«Eben nicht», korrigierte ihn Ehre.

«Wie schätzen Sie das denn ein, lieber Elstner?» Direktor Hassengier guckte neidisch auf einen Kleingärtner, der sich von seiner Frau Eiswürfel in seinen Apfelkorn-Becher klunkern ließ.

«Ist der Herr Rose ein sagenwirmal halsstarriger Mensch, oder kann man mit dem reden?»

«Stur ist der Willi, aber eine Seele von Mensch», erwiderte Elstner versonnen. «Man muß ihn nur zu nehmen wissen.»

Das wissen wir.

***

Das alte Ehepaar rettete sich vor dem heranschießenden Taxi mit grotesken Sprüngen über die breite Hamburger Einkaufsstraße. Während der Mann hinter dem Taxifahrer eine geballte Faust hob, klopfte die Frau an ihrem Mann herum.

«Ist schon gut», knurrte er unwirsch und wehrte ihre fürsorglichen Hände ab.

«Wie leicht hättest du stürzen können», murmelte die Frau.

«Du auch», konterte er.

Es ging ihm seit Jahren auf den Geist, wie sie ihn bemutterte. Als sie nicht von ihm ablassen wollte, ging er einfach los.

«Adolf, warte», rief die Frau, packte die Plastiktüten und eilte hinterher.

«Es ist immer dasselbe mit den alten Männern», keuchte sie im Vorbeilaufen dem Mann im Trenchcoat zu. Der Mann blickte ihr so lange nach, bis sie ihren Mann eingeholt hatte.

Er entkommt ihr nicht, nicht mehr.

Der Mann im Trenchcoat war vielleicht 40. Er war knapp überdurchschnittlich groß und strahlte Massigkeit aus, ohne dick zu sein. Sein Gesicht zeigte lauernde Erwartung. So ähnlich sahen an diesem Augusttag viele Menschen in dieser Straße aus. Bei ihnen war es jedoch nur die Freude über Einkäufe, die vor oder hinter ihnen lagen. Der Mann wollte nicht einkaufen. Wegen des Mantels, den er trotz der Hitze trug, wirkte er seltsam deplaciert. Der Mann stand ruhig da, das war der zweite Grund, weshalb er aus der Rolle fiel.

Er bewegte sich nur, um einige Schritte zu tun. Dann kehrte er zu seinem Ausgangspunkt zwischen Pelz- und Juwelierladen zurück. Der Mann wartete, aber er war nicht ungeduldig. Sie wird kommen.

Dem Mann war warm, aber er schwitzte nicht. Noch heizte die Sonne nur die andere Straßenseite auf.

«Na, kommt sie nicht?» flachste eine mittelalte Frau den Mann an und hakte sich schnell bei ihrer Freundin ein. Die beiden Frauen hatten insgesamt sieben Plastiktüten bei sich.

«Sie wird kommen», sagte der Mann hinter ihnen her. Da hatten die Frauen ihn längst vergessen.

In den folgenden 20 Minuten konnte ein Beobachter nur an den häufigen Seitenblicken erkennen, daß der Mann ungeduldiger wurde. Er ging einige Meter Richtung Rathaus und blickte auf die Parkuhr, an der ein dunkelgrüner Lada 1200 Kombi stand. Danach sah er gelassen dem Polizisten entgegen, der mit einem Gesichtsausdruck zwischen Wichtigtuerei und Neid soeben dem Sechszylinder einen Strafzettel verpaßte. Der Polizist kam an zwei frisch gefütterten Uhren vorbei, seine Miene verfinsterte sich. Er erreichte die Lada-Uhr. Sie hatte noch fünf Minuten.

