Die Schädiger - Norbert Klugmann - E-Book

Die Schädiger E-Book

Norbert Klugmann

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Beschreibung

«Also, Herr Sänger, Sie erhalten von uns einen Auftrag, zu dessen Ausführung die tätige Mithilfe einer Vielzahl von Menschen nötig sein wird. Wir erwarten von Ihnen, daß Sie diese Menschen auswählen und motivieren. Wie, ist Ihnen freigestellt. Wir verlangen absolute Diskretion, das heißt, kein Wort zu Ihren Mitarbeitern, alle Unterlagen nur in einfacher Ausfertigung und an einem sicheren Ort und: Sie müssen Erfolg haben, und zwar kurzfristig, sonst sind wir geschiedene Leute. Haben wir uns verstanden?» Hier kann es nur um eine schmutzige Sache gehen. Und das spürt Rochus Rose bald am eigenen Leib. Er hat Schulden und gerät an den Geldeintreiber Sänger. Da er das Geld nicht zurückzahlen kann, wird er zum willenlosen Werkzeug in den Händen des mit allen Wassern gewaschenen Sänger, der weiß, wie man den Profit einer Versicherungsgesellschaft in die Höhe treibt: die Methoden sind raffiniert, wenn auch noch nicht ganz legal. Rochus wehrt sich verzweifelt, doch die Gegenseite scheint alle Trümpfe in der Hand zu haben. Und seine Freunde von der Tankstelle sind ihm auch keine rechte Hilfe. Hajo brennt darauf, den Liebhaber seiner Frau fertigzumachen, und Henry will den Mörder seiner geliebten Käthe fangen …

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Seitenzahl: 310

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Norbert Klugmann • Peter Mathews

Die Schädiger

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

«Also, Herr Sänger, Sie erhalten von uns einen Auftrag, zu dessen Ausführung die tätige Mithilfe einer Vielzahl von Menschen nötig sein wird. Wir erwarten von Ihnen, daß Sie diese Menschen auswählen und motivieren. Wie, ist Ihnen freigestellt. Wir verlangen absolute Diskretion, das heißt, kein Wort zu Ihren Mitarbeitern, alle Unterlagen nur in einfacher Ausfertigung und an einem sicheren Ort und: Sie müssen Erfolg haben, und zwar kurzfristig, sonst sind wir geschiedene Leute. Haben wir uns verstanden?»

Über Norbert Klugmann • Peter Mathews

Norbert Klugmann und Peter Mathews, beide Jahrgang 1951, haben gemeinsam in der Reihe rororo thriller veröffentlicht: «Beule oder wie man einen Tresor knackt», «Ein Kommissar für alle Fälle», «Flieg, Adler Kühn», «Die Schädiger» und «Tote Hilfe».

Inhaltsübersicht

Die HauptpersonenDer Unterschied zwischen ...Das Telefon klingelte.

Die Hauptpersonen

Rochus Rose

ist das Opfer

Norbert Sänger

ist der Böse

Hans-Helmut Herz

will 100 Prozent

Henry Pietsch

liebt Käthe – über den Tod hinaus

Lisa Kürten

kocht starken Kaffee

Valentin ‹Adler› Kühn

hilft, wo er kann

Hajo Pillau

ist nicht zu helfen

Irene Lachmund

der Traum jedes Adlers

Kommissar Achim Golze

ermittelt ohne Rücksicht auf Ergebnisse

 

 

 

Alle Personen und Handlungen sind frei erfunden.

Wo kämen wir hin, wenn so etwas wahr wäre!

Der Unterschied zwischen einer Komödie und einer Tragödie ist:

Ein Mann läuft eine Straße hinunter und fällt hin.

Wenn er wieder aufsteht, ist das eine Komödie, die Leute lachen;

bleibt er liegen, ist es eine Tragödie.

 

Billy Wilder

Das Telefon klingelte.

Einmal. Zweimal. Dreimal.

Er saß am Schreibtisch und kaute auf einem Brötchen.

Viermal. Fünfmal.

Er hob den Becher mit Kaffee und nahm einen Schluck.

Sechsmal.

Er griff zum Telefonhörer, kurz davor zögerte er noch.

Siebenmal.

Nach diesem Klingeln hob er den Hörer ab und sprach mit mechanischer Stimme.

«Guten Tag. Hier spricht der automatische Anrufbeantworter von Rochus Rose. Ich bin im Moment nicht zu Hause. Sie haben aber die Möglichkeit, eine Nachricht zu hinterlassen. Nennen Sie Namen und Telefonnummer und sprechen Sie nach dem Pfeifton.»

Rose pfiff.

«Hier spricht Töpperwien, Bank für den Privaten Kunden. Ich bin Ihre Sachbearbeiterin. Herr Rose, wir müssen über Ihren Kredit reden.»

«Oh, nein», stöhnte Rose.

«Herr Rose?» fragte die Frau erstaunt. «Sie sind zu Hause?»

«Sie wünschen?»

«Wir müssen über Ihren Kredit reden.»

«Wieso?» fragte Rose patzig.

«Aber Herr Rose, das wissen Sie so gut wie ich.»

«Sagen Sie’s mir.»

«Sie haben im letzten Herbst bei uns einen Kredit über 20000 Mark aufgenommen, vor einem halben Jahr also. Der Kreditvertrag sieht vor, daß Sie ihn mit monatlich 348 Mark zurückzahlen. Die Raten werden jeweils am Monatsersten fällig.»

Rose blickte über seinen Schreibtisch. Hinter dem Teller, der Tasse, dem Margarinebecher und dem Glas mit Hausmacher-Leberwurst lag das Holzstück mit dem senkrecht herausragenden Nagel, auf den er alle Briefe spießte, die ihm nicht geheuer vorkamen.

«Bei Durchsicht unserer Unterlagen stelle ich fest, daß Sie seit zwei Monaten die Raten nicht überwiesen haben.»

«Ich habe vier Monate bezahlt. Pünktlich.»

«Das haben Sie. Der Vertrag läuft jedoch über 60 Monate.»

Rose schwieg, verwünschte sich für seine Neugier, die ihn verführt hatte, den Hörer abzuheben.

«Herr Rose, seien Sie froh, daß wir den Fall bereits in diesem verhältnismäßig frühen Stadium ernst nehmen.»

«Ich bin kein Fall.»

