Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Die deutschlandweit bekannte Unfallserie in der gutbürgerlichen Hamburger Waitzstraße nimmt kein Ende. Nun entsteht ein Projekt, das dem Spuk beim Parken ein Ende machen soll. Ein mehrtägiges Trainingslager im Stadtteil Poppenbüttel bietet betagten SUV-Besitzern praktische Übungen an. Es geht um Grundlagen der Feinmotorik sowie das Erkennen von Gefahren für Leib und Leben, Stadtmobiliar und Fensterglas. Mehrere Dutzend Teilnehmer der Generation 70 plus begeben sich in die Hände von Ausbildern, auf die unvergessliche Erlebnisse warten.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 325
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Norbert Klugmann
Opa parkt in Poppenbüttel
Roman
Neues aus der Waitzstraße Die deutschlandweit populäre Unfallserie in der Hamburger Waitzstraße dauert schon über zehn Jahre an. Bisher blieb es bei Attacken auf das Straßenmobiliar. Aber die Uhr tickt und die betagten Unfallpiloten lieben ihre SUVs. Erstmals entsteht der Plan, das Parkproblem an der Wurzel zu packen. Auf dem Marktplatz des nordöstlichen Stadtteils Poppenbüttel wird ein großes Zelt errichtet, in dem betagte Menschen mehrere Tage unter Anleitung erfahrener Trainer an ihrer Feinmotorik arbeiten sollen. Für das Trainingslager reisen mehrere Dutzend Teilnehmer der Generation 70 plus an, sie werden hier auch übernachten. Eine historische Chance für die heimische Hotellerie. Tagsüber wird ein- und ausgeparkt oder was die Senioren dafür halten. Abends trifft man sich mit Leidensgenossen. Hauptthema: Stress mit den Kindern und der Kampf um Kontrolle über das eigene Leben. Am Ortsrand fließt in paradiesischer Landschaft das Flüsschen Alster. Schnell finden die Senioren Gefallen an einer neuen Art der Fortbewegung. Denn auch auf dem Wasser sind Wettrennen möglich …
Norbert Klugmann, Jahrgang 1951, veröffentlichte bisher 80 Romane. Schwerpunkte sind Krimi, Drama, Satire, Melo, Jugendbuch. Klugmanns Stärken sind der Dialog und die Nachbarschaft von Alltag und Anarchie. Seine Vielseitigkeit zeigt sich in Romanen über die Welt des Sports, Geschlechterkriege, Karrieren, bizarre Charaktere, aktuelle Kommunalpolitik und historische Themen. Viermal begleitete er die Hebamme Trine Deichmann durch das Lübeck des 17. Jahrhunderts. Das süffige Genre des Weinromans bereicherte er mit drei Romanen um den smarten Marchese. 2022 veröffentlichte Klugmann einen Roman über die deutschlandweit bekannte Unfallserie von Hamburger Senioren beim Ausparken: „Bitte parken Sie nicht in unserem Schaufenster“. Jetzt erscheint die Fortsetzung.
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.
Immer informiert
Spannung pur – mit unserem Newsletter informieren wir Sie
regelmäßig über Wissenswertes aus unserer Bücherwelt.
Gefällt mir!
Facebook: @Gmeiner.Verlag
Instagram: @gmeinerverlag
Besuchen Sie uns im Internet:
www.gmeiner-verlag.de
© 2024 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Anna / Pixabay,
Konstantinos Moraiti / stock.adobe.com, Querbeet / istockphoto
ISBN 978-3-7349-3030-0
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Es rauschte. Sehr kurz und gar nicht laut. Etwas rau klang es, dann knallte es, auch dies sehr kurz, aber lauter. Dann war es ruhig. 21, 22. Danach der Ruf einer Frau: »Mutti! Mein Gott, Mutti! Nicht schon wieder! Wer soll das bezahlen? Wer hat so viel Geld?«
Heinrich Treitschke trat einen Schritt zur Seite. In schildkrötengleichem Tempo glitt der Mittelklassewagen an ihm vorbei. Zwar rollte er rückwärts, das war gut. Aber er rollte mit einer Langsamkeit, die es ausschloss, Unheil anzurichten. Treitschke atmete schneller, als der Wagen rollte. Die Frau am Steuer hätte einen Blick in die auf dem Beifahrersitz liegende Illustrierte werfen können, und Treitschke hätte sich immer noch nicht in Sichtweite einer Situation befunden, die in den Zeitungen und im Fernsehen als »riskant« und »grenzwertig« oder sogar als »lebensgefährlich« bezeichnet werden würde. Das vollkommen kontrollierte Ausparken hinderte die betagte Fahrerin auch nicht daran, Treitschke zu bemerken, ihm zuzulächeln und ihm zu allem Überfluss zuzuwinken. Zwar musste sie dafür unweigerlich eine Hand vom Lenkrad nehmen – was gut war –, aber daraus folgte leider auch an diesem Tag absolut nichts. Der Wagen blieb in der Spur, als würde er auf Schienen laufen.
