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Eine Frau fällt aus einem Borgward Cabrio und sinkt regungslos auf den Asphalt von Adler Kühns Tankstelle. Zeuge dieser Szene zu nächtlicher Stunde wird Rochus Rose, der als Undercover-Tankwart auf seine Chance als Detektiv wartet. Die Ausreden der beiden älteren Herren im Borgward fallen dürftig aus und bevor Rose die beiden so richtig verhören kann, sind sie mit der toten Frau verschwunden. Aber Rose findet eine Spur, die ihn zu einem Verein mit Namen ‹Tote Hilfe› führt. Wird Rochus Rose das Geheimnis der geriatrischen Verschwörung lösen? Valentin Adler Kühn, Tankstellenbesitzer und Roses Arbeitgeber, bleibt cool, bis Ruth auftaucht und ihn abschleppt. Sehr zum Kummer von Paula, Trabbi-Mechanikerin aus Neustrelitz, die neben Pleuelstangen und Zündkerzen Adler Kühn hemmungslos verehrt. Heinz Borbet hätte seinen Audi besser nicht in die Hände der liebestollen Ex-DDR-Amazone geben sollen, denn so werden aus Lappalien Affären. Die Angst um das Wohlergehen seines Autos paart sich bei dem Versicherungsangestellten Borbet mit der Angst um seine Ehefrau Marianne. Denn seine Gattin ist seit einigen Tagen spurlos verschwunden. Für Hauptkommissar Golze, der auf der Tankstelle nach Autonomen sucht, ist das glasklar eine Entführung. Er reißt die Suche an sich und macht einen Fall daraus, denn «Nur durch das Chaos tritt Ordnung ein.» Garantiert alles an den Geschichten von Klugmann / Mathews ist erfunden. Nur Briefe und Stellungnahmen von Parteien und Behörden zu den Forderungen der ‹Toten Hilfe› sind echt!
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Seitenzahl: 297
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Norbert Klugmann • Peter Mathews
Tote Hilfe
Ihr Verlagsname
Eine Frau fällt aus einem Borgward Cabrio und sinkt regungslos auf den Asphalt von Adler Kühns Tankstelle. Zeuge dieser Szene zu nächtlicher Stunde wird Rochus Rose, der als Undercover-Tankwart auf seine Chance als Detektiv wartet. Die Ausreden der beiden älteren Herren im Borgward fallen dürftig aus und bevor Rose die beiden so richtig verhören kann, sind sie mit der toten Frau verschwunden. Aber Rose findet eine Spur, die ihn zu einem Verein mit Namen ›Tote Hilfe‹ führt. Wird Rochus Rose das Geheimnis der geriatrischen Verschwörung lösen? Valentin Adler Kühn, Tankstellenbesitzer und Roses Arbeitgeber, bleibt cool, bis Ruth auftaucht und ihn abschleppt. Sehr zum Kummer von Paula, Trabbi-Mechanikerin aus Neustrelitz, die neben Pleuelstangen und Zündkerzen Adler Kühn hemmungslos verehrt. Heinz Borbet hätte seinen Audi besser nicht in die Hände der liebestollen Ex-DDR-Amazone geben sollen, denn so werden aus Lappalien Affären. Die Angst um das Wohlergehen seines Autos paart sich bei dem Versicherungsangestellten Borbet mit der Angst um seine Ehefrau Marianne. Denn seine Gattin ist seit einigen Tagen spurlos verschwunden. Für Hauptkommissar Golze, der auf der Tankstelle nach Autonomen sucht, ist das glasklar eine Entführung. Er reißt die Suche an sich und macht einen Fall daraus, denn «Nur durch das Chaos tritt Ordnung ein.»
Norbert Klugmann und Peter Mathews, beide Jahrgang 1951, haben gemeinsam in der Reihe rororo thriller veröffentlicht: «Beule oder wie man einen Tresor knackt», «Ein Kommissar für alle Fälle», «Flieg, Adler Kühn», «Die Schädiger» und «Tote Hilfe».
Testen Sie Ihr Klugmann/Mathews-Wissen:
Ist Rochus Rose immer noch das Opfer?
Hat Heinz Borbet nach wie vor das Glück im Keller stehen?
Hilft Adler Kühn, wo er kann?
Brennt in Achim Golze ewiger Ehrgeiz?
Seit wann liebt Marianne Borbet Mann und Familie?
Verehrt Henry Pietsch seine Käthe auch über den Tod hinaus?
Was wurde aus dem fiesen Norbert Sänger?
Seit wann arbeitet Paula für Adler Kühn?
Wie lange muß man dem Verein ‹Tote Hilfe e.V.› angehören, um vom Kandidaten zum Mitglied ernannt zu werden?
Wer ist der Vereinsvorsitzende? Willi, Paul oder Walther Hellwege?
Mit welchem der drei oben Genannten ist Ruth verheiratet?
Was geschah mit Annemarie?
Welches der aufgelisteten Fahrzeuge bringt keine Bewegung in die Handlung: ein Borgward Cabrio, ein DKW, ein NSU RO 80, ein Ford Transit, der Streifenwagen Peter 421, ein schwarzer BMW, Irenes Taxi, ein roter MG Midget, ein Rollstuhl, Roses Fahrrad oder drei Schiffe auf der Elbe?
Als die Elbe in Sicht kam, weinte Willi. Er bemühte sich, seine Gefühle zu unterdrücken, aber Paul griff über Annemaries Beine hinweg auf Willis Oberschenkel und sagte aufmunternd:
«Laß laufen, Junge. Wat mutt, dat mutt.»
Willi zog die Nase hoch und sagte mit brüchiger Stimme: «Aber mußte es denn sein?»
Pauls Hände umklammerten das Lenkrad des Borgward Cabriolets. «Halt an», bat Willi, und der Wagen fuhr halb auf den Bürgersteig. Die südliche Elbseite kannte keinen Feierabend. Lampen an Kränen, Positionslichter an Frachtern und Containerschiffen legten ein milchiges Gelbweiß über den Strom.