«Sie wissen, wie ich es meine.»

Die Stimme von Frau Töpperwien klang verbindlich, nicht mal in Ansätzen hochnäsig. Das machte es Rose nicht leichter.

«Herr Rose, es liegt mir fern, Schwarzmalerei betreiben zu wollen. Aber die Angelegenheit muß geklärt werden. Ich würde mich gerne mit Ihnen unterhalten. Wann paßt es Ihnen?»

Rose wollte diese Frau nicht sehen. Er wollte sich nicht verhören lassen. «Es ist … äh, meine Zeit ist momentan sehr begrenzt. Ich … ich habe viel zu tun.»

«Wie schön für Sie. Ich hoffe, daß sich Ihre angenehme Beschäftigungslage befruchtend auf unsere geschäftlichen Beziehungen auswirken wird.»

Die Sachbearbeiterin lachte. «Also wann, Herr Rose? Es dauert keine halbe Stunde.»

«Ich muß heute nachmittag nach Norderstedt, ganz dringend. Morgen geht es auch nicht, da muß ich …»

«Dann machen wir es am besten sofort. Sagen wir 11 Uhr? Oder 11 Uhr 30. Darf ich Sie für diesen Termin eintragen?»

Zwei, drei Sätze noch, dann stand Rose mit dem Telefonhörer in der Hand da.

«Rrrums!» Im Kinderladen nebenan ging es schon wieder sehr munter zu. Immer wieder warf ein Kind die Tür ins Schloß.

«Rrrums!»

***

Zwei Minuten, bevor er los mußte, kam wieder die Angst. Er war kurz davor, Farbeimer, Rolle und Leiter aus dem Verschlag zu holen, um endlich den Flur zu streichen. Vor allem mußte er die acht lockeren Deckenfliesen ankleben. Besorgt ruhte Roses Blick auf der Fliese hinten rechts. Er wußte nicht, was dieses Quadrat davon abhielt, in den Flur zu stürzen. Kein Zweifel, Rose mußte hierbleiben und seiner Pflicht als Mieter nachkommen. Dafür hatte die Frau in der Bankfiliale bestimmt Verständnis. Morgen war auch noch ein Tag. Und übermorgen erst. Von der Sartoriusstraße ging er links zum Müggenkamp und dann ganz beiläufig immer geradeaus die Osterstraße runter, bis er vor dem Kreditinstitut stand.

«Herr Rose? Wie schön, Töpperwien. Bitte nehmen Sie doch Platz.»

Jetzt, wo Rose der Frau gegenübersaß, hätte er sich einen Mann als Gesprächspartner gewünscht. Sie schicken immer die Charmanten vor. Das ist auch so ein Trick.

«Ich hole uns erst mal …» Die Sachbearbeiterin verschwand, um gleich darauf mit zwei Tassen Kaffee zurückzukommen.

Die Frau war um die vierzig. Sie kleidete sich einen Tick zu bieder.

«Sehen Sie, Herr Rose, so von Angesicht zu Angesicht ist es doch viel angenehmer zu reden.» Frau Töpperwien wühlte in dem winzigen Aktenstapel auf ihrem Schreibtisch. Roses Mappe war hellrot. Er hatte Rot noch nie leiden können. Selbst letztes Jahr in der Psychiatrie in Ochsenzoll hatte er die roten Tabletten am schlechtesten vertragen.

Die Frau faltete ihre Hände über der aufgeschlagenen Mappe:

«Also, Herr Rose, machen Sie einen Vorschlag!»

Rose stand auf und zog den Trench aus.

Zeit gewinnen, Rochus. Zeit ist Geld.

«Rekapitulieren wir, Herr Rose. 20000 Mark Kreditsumme. Rückzahlbar in 60 Monatsraten à 348 Mark. Sie haben die erste Rate und die zwei Prozent Bearbeitungsgebühren damals an Ort und Stelle bezahlt, bar.»

«Ich mag Bargeld.»

«Wer nicht?» Sie lächelte. Wenn sie lächelte, war sie eine Frau.

Wenn sie die Hände über einer Akte faltete, war sie Sachbearbeiterin.

«Sie haben auch die Raten zwei, drei und vier termingemäß überwiesen. Dann jedoch …»

«Dann begann eine kurzfristige Flaute in meinem Geschäft.»

«Das verstehe ich nicht ganz. Sie stehen doch in einem regelmäßigen Arbeitsverhältnis. Sie haben doch seinerzeit … hier.»

Sie hielt ihm das Papier entgegen, das Adler damals mit Rose bei einer Flasche Rotwein formuliert hatte. Vorher hatte Adler unter Einsatz seiner beschränkten graphischen Mittel einen klotzigen Briefkopf entworfen. Ein Drittel der Seite einnehmend, schwebte ein Flügel tragender Mann über der Seite. «Freie Tankstelle Valentin Kühn. Werkstatt. Umzüge. Probleme. Theorien.»

«Ich darf mal eben vorlesen», sagte Frau Töpperwien:

«Gerne bescheinige ich Herrn Rochus Rose, daß er in meinem Unternehmen den Posten eines Vize-Geschäftsführers versieht, übrigens zu meiner vollen, zeitweise vollsten Zufriedenheit. Herr Rose bezieht ein monatliches Bruttogehalt von 2900DM und ist an der jährlichen Gewinnausschüttung maßgeblich beteiligt.»

Rose hielt ihrem Blick stand.

«Das ist soweit in Ordnung», versicherte er.

«Sie sind nicht in der Zwischenzeit entlassen worden? Sie haben nicht gekündigt und sind auch nicht krank gewesen?»

Er schüttelte den Kopf.

«Und der Betrieb … diese Tankstelle, sie existiert noch?»

«Selbstverständlich. Sind Sie noch nie dran vorbeigekommen?»

Frau Töpperwien blickte auf die Anschrift, zögerte.

«Hamburg 26 ist Rothenburgsort und Billbrook», sagte Rose.

«Tut mir leid. Das ist nicht meine Richtung.»

«Der Stadtteil ist noch nicht entdeckt», log Rose unverfroren.

Er wußte, daß Billbrook von allen Stadtteilen die schlechtesten Wohnwertdaten besaß – mit Abstand die schlechtesten.