Einen Moment gönnte sich Treitschke den Sprung nach Westen, wo sich in diesem Stadium des Ausparkens alle Menschen in einem Radius von 50 Metern in Hauseingängen und hinter Autos in Sicherheit gebracht haben würden – im besten Fall hinter Fahrzeugen, die sich nicht in Bewegung befanden.
Heinrich Treitschke war kein Schwarzmaler, aus einer Familie mit friesischen Wurzeln stammend, lag ihm nichts ferner als vorschnelles Reagieren und motorische Erscheinungsformen, die Außenstehende als fix oder reaktionsschnell bezeichnet hätten. Treitschke ließ die Dinge gern auf sich zukommen, als Kunde in der westlich gelegenen Waitzstraße oder als Besucher einer Arztpraxis an derselben Adresse hätte sich sein Lebensrisiko um den Faktor 100 vergrößert.
Aber Treitschke lebte in Poppenbüttel, 30 Kilometer von der Waitzstraße entfernt. Mochte der Name Ortsfremden auch spontan Anlass zur Hoffnung geben, so würde ihn ein kurzer Aufenthalt in diesem Teil der großen Stadt eines Besseren belehren. Was in diesem Fall bedeutete: eines Langsameren, Bedächtigen, Zögernden, mitten in der Bewegung Innehaltenden. Es war die Regel und nicht die Ausnahme, dass Tag für Tag Bewohner Poppenbüttels erst lange nach der Rückkehr in ihre Behausung realisierten, wie viele Besorgungen sie heute wieder nicht durchgeführt hatten, mochten sie auch dringend sein (Grundnahrungsmittel, Nahrungsergänzung, Medikamente, Lotto). Sie hatten sie schlicht vergessen, was nicht in mangelnder geistiger Präsenz begründet war, sondern eine Folge der Poppenbüttler Bedächtigkeit darstellte. Über dem Ortsteil im äußersten Nordosten der Metropole lag käseglockengleich eine Haube, bestehend aus Kommichheutnichtkommichmorgen-Mentalität.
Keiner der 104 städtischen Ortsteile brachte es auf einen so großen Anteil an betagten Mitbürgern. Jeder dritte Poppenbüttler war 65 und älter. Älter hieß hier nicht: kurz nach Erreichen von Rente und Pension, es bedeutete in nicht seltenen Fällen ein Lebensalter von über 70, über 80, über 90. Danach wurde es dünner, aber das war lediglich der Biologie geschuldet, nicht der Poppenbüttler Mentalität. Die war robust auf dreistellige Jahreszahlen ausgelegt, und im Ortsbild existierte nichts, was die Geburtstagsfeier zum 100. in einen Abenteuertrip an die Grenze der individuellen Endlichkeit verwandeln konnte.
Oder wie Luise Ullrich, nicht verwandt und verschwägert mit der gleichnamigen Schauspielerin, es unnachahmlich auf den Punkt gebracht hatte: »Poppenbüttel ist, wenn du alles hinter dir hast und nichts mehr vor dir – außer dem Rollator, der sich partout nicht überholen lassen will.«
Deshalb war der Ruf einer besorgten Mutter, der vor wenigen Minuten Heinrich Treitschkes Ohren erreicht hatte, in Poppenbüttel seit vielen Jahren nicht mehr gehört worden. Da mussten erst die Vandalen und Anarchos aus den westlichen Stadtteilen kommen, um den Poppenbüttlern zu demonstrieren, was möglich war. Woche für Woche war in der Waitzstraße Ballyhoo, längst tauchte nicht mehr jeder neue Rumms in den Medien an prominenter Stelle auf. Die Vorkommnisse in der Waitzstraße fügten sich harmonisch in die dortige Realität ein. Die Erbsenzähler und Statistiker hatten Mühe, mit der Buchführung hinterherzukommen. Polizei, Lokalpolitik und vor allem die Geschäftswelt umschlichen nervös die 900 Meter lange Straße. Aber die im Westen ließen ihre Unglücksfahrer nicht einfliegen. Sie nahmen ihre regelmäßigen Sticheleien in die eigenen gepflegten Hände, die nicht selten in Handschuhen steckten, für die man in anderen Stadtteilen drei Monatsmieten überweist.