Und dann war sie da. Als der Mann im Trench sich umdrehte, stand sie schon vor dem Schaufenster des Pelz-Geschäfts und griff in eine undurchsichtige Einkaufstasche mit der Aufschrift «Jute statt Schlechte». Sie zog einen faustgroßen knallroten Plastikschlauch aus der Tasche und schleuderte ihn mit den Worten «Mörder! Ihr seid alle Mörder!» gegen die Scheibe des Pelzgeschäfts. Mit einem reißenden Geräusch zerplatzte das Geschoß am Fenster. Das Blut spritzte nach allen Seiten weg und zog, als es nach unten lief, Spuren auf der Scheibe. Ein Paar, das die Auslagen des Ladens betrachtet hatte, wurde von einem Schwall getroffen. Während der Mann ganz starr wurde und an sich herabblickte, begann die Frau vor Ekel und Panik zu zittern. Mit beiden Beinen auf dem Pflaster aufstampfend, begann sie, ihre Jacke von den Schultern zu reißen. In hohem Bogen schleuderte sie das blutbefleckte Stück von sich. Dann wischte sie mit fahrigen Bewegungen ununterbrochen über die Blutspritzer auf ihrem Rock, wobei sie sich beide Hände besudelte, die sie, als sie das bemerkte, weit von sich streckte und schrie. Passanten, die nur wenige Spritzer abbekommen hatten, fluchten oder blickten ungläubig. Aus dem Pelzgeschäft eilten eine tipptopp gepflegte Endfünfzigerin und ein Mann, der wie ein Südamerikaner aussah. Die Frau, die den blutgefüllten Schlauch geworfen hatte, rief erneut: «Mörder!» Der Südamerikaner stürzte auf sie zu. In diesem Moment kam in den Mann im Trench Bewegung. Die Frau griff in die Einkaufstasche, holte aus. Der Mann im Trench griff ihr in den Arm, der Blutbeutel fiel auf den Bürgersteig und platzte. Passanten sprangen zur Seite.

Panik brach aus, man schrie, flüchtete, eilte von weitem hinzu, Taxifahrer und Busfahrer riefen in die Funkgeräte. Der Mann im Trench riß die junge Frau aus dem Haufen von Passanten heraus. Die Menschen wichen zurück. Der Mann erreichte den Lada, die Frau wehrte sich gegen seinen Griff.

«Laß das! Du sollst das lassen, oder ich schreie um Hilfe.»

«Ich habe Zweifel, ob du im Augenblick einen Kavalier finden würdest», zischte der Mann, riß die Fahrertür auf und stopfte die Frau regelrecht hinein. Sie wehrte sich, rief auf den Bürgersteig:

«Tiermörder! Ihr seid schuld, wenn die letzten Leoparden sterben.» Der Mann drückte die Frau auf den Beifahrersitz. Als er sie halb hinübergedrückt hatte, sprang er selbst in den Wagen. Der Stoß, den sein Körper der Frau versetzte, genügte, um sie gegen die rechte Tür zu werfen. Der Mann schlug die Tür zu, drehte den Schlüssel, bollernd sprang der Motor an.

Die Frau kurbelte das Fenster herunter, hängte den Kopf raus und schrie:

«Das war nur der erste Akt. Ihr sollt euch nie mehr sicher fühlen.» Der Mann zog sie in den Wagen und blickte kurz ins Gesicht des Strafzettelpolizisten. Dann rangierte er den Lada aus der Lücke, die durch einen nach ihm gekommenen Wagen gefährlich eng geworden war. Rasant schrammte der Kombi das Heck der Limousine. Der Mann schaltete hoch, der Lada gewann an Geschwindigkeit, ohne nun irgendwie schnell zu werden. Der Sozialismus braucht auch seine Zeit. Kein Wagen verfolgte ihn, die Leute waren zu überrascht. Der Mann entspannte sich und brachte den Wagen auf eine Ausfallstraße. Die Fraubrummelte vor sich hin:

«Rochus, du bist ein komischer Vogel, das habe ich gleich gemerkt, als ich das erste Mal ins Hotel gekommen bin. Aber was du dir heute geleistet hast …»

«… Du solltest froh sein, Claudia. Die hätten dich gepackt, und du würdest jetzt schon auf einer Polizeiwache sitzen.»

«Das ist auch gut so», sagte Claudia bockig. «Dann wird die Sache wenigstens offiziell. Zeitungen, Illustrierte, Fernsehen. Das wollte ich doch. Und es hätte auch geklappt, wenn du nicht …» In einem jäh hochschießenden Wutanfall trommelte sie mit beiden Fäusten auf den Unterarm des Mannes. Der Ladaverriß leicht und gab dem Ehepaar im nachfolgenden grundsoliden PKW Anlaß zu einer haßerfüllten Betrachtung über Suff am hellichten Tag.