Willi genoß die Kühle von Annemaries Hand.
«Hier haben wir gestanden damals», sagte er. «Und wir waren glücklich.»
Paul wußte, daß man einem Freund in solcher Sekunde nicht widerspricht. Aber Paul war ein Pedant, immer gewesen. «Teufelsbrück», sagte er. «Das war in Teufelsbrück.» Er startete den Motor, lenkte den Wagen Richtung Anleger Teufelsbrück. Hier war es um Willi geschehen. Er schluchzte, seine Trauer kam aus ehrlichem Herzen. Paul nahm die Linke Annemaries zwischen seine schwieligen Pranken – Maurerhände, die eine Firma mit 230 Beschäftigten aus dem Boden gestampft hatten. Er sog vernehmlich Luft ein:
«Der Herbst ist verrückt geworden.» Die Luft war weich, warm, mild. Paul blickte Annemarie an. Weich, warm und mild waren ihre Wangen gewesen, wenn sie damals in aller Eile … aber leider immer nur dann, wenn Willi zur Hotelfachmesse gefahren war. Paul blickte den alten Freund an. Du bist nicht oft genug gefahren. Das Hotel bricht zusammen ohne mich, das war immer deine größte Angst. Wie oft habe ich dir angeboten, die Übernachtung zu bezahlen. Du warst geizig, mein Lieber. Ich habe einen geizigen Freund, und er ist mir der liebste von allen. Annemarie tat, was sie auch damals am liebsten getan hatte. Sie schwieg.
«Sieh nur, die Köhlbrandbrücke», sagte Willi. Sie blickten auf Köhlfleethafen und Petroleumhafen mit der herben Frische der fortgeschrittenen Industriegesellschaft. Hier war alles Zweck und Berechnung. Annemarie, das war Schönheit gewesen, Zärtlichkeit und Ruhe. Bei Annemarie waren beide Männer zu sich selbst gekommen. Draußen in der Welt tobten Konkurrenzkampf und rigide Zinspolitik der Banken. Willi hatte als erster aufgegeben. Einen Puff hatten sie aus seinem kleinen Hotel gemacht. Einen Puff mit Sauna und Solarium und Ines aus Rio mit den Riesen-Titten. Paul war ihr erster fester Freier gewesen – Annemarie hatte es nie erfahren. Auch ein Puff braucht Kapital, und Paul war damals so sagenhaft flüssig gewesen, weil er redlichen Dorfbürgermeistern an der Ostseeküste überdimensionierte Feriensiedlungen angedreht hatte. Auf Annemaries Schulter trafen sich die Arme der Männer. Die Elbe summte und brummte und stank.
Sie fuhren weiter, als neben ihnen ein Auto voll Neunzehnjähriger heranlärmte, stampfende Bässe und dreiste Sprüche herübertrug. Paul lenkte den Wagen über die Elbchaussee an Övelgönne vorbei, wo sie damals nackt und trunken in der Elbe gebadet hatten. Das Altonaer Rathaus, das Theater, in dem Paul mit Annemarie das Abonnement abgesessen hatte. In eine quälendere Bredouille hatte er sich sein Leben lang nicht begeben. Nach dem Abo-Jahr war Paul mit dem Theater durchgewesen, und Willi hatte zweimal im Monat vor der Haustür gestanden, einen dieser winzigen Blumensträuße, die Annemarie so liebte, überreicht; und dann durfte er sie ins Theater ausführen, während Paul Akten aufarbeitete. Links in die Max-Brauer-Allee, rechts in die Königstraße, hinunter zur Reeperbahn.
«Hans war hingerissen von dir», sagte Willi leise und strich seine Haare nach hinten. Er weigerte sich hartnäckig, die Fliegermütze aufzusetzen.
«Hans war verliebt in sie», sagte Willi. Paul dachte mit Wehmut an die Nächte zurück, in denen Annemarie es gleich mit drei Mannsbildern zu tun gehabt hatte: Paul, Willi und Hans, der so gern und laut Anekdoten von seinen Dreharbeiten erzählte; und wenn man nicht aufpaßte, fing er an zu singen.
«Da links in der Hein-Hoyer-Straße haben wir gesessen», sagte Willi, und Paul riß den Borgward vorschriftswidrig über alle Fahrspuren in die Hein-Hoyer-Straße hinein. Beim Hongkong-Chinesen Entenbrust und Reis. Paul hatte nie wieder so lecker gegessen. Und Bier. Sie hatten bei dem Chinesen immer nur Bier getrunken, um 3 Uhr morgens abgekämpft von stundenlangem Tanzen. Annemarie mit einem Lebkuchenherz vor der Brust und einem Lebkuchenherz auf dem Rücken, und Hans, der schwer an ihr hing, und Willi, der immer, wenn er dun war, zum Chinesen in die Küche ging und eine Diskussion über Reis anfing. Willi, der Sohn eines Kartoffelbauern aus der Lüneburger Heide. Die Chinesen lagen am Boden vor Lachen. Manchmal lag auch Willi da, weil er abrupt einzuschlafen pflegte. Dann betteten sie seinen Kopf auf einen Sack Reis, und Hans fing schon wieder an zu singen, und die Chinesen schlossen die Tür zu und tranken mit ihnen Reiswein.
Mißmutig starrten sie auf das Neonlicht der Bar. Vielleicht war es auch eine Kühlhalle, jedenfalls war es kein Chinese mehr. Beide Männer schauten Annemarie an. Sie machte ihnen keine Vorwürfe. Paul fuhr über die Ost-West-Straße, Rödingsmarkt, vorbei am Bauer-Verlagshaus. Er dachte an Annemarie, die einige Zentimeter zu Willi hinübergerutscht war. Mit den Jahren war sie schwieriger geworden. Sie fing an zu mäkeln und zu meckern, wollte Paul Manieren beibringen, ihm, der stolz darauf war, daß er immer noch die Flasche Bier mit den Zähnen öffnen konnte. Seine Leib- und Magenspeise Kopfwurst wollte sie ihm vermiesen, und plötzlich galt Willi als Vorbild, der zögerliche Willi. Auf einmal hieß Willis Schwerblütigkeit Kultiviertheit, nachdenklich war Willi, angeblich wog er das Für und Wider ab, handelte überlegt. Paul schaltete vom zweiten in den vierten Gang, Willi blickte ihn an.