Davon konnte man in Poppenbüttel nur träumen. Und niemand träumte häufiger davon als Heinrich Treitschke.
Natürlich hatte das historische Seniorenrennen zwischen den westlichen und östlichen Senioren in der Kieskuhle an einigen Klischees und Vorurteilen genagt. Das war erfreulich. Aber das Rennen lag nun auch schon zwei Monate zurück – zu viel in unserer schnelllebigen Gegenwart, um seine Frische und Vitalität in die Zukunft hinüberretten zu können.
Seitdem hatte es in der Waitzstraße viermal gekracht. Sie nieteten um, was ihnen vor den Kühler kam, sie umschifften die zentnerschweren Poller, die angeblich in der Testphase Panzer gestoppt hatten, und sie schafften es, auf einer Strecke von maximal 15 Metern eine Macht zu erzeugen, die niemand einem betagten Mitbürger zutrauen würde.
Wer Wert darauf legte, konnte wissen, dass es eine Handvoll Senioren gab, die bereits mehr als einmal auffällig geworden war. Zwei von ihnen hatten es sogar auf drei Treffer gebracht. Beide waren seit ihrer letzten Aktion nicht mehr für die Medien zu sprechen, was für sie die Höchststrafe bedeutete und für ihre Familien eine Galgenfrist. Die in jeder Hinsicht aus dem Verkehr gezogenen Senioren (Kosename: Die zwei Caracciolas) saßen nun auf einem Berg Autogrammkarten, der von Tag zu Tag an Wert gewann, was ihnen jedoch nicht bewusst war.
Aber Heinrich Treitschke wusste es. Er wusste viel über die Lage im Westen. Im Westen lag die Sehnsuchtslandschaft des ehemaligen Besitzers einer Baustofffirma. Treitschke hatte seinerzeit den Kontakt zu den jetzigen Eigentümern der Kieskuhle vermittelt. Die Zweitplatzierte des Rennens hatte ihn auf eine Runde mitgenommen, seitdem wusste Treitschke, dass er nicht umsonst gelebt hatte. Die Frau fuhr wie eine gesengte Sau, bis zur letzten Kurve hatte er nicht gewusst, ob er vor Lebenslust oder Panik so sehr schwitzte.
Aber er wusste, dass es Vorfreude war, die seit zwei Tagen seine Adern durchpulste und alle Schlacken wegspülte, bevor sie Schaden anrichten und Verstopfungen auslösen konnten. Die TV-Filmer aus München hatten sich angesagt, um in Poppenbüttel mit Verantwortlichen und Zeitzeugen des Rennens zu sprechen. Mochten in den letzten Wochen auch die überregionalen Erwähnungen in Zeitungen und elektronischen Medien abgenommen haben, so war jetzt eine erfreuliche Gegenbewegung unübersehbar. Diverse Medienadressen, die nicht auf Tagesaktualität angewiesen waren, bereiteten Filme vor – längere Berichte, gründliche Berichte, unterfüttert mit Fakten und grundsätzlichen Gedanken. Sogar eine Diskussion war geplant, nur in einem einzigen Dritten Programm, aber die Bayern sendeten seit Langem bis in den hohen Norden. Lange hatte man das Unfallgeschehen in der Waitzstraße für nicht unbedingt notwendig gehalten und teilweise für überflüssig. Aber man war offen für Themen, die über Bayern hinausreichten. Die erfreuten Poppenbüttler hatten den Bayern optimale Unterkunft, Speisung und erstklassige Gesprächspartner in Aussicht gestellt. Treitschke gehörte dazu, in der Kieskuhle dröhnten schon die Motoren, denn man wollte aus dem vollen Training das historische Rennen nachstellen.
Treitschke durfte den Gang in die Bäckerei nicht vergessen. Zu Hause wartete der Enkel auf Gebäck, das er angeblich für seine Konzentration brauchte. Der angehende Biologe, jüngster Spross von Treitschkes im Süden mit einem grünen Landespolitiker verheirateter Tochter, absolvierte in Hamburg ein mehrwöchiges Praktikum. Vor allem fraß er sich bei den Großeltern durch und trieb sich mit Kumpels, die er in den ersten 48 Stunden kennengelernt hatte und zu denen auch Mädchen gehörten, in Gegenden herum, die Treitschke als unabdingbar für den Erfolg des Praktikums untergejubelt worden waren. Bis dahin hatte Treitschke diese Adressen nur mit Diskotheken und Kiez-Adressen in Verbindung gebracht.