«Ich sehe hier gerade eine Notiz, die ich damals geschrieben habe», sagte Frau Töpperwien. «Sie sagten, daß Sie sich nebenher selbständig machen wollten. Sie hatten da wohl seinerzeit ein Produkt, auf das Sie große Hoffnungen gesetzt haben. Wie sieht es denn damit aus? Haben sich Ihre Hoffnungen erfüllt?»

«Doch.» Rose nickte heftig. «Doch, doch. Danke der Nachfrage. Ich kann nicht klagen. Aber ich finde, es reicht jetzt langsam. Sie haben mich genug ausgehorcht.»

Frau Töpperwien hob überrascht den Kopf.

«Ich habe Sie nicht verhört. Ich versuche lediglich, eine Lösung für unser Problem zu finden.»

«Unser, unser», äffte Rose sie nach. «Wieso denn ‹unser?›. Haben Sie etwa Schulden? Sie arbeiten doch hier. Sie haben doch keine Schulden. Oder?»

«Das, Herr Rose, geht Sie nichts an. Ich darf Ihnen versichern, daß ich in meinen geldlichen Angelegenheiten Ordnung halte. Vor allem gehe ich nur Verpflichtungen ein, die ich überschauen kann, was man bei Ihnen ja wohl …»

«Guck mal», flüsterte eine Angestellte im Hintergrund einem Kollegen zu. «Der Alte hat Töppi wieder einen Verhungerten aufs Auge gedrückt.»

«Logo», entgegnete der Kollege. «Keiner killt so cool wie Kerstin.»

Der Angestellte winkte Frau Töpperwien zu.

«Herr Rose, bitte beruhigen Sie sich», vibrierte sie. «Sie lassen sich gehen.»

«Gehenlassen», knurrte Rose. «Erst soll ich unbedingt kommen. Dann soll ich mich gehenlassen. Was wollen Sie überhaupt?»

Als er ihre Augen sah, ihr ehrlich besorgtes Gesicht, ihren Kummer über sein Verhalten, da sprang Rose auf, daß der Becher mit Kugelschreibern und Filzstiften auf dem Schreibtisch umstürzte. Sein Mantel glitt zu Boden. Rose raffte ihn hoch, drückte ihn vor die Brust und rief:

«Wieviel?»

«Wieviel was?»

«Wieviel Sie von mir bekommen?»

Frau Töpperwien blätterte. «696.»

«Ich will wissen, wieviel insgesamt.»

Sie sah ihn an, blätterte.

«23968 Mark. Das ist die Restschuld.»

Rose wollte den Mantel anziehen, fand nicht gleich den Ärmel, geriet darüber in Wut.

«Nächste Woche», rief er und lehnte sich mit beiden Händen auf den Schreibtisch. «Von heute an gerechnet in einer Woche. Dann haben Sie Ihr Geld.»

***

Henry Pietsch drückte den Klingelknopf der kleinen Zwei-Zimmer-Genossenschaftswohnung im Hamburger Stadtteil Hamm. In einer Hand hielt er ein Kuchenpaket, in der anderen einen Strauß mit Frühlingsblumen. Hinter der Wohnungstür rührte sich nichts. Pietsch besaß zwar einen Schlüssel zur Wohnung seiner Freundin Käthe. Aber er klingelte, wenn er unangemeldet erschien. Jetztkönnte sie aber kommen, das Radio läuft doch. Pietsch klingelte zum drittenmal. Zwar waren sie erst gestern in Blankenese am Strand spazierengegangen, hatten anschließend Kaffee und Kuchen in einem Lokal mit Elbblick verspeist. Doch Pietsch trieb die Sehnsucht um. Er klingelte erneut. Nichts. Dann stell ich wenigstens die Blumen ins Wasser. Pietsch schloß auf. Ihr Mantel hängt ja an der Garderobe. In der Küche zwitscherte der Wellensittich. Pietsch holte eine Vase aus dem Küchenschrank, füllte Wasser ein, drapierte die Blumen. Seit er Käthe kannte, mochte er Blumen, weil sie Blumen liebte. Pietsch roch an den Blüten und trug die Vase ins Wohnzimmer.

«Käthe!»

Die Vase krachte auf den Boden und zersprang. Pietsch merkte es nicht. In seinen Augen stand kaltes Entsetzen. Käthe Cathomen saß weit zurückgelehnt, mit offenem Mund und starrem Blick auf dem Sofa. Auf dem Couchtisch lag die umgestürzte Kaffeekanne. Tischdecke und Teppichboden waren naß. Neben dem Milchkännchen und der Zuckerdose stand eine zweite Kaffeetasse. Sie war noch halb voll. Käthe Cathomen hatte Besuch gehabt, und jetzt war sie tot. Pietsch rannte kopflos durch die Wohnung. Er holte eine Flasche Klaren aus dem Kühlschrank und goß ein großes Glas ein. Es half ihm nicht. Pietsch ging zum Telefon und wählte 110.

«Ist da die Polizei? Hier ist ein Mord passiert.»

***

«Was wollen wir ihm denn sagen, Mutti, wenn er kommt, der Mann?»

Das wußte Mutti auch nicht. Gut, daß sie den Couchtisch mit der Häkeldecke belegt hatte, an deren Rand diese putzigen kleinen Troddeln baumelten. Die konnte sie jetzt nervös durch die Finger gleiten lassen. Vati wanderte. Obwohl sie noch keine zwei Monate in dem Endreihenhaus wohnten, hatte er schon eine Lieblingsstrecke: von der Schrankwand am Couchtisch vorbei zum Terrassenfenster, von dort an Kommode und Fernseher vorbei, zurück zur Schrankwand. Vati hatte sichja immer vorgenommen, viel spazierenzugehen, wenn sie erst mal draußen wohnen würden. Sie waren auch zweimal draußen gewesen. Mutti hatte geweint hinterher, und Vati hatte heftig geschluckt. Alle paar hundert Meter waren sie auf Schnellstraßen gestoßen, die man als Fußgänger nur bei Einsatz seines Lebens überqueren konnte. Jetzt blieben sie lieber zu Hause. Da wußten sie, was sie hatten.

«Eine Alarmanlage!» sagte Vati zwischen Couchtisch und Fenster. «Das ist doch was für reiche Leute. Was brauchen wir eine Alarmanlage?»

«Und wenn wir ihm das einfach sagen?» fragte Mutti zaghaft.