«Ganz ruhig», sagte er und strich die Haare zurück. Paul jagte den Borgward auf die Amsinckstraße. Plötzlich schossen ihre Oberkörper nach vorn, der Motor hustete, lief leer, lief rund, holperte, stolperte, und Paul sagte: «Wir brauchen eine Tankstelle. Aber keine von den großen.»
Willi half Annemarie, nach der heftigen Bewegung wieder ordentlich zu sitzen. Paul bog links ab, noch einmal links, Wendenstraße, dunkles Hammerbrook. Hier wohnte niemand, hier lebte tagsüber nur die Arbeit. Fabriken und wucherndes Ödland wechselten sich ab, zwei Querstraßen, und Willi fragte in dem Moment: «Hier soll noch eine Tankstelle sein?», als sie hinten die flackernde Reklame der freien Tankstelle sahen. Ein stilisierter Menschenkörper mit ursprünglich wohl zwei, jetzt nur noch einem erleuchteten Flügel. Die Plastikverkleidung der Lampen, die Reklameschilder, Preisschilder, das Schild «Werkstatt» – überall fehlten Ecken, waren weggeplatzt, vielleicht sogar herausgeschossen worden. Die Tankstelle besaß vier Zapfsäulen.
Wenn Vollmond war, stand er um 23 Uhr am Fenster seines Lofts. Dann drang der Schmelz seines Saxophons über die Weiten von Hammerbrook, begleitete Ratten, Containerdiebe, Zivilfahnder bei ihrem nächtlichen Tun. Wenn Vollmond war, stand Rochus Rose um 23 Uhr am Rahmen der gläsernen Eingangstür und hörte dem Saxophonspieler zu. Die Sehnsucht der Melodie wärmte das Herz des Tankstellen-Eremiten. Nicht nur wenn Vollmond war, trug Rochus Rose seinen Trenchcoat. Rose hielt den Kopf still, verfolgte den Borgward nur mit den Augen. Erst als der schöne alte Wagen an der Zapfsäule stand, setzte sich Rose in Bewegung. Sie saßen vorne zu dritt, das erinnerte Rose an früher. Aber damals hatten immer Kinder vorn gesessen. Nur von den dreien war keiner jünger als 65, und alle waren festlich gekleidet: der Mann, der jetzt ausstieg, in dunklem, vielleicht schwarzem Cut; vom anderen Mann sah Rose nur die edel behängten Schultern. Die Frau war am schönsten: die Wangen mutig geschminkt wie für eine Apfel-Reklame, auf dem Kopf einen kecken Hut, vor den Augen zartes, durchbrochenes Netz, um die Schultern eine Stola.
«’n Abend, die Herrschaften», sagte Rose, griff zum Zapfhahn. Sofort war der Fahrer bei ihm:
«Bitte vorsichtig. Es ist ein gutes Stück.»
Rose nickte ernst, führte den Zapfhahn ein, blickte über die eleganten Rundungen des Wagens. Ein Mammut aus der Zeit, als der Luftwiderstandswert noch eine 1 vorm Komma haben durfte.
«Kleine Spritztour?» fragte Rose.
«Eine Abschiedsfahrt.»
Rose nickte. Für abschiednehmende Menschen hatte er großes Verständnis. Rochus Rose nahm jeden Tag Abschied. Vom Tag und von der Nacht. Der Kraftstoff lief, der Mann im Wagen beugte sich zu der Frau hinüber, umarmte sie. Rose dachte an seinen verstorbenen Vater.
«Passen Sie doch auf», bellte ihn der Fahrer an. Rose entschuldigte sich, klinkte den Zapfhahn ein.
«Akzeptieren Sie Kreditkarten?» fragte der Fahrer.
Rose zuckte die Schultern.
«Klitsche», sagte der Mann nicht unfreundlich und begann, in den Taschen zu suchen.
«Willi», rief er.
«Ich habe kein Bargeld», sagte der andere. Die beiden Männer blickten sich an. Der Beifahrer stieg aus. Die Frau kippte nach rechts, Rose dachte spontan, daß sie angetrunken war oder eingeschlafen. Dann stürzte die Frau aus dem Wagen. Sie fiel ruhig rechts aus dem Wagen, stand einen Augenblick kopf und kippte dann langsam über die Schulter abrollend auf den Asphalt. Die Frau lag regungslos da. Alle Männer starrten die Frau an, dann blickten die Männer im Anzug Rose an. Der Beifahrer ging langsam auf Rose zu. Seine rechte Hand verschwand unter dem Revers des Zweireihers. Rose kannte die Szene aus vielen Träumen. Er riß die Arme vor den Kopf und wollte sich mit einem Hechtsprung in Sicherheit bringen. Aber der zweite Mann packte ihn am Ellenbogen.
«Ist Ihnen nicht gut, junger Mann?» Der Beifahrer hielt ihm eine Hand entgegen. Zwischen ausgestrecktem Zeige- und Mittelfinger klemmte ein Schein. «Machen Sie sich einen schönen Abend und …»
Der Mann legte zwei Finger auf seinen Mund. «Pssst.» Dann half er seinem Freund, die Frau aufzuheben. Sie drückten ihren Körper in den Wagen zurück, gingen dabei nicht gerade rücksichtsvoll vor. Der Beifahrer plumpste auf den Sitz, der Fahrer eilte um den Wagen herum, ließ sich hinters Lenkrad fallen und trieb den Wagen vom Tankstellengelände.
Rochus Rose hob den Kopf, atmete die warme, benzingetränkte Luft ein, schlug mit flacher Hand gegen den Hals, betrachtete das zerquetschte Insekt. Er zerknickte den Geldschein, blickte in die Nacht. Mindestens eine Minute stand er so da und lauschte wieder der Musik. Er wußte nicht, ob er wach war oder träumte.