Poppenbüttel ist ein altes Dorf. Wer von Poppenbüttel redet, meint den Ortskern rund um den großen Marktplatz und die weit ins Umland hineinlappenden Wohngebiete.
Wer Poppenbüttel nur von außen kennt, denkt an Norddeutschlands größtes Einkaufszentrum. Der riesige Komplex liegt knapp zwei Kilometer Luftlinie entfernt an der Endstation der S-Bahn. Der Fußweg zwischen den zwei Poppenbüttels ist beschwerlich, denn der echte Ort liegt auf einem Hügel. Sowohl der Abstieg wie auch der Aufstieg überfordert alte Knochen. Die Busverbindung ist überschaubar, der Motorisierungsgrad der Bewohner extrem hoch, die Fahrt in die Großgaragen mit ihren 3.000 Stellplätzen seit Langem die Fortbewegungsweise der Wahl.
Die Konkurrenz von 240 Geschäften hatte auf die überlebenden Einkaufsadressen im echten Poppenbüttel eine Konsequenz, die speziell im Fall der Bäckereien gewöhnungsbedürftig ist. Um Punkt 7 Uhr hat man die freie Auswahl, um 9.30 Uhr muss man nehmen, was noch da ist. Ab 13 Uhr bereitet man sich auf den Ladenschluss in fünf Stunden vor, und die Kunden dürfen live erleben, mit welcher Hingabe und unter Einsatz eines Handfegers die Brötchenfächer gefegt werden.
Treitschke kannte die Verkäuferin, die die zweite Tageshälfte als Solistin bewältigt, mit Namen. Das bleibt nicht aus, wenn man seit mehreren Jahrzehnten hier lebt.
In seiner Jackentasche brummte es. Sonja Ziemann, nicht verwandt und verschwägert mit der bekannten Filmschauspielerin, sagte: »Ich wäre vorsichtig. Davon kann man steril werden.«
Treitschke und der zweite Kunde blickten sich an.
Sonja sagte: »Zeugungsunfähig. Null Nachwuchs, wenn Sie wissen, was ich meine.«
Treitschke sagte: »Für wie alt hältst du mich?«
Sonja sagte: »Der Chef sagt, auf diese Frage sollen wir nicht antworten.«
»Ach.«
»Der Chef sagt, dadurch verliert man leicht Kunden.«
»Flunkre doch einfach.«
Es war faszinierend, Sonja beim Nachdenken zuzusehen. Dann sagte sie: »Ende 50.«
»Mein Sohn ist älter.«
»Dann haben Sie aber früh ange…«
Treitschke nahm das Handy aus der Jackentasche. Sonja begriff, dass sie seinen Standort zu weit nach unten verlegt hatte.
Treitschke kannte die Nummer, konnte sie aber nicht unterbringen. Er ließ den zweiten Kunden vor, dessen Namen er nicht kannte. Er fand das nicht dramatisch, aber es fiel ihm auf.
Der Tonfall war nicht so bayerisch wie im Komödienstadl, aber viel fehlte nicht. Treitschke kam kaum zu Wort, und als er die Gelegenheit bekam, hatte er jede Lust verloren.
Beinahe wäre er ohne die Kuchenstücke gegangen.
Fünf Jahre nach der Vereinigung hatte Heinrich Treitschke mit seiner Frau erstmals den Osten bereist, damals noch im Ford Sierra, den heute keiner mehr kannte. Aber damals war er bequem gewesen und so groß, dass man nicht ständig das Gefühl hatte, von hinten angespuckt zu werden, wenn jemand auf der Rückbank saß. Unterwegs hatte man regelmäßig Station gemacht, einen Kaffee getrunken, auch eine Kleinigkeit gegessen. Wenn die Kleinigkeit sehr klein war, hatte eine nachgeschobene Kleinigkeit den Mangel ausgeglichen. Man hatte sich so sehr darauf gefreut, auf bodenständige östliche regionale Küche und Einrichtungen zu treffen, und war zehnmal nacheinander in Lokalen gelandet, die aussahen wie ein Mix aus Wochendiskothek und Metallwarenhandlung. Treitschke hatte aus beruflichen Gründen nichts gegen Metalle, aber alle Lokale sahen aus, als würden sie aus derselben Werkstatt stammen. Der halbherzige Versuch, jugendlich, modern und nobel zu wirken – unterm Strich also westlich. Dabei hatte Treitschke auf seinen Dienstreisen Toilettenanlagen erlebt, die mehr Stil besaßen. Die Wirte erinnerten ihn an Zuhälter, und wenn eine Frau hinter der Theke stand, wusste er sofort, wie sich ihre Stimme anhören würde. So hörten sich Frauen an, die seit 30 Jahren Kette rauchten. Damals gab es das noch.