«Laß das», sagte der Mann, «willst du, daß ich uns beide in die Hölle fahre?»

«Na und?» begehrte sie auf. «Wenn es den armen Tieren schlecht geht, warum soll es uns dann besser gehen?»

«Red nicht so einen Unfug. Mit deiner Farbspritzerei hilfst du keinem einzigen …»

«Das war keine Farbe, das war Blut. Echtes.»

«Donnerwetter», sagte Rochus verblüfft. «Hast du zu diesem Zweck etwa …»

«Schlachthof. Da gibt es ganze Fässer voll», sagte Claudia eifrig und blickte an sich herunter. Dunkle Flecken auf ihrer dunkelblauen Kleidung zeigten die Stellen, wo es sie erwischt hatte.

«Wo fahren wir eigentlich hin?» fragte sie plötzlich und blickte wild aus verschiedenen Fenstern.

«Erst mal raus, habe ich gedacht. Sicher ist sicher.»

«So ein Quatsch. Halt an. Ich will raus. Sofort. Na los, anhalten.»

«Hier?»

«Ja, hier», antwortete sie patzig. Sie befanden sich auf einer vierspurigen Straße, die Stadt lag hinter ihnen. Rochus fuhr rechts ran. Claudia riß die Tür auf und sprang hinaus.

«Du solltest es dir noch mal überlegen.»

«Danke, ich überlege aber nicht», sagte sie und knallte die Tür zu, der Aschenbecher schoß aus der Halterung. Der Mann stieß ihn zurück.

«Das Gefühl habe ich auch», sagte er leise, machte den Blinker raus und fädelte sich ein. Die Frau blickte sich um. Ihre helle Wut wurde von dumpfer Erbitterung beiseite geräumt.

***

Der Pekinese schnappte zu. Fred starrte das fressende Tier an. Du solltest dich schämen, für so ein häßliches Vieh Geld zu verlangen. Der Pekinese stieß beim Fressen Geräusche aus, die Fred noch stärker gegen das Tier aufbrachten. Außerdem gehörte Beefsteakhack neben Mohnschnecken und Saubohnen (jedes Böhnchen gibt ein Tönchen) zu Freds Lieblingsessen. Es tat ihm schon leid, daß er ein Viertel für stolze drei Mark gekauft hatte und der Hund jetzt alles wegfraß. Doch der Pekinese war erst sein zweiter Hund, da wollte er nichts riskieren. Immer bei Laune halten.

«Sagen Sie bloß nicht, daß Sie das Vieh niedlich finden», blaffte Fred die rothaarige Frau an, die vor der Waschmaschine stand und den Hund betrachtete.

«Den Gefallen kann ich Ihnen gerne tun», sagte sie.

«Danke.»

Die Frau setzte sich vor ihre Maschine, fummelte einen Baccara-Roman aus dem Einkaufsnetz und begann zu lesen. Bei jedem Blättern guckte sie erst auf das Bullauge ihrer Maschine, danach auf den Pekinesen.

An diesem Nachmittag war im Waschsalon wenig los. Im Hintergrund kämpfte ein Neger mit der Heißmangel, während ein zweiter Schwarzer den Getränke-Automaten mit Münzen fütterte.

«Nix Glücksspiel», rief Fred, der den Schwarzen nicht ins Unglück rennen lassen wollte, «ist trinken, gluckgluck, du verstehn?»

Dabei tat er so, als ob er sich ein Getränk in die Kehle schüttete. Der Schwarze sah ihn an, schüttelte den Kopf, drückte zweimal auf einen Knopf und ging mit den Getränken zu seinem Freund.

«Kann ja keiner riechen, daß das Studierte sind», maulte Fred den Pekinesen an, der auf der Waschmaschine herumzutoben begann. Fred schätzte gerade die Chancen des Hundes ab, einen Sturz von der Maschine zu überleben, da betrat der Mann im Trenchcoat den Waschsalon. Fred strahlte, der Mann setzte sich neben Fred, stand auf, zog den Mantel aus und wollte sich wieder hinsetzen, da stutzte er. Er betrachtete den Mantel von allen Seiten, stopfte ihn in eine Maschine, holte sich Waschmünzen und Waschpulver und wählte ein Programm. Dann ließ er sich neben Fred auf die Bank fallen.