«Das ist doch ein Vertreter. Die haben doch auf alles eine Antwort. Das lernen die doch in ihren Vertreter-Schulen.»

«Außerdem kommt bei uns sowieso keiner rein», sagte Mutti mit fester Stimme. «Wir passen doch auf. Wir sind doch immer zu Hause. Und du komm mal schnell weg von der offenen Tür. Du erkältest dich nur wieder.»

Vati war zwar anderer Meinung, aber er setzte sich neben Mutti aufs Sofa.

«Wann wollte er denn kommen?»

«Wer?»

«Wer? Wer? Na, der Vertreter.»

«Halb zwei hat er gesagt, als er vorhin angerufen hat.»

«Du hättest ihn abwimmeln können!»

«Ach Mutti, schimpf nicht. Paß mal auf, wir sagen ihm, daß wir immer zu Hause sind und daß bei uns sowieso keiner reinkommt. Das wird das beste sein. Es stimmt ja auch.»

«Ich verstehe gar nicht, warum bei so vielen Leuten eingebrochen wird heutzutage. Sitzen die denn auf ihren Ohren? Das hört man doch, wenn sich ein Fremder im Haus herumtreibt. Das macht doch Geräusche, macht das.»

Im nächsten Moment schrie Mutti auf. Vati verjagte sich, daß sein Blutdruck-Unterwert auf satte 120 sprang. Ein Arm im Trench langte von hinter dem Sofa zwischen Mutti und Vati hindurch. Am Ende des Arms saß eine Hand. Die Hand hielt einen Prospekt in den Fingern.

«Sehen Sie, so denken die meisten Bürger. Das ist grundfalsch. Guten Tag, mein Name ist Rose, Rochus Rose.»

Mit diesen Worten kam Rose hinter dem Sofa hervor, stellte den Karton diskret neben den Couchtisch und zog, während sich das ältliche Ehepaar wieder einkriegte, den Mantel aus.

«Mann Gottes», keuchte Vati. «Haben Sie mich erschreckt. Das machen Sie aber nicht noch mal.»

«Natürlich nicht», sagte Rose mit gewinnendem Lächeln. «Ab morgen besitzen Sie ja ein Sicherheits-Set der Firma Stumpf. Ab morgen wird Sie niemand mehr so niederträchtig erschrecken können. Ab morgen sollen sie nur kommen, die Einbrecher und Diebe. Sie werden Sie gewappnet finden. Das ist ein ungeheuer beruhigendes Gefühl, meinen Sie nicht auch?»

Alles, was unter «beruhigend» fiel, fanden sie natürlich gut. Rose ließ sich Kaffee und Marmorkuchen anbieten.

«Wenn ich Ihnen vielleicht Wirkungsweise und Vorteile der Anlage präsentieren darf», sagte er danach mit perlender Stimme. «Das Wichtigste für die Hausfrau gleich vorneweg.»

Rose klemmte vorsichtig Gardine und Übergardine hinter den Fernseher. Kaum hielt er die Gardine in der Hand, mußte er wieder an Marianne Koch denken. Das ging ihm jedesmal so, und vielleicht faßte er aus diesem Grund so gerne Gardinen an.

«Dieses Sicherheitsprinzip läßt sich kinderleicht anbringen. Keine Löcher in der Wand, kein Schmutz auf dem Fußboden und kein Handwerkertermin, der dann kurzfristig wieder abgesagt wird.»

Rose zwinkerte den beiden zu. Sie freuten sich und erzählten einige Schwänke aus ihrer leidvollen Zeit als Bauherren. Rose ließ ihnen die Atempause, die sie brauchten, und tat sich am Kuchen gütlich. Als er die beiden da auf dem Sofa sitzen sah, jammerte es Rose. Aber er kannte diese Anwandlungen bei sich.

«Schwachpunkt Numero eins jedes Hauses sind Fenster und Türen. Sie sind für einen Einbrecher kein Hindernis, sondern ein Klacks. Das gilt besonders für Griffe und Schlösser. Wenn Sie bitte mal eben kurz hier ans Fenster treten würden …»

Rose hatte gute Erfahrungen damit gemacht, die Kunden aus ihrer Passivität zu reißen und aktiv werden zu lassen. Deshalb spielte er mit den beiden das «Ich breche ein»-Spiel. Erst waren sie ein wenig zögerlich. Dann fanden sie Gefallen an der Bewegung, juchzten, alberten herum und schlossen sich gegen Rose zusammen, der sich anfänglich wehrte und sie im richtigen Moment gewinnen ließ.

«Hach, das bringt Laune», rief Mutti, und Vati schmunzelte. Rose hielt die Sache praktisch für gelaufen. Jetzt mußte er sie an den Tisch kriegen, wo es um das Ausfüllen der Bestellung ging.

«3000 Mark?» rief Vati. Er sprach die Zahl aus, wie es ein Normalbürger mit der Zahl «Zweieinhalb Trillionen» tun würde.

«Wir haben keine 3000 Mark. Guter Mann, wir haben gebaut.»

«Und Sie wollen doch gewiß nicht, daß Ihnen Ihr reizvolles Haus unterm Hintern weggeklaut wird.»

Die beiden blickten sich an, und Rose wußte, daß er das Spiel verloren hatte.

«Aber wir haben doch gar nichts, was einen Dieb interessieren könnte», sagte Mutti.

«Na, der Fernseher hier.» Rose machte ein begehrliches Gesicht in Richtung Flimmerkiste.

«Ach der, der ist doch schon acht Jahre.»

«Aber Ihr Schmuck», gab Rose zu bedenken. «Was da für Erinnerungen dran hängen.»

«Mein Schmuck ist nichts wert. Das meiste mußten wir auch verkaufen, für die zweite Hypothek. Und meine Erinnerungen kann mir keiner stehlen. Die habe ich in meinem Herzen eingeschlossen», sagte Mutti und legte zu allem Überfluß beide Hände aufs Herz.

«3000 Mark», murmelte Vati, der immer noch nicht darüber hinweggekommen war. «Das ist ja … das sind … das sind Zinsen und Tilgung für zwei Monate.»