Rose lächelte. Es ist wahr. Nicht geträumt. Ein Hunderter für 32 Mark Benzin. HH – Z 1847 und eine tote Frau. Zwei alte Männer. Borgward. Rochus Rose, übernehmen Sie. Der Ton des Saxophons brach ab.
Rose schlug zu, wischte die beiden Mückenleichen am Trench ab. Jahrelang hatten sie ihn verfolgt: die Versicherungshyänen, Baulöwen, Spekulanten, die Geier der Geldinstitute und die gemeinen Biester in Weiß. Jetzt schlug Rose zurück. Jetzt hatte er seinen Fall. Jetzt würde er die Verschwörung aufdecken, die schon seinen Vater umgebracht hatte.[*] Schluß mit dem Versteckspiel. Rochus Rose hatte eine Spur. Er ging an dem flachen Bau mit dem Kassenraum, dem Büro, der kleinen Küche vorbei über den Platz, der mit Müll vollgestellt war. Sechs numerierte Garagen, daneben die Werkstatt mit Grube und Hebebühne. Rose ging zur Garage mit der Nummer 4. Hinter dem Tor lief das Band, das Rose nachsingen konnte. Animals, Byrds, Cream, Deep Purple. Rose klopfte, klopfte erneut, dann zog er das Tor auf. Valentin Adler Kühn lag in seinem Autositzlager unter der farbenfrohen Decke, die ihm eine strickwütige Geliebte vermacht hatte.
Adlers nackter Rücken und ein Stück Boxershorts ragten in die Garagenluft, vor dem Bett standen zwei leere Kästen Mineralwasser. Der Shell-Kalender war seit dem 9. November 1989 nicht mehr abgerissen worden. Der Küchentisch unterm Fenster mit dem Ölfilm war nur noch zu 20 Prozent Adlers Schreibtisch. Freßutensilien drückten den Schriftkram an die Wand. Goldfarbene Rindfleischdosen aus EG-Beständen, Fischrogen von Aldi, Adlers Kofferradio, das er zur Konfirmation bekommen hatte, überall geklautes Lufthansa-Geschirr.
«Adler, ich habe eben eine Leiche gesehen», sagte Rose mit leiser Stimme.
«Wie redest du denn von deinem Arbeitgeber?» brummte Adler, mühte sich in die Höhe wie ein alter Mann, kratzte sich vernehmlich an den Schamhaaren, blickte die Wasserkästen an, rülpste und wuchtete sich hoch. Er schlurfte mit schmutzigen Füßen zum zweiten Konfirmationsgeschenk, dem Uher-Tonbandgerät, und drehte die Spule um. Eine Handvoll junger Männer spielte um die Wette, Adler inspizierte den Küchentisch, schob fettiges Fleischer-Papier zur Seite, steckte etwas in den Mund, kaute zweimal, blickte Rose an, ging zum Fenster, öffnete es und spuckte in die Nacht hinaus. Dann legte er sich wieder auf die Autositze.
«Adler, so geht das nicht weiter», sagte Rose bedrückt.
«Du sprichst ein wahres Wort gelassen aus», brummte es unter der Patchwork-Decke hervor. «In drei Jahren bin ich 40, dann gebe ich die Löffel ab. Bis dahin sei so nett und leg die Abendeinnahme auf den Tisch. Ich brauche ein neues T-Shirt. Vorgestern haben sie mich nicht in meine Bank gelassen. Dabei hatten sie mich extra eingeladen.»
Adler lachte unfroh, drehte sich um, klemmte die Decke zwischen die Beine. Immerhin suckelte er nicht an ihr. «Eine Leiche also», sagte Adler.
Rose nickte. «Das war Mord. Die Männer hatten den eiskalten Blick. Profis. So was spüre ich.»
«Sag an, Angestellter, hast du auch das Gefühl, daß es hier drinnen stinkt?»
Adler schien die Frage ernst gemeint zu haben. Rose war zu höflich für eine Antwort. Es stank tatsächlich nach Fisch. «Ich werde dem Fall nachgehen», sagte Rose.
«Dem Gestank?»
«Der Leiche.»
«Ach, der Leiche.» Adlers Interesse erlosch. Bei ihm war überhaupt viel erloschen im letzten halben Jahr. Nicht nur der unbedingte Wille zur Naßrasur und zum Gebrauch eines Deodorants; nicht allein die Lust auf junggesellenhaft gewandten Gebrauch von Nadel und Faden, Waschmaschine und Schuhputzbürste. Die Haare immerhin hatte er sich jüngst geschnitten. Adler sah jünger aus seitdem. Möglich, daß er kindisch aussah. Vielleicht kam er ja beim nächstenmal wieder auf Schülerkarte ins Wilhelm-Koch-Stadion.
«Wie willst du denn eine Leiche finden?» fragte Adler gähnend. Rose spürte, daß ihn das Jagdfieber zu durchpulsen begann.
Mord – etwas Edleres gibt es nicht für einen Detektiv.
Draußen bog ein schweres Auto mit Karacho aufs Gelände, vollführte eine Schleuderbewegung. Junge Stimmen juchzten, dann eine harte Bremsung, und schwere Rockmusik überlagerte Adlers auf Zimmerlautstärke gestellte Musik. «Haben sie’s mal wieder geschafft», murmelte Adler, pulte im Bauchnabel und besah sich das Ergebnis.
Rose verließ die Garage, schloß die Tür und krümmte sich; mit solch rücksichtsloser Wucht hatte ihm der Junge die Autoschlüssel in die Bauchgegend geworfen.
«Fang, du Arsch!» forderte ihn der Fahrer auf. Er war höchstens 20, trug Leder und ein Mädchen, das ihm am Hals hing.