«Mensch, Rochus, dich schickt der Himmel», sagte Fred erfreut.

«Das ist durchaus möglich», erwiderte Rochus Rose.

«Den Mantel können Sie nachher dem Pudel anziehen», rief die Hausfrau herüber. Ihre Stimme klang hilfsbereit und freundlich.

«Meinen Sie?» fragte Rochus betroffen und betrachtete kummervoll den Mantel.

«Sie können ihn ja noch rausholen», rief die hilfsbereite Frau.

«Auf keinen Fall. Da muß er durch», erwiderte Rochus.

Die Frau und Fred blickten ihn an.

«Heute ist nämlich ein ganz besonderer Tag», sagte Rochus.

«Darauf kannst du einen lassen», bestätigte Fred und schabte mit einem Finger den Rest des Beefsteakhacks vom Papier. Rochus sah den Hund.

«O nein.»

«War eine günstige Gelegenheit.»

«Daß du das nötig hast», sagte Rochus und starrte immerzu den Hund an. «Da war ja dieser verhungerte Strich in der Landschaft noch ansehnlicher.»

«Das war ein Windspiel und hätte gut und gern einen Tausender bringen können», erinnerte sich Fred wehmütig.

Rochus wußte, daß ihm das Tier ausgerissen war. Er wollte nicht in der Wunde herumrühren.

«Hast du denn schon die Besitzer kontaktet?»

«Logo. Telefonnummer und Groschen, alles im Halsband.»

«Na und?»

«500 habe ich gesagt, weil er so klein ist. Sie wollen sich die Sache überlegen. Heute abend soll ich wieder anrufen.»

«Fred, Fred, so wie du die Sache anfängst, stimmt sie irgendwie nicht», sagte Rochus bekümmert.

«Weiß ich ja», sagte Fred, «aber ich betrachte das als Lehrzeit. Fünf Hunde habe ich mir als Frist gesetzt, da beobachte ich mich auf Fehler und merze sie aus. Ab Hund 6 wird kassiert. Jedenfalls ist dieser Job besser als die Geschichte mit den Videorecordern und Espresso-Maschinen damals. Auch natürlicher irgendwie.»

Ein Haufen höchstens zwölfjähriger Punker kam in den Waschsalon gepoltert. Sie lärmten herum und guckten die Anwesenden durch, mit wem sich am besten ein Streit anzetteln lassen würde. Der Anführer entschied, gegen die beiden Schwarzen ins Feld zu ziehen.

«Schön weiß, ey», sagte der Grünhaarige zu dem Schwarzen, der gerade ein Laken durch die Mangel schob.

«Du weiß, ich schwarz», lachte der.

Die Punker beschlossen mit Mehrheit, daß der Schwarze sie soeben angemacht hatte. Einer stieß den Becher Cola um, der auf dem Rand der Heißmangel stand und verschwand blitzschnell hinter den schmalen Rücken seiner Kumpels.

«Das ist für die Anmache», sagte der Grüne.

Die Schwarzen blickten sich an, griffen einen aus der Meute und schleppten ihn zu einer Waschmaschine. Einer hielt ihn fest, der andere zog Waschpulver aus dem Automaten. Dem Rest der Meute schlotterten die Knie. Als die Schwarzen begannen, den Oberkörper des Kerlchens in die Öffnung der Maschine zu stecken, flohen sie aus dem Waschsalon.

Die Schwarzen lachten, streichelten dem Jungen über den Kopf und gingen weiter mangeln. Das Kerlchen schleppte sich «Mami» heulend zu der rothaarigen Frau und bekam eine dermaßen herbe Kopfnuß verpaßt, daß Fred das Gesicht verzog.

Rochus griff den Pekinesen am Nackenfell und schüttelte ihn mehrere Male durch.

«Mußt aufpassen, der ist nicht besonders stabil», sagte Fred, ging zum Getränke-Automaten und kam mit zwei Bechern Kaffee zurück.