Im Westen hatte er im Lauf seines Lebens vielleicht drei oder vier solcher Einrichtungen erlebt, dabei hatte er unzählige Besprechungen in Lokalen absolviert. Eines dieser Lokale stand in Poppenbüttel, 30 Meter vom Marktplatz entfernt. Eine erste Adresse im Ort und das Schlimmste, was man für Treitschkes Geschmack über den Ort sagen konnte. Dieses Lokal kann überall stehen, es bleibt auch immer gleich in seiner Anmutung und Ausstrahlung. Manchmal passen sich Lokale ihrer Nachbarschaft an, im Lauf der Zeit wuchern sie auf rätselhafte, aber nicht unangenehme Weise auf ihre neue Heimat zu. Sie nehmen Geruch und Geschmack an. Dass man hier immer frisch trinken und sogar ordentlich essen kann, wunderte Treitschke nicht. Mit den Vorurteilen war es nicht mehr so wie früher. Früher waren Vorurteile aus einem Guss gewesen. Heutzutage findet sich immer eine Farbe, eine Mode, eine Möblierung, die aus der Reihe tanzt.
Das hielt Treitschke nicht davon ab, nun einzukehren. Er hatte nichts zu erleiden. Neun von zehn Gesichtern kannte er, fast alle mit Namen, mit allen duzte er sich. Aber an Tagen, an denen er das Leben liebte, weil das Leben freundlich zu ihm gewesen war, fiel es ihm leichter, hier eine gute Figur abzugeben.
Er war alt genug, um sich vor Langem auf die Schliche gekommen zu sein. Seine Ruth – nicht nach der Schauspielerin Ruth Leuwerik genannt – hielt sich in aller Bescheidenheit für die ausgewiesene Kennerin seiner jeweiligen Befindlichkeit. In jüngeren Jahren hatte er um die Lufthoheit seiner Selbsteinschätzung gekämpft. Mittlerweile ließ er sie in dem Glauben, es war wichtig für sie und entsprach der Rolle, die viele ältere Ehefrauen in der Ehe einzunehmen glauben.
Die Theke war voll, die Tische in Hörweite waren besetzt. Den Telefondienst hatte klaglos Ulrike übernommen. Eine Wirtin kennt die Machtverhältnisse im Ort, und sie weiß einzuschätzen, mit welchem Verhalten sie sich Freunde macht und womit sie sich in die Isolation manövriert. Ulrike hatte nichts zu erleiden, man respektierte sie, man scherzte und juxte mit ihr, man bezahlte seine Rechnung nicht nur mit Geld, sondern auch in der zweiten Kneipenwährung: Information. Ulrike war die Quelle, aus der die beiden fürs Lokale zuständigen Journalisten ihren Fang zogen. Ulrike kannte nicht alle Geheimnisse, aber die Zeitungen, die Poppenbüttel auf der Rechnung hatten, waren auch nicht auf Geheimnisse scharf, sondern auf Menschliches-Allzumenschliches, zur Not auf lokalen Sport und alles, was Eigenheimbesitzer und Geschäftsleute in Wallung bringt. Es hat also stets mit Geld zu tun.
Die Handvoll Geheimnisse, die Ulrike kannte, hegte und pflegte sie, einige staubte sie schon seit Jahren ab und glaubte mittlerweile nicht mehr daran, dass aus dem verdorrten Stamm noch einmal zarte Triebe sprießen würden. Denn in Poppenbüttel lebten einige Namen, die es zu überregionaler, wenn auch nie zu bundesweiter Prominenz gebracht hatten. Mit einer dieser Adressen war Ulrike enger verbandelt, als ihre Gäste wussten – sogar enger als die Gattin des regionalen Promis wusste. Ein wenig Spaß muss sein. Und manchmal entsteht aus dem gemeinsamen Spaß sogar neues Leben. Dann muss man entscheiden, wie man damit umgehen will. Flucht oder Standhalten? Skandalöse Scheidung oder Ortswechsel? Oder eine trickreiche Taktik mit überschaubarem Geldeinsatz, die dafür sorgt, dass das neue Leben mitten in Poppenbüttel aufwächst, und niemand hebt aufmerksam den Kopf, wenn man als Wirtin mit dem neuen Leben Kontakt pflegt, obwohl man offiziell gar nichts mit ihm zu tun hat.