«Heutzutage hat man einfach eine Alarmanlage», schob Rose nach, ungeduldig das Bestellbüchlein knetend. Schlagartig befiel ihn dunkle Mutlosigkeit. Er hatte so viele schöne Argumente auf Lager. Aber er mußte nur diese harmlosen, überforderten Menschen angucken, und ihm verging jede Lust, diese Argumente auszupacken. Rose entließ die beiden aus der unerträglichen Situation. Mutti war drauf und dran, ihm zwei Stücke Marmorkuchen einzupacken, und Vati hielt plötzlich eine Flasche billigen Weinbrands in der Hand. Rose flüchtete aus dem Endreihenhaus.

Im Wagen sitzend, zog er sich eine Zigarette in die Lungen.

Das war wieder zu menschlich. Du willst was von denen. Du willst keine Freunde fürs Leben gewinnen, sondern 25000 Mark. Das ist ein Unterschied.

Als er gegen 17 Uhr 30 den Wagen Richtung Süden lenkte, wußte er gar nicht mehr, wie er aus dem letzten Haus herausgekommen war. Zu deprimierend waren die Erlebnisse der letzten Stunden für Rose gewesen. Mit elf Kartons war er losgefahren, mit elf Kartons kam er zurück.

***

Der Flügelmann in der Leuchtreklame war wie üblich flügellahm. Als Rose eine Stunde später die Wagentür mit aggressivem Schwung ins Schloß warf, verstärkte die Leuchtstoffröhre neben den Preisschildern für die diversen Treibstoffsorten prompt ihr Blinken. Die Verkleidung der Reklame war zersprungen. Das Neonweiß der Leuchtstoffröhren war kalt und brutal. Adler und Hajo konnten mit dem Licht leben. Rose beneidete sie dafür nicht.

Die Tankstelle besaß fünf Zapfsäulen, zwei für Normal, eine für Diesel, neuerdings je eine für bleifrei Normal und Super. In dem flachen Anbau waren der Kassenraum, ein Büro, eine kleine Küche, ein Aufenthaltsraum und ein Lagerraum untergebracht. Hinter dem großen Platz lag eine Flucht von sechs Garagen, an die sich die Werkstatt mit einer Grube und einer Hebebühne anschloß. Rose hatte den Eindruck, als ob das Gelände von Mal zu Mal mehr verwarzte. Noch ein, zwei Monate, dann haben sie den Kampf verloren. Dann kriegen sie das Gelände nie mehr in den Griff. Erst geht es schleichend, aber plötzlich geht es ganz schnell. Paßt bloß auf, Jungs.

Rose betrat den Aufenthaltsraum, Adler drehte sich um. Er sah müde und abgespannt aus. Unrasiert war er sowieso.

«Da ist er», sagte Adler zu dem Fremden, «das ist die Inkarnation meiner miesen Geschäftslage.»

«Nee, nee», entgegnete der Fremde. «So einfach ist das nicht. Natürlich wäre es toll, wenn du Kosten einsparen würdest. Aber deine Lage ist nicht so harmlos, daß du sie mit der Entlassung eines einzigen Angestellten in den Griff kriegen könntest. Da sind drastischere Maßnahmen notwendig.»

Nach dem Wort «Entlassung» setzte sich Rose hin. Man traf in diesem Raum, wo man sich auch fallen ließ, immer auf einen Autositz oder eine ausgebaute Rückbank.

«Adler! Mach die Augen auf», sagte der fremde Mann. Rose fragte sich, warum der Mann in solch offener Manier mit Adler zu sprechen wagte. Seit vielen Monaten existierte unter allen Bekannten und Freunden Adlers die stillschweigende Abmachung, daß man darauf verzichtete, die finanzielle Situation der Tankstelle anzusprechen. Gut war die Tankstelle von Anfang an nicht gelaufen. Aber sie hatten sich über Wasser gehalten. Der Betrieb lag abseits der großen Straßen, die aus der Stadt auf die Autobahnen führten.

«Dieser Brief kann die letzte Chance sein», fuhr der Steuerberater fort und schlug mit der Hand auf ein Blatt Papier. Rose wußte, daß dieser Tag nicht sein Freund war. Und der Abend wohl auch nicht.

«Dieser Brief ist das Angebot zur Kapitulation», sagte Adler gereizt.

Rose war ihm für den Satz dankbar. Adler kämpfte, also war noch nicht alles verloren.

«Adler, diesen Preis bezahlen sie dir nie wieder», beharrte der Steuerberater. «Sie lassen ja deutlich genug durchblicken, daß sie das Gelände 400 Meter dichter an den Elbbrücken aufkaufen werden, wenn du nicht mitspielst.»

«Ja, ja», sagte Adler müde.

«Und du weißt, was sie da hinstellen werden: eine hypermoderne, Super-Floppy-Wahnsinns-Tankstelle mit fünf Megawatt Neon, einem Service von Presse über Süßigkeiten und Getränke bis hin zu Tiefgekühltem. Und dann die Werkstatt: Inspektion, Quick-Check, Waschanlage. Dagegen siehst du aus wie ein Neandertaler.»

«Vielen Dank. Genauso hatte ich mir meinen Berater immer vorgestellt.»

Adler verließ den Raum. Mit jäh hochschießendem Schreck sah Rose, wie der fremde Mann ihn anlächelte.

«Diese Selbständigen», sagte er mit tragikomischer Betonung. «Beugen sich unters Joch, sind blind wie junge Hunde. Aber wenn du ihnen sagst, was Sache ist, heulen sie auf und enterben dich.»

Glücklicherweise kam Adler gleich darauf zurück, er hielt jedem eine Dose Bier hin. Der Steuerberater reichte sie ihm gleich wieder zurück. Adler riß die Lasche ab und reichte dann die Dose dem Steuerberater.

«Danke. Aber der erste Fleck ist ja immer der schlimmste.»

Der Steuerberater wies auf seine Lederjacke, die ungeheuer abgewetzt aussah. Preis: 1700 Mark.

«Ach, wenn’s weiter nichts ist», sagte Adler freundlich. «Ich habe zufällig meine Zähne dabei. Wenn du heute abend also noch einen harten Brocken zu kauen kriegst, bin ich gerne bereit, ihn für dich …»

Der Steuerberater winkte ab. Adler wandte sich Rose zu:

«Warum bist du eigentlich schon hier? Wir hatten doch abgemacht, daß du …»

«Mir wäre zu Hause die Decke auf den Kopf gefallen.»

Adler stand auf und legte Rose beide Hände auf die Schultern.