«Claudia trinkt ihren auch mit Milch», sagte Rochus. «Und mit Zucker.»

«Dann ist sie wahrscheinlich unheimlich süß», tippte Fred.

«Woher weißt du das?»

Fred stand auf, griff den Pekinesen und schüttelte ihn ebenfalls durch.

«Bei dem stimmt es schon von der Konstruktion her nicht», sagte er verbittert. «Völlig schlapp. Ein richtiger Durchhänger. Wahrscheinlich waren das vor hundert Generationen noch menschenfressende Wölfe. Dann ist ein Züchterverein über sie hergefallen, und das haben wir nun davon.»

Beide süffelten schweigend ihren Kaffee, Fred biß dabei auf dem Becherrand herum, Rochus ging das Geräusch auf die Nerven. Er guckte auf den Mantel hinter dem Bullauge. Puppenkleider. Deine Schwester Karin hat früher immer mit Puppenkleidern rumgemacht.

«Also, von wegen Claudia», sagte Rochus.

In der Ecke, wo die Heißmangel stand, ertönte Lachen. Jeder Neger hielt ein halbes Laken in die Höhe. In diesem Moment kam ein dralles Mädchen von höchstens 19 Jahren in den Waschsalon. Fred biß in seinen Pappbecher. Friseuse. Oder Kindergärtnerin.Sie hatte zwei Tüten Wäsche dabei. Während sie eine Maschine füllte, scherzte sie mit den Schwarzen herum. Die flachsten zurück und wedelten mit dem kaputten Laken. Einer sagte einen Satz, in dem mehrere Male das Wort «flicken» vorkam.

«Nun reißen Sie sich doch mal zusammen», rief die rothaarige Frau. «Hier ist ein Kind im Raum.»

Der verheulte Punker blickte sich suchend um.

Dann erzählte Rochus Rose von dem Erlebnis mit Claudia.

«Sie kommt erst seit zwei Wochen in den ‹Deichgraf›. Jeden Abend, wenn ich Dienst habe. 22 Uhr 30. Nie später als 22 Uhr 40. Jeden Tag bis auf Montag. Montag ist tote Hose, sagt sie.»

Fred spürte, daß er zu schwitzen begann. Rochus erzählte weiter. Die Schwarzen, die immer noch mit der Krankenschwester herumschäkerten, schienen sich sehr wohl zu fühlen. Kein Wunder bei diesem schwülen Wetter. Und dann noch die stickige Luft hier drinnen. Da tauen die doch erst richtig auf. Das brauchen die als Betriebstemperatur.

«Ich also mit ihr rein ins Auto, Kavalierstart und weg», erzählte Rochus begeistert. «Eigentlich hätte sie mir dankbar sein können. Aber nichts. Wütend war sie, daß ich sie von ihrer Heldentat abgehalten habe.»

«Warum macht das Mädchen auch so was?» murmelte Fred.

Der Pekinese quengelte auf der Waschmaschine herum.

«Das hat sie mir vor zwei Tagen erzählt. Wenn das stimmt und kein faules Ei ist, mannomann, ein dickes Ding, eine tolle Geschichte. An so einer Geschichte war ich überhaupt noch nie dran.»

«Und du warst ja nun schon an einigen Geschichten dran», sagte Fred, um Rochus einen Gefallen zu tun.

«Das will ich meinen. Aber diese Sache, das ist Kriminalität. Wie aus dem richtigen Leben.»

Der Pekinese hörte auf, am Rand der Waschmaschine herumzuzappeln. Er konzentrierte sich, fiel von der Waschmaschine, hob an der Sitzbank ein Bein und strullte knapp neben Freds Schuh. Er schoß einige hängengebliebene Tropfen hinterher, schnüffelte an der Pfütze und sprang wie ein Gummiball auf Freds Schoß. Hilflos schwankte Fred zwischen Ekel und dem Drang, das kleine Tier zu streicheln.

«Claudia weiß Bescheid über eine krumme Geschichte mit seltenen Fellen.»