Treitschke brachte die aktuelle Wendung der Ereignisse in Umlauf. Die Münchner Filmer würden nicht nach Poppenbüttel kommen. Stattdessen würden sie in den Westen der Stadt fahren, wo es zu einem taufrischen Rumms gekommen war. Treitschke hatte zart auf frühere geringschätzige Einlassungen zum Thema »Tagesaktualität« hingewiesen, die Münchner Stimme hatte um Verständnis gebeten.
»Eure Zeit wird kommen«, hatte die Stimme behauptet und musste sich dann um ein Problem kümmern, das ihm angeblich gerade aus dem Hintergrund signalisiert wurde.
»Sie geben sich noch nicht einmal mit den Schwindeleien Mühe«, sagte Treitschke müde.
»Kastrieren, die Hunde«, sagte die Stimme, die im Lokal traditionell für die radikalen Lösungen zuständig war.
Nun begann die Phase, die Treitschke hasste, weil er sie schon 20-mal angehört hatte, meist mit einem gewissen Treitschke als Stimmungsmacher und Meinungsführer.
»Warum bauen die Opas und Omas bei uns keine Unfälle?«, murmelte er. »Ist das denn so schwer? Warum kriegen die das drüben in der Waitzstraße hin?«
»Die wohnen auch nicht alle da. Einige reisen extra von weither an. Die geben sich Mühe, das fehlt bei uns.«
»Nur um dann in der Waitzstraße ins Schaufenster zu fahren? Respekt. Das nenne ich Einsatz und Engagement. Vielleicht ist das der Unterschied zwischen denen und uns: Die sind motiviert. Und wir sind nur Poppenbüttelaner.«
»Gibt es bei uns nicht etwas, was die im Westen nicht zu bieten haben? Etwas Biologisches vielleicht?«
»Du meinst geile Frauen?«
»Das meine ich weniger. Ich dachte an etwas in der Natur.«
»Geile Frauen in der Natur, im Wald zum Beispiel. Oder beim Schwimmen. Da ließe sich was draus stricken.«
»Aber erst, wenn sie im Westen die Elbe zuschütten und daraus eine Schnellstraße machen. Oder Eisenbahngleise verlegen. Wäre sowieso langfristig die beste Lösung, weil Hamburg dann nicht in 40 Jahren mit Absaufen anfangen müsste.«
Man hatte wieder Kontakt zu einem der Themen aufgenommen, über die man am nordöstlichen Stadtrand gerne und teilweise mit Hingabe spekulierte.
Schönbohm aus dem zweitnobelsten Seniorenzentrum sagte: »Langfristig sind wir natürlich auf der Siegerstraße. Wenn die Waitzstraße abgesoffen ist, werden sie schon erkennen, was sie an uns gehabt hätten.«
»Nämlich?«
»Nämlich? Lass mich nachdenken.«
»Wenn du sagst: Lass mich nachdenken, ist das dasselbe wie: Keine Ahnung.«
Das war eine weitere Tradition in der örtlichen Kommunikation. Man lernte schnell die Eigenarten, Marotten sowie Leib-und-Magen-Themen seiner Gesprächspartner kennen. Zuerst freute man sich, weil man diese Kenntnis für eine Vertiefung der Gesprächsführung hielt. Man war dann einfach befreit von weiteren Missverständnissen und verlor unterm Strich nicht ständig eine Menge Minuten, denn die Lebensuhr tickt immer weiter und wartet nicht so lange, bis das letzte Missverständnis mit vereinten Kräften aus der Welt geschafft worden ist.
Aber Treitschke, der selber ein bemerkenswert wacher Geist war und außer seiner Schwäche, sich Namen von Menschen, Straßen und Orten zu merken, nie durch Ausfälle auffällig wurde, hatte – wenn auch unter Schmerzen – akzeptiert, dass man in Poppenbüttel vor allem zwei Elemente benötigte, um kommunikativ über die Runden zu kommen: erstens Gesprächspartner und zweitens die Bereitschaft, über ihre Grenzen hinwegzusehen, mochte sich das auch manchmal als schwere Prüfung erweisen.
So sagte er jetzt: »Ich frage euch: Wo ist unsere Waitzstraße? Was ist an dieser Straße so einzigartig?«
Einsatz für die Neunmalklugen: »Pro Stadt darf jeder Straßenname doch nur einmal vorkommen. Sonst würde man ja nicht mehr durchblicken.«
»Es muss nicht Waitzstraße heißen«, entgegnete Treitschke. »Die Beatles und die Stones hatten auch verschiedene Namen.«
»Und verschiedene Musikstile. Aber wir wollen ja dasselbe machen wie die Waitzstraße.«
»Das ist nicht ganz korrekt«, korrigierte Treitschke.