«Rochus, alter Recke. Hast du wieder deinen Kummer mit der Welt?»

Der Steuerberater stand auf, faßte Adler am Arm und zog ihn in eine Ecke des Raums.

«Sag mal, Adler, weil wir hier gerade alle auf einem Haufen beieinander sind, soll ich nicht gleich mal mit dem Mann … ich meine, dir macht das ja offensichtlich einige Probleme? Ich kann dir versichern, mir macht das nichts aus.»

Adler blickte ihn lange an. «Du bist ziemlich gut in deinem Fach, was?»

«Man sagt so», erwiderte der Steuerberater stolz.

«Das ist ein Grund, warum ich eine Tankstelle habe und nicht Steuerberater geworden bin. Kapiert?»

In diesem Moment wurde die Tür aufgerissen. Hajo stürmte herein, sah sich hektisch um und rief Adler zu:

«Alles klar? Kann ich los? Kann Rochus heute abend?»

Adler wies auf Rose, Hajo folgte der Armbewegung und sagte:

«Ach ja, natürlich. Hallo Rochus. Nett von dir. Ich … du weißt vielleicht schon von Adler. Aber ich habe momentan einiges an den Hacken …»

«… Alles klar, Hajo», unterbrach ihn Rose. «Ich mache die Nacht heute. Krieg du mal deine Sachen klar.»

«Sachen klarkriegen», murmelte Hajo verstört. «Das sagt sich so leicht. Sachen klarkriegen! Also bis morgen. Man sieht sich.»

Er machte eine nervöse Armbewegung und verschwand.

«Mannomann», sagte der Steuerberater. «Du hast vielleicht eine Mannschaft beisammen. Die unterstützen dich bestimmt Tag und Nacht, was?»

«Logo», erwiderte Adler verbissen. «Wir sind ein tolles Team. Du hast ja noch nicht alle Leute gesehen.»

«Noch einen?» rief der Steuerberater mit kaum verhülltem Entsetzen.

«Noch einen», sagte Adler. «Henry. Henry Pietsch, unser Seemann.»

«Ich kann mir ungefähr vorstellen, was für ein Typ das ist», murmelte der Steuerberater.

«Kannst du nicht», konterte Adler. «Das kann keiner, bevor er ihn nicht gesehen hat.»

In diesem Moment ertönte draußen ein schreckliches Geräusch. Alle Köpfe flogen herum. Es klang wie ein Hilferuf. Aber Rose wollte es scheinen, als ob auch Metall im Spiel war. Da war das Geräusch schon wieder. Es schien näher zu kommen. Adler eilte als erster hinaus, die anderen waren ihm dicht auf den Fersen.

«O mein Gott», stieß Adler hervor.

Ein Mann auf einem Fahrrad fuhr auf dem Tankstellengelände herum. In gefährlicher Schieflage kurvte er zwischen den Zapfsäulen und dem Auto des Steuerberaters.

«Mein Auto», stieß der Steuerberater mit Anzeichen körperlichen Schmerzes hervor und setzte sich in Bewegung, um sein Eigentum zu schützen. Da war der alte Mann schon gegen den rechten Außenspiegel geprallt und verdrehte ihn eine Winzigkeit.

Und erst jetzt verstanden Adler und Rose den Mann auf dem Fahrrad:

«Helft mir», rief er leise und verzweifelt. «Helft mir doch. Warum hilft mir keiner?»

Adler und Rose stürmten los. Pietsch ließ sich, als er die beiden an seiner Seite wußte, mit geschlossenen Augen zur Seite kippen. Er riß Adler halb zu Boden, da packte aber schon Rose zu. Und wenn Rose zupackte, geschah es mit einer Kraft, die größer war als das, was 98 Prozent der Bevölkerung als Kraftreserve mit sich herumschleppen.

«Henry, was ist denn passiert? Du stinkst ja wie ein alter Holländer.»

Pietsch umwehte eine kapitale Alkoholfahne.

«Aus.»

«Was?»

«Aus und vorbei. Futschikato. Aus dem Auge, aus dem Sinn.»

«Henry, nun red mal laut und deutlich. Was hast du?»

«Was ich habe, was ich habe», äffte Pietsch Adler nach. «Darum kümmert ihr euch. Aber was sie hat, wie es ihr geht, da kümmert sich kein Schwanz drum. Aber so seid ihr, so seid ihr alle.»

Pietsch wollte sich losreißen. Adler und Rose ließen sich auf nichts ein.

«Ist was mit Käthe?» fragte Rose.

Pietsch starrte ihn an, als ob er ihn noch nie gesehen hatte.

«Tot», stieß er heraus. «Jemand hat sie totgemacht.»

Pietsch ließ seinen Kopf gegen Adlers Schlüsselbein sinken und zuckte unter den immer wieder hochschießenden Schluchzern. Adler und Rose verständigten sich mit Blicken. Dann dirigierten sie Pietsch Richtung Aufenthaltsraum. Dabei kamen sie am Steuerberater vorbei, der gerade seinen Außenspiegel gerichtet hatte. Er guckte Pietsch ohne besondere Sympathie an.

«Was hat er denn?»

«Morgen weiter, ja?» sagte Adler schnell und endgültig.

Der Steuerberater blickte den drei Männern hinterher. Dann zuckte er die Schultern und stieg ins Auto. Im nächsten Moment sorgten viermal sechzig Watt sinus für die nötige Grundlage, auf der ein österreichischer Liedermacher über die Schwindsucht seines Kontostandes sowie seine Todessehnsucht heulte. Der Steuerberater hatte alle Platten des Liedermachers zu Hause. Die Platten waren schwarz, pechschwarz.

Henry Pietsch saß merkwürdig verquer auf der Autorückbank und wurde von Weinkrämpfen geschüttelt.

«Der ist ja völlig hinüber», murmelte Adler. «So war Henry ja noch nie. Hatte die Witwe denn irgendwas? Ich meine, gesundheitlich? Die war doch ganz gut in Schuß, soviel ich weiß. Da hat er doch immer so mit angegeben.»

«Tiptop erhalten», schluchzte Pietsch. «Käthe fehlt nichts. Käthe doch nicht. Das blühende Leben. Gesünder als ich, und das will was heißen. Das kann sie nicht machen: einfach so umzufallen. Was denkt die Frau sich eigentlich dabei? Kommt gar nicht in die Tüte. Ich geh’ jetzt zurück und kläre das …»

Pietsch kam mühsam hoch, starrte Adler und Rose an, dann sagte er: «Käthe ist tot.»