«Aha», sagte Fred und wartete darauf, daß sich an der Stelle auf dem Handrücken, über die der Pekinese gerade geleckt hatte, etwas ereignete. Hautausschlag. Pickel. Gürtelrose.

«Woher weiß deine Claudia denn so gut über den Pelz-Deal Bescheid?»

«Meine Claudia», sagte Rochus versonnen, «das wäre schön. Sie hat bis vor kurzem bei einer Firma im Hafen gearbeitet, die handelt mit solchem Zeug.»

«Da gibt es eigene Firmen für?» fragte Fred verblüfft. «Hätte ich gar nicht gedacht.»

«Die wirklich wertvollen Pelze machen nur einen kleinen Teil von dem aus, was sie hier anlanden. Das meiste ist Kuhleder für Schuhe und Koffer.»

«Und Portemonnaies», sagte Fred mit glänzenden Augen.

Kurz vor 18 Uhr verließen sie den Waschsalon. Rochus, der seinen Mini-Trench dem tränenverschmierten Punker geschenkt hatte, wollte nach Hause, Fred ging zur nächsten Telefonzelle. Er mußte ein paar Minuten warten, weil ein ungesund aussehender Mann von Ende 40 irgendwem sein komplettes Notizbuch vorlesen mußte. Die Stimme des Mannes kam Fred bekannt vor. Mißmutig nahm er aus dem eigenen Bargeldbestand. Das zahlt ihr mir doppelt und dreifach zurück. Beim erstenmal verwählte er sich. Die alte Frau kapierte nicht, daß Fred sich verwählt hatte. Er brauchte mehrere Minuten, um die zehn schlimmsten Mißverständnisse auszuräumen. Dann drückte er die Gabel, pfriemelte neue Groschen aus der Gesäßtasche und spielte ein neues Spiel. Er gewann den Anschluß Haferkamph in Altona. Die Frau von heute mittag war dran. Im Gegensatz zum ersten Gespräch benahm sie sich, als ob sie nicht bis drei zählen konnte. Sie stellte dumme Zwischenfragen, wiederholte komplette Sätze von Fred und rief dann nach ihrem Gatten. Fred flog das Ohr ab. Mit schneidender Stimme teilte der Gatte Fred mit, was er von Leuten hielt, die es nötig hatten, unschuldige kleine Hündchen zu entführen. Nach wenigen Sekunden verließ der Gatte den Rahmen bürgerlicher Höflichkeit und konzentrierte sich im darauffolgenden Monolog immer ausschließlicher auf das Ausbringen von Beschimpfungen. Zuerst hörte Fred automatisch zu, weil er der Typ Mensch war, der Gemeinheit beim Gegner durchaus würdigen konnte. Als jedoch der Gatte nach müden Dingern wie «Arschloch» und «Mistkerl» über «Sackratte», «Pisser», «Hurenbock» zu Bezeichnungen fand, die selbst für Fred neu waren, legte er auf. Nach diesem Gespräch wußte Fred nicht mehr, warum sich solche Leute ausgerechnet einen Pekinesen anschafften. Aber Säbelzahntiger sind ja ausgestorben.

***

Am Dienstag ging die Sonne nicht erst umständlich auf, sie war gleich da, ballerte mit ihren Strahlen um sich und traf Wieland Fleischhauer durch die Augen mitten ins Herz. Haßerfüllt starrte er auf den prächtigen Goldregen vor seinem Schlafzimmerfenster, in dem, wie Fleischhauer schätzte, 2500 Vögel das Geräusch eines startenden Jumbo-Jets imitierten. Fleischhauer hatte alle Tricks probiert, Dutzende Male hatte er im Schutz der Dunkelheit gegen den Stamm des Goldregens uriniert. Wenn er männlichen Besuch hatte, dessen soziale Stellung eine diesbezügliche Bitte zuließ, hatten bis zu vier angeschickerte Männer spät in der Nacht um den Stamm herumgestanden und rauschend ihren Strahl abgeschlagen. Trotz lauschigen Sommerwetters hatte Fleischhauer danach mehrere Tage nicht die Terrasse benutzen können. Der scharfe Geruch des Urins ließ einen Aufenthalt nicht zu.