«Sag dem Chef, bis zum nächsten Mal», forderte der Junge Rose auf. Am Transit tummelten sich weitere Gestalten. Sie mieden die Zone des Lichts. Rose hatte sie trotzdem gesehen. Sein Bauch schmerzte. Die vier in Leder verzogen sich in die Nacht, dann herrschte wieder Stille, und Rose, der neben der Zapfsäule stand, entdeckte das reflektierende Etwas, das plötzlich im Lichtkegel lag. Vielleicht hatte es der heranbrausende Transit aufgewirbelt. Vielleicht lag es da schon seit Tagen oder erst einen Augenblick. Rose mußte es aufheben. Erst prüfen, dann entscheiden. Auf diese Weise hatte er in den letzten Jahren mehr in die Hand genommen als ein reinlicher Mensch in sieben Jahrzehnten. Die Gegenstände hatten ihm viel über die Menschen erzählt. Rose verstand die Menschen, aber die Menschen verstanden Rose nicht. Sie hätten mehr aufheben müssen, so, wie Rose es tat. Er warf nichts sofort weg. Er trug es mit sich, bis die Kraft des Gegenstands durch die Taschen seines Trenchs sich seinem Körper vermittelt hatte. Erst dann konnte er es wegwerfen, nicht eher. Manche Dinge besaßen wenig Kraft und brauchten lange.
Das Etwas war rosa, federleicht und fühlte sich an wie Styropor. Rose wog es in der Hand. Das Etwas war rosa, federleicht und fühlte sich immer noch an wie Styropor. Rose lächelte. Er hatte Zeit. Ob das Etwas Zeit hatte, war noch offen. Du mußt den Dingen Zeit lassen. Dann offenbaren sie sich. Du mußt das Vertrauen der Dinge gewinnen.
«Rochus», erklang es hinter ihm müde. «Sei so lieb und fahr den Hobel in die Garage.» Adler lachte leise, und Rose hörte ihn noch sagen: «Immer jung, immer mit Schwung. Was ich nicht weiß, macht mich heiß.» Dann schlug hinter Adler das Garagentor ins Schloß, drinnen wurde die Musik lauter gestellt. Rose fuhr den Transit in Garage Numero 3. Nebenan sang Adler ein Lied mit. Es klang, als wenn ein Hund den Mond anheulte.
Er war um 5 Uhr mit dem Fahrrad nach Hause gefahren, hatte das Frühstück auf den Tisch gestellt und war ins Bett gegangen. Er war um 10 Uhr aufgestanden und hatte gefrühstückt. Danach rief Rose seinen Kontaktmann an und erfuhr von einer Vertretung, daß sein Kontaktmann in einer Klinik im Bergischen Land eine Sucht verlieren wollte. Das war ungünstig für Rose, es war sein einziger Kontaktmann.
«Vielleicht können Sie mir helfen», sagte Rose zu der weiblichen Stimme. «Ich brauche den Halter eines Autos.» Die weibliche Stimme lachte herzlich und legte auf. Danach stand Rose lange vor dem Spiegel. Sein Unterkiefer war ausgeprägt und knochig, sein Kinn ein scharf vorspringendes V unter dem ausdrucksvollen V des Mundes. Die Linie seiner Nasenflügel bildete ein kleineres V. Bei Roses Vorbild Spade war alles scharf und spitz. Ein Falke. Rose sah anders aus: mittelgroß, blaß, vermutlich männlich. Gesicht, Körperform und Haltung erinnern an eine Null. Das ist gut. Ein Verfolger muß unauffällig sein. Das war er. Sein Wiedererkennungswert war nahe Null, wäre nicht der Trench gewesen.
«Du bist ein Profi», sagte er dem Spiegel. «Du darfst nicht zu dick auftragen, dann werden sie mißtrauisch.» Rose wählte eine Nummer, legte wieder auf und überlegte, was es zu bedeuten haben könnte, daß er sich verwählt hatte. Dann wählte er. Das Büro vom VAG-Autohaus kannte Borgward nicht einmal mehr dem Namen nach. Rose rief bei Opel an. Opel war besser. «Borgward? Na klar, Mensch, Borgward. Aufbaujahre, Wirtschaftswunder, und der alte Borgward war immer klamm. Im Portemonnaie. Klar, Mensch, Borgward.» Als Opel anfing, Rose einen Calibra aufschwatzen zu wollen, legte Rose auf. Er fuhr Fahrrad, konnte sich kaum neue Reifen, Felgen und andere Teile leisten. Ohne Adlers Beziehungen zu einer der größten kriminellen Fahrrad-Vereinigungen in der Stadt wäre Rose längst Fußgänger geworden. Adlers Kleinteil-Dealer hatte Rose einreden wollen, daß er derzeit größtenteils auf dem Rad von Mutter Voscherau durch die Gegend gurkte. Rose hielt das für eine Lüge. Er rief die Polizei an, die Feuerwehr, einen Diplom-Bibliothekar mit Namen Borgward. Es war aber nur dessen Ehefrau in der Wohnung, sie hielt Rose für den Ehemann der Geliebten ihres Borgward, der sich mit ihr verbünden wollte. Es wurde Mittag, und er war mit Borgward nicht weitergekommen. Rose legte das Etwas auf den Tisch. Es war rosa, federleicht und fühlte sich immer noch wie Styropor an. Im zweiten Stock saß der Kriminalschriftsteller an seinem Schreibcomputer. Er brabbelte während des Schreibens, schoß auch bisweilen mit einer Luftpistole durch den Flur und klapperte mit Flaschen. Als er wieder damit begann, lautstark deutsche Verben zu konjugieren, löste sich eine Deckenfliese und stürzte auf den Frühstückstisch. Rose starrte das federleichte Etwas an. Es war jetzt breitgedrückt. Während er den winzigen Zettel entfaltete, der in dem Etwas gelegen hatte, leckte er an einem rosafarbenen Brocken. Es schmeckte salzig, aber sonst wie Styropor. Der Text auf dem Zettel lautete: «Ich bin zu alt, um nur zu spielen, zu jung, um ohne Wunsch zu sein.» Darunter die Worte «Shao-Lin». Auf der Rückseite stand eine Adresse.