»Verbessere mich. Das tust du doch gern.«
»Wir wollen nicht unbedingt Schaufenster zertrümmern. Das ist nur gut fürs Auge. Aber das schafft jeder Dussel.«
»Du meinst, es könnte auch Lyrik sein? Wenn wir Gedichte dichten, können wir sie damit schlagen?«
»Genau das. Gedichte! Selbst gedichtete Gedichte. Das ist die Lösung. Die im Westen lachen sich über uns tot, und wir sind dann die Sieger.«
Zehn Minuten wurde ernsthaft beraten, ob in Poppenbüttel eine Straße für den guten Zweck infrage kommen würde. Ein bis zwei Kandidaten fanden sich, aber es fehlte die letzte Begeisterung. Die Waitzstraße war viel länger, sie war viel gerader, vor allem hatte sie Geschäfte auf beiden Seiten, und dort war mehr Betrieb. Nicht nur beim Sommerschlussverkauf, sondern an jedem Tag. In Poppenbüttel gab es dagegen nur zwei bis drei Straßen mit einem nennenswerten Aufkommen an Geschäften. Aber die standen nicht dicht an dicht wie in der Waitzstraße, dazwischen mogelten sich immer wieder ladenlose Häuserfronten. Und die Hauptstraße machte sich keine Freunde durch ihre ungewöhnlich breiten Bürgersteige. Während man in der Waitzstraße in einer halben Sekunde den Sprung von der Parkposition ins Schaufenster schaffte, verlor man in Poppenbüttel eine halbe Ewigkeit damit, den endlosen Bürgersteig zu überqueren. Mit jedem Zentimeter stieg die Wahrscheinlichkeit, dass der anfangs so hoffnungsvolle Schwung des Autos zu früh an Energie verlieren könnte, sodass parallel dazu die Gefahr zunahm, am Ende das Schaufenster nur noch zart, fast freundschaftlich, zu touchieren. Das wäre dann eher ein Streicheln als eine Attacke gewesen. Jeder Einheimische, der einen Rest Ehrgefühl im Leib hatte, sah im Geiste einen Wagen vor sich, der mitten auf dem Bürgersteig den Geist aufgegeben hatte und zwischen Parkposition und Zielkontakt verreckt war. Peinlicher ging es ja nicht mehr. Außer mit dem zeitnahen Umzug in eine fremde Stadt war diese Blamage nicht aus der Welt zu schaffen.
Trude Herr, eine Teilnehmerin des historischen Kieskuhlenrennens, sagte schaudernd: »Das will ich mir nicht mal im Spaß vorstellen.« Obwohl sie mit der seinerzeit bekannten Komikerin gleichen Namens nicht verwandt oder verschwägert war, verfügte sie über erstaunlich viel Humor, was in geselliger Runde angenehm auffiel, denn es handelte sich um Humor, über den man in Poppenbüttel herzlich lachen konnte, ohne sich dabei unter sein Niveau begeben zu müssen. »Das Peinlichste wäre, wenn alle sagen: In Poppenbüttel haben sie jetzt eine Waitzstraße für Arme.«
Einer in der Runde gestand, dass er jeden Tag damit rechnete, dass aus einer anderen Stadt die schockierende Nachricht kommen würde, dass man gerade seine eigene Waitzstraße eingeweiht habe. Aus einer Stadt, die so klein und hässlich und unbekannt ist, dass der Name keinem etwas sagt. Die deshalb auf einen Schlag weltberühmt werden würde. Aber kleine, unbekannte hässliche Städte sind meistens arm. In der hiesigen Waitzstraße dagegen gab es nur Geschäfte, die etwas hermachten. Dort drängten sich Schaufenster, bei deren Anblick sich ein sensibles und ästhetisch gebildetes Gemüt spontan freuen würde, sie in Angriff zu nehmen.
»Das hat einfach Stil bei denen«, sagte Trude Herr. »Das ist der Vorteil, wenn du reich bist. Du hast dann einfach mehr Geld.«
»Das liegt daran, dass da die Reeder wohnen. Haben wir einen Reeder bei uns?«
Einem fiel ein Name ein. Leider wussten die meisten, dass es sich um einen Kanuverleiher handelte.