Im Stamm des Goldregens steckte über eine Mark in Münzen zu zwei Pfennigen. Fleischhauer hatte auf dem Dienstweg das Umweltamt um Beistand gebeten und von einem Amtmann, der auf dem absteigenden Ast saß, den Tip mit dem Kupfer gesteckt bekommen. Der Goldregen zeigte keinerlei Wirkung. Er war kurz davor, ätzende Flüssigkeiten gegen den Baum einzusetzen. Jetzt stand Fleischhauer nackt, unausgeschlafen, mit einem pelzigen Gefühl im Rachenraum am Fenster und verwünschte die Jumbo-Jet-Generation im Baum. Als er realisierte, daß die Töne im Radio zu Drafi Deutschers «Marmor, Stein und Eisen bricht» führen würden, trat er spontan einen Schritt nach hinten. Bloß nicht nackt am Fenster erwischen lassen. Da kommst du in Teufels Küche.

Oberkommissar Fleischhauer öffnete die Tür des Schlafzim-merschranks und betrachtete sich im mannshohen Spiegel. Mich würde dieser Anblick auch nicht wahnsinnig machen. Im Spiegel sah er das Doppelbett, von dem Gisela und er bis sechs Monate vor ihrem Auszug oft nur die Hälfte in Anspruch genommen hatten. Seitdem waren ganze zwei Frauen durch das Bett gegangen wie Vorgänge durch Fleischhauers Post-Ausgangskorb. Nur schneller. Selbst diese verständlichen Auflehnungen gegen das gähnende Loch nach Dienstschluß waren mit der Zeit immer seltener geworden. Als Fleischhauer auf der linken Seite des Doppelbetts zwei Jahrgänge «Der Kriminalist», die neuesten Ausgaben von «Spiegel» und «Stern» sowie das Hamburger Telefonbuch liegen sah, fühlte er statt des pelzigen einen bitteren Geschmack im Mund.

Er trank einen gallebitteren Kaffee, der ihm sofort auf die Därme schlug. Während er auf dem Klo saß, putzte er sich die Zähne. Cäsar konnte sieben Sachen gleichzeitig machen.40 Minuten nach offiziellem Dienstbeginn klemmte Fleischhauer den Volvo auf den Parkplatz des Polizeihochhauses. Der Wagen stammte wie auch der Läufer auf der Treppe von Gisela.

«Wenn wir einmal Kinder haben, sollen sie eine reelle Chance haben, den Tag ihrer Einschulung zu erleben», hatte sie gesagt.

Fleischhauer konnte sich nicht erinnern, daß jemals ein Kind in dem Volvo gesessen hatte. Doch. Die schwangere Prostituierte, der der Zuhälter aus Wut wegen Verdienstausfall in die Kehle geschnibbelt hatte. Und die kleine Wasserleiche.

Während des Gehens nickte er regelmäßig nach rechts und links. Abwesend drückte er im Fahrstuhl sein Stockwerk. Assistent Achim Golze hechelte schon wieder in seinem Zimmer herum. Wegen des grünen Hemdes hätte Fleischhauer den Assistenten am liebsten getreten.

«Tach, Chef. Keine verdächtige Färbung im Morgen-Urin? Stuhl all right? Abgehender Husten? Na, Sie sind ein Glückspilz», sabbelte Golze und fegte zwischen den beiden Büros hin und her. Fleischhauer wusch sich die Hände. Das Stück Seife flutschte wieder weg. Er kroch auf dem Boden herum. Wenn es ein Hund wäre, könnte man es rufen. Lux, Lux. Komm, Lux.

An den zwei Beinen, die in hellgelben Socken und stinkenden Turnschuhen ausliefen, erkannte Fleischhauer, daß Golze sich schon wieder auf seinen Stuhl gesetzt hatte.

«Morgen-Rapport», jubelte Golze, während Fleischhauer die Seife zwischen Heizkörper und Fußbodenleiste hervorpulte.

«11 Uhr Besprechung bei Schmidt-Schnelsen, der leere Container, in dem eigentlich 150000 Zigaretten liegen sollten. 12 Uhr Gespräch mit den Kollegen von der Sonderkommission Meerschwein. Danach Mittag, gefolgt von …»