Während Rose dabei war, sein Rätsel zu lösen, aß Adler zwei Eßlöffel Müsli und trank einen Eierbecher Odol darauf. Er stand vor dem Spiegel, fletschte die Zähne und knurrte das Spiegelbild an. Draußen nahm Paula den ersten Kunden des noch jungen Tages an. Adler ging zu ihnen. Er liebte jeden einzelnen seiner Kunden, kannte die meisten auch mit Namen. Den da kannte er nur vom Sehen. Er war Mitte 30, etwas kleiner als Adler, schlank, und er bewegte sich, indem er den Körper aus den Knien herausdrückte und am Scheitelpunkt der Aufwärtsbewegung die Schultern zurückzog, so daß sein Kopf wie der einer Schildkröte nach vorn schnellte. Seine kleine Nase war gerahmt von fleischigen Wangen unter glänzender, sorgenfreier Stirn. Er trug die Reste aus dem Young Fashion-Shop von C&A auf und wirbelte einen Autoschlüssel hin und her, wobei sein Jackett verrutschte und ein Waffenholster sowie ein Paar Handschellen am Hosenbund sichtbar wurden. Paula stand vor dem Fremden und säuselte ihn von oben bis unten zu. Der Fremde wartete darauf, daß Paula Luft holte. Den gleichen Fehler hatte Adler in den ersten vier Wochen mit Paula begangen. Aber Paula holte nie Luft. Adler liebte diese Person, so gut er noch zu lieben imstande war. Paula hatte das Arbeitsamt vorbeigeschickt, nachdem Adler auf der alternativen Kfz-Szene keinen Dummen mehr gefunden hatte, der für 900 Mark netto Autos reparieren wollte. Paula kam aus Neustrelitz, hatte zunächst an Trabis gelernt, sich mit Lada und Skoda weitergebildet: Den Rest hatte sie bei Adler in einem Vierteljahr in den Griff gekriegt. Paula war ein Genie, in Paulas Händen wurde alles zum Ersatzteil: leere Zahnpastadosen, alte Kugelschreiberminen, Nylonstrümpfe. Sie bearbeitete mit Zange und Beil alte Stoßstangen und verkaufte das Resultat als Kolben. Paula duldete keine Widerworte, und es hätte sie auch niemand verstanden. Wahrscheinlich war Paula verrückt, aber reklamiert hatte noch kein einziger Kunde. Vielleicht war Paula in Adler verliebt. Als der Entrümpelungs-Transit stillstand, hatte Paula aus ihrem einzigen Paar West-Nylons einen Keilriemen geflochten und aufgezogen. Paula hatte auch Adlers Garagen-Wohnung aufgeräumt und die Reste der Bücklinge den Katzen zum Fraß vorgeworfen. Adler war froh, daß Paula bei ihm blieb. Er dachte eher daran, sie an eine Zapfsäule zu fesseln, als daran, sie zu heiraten. Aber eigentlich war es ihm egal.[*]
Der fremde Mann wandte sich Adler zu.
«Sind Sie hier der Chef?»
Adler drehte sich um, dann wieder zurück. «Kann sein.»
«Kennen Sie einen Lieferwagen der Marke Ford Transit mit dem poli …»
«Kenn ich nicht», unterbrach ihn Adler. «Wer sind Sie?»
Der andere blies Luft in seinen Brustkorb. «Golze, Hans-Joachim Golze, Hauptkommissar. Letzte Nacht wurde auf das Privathaus eines hiesigen Versicherungs-Direktors ein Farb- und Buttersäure-Anschlag verübt.»
«Wieso das denn? Stinkt es da nicht auch so schon genug?»
Der Polizist notierte sich etwas in ein Vokabelheft. Paula linste ihm über die Schulter. Golze wich zurück, Paula ließ nicht locker. Dadurch erhielt ein alter silbermetallicfarbener Audi 100 Gelegenheit, dicht an die Hebebühne zu fahren. Ein unscheinbarer Mittvierziger stieg aus und sagte: «Scheiße.»
Paula strahlte, der Audi-Fahrer kam auf Adler zu und fragte: «Sind Sie hier der Chef?»
«Kann sein.»
«Da drin klappert was», sagte der Mann und klopfte auf die Motorhaube des Audi. «Letzte Woche hat’s angefangen. Und als ich vorhin zu unserer Filiale nach Harburg raus bin, ist es stärker geworden. Können Sie nicht mal …?» Paula riß die Haube hoch und beugte sich über den Motor, wobei sie gurrende Laute ausstieß. Adler hatte Paula noch nicht nackt gesehen. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn sie teilweise aus Ersatzteilen bestanden hätte. Diese Person liebte Autos mehr als Menschen.
Der Audi-Fahrer sah Paulas Eifer mit Wohlgefallen und hörte höflich zu, als Paula in ihrer Sprache zu reden begann. Dann blickte er Adler an. Der sagte das erste, was ihm in den Sinn kam:
«Wäre gut, wenn wir den Wagen einen Tag hierbehalten könnten.»
«… verstehe», sagte der Fahrer. «Wie komme ich von hier weg?»
«Der Kommissar wird Sie gern mitnehmen», behauptete Adler. Der Kommissar war verdutzt.
«Gut», sagte der Kunde. «Mein Name ist Borbet. Heinz Borbet. Ich lasse Ihnen Schlüssel und Papiere hier. Wir können», sagte er zum Kommissar, der den Faden verloren zu haben schien.
«Ich komme wieder», brachte er immerhin noch heraus. Im Motorraum des Audi werkelte Paula.
Der Kommissar und Borbet bestiegen einen Mittelklasse-Opel. Ein Mann saß am Lenkrad.
«Auf geht’s, Stinka», knurrte der Kommissar den Fahrer an und ließ sich neben Borbet auf die Rückbank fallen.
Stinka öffnete die Tür und verließ den Wagen.
«Was ist denn?» bellte Golze.
«Sie haben gesagt ‹auf geht’s, Stinka›, und da habe ich gedacht, ich gehe dann wohl gleich mal …»
«Losfahren», präzisierte Golze.