Dann setzte er sich wieder hin.

«Schock», schloß Adler messerscharf. Zwei Krankheitszustände erkannte er von weitem: Nasenbluten und Schockzustände. Er hatte früher unter notorischem Nasenbluten gelitten; und seine Mutter war sehr nervös gewesen, hatte die Familie mit ihren diversen Katastrophen immer gut in Schwung gehalten. Adler blickte Rose an.

«Das könntest genauso du selber machen», konterte Rose.

Adler versuchte ein Ohrfeigengesicht, dann trollte er sich und setzte Wasser für den Kaffee auf. Rose setzte sich neben Pietsch. Henry Pietsch war 63. Vom 27. Lebensjahr bis vor vier Jahren war er zur See gefahren. Seit einem Jahr betätigte er sich auf der Tankstelle als Mädchen für alles. Pietsch machte das nicht aus finanziellen Gründen. Er bezog eine sehr zufriedenstellende Rente.

«Wenn du drüber reden möchtest …» Rose legte einen Arm um Pietschs Schulter. Er war wieder überrascht, wie zierlich der Mann bei aller Sehnigkeit doch war. Manchmal erinnerte ihn Pietsch an seinen Vater. Besonders, wenn er sich aufregte. Dann neigten beide dazu, sich wie Giftzwerge aufzuführen: kleine, keifende Kampfmaschinen, die sich alles merkten und nicht verziehen.

«Da gibt’s nichts zu sagen», schniefte Pietsch. «Tot ist tot. Hat auch der Polizist gesagt, dieser Vollidiot, dieser.»

«War Polizei da?»

«Die habe ich doch sofort angerufen. Aber die konnten ja nichts mehr tun, standen nur dumm rum und machten sich die Fingernägel sauber. Und dann dieser Polizist, ich sage dir.»

«Hat er dummes Zeug geredet?»

«Nonstop. Besonders als er anfing, mich zu trösten. Golze heißt er, den mußt du dir merken. Redet dich rammdösig, der Kerl.»

Adler kam mit zwei Bechern Kaffee. Pietsch griff nach dem mit dem abgeschlagenen Henkel und der Aufschrift «Formel Eins», nippte, verzog das Gesicht:

«Mann, damit kannst du ja Tote aufwecken.»

Sie starrten ihn an.

«O Gott», sagte Pietsch. «Was rede ich denn da?»

Aus jedem Auge rann eine dicke Träne und suchte sich durch den Stoppelbart ihren Weg in den Hemdkragen.

«Herzschlag?» fragte Adler.

Pietsch nickte trübe. «Sagt der Arzt. Aber das sagt der immer. Ist ja auch das Bequemste.»

«Ja, glaubst du denn, daß … ich meine …»

«Allerdings glaube ich das», sagte Pietsch mit verhältnismäßig fester Stimme und trank mit kleinen Schlucken den Kaffee.

«Willst du einen Schnaps?»

«Bloß nicht.»

«Sag mal», fing Adler wieder an, «das hast du eben aber nicht ernstgemeint, daß da einer dran gedreht hat, an deiner Witwe, ich meine …»

«Käthe war kerngesund. Bildhübsch und kerngesund», sagte Pietsch bockig.

«Aber ein Herzschlag, Henry, der guckt doch nicht auf den Kalender. Der schlägt zu, wo er will. So ist das nun mal im Leben.»

Adler blickte Rose auffordernd an. Aber Rose schwieg.

«Kerngesund», wiederholte Pietsch. «Und wie sie da lag …»

Rose wurde sehr, sehr aufmerksam.

«Ganz verdreht, als wenn sie noch irgendwas festhalten wollte.»

«Oder irgendwen», sagte Rose.

Sie starrten Rose an.

«O nein», rief Adler. «Da haben sich die richtigen beiden getroffen. Nicht gesucht, aber gefunden. Leute, es ist mir natürlich furchtbar peinlich. Aber ich muß los. Ich bin verabredet. Keine ganz unwichtige Verabre …»

«Geh nur, mein Junge», sagte Pietsch leise. «Ich brauche niemanden, jetzt, wo Käthe nicht mehr ist.»

Ein kolossaler Rülpser entrang sich der geplagten Männerbrust. Der Geruch von Korn erfüllte den Raum.

«Rochus», sagte Adler und zappelte verlegen vor Rose herum. «Das ist eine bescheuerte Lage. Ich weiß auch gar nicht, was man jetzt eigentlich tun müßte. Oder lassen. Und ich muß wirklich …»

«… geh», sagte Rose freundlich. «Ich mache die Nachtschicht. Ich behalte Henry hier. Ich glaube nicht, daß er heute nacht noch irgendwohin will.»

Sie blickten ihn an. Pietsch lag wie ein nasser Sack auf dem Sofa. Er brummte vor sich hin. Sein Gesicht war völlig verweint. Adler verließ den Raum, trank in der Küche den Rest Kaffee aus und kämmte sich notdürftig vor dem Spiegel überm Waschbecken. Scheiße. Dabei kommt es gerade am ersten Tag drauf an. Da werden die Duftmarken gesetzt. Adler freute sich dann aber doch noch auf das Treffen mit Gudrun.

***

Am Tag darauf schlich Rose, nachdem er Henry Pietsch zu Hause abgeliefert hatte, durch die Innenstadt. Alles um ihn herum protzte mit Gediegenheit und Wohlstand. Er wurde von Minute zu Minute aggressiver. Warum war ihm noch nie aufgefallen, daß vier Fünftel aller Autos fabrikneu waren? Die Männer trugen teures Tuch, die Frauen waren mit Schmuck behängt. Sie rochen auch betörend. Wohin Rose den Kopf hielt, jedesmal wehte ihn ein neues Parfum an. Und dann die Schaufenster! Hier lagen in aller Öffentlichkeit Millionenwerte herum. Teilweise waren sie nachlässig drapiert, quasi hingeschleudert, als wollte das Kleidungsstück sagen: «Ist mir doch egal, ob du mich kaufst.» Rose war immer ein Freund von schönen Dingen gewesen. Er hatte immer viel Geld besitzen wollen, aber nicht, um es sinnlos zu vermehren und protzige Statussymbole anzuschaffen. Rose wollte sich schöne Dinge kaufen, er wollte in solcher Umgebung leben. Deshalb sprang ihn heute die kalte Wut an. Er brauchte doch nicht viel, lumpige 25000 Mark. Er blickte in den Juwelierladen. Die Kasse stand sperrangelweit offen, kein Mensch befand sich im Laden. Erst nach vielen Sekunden erschien ein Mann und schob die Kasse nachlässig, fast nebenbei, zu. Rose schluckte.