«Aah! Fahren!» rief Stinka, stieg ein und fuhr los.
«Ein Personal ist das heute», sagte Golze zu Borbet.
«Im 14. K gibt’s einen, der ist noch blöder als ich», sagte Stinka.
«Freie Wirtschaft», sagte Borbet. «Gehen Sie in die freie Wirtschaft, da fällt so was durch den Rost.»
«Ich spiele mit dem Gedanken», sagte Golze versonnen und blickte seine Fingernägel an. «Ich war schon mehrmals kurz davor, in die Politik zu gehen … aber dann kam mir immer eine Beförderung dazwischen.»
«Marianne, ich bin’s, dein Heinz», rief Borbet und warf die Wohnungstür ins Schloß. Er kam sonst nie unangemeldet während der Arbeitszeit nach Hause. Er blickte ins Wohnzimmer, ins Schlafzimmer, in alle Räume. Er rief noch einmal «Marianne» und schüttelte in der Küche die Isolierkanne. Sie war leer. Daran erkannte Borbet, daß etwas nicht stimmte. Er blickte erneut in alle Räume. Die Betten waren gemacht. Auf dem Eßtisch lagen die Steuerunterlagen, auf dem Küchentisch die Prospekte, über die er sich beim Frühstück mit Marianne gestritten hatte. Er nahm das Zeug und warf Teneriffa, Mallorca, Kreta, Sardinien und Schwarzes Meer in den Müll.
«Heinz, ich brauche Urlaub», äffte Borbet seine Frau nach. «Ich brauche ihn so, und du drückst dich immer. Jetzt ist schon wieder September. Bald kann man nicht mehr baden. Heinz, du bist ein Stubenhocker.»
Natürlich nahm er die Angelegenheit nicht ernst. Sie war eben einkaufen gegangen oder bei einer Freundin. Vielleicht bereitete sie wieder eine dieser Exkursionen vor. Rekultivierung von Bächen. Untertunnelung von Bundesstraßen, damit die Kröten ungestört rammeln konnten. Laubsägearbeiten für Nistkästen, damit sich die Piepmätze nicht den Schwanz abfroren.
Borbet warf einen letzten Blick in die Küche. Dann zog er die Wohnungstür hinter sich ins Schloß.
Unten suchte er aus Gewohnheit seinen Audi und nahm dann zähneknirschend einen Bus. Die bequemsten Plätze waren natürlich besetzt. Borbet warf den beiden alten Männern einen neidischen Blick zu und quälte sich in eine Sitzbank.
«Hast du das Gesicht gesehen?» fragte der eine alte Mann den anderen alten Mann. «Der neidet uns unseren Platz.»
Der Angesprochene drehte sich zu Borbet um, drehte sich nach vorn und sagte:
«Da kommt nichts nach.»
«Aber wenn doch?»
«Da kommt nichts nach.»
«Aber wenn doch? Was wollen wir ihm sagen?»
«Da kommt nichts nach.»
«Aber wenn er sich das Kennzeichen gemerkt hat. Wir haben’s ja nicht überklebt. Nur weil du es so eilig hattest.»
«Reg dich nicht auf.»
«Und warum nicht?»
«Da kommt nichts nach.»
«Wir können ihm sagen, daß Annemarie einen im Kahn hatte.»
Der alte Mann streckte so lange seine Beine aus, bis das Mädchen sich einen anderen Platz suchte. «Duhn ist gut. Das glaubt jeder. Gesoffen wird überall. Was meinst du, werden sie das schlucken?»
Er sah seinen Nachbarn an. «Und wenn er sie sehen will – nüchtern?»
«Da kommt nichts nach.»
«Jedenfalls müssen wir dem Verein Bescheid sagen. Es steht zu viel auf dem Spiel. Noch besser wäre, wir kriegen raus, wer das war, dieser Mann auf der Tankstelle.»
«Da kommt nichts nach.»
«Vielleicht ist er Argumenten zugänglich. Oder käuflich. Oder beides. Und wenn nicht …»
Die Männer blickten sich an. Der Beredtere lockerte seinen Krawattenknoten.
«Genau», sagte der Schweigsamere. «Und wenn nicht …» Er lehnte sich zurück und sagte dann: «Aber da kommt nichts nach.»
Sechs Busstationen später stieg Heinz Borbet aus und näherte sich langsam dem Eingang der Passau Paderborner Versicherung. So konnte er sich immer bis zum letzten Moment einbilden, daß er das 18stöckige Gebäude gar nicht betreten würde. Borbet bildete sich gern ein, Freiheiten zu besitzen. Er grüßte einen Kollegen, den er vom Sehen kannte, und tat den entscheidenden Schritt von der Freiheit ins Gebäude.
Rochus Rose zog an der Tür. Verschlossen. Er trat nach hinten und betrachtete die Front des Ladens. Möglich, daß es sich um ein Lokal handelte. Wahrscheinlicher jedenfalls, als daß es sich um ein Schlachthaus handelte, wenngleich dies aufgrund der Möblierung möglich gewesen wäre. Die Wände waren mit Ölfarbe bestrichen. Kein Stuhl, kein Tisch, eine Art Tresen und eine Art Regal mit drei oder vier Sorten Flaschen, jeweils zehnfach. ‹Ein Meditationszentrum.› Der Name «EKG» schloß dies nicht aus. Nirgendwo «Shao-Lin» oder ein anderes chinesisches Lokal.
«Die haben zu», rief Rose ein Bürger vom Typ frühpensionierter Stasi-Mann zu. Er hatte eine Art frühpensionierten Stasi-Pudel an der Leine und steuerte einen Eingang zwei Häuser weiter an.
«Sekunde», rief Rose, der Mann nahm die Leine kürzer. Rose lächelte vertrauenerweckend. «Können Sie mir sagen, ob hier früher in der Nähe ein Lokal war? Ein chinesisches Lokal?»
«Klar kann ich das», sagte der Mann und amüsierte sich, daß er so ein lustiger Wörtlichnehmer war. Diese Sorte Menschen mochte Rose am wenigsten. «Hier unten drin haben die Schlitzies gehaust. Bergeweise Reis angekarrt und dieses gelbe Puder, dieses gelbe, ich kann mir einfach den Namen nicht merken. Na, jetzt sind sie ja auch weg.»
«Seit wann?»
«Zu spät.» Der Mann lachte, der Pudel alterte bewegungslos. «Seit wann? Lassen Sie mich …» Und er dachte demonstrativ nach. «Acht Jahre. Zehn Jahre. Oder neun? Nein, nicht neun, da war ich … Herr Leitz, wann haben die gelben Säcke ihren Reis geschultert und sind …?»
Augenblicklich bildete Herr Leitz – Typ Bruder eines frühpensionierten Stasi-Mannes – Nummer drei der Runde und kreiste mit dem Pudelmann die Jahreszahl ein. Dabei gingen ihnen weitere Nachbarn und eine Gastwirtin hilfreich zur Hand. Jeder hatte eine andere Zahl parat, aber das hörte Rose schon nicht mehr. Tote Spur. Nichts altert so schnell wie Spuren.
Rose ging an die Elbe und atmete die trübe Luft tief ein. Danach sah er klarer, betrat ein Lokal, nahm Groschen und rief alle seriösen Tageszeitungen an. «Haben Sie in den letzten zwei, drei Jahren mal einen Bericht über Cabrios gebracht? Oder über alte Autos? Über Borgwards vielleicht?» Das Weiterverbinden begann. Alle Zeitungen hatten berichtet, und Rose verbrachte den Rest des Tages damit, Bild, Morgenpost und Abendblatt zu besuchen, um dort im Archiv die Berichte durchzusehen. Er fand zwei Fotos vom gleichen Typ. Allerdings nur vom Autotyp. Das Kennzeichen kam nicht hin. Er fand Adressen von nostalgischen Vereinen. Er merkte sich alles, er fotokopierte nichts.
Am Abend wurde es dann noch einmal mühsam. Rochus Rose radelte über Ost-West-Straße und Amsinckstraße erst Richtung Adler-Tankstelle, bog aber vorher ab und suchte im Stadtteil Hamm-Süd eine der beiden Werkstätten auf, die in einem sorgfältig verschlossenen Raum Original-Borgward-Teile horteten. Der Werkstattbesitzer sonnte sich im Glanz seines Schatzes, tat wichtig, war eitel und strich insgesamt achtmal seinen linksseitigen Scheitel glatt. Er hätte besser daran getan, seine 60 Pfund Übergewicht abzustreifen. Wahrscheinlich flirtete er ausschließlich schwimmend. Da war das einzig Vorzeigbare an ihm sichtbar, und nach dem Rest schnappten die Haie.
«Kennen? Ob ich die Freunde kenne? Sie sind gut, Mann. Bis zum letzten kenne ich die.» Er wollte sich über seine Mittelpunktsfunktion verbreiten, aber Rose fuhr ihm übers Maul: «Ich schildere Ihnen die Männer, die ich meine. Sie sagen mir, ob Sie sie kennen.»
«Au ja. Quiz. Geil.» Rose hatte einen Freund gewonnen, und er hätte doch viel lieber eine Auskunft erhalten. Er schilderte die alten Männer und auch die gefallene Frau. Das Gesicht des Borgwardianers drückte groteske Aufmerksamkeit aus, die Rose noch aus der Zeit kannte, als er im Fernsehen Quizsendungen verfolgt hatte. Der Dicke hätte so gerne die Männer gekannt. Offensichtlich rang er schwer mit sich, ob er eine Bekanntschaft erfinden sollte. Erst als Rose sagte: «Es geht um ein Borgward-Problem», war dem Dicken klar, daß hier nicht gelogen werden durfte. Einen Senioren gab es, der in Frage kam. Rose merkte sich Name und Anschrift. Leider hatte er keinen Gewinn, den er dem Dicken überreichen konnte. Er reichte ihm dafür die Hand und ein Dankeschön. Der Dicke nahm, was er kriegen konnte.
Rose hätte gerne weitergemacht, aber es war nach 19 Uhr, die Spätschicht rief. Paula hatte schon Feierabend, Roses Schultermuskeln entspannten sich. Er fand es mühsam, mit Menschen zu tun zu haben, deren Sprache er nicht verstand. Und dann noch Frauen, die ein einziges Thema hatten, dem Rose distanziert gegenüberstand: Technik. Während sich Rose den aufgebockten Audi anschaute, machte Adler Tageskasse. Er saß zwischen angebrochenen Eß- und Trinkkonserven und stapelte Münzen zu Bergen, die nichts Alpines ausstrahlten.
«Kleinvieh, Mist», murmelte Adler, als Rose die Garage betrat. Der muffige Geruch hatte sich in den Wänden festgefressen. Simples Lüften änderte nichts mehr. «Rochus, wir haben heute 77 Mark 20 Umsatz gemacht. Hast du die Nummer vom Guinness-Buch der Rekorde parat?»
Adler hatte das als Scherz gemeint und blickte Rose dementsprechend an, als der ihm die Nummer der Guinness-Redaktion aus dem Kopf nannte.
«Adler, du mußt mal wieder unter Leute gehen», riet Rose fast zärtlich.
«Als ich zum letztenmal unter Leute gegangen bin, habe ich erstens meinen Steuerberater getroffen, zweitens den Fuzzi von der Gewerbeaufsicht, der mich nicht leiden kann, drittens meine Ex-Flamme Susanne, die mit mir über ein Problem ihres Lehrplans diskutieren wollte. Und letztens», Adler blieb vor Rose stehen, «letztens war an dem Abend der 9. November, und auf Susannes Bildschirm zerbröselte die Mauer.» Adler schüttelte sich, wandte sich ab, schlurfte herum. «Seitdem gehe ich nicht mehr unter Leute. Wenn ich rausgehe, passiert zuviel, Rochus.»
«Dagegen gibt es Tabletten», sagte Rose und warf seine tägliche Ration ein.