***

Zur gleichen Zeit raufte sich Hans-Helmut Herz, Geschäftsführer des «Büros Liechtenstein», dessen Gewerbe im Handelsregister mit dem Wort «Consulting» umschrieben wurde, die fettigen Haare. Haßerfüllt betrachtete der Endvierziger die Unterschrift am Ende des Berichts. Dann blickte er aus dem Fenster über die Innenstadt. Sein Arbeitszimmer lag im sechsten Stockwerk eines Geschäftshauses in der Spaldingstraße. Herz warf ein Pfefferminzbonbon ein, drückte sieben Tasten auf seiner Telefonanlage, klemmte den Telefonhörer zwischen Ohr und Schlüsselbein und fuhr mit dem Kamm durch seine fettigen Haare.

«Herz hier. Lisa soll kommen. – Genau: stehenden Fußes. Was? Na, dann morgen früh. – Danke.»

***

Rose verbrachte einen trübsinnigen Abend, durchstreifte immer wieder sein Wohnzimmer. Der Anblick der Kartonstapel mit den Alarmanlagen deprimierte ihn. Die Tischdecke, die er über die Kartons zu decken pflegte, bedeckte sie nicht einmal zur Hälfte. Die Lampe, die er obendrauf gestellt hatte, stand schon wieder schief. Rose schob die Reste des Frühstücks auf dem Schreibtisch zur Seite. Dann setzte er sich auf den Bürostuhl und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Die grüne Schreibunterlage trug neben den Kugelschreiberflecken auch Reste von Streichfett. Der verblichene Tageskalender auf dunkelgelbem Holz stammte aus dem Jahre 1981. Die schwarze, schmale Schale mit alten Kugelschreibern und verbogenen Büroklammern war verstaubt. Das ist Vergangenheit, das muß weg. Nur die Zahnstocher, die wollte er aufheben. Er steckte gleich mal einen in den Mundwinkel.

Die Telefonbücher von Hamburg, Los Angeles und Asunción lagen auf dem Rollschrank mit der defekten Mechanik. Neben dem Schreibtisch stand auf einem kleinen Beistelltisch das schwarze Telefon. Rose war fast handgreiflich geworden, als der sture Monteur im letzten Jahr das Erinnerungsstück partout hatte austauschen wollen. Ein Anrufbeantworter, staubig und mit einem Sprung quer über dem Gehäuse, stand unter dem Beistelltisch. Er war irgendwann einmal heruntergefallen. Auf dem überbreiten Fensterbrett des ehemaligen Ladens lehnte das Milchglas-Schild mit der Aufschrift «Private Investigations». Rose lauschte tief in sich hinein. Aber es nützte nichts. Er mußte die Anlagen verkaufen, es gab für ihn keine andere Möglichkeit, an Geld zu kommen.

***

«Lisa! Wie schön!»

Hans-Helmut Herz stand auf und stieß wie üblich gegen die Schreibtischkante. Er ließ keine Gelegenheit aus – ganz im Gegensatz zu den Gelegenheiten, sich die Haare zu waschen. Herz hätte sich den blauen Fleck am Oberschenkel unter ‹Unveränderliche Kennzeichen› in den Personalausweis eintragen lassen können.

Lisa Kürten, 59, damenhaft gekleidet, ausgestattet mit schneidender Intelligenz, zähem Willen und der Fähigkeit, sich gnadenlos durchzusetzen, nahm Platz.

Lisa begann das Gespräch, indem sie schwieg. Herz reichte ihr den Bericht.

«Lies bitte. Die erste Tat eines neuen Außendienstlers der Passau Paderborner-Versicherung.»

«Rettich.»

«Spitzname Belmondo», sagte Herz verächtlich. «Dampfwalze würde besser passen.»

Lisa las. Herz betrachtete in der Zwischenzeit seine Fingernägel und fragte sich, ob Lisa wohl eine Bemerkung über seine fettigen Haare fallenlassen würde.

«Immerhin», sagte Lisa und ließ das Blatt sinken, «er informiert uns.»

«Ich fasse zusammen», sagte Herz, der leidenschaftlich gern zusammenfaßte. «Die Versicherungsnehmerin Cathomen kündigt ihre Lebensversicherung. Außendienstler Rettich meldet sich an, um im Gespräch mit Frau Cathomen über mögliche Anlageformen der auszuzahlenden Summe zu sprechen. Rettich ist ein heißer Hund, schlägt argumentativ über die Stränge, Frau Cathomen regt sich auf, mehr und immer mehr: Herzschlag, finito, Exitus, und Rettich, diese Tranfunzel, flieht in Panik aus der Wohnung, anstatt das Nötige in die Wege zu leiten.»

«Jetzt hängt die Kripo mit drin», sagte Lisa. «Das ist die schlechte Nachricht. Nun die gute Nachricht: Mit dem Todesfall Cathomen ist Kommissar Golze befaßt.»

«Das weißt du also auch schon wieder.» Herz war beeindruckt. Lisa lächelte, aber nur ein wenig. Lisa war so.

«Jedenfalls müssen wir achtgeben, daß da nichts anbrennt», sagte Herz. «Ich sehe schon die Schlagzeile vor mir: ‹Versicherungsagent treibt Oma ins Grab.› Unser Auftraggeber würde so was gar nicht gerne sehen. Das bringt schlechte Stimmung.»

«Was soll ich tun?»

«Zur Beerdigung gehen. Lage peilen, Umfeld checken. Du mußt rauskriegen, ob es eine ruhige Leiche ist oder ob da von der Verwandtschaft jemand nachbohrt.»

Lisa erhob sich. «Das kleine Schwarze?»

Herz lächelte: «Meinetwegen auch große Robe. Hauptsache schwarz.»

***

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