»Aber er baut auch Kajaks.«
»Passt auf eines seiner Kanus ein Container?«
»In Leichtbauweise möglicherweise.«
Treitschke riss sich aus seiner milden Depression los. »Lasst uns sammeln, was uns ausmacht.«
Allgemeines Stöhnen hob an, denn Treitschke schlug das nicht zum ersten Mal vor. Es war nun nicht so, dass sich in den letzten 700 Jahren noch nie ein Poppenbüttler Gedanken über die Zukunft des Ortes gemacht hatte. Und man sah ja, was sich in 700 Jahren zum Besseren gewandelt hatte. Man lebte am Rand der großen Stadt und wurde immer älter.
Draußen ertönte ein Geräusch, dass man gegen 20 Uhr nicht oft hörte: als wenn Metall auf Metall trifft, und beide Metalle suchen die Entscheidung, weil sie nicht weichen wollen.
Freude auf allen Gesichtern. Heino war im Anmarsch! Heino Augenthal, aktueller Anwärter auf die Medaille des Ehrenbürgers, seitdem er vor wenigen Monaten im Einkaufszentrum seinen SUV durch das Erdgeschoss des Kaufhof-Kaufhauses gelenkt hatte, ohne größeren Schaden zu verursachen. Den SUV hatten sie ihm weggenommen, Heinos Familie verstand keinen Spaß. Aber den Rollator hatten sie ihm gelassen, er durfte ihn auch in Breite und Schmuck aufrüsten. Seitdem war das metallische Kratzen im Ort zu einem Standardgeräusch geworden. Nie war etwas Ärgeres geschehen als Schrammen an abgestellten Fahrrädern, Lackschäden und Kontakt mit Pfählen, Schildern und Metall in jeder Erscheinungsform.
Heinos Sehvermögen hatte sich in der jüngeren Vergangenheit ebenso wenig gebessert wie seine notorische Rechts-Links-Schwäche. Aber sein Gehör war ausgezeichnet. Noch 48 Stunden später konnte er exakt beschreiben, was er vor zwei Tagen alles touchiert hatte. Heinos sagenhaftes Gehör hatte zu Wetten geführt, aus denen stets derjenige Teilnehmer siegreich hervorgegangen war, der Heino seit Längerem kannte.
Man lud den betagten Mann ein, kurz in der Runde Platz zu nehmen, doch Heino musste angeblich nach Hause. Die Chance auf eine erfolgreiche Heimkehr nahm beträchtlich zu, als zwei Kneipengäste seinen Rollator in eine Position brachten, die Heino dann nur noch pfeilgerade abfahren musste.
Man erhob das Glas in Liebe zu Heino, und Trude Herr sagte:
»Wir veranstalten ein neues Rennen. Was einmal klappt, klappt auch zweimal.«
»Sagt diejenige, die viermal verheiratet war.«
»Aber jedes Mal glücklich.«
»Jedes Mal bis zum bitteren Ende.«
Die Runde bröckelte, einige Gäste holten sich telefonisch einen familiären Anschiss ab und brachen nach kurzer Nutzen-Schaden-Kalkulation zügig auf.
Spät am Abend stand man zu dritt am Rand des Marktplatzes, neben Treitschke stand die Betreiberin des Nagelstudios: »Ich habe immer Angst, dass sich das Einkaufszentrum hier breitmacht.«
Treitschke wunderte sich: »Auf dem Platz? Was sollen die denn da? Die haben doch ihren Riesenpalast.«
»Nicht als Ersatz für ihr Zentrum, sondern als Ergänzung. Um uns langfristig plattzumachen. Sie tun so, als ob sie ihr Herz für die regionale Versorgung entdecken. Damit die alten Leute es nicht mehr so weit haben. Damit graben sie mittelfristig den anderen Geschäften das Wasser ab, sie müssen ja nur überall ein wenig günstiger sein. So kriegen sie durch die Hintertür mehr Kunden für ihr Zentrum.«
Das leuchtete niemandem ein. Zumal das Einkaufszentrum mit viel größeren Zahlen kalkulierte. Die paar 100 Poppenbüttler würden ihren Kohl nicht fett machen. Zumal er schon ziemlich fett war. »Ist ja auch nur eine Angst«, wiegelte die Nagelfrau ab. »Aber ich träume davon. Ich träume jede Nacht. Nicht immer davon, aber jede Nacht.«
»Der Platz«, murmelte Treitschke. »Der Platz, das ist nicht dumm. Wir sollten uns Gedanken über den Platz machen. Den hat keiner auf der Rechnung. Der ist einfach da, der war schon immer da, einmal in der Woche drei, vier Stunden Wochenmarkt. Und sonst verlieren sich die paar Autos, die darauf parken. Abends ist hier Totentanz.«
Er blickte in die Runde und sagte: »Bitte keine Meinungsäußerung zu einem Tanzfestival auf dem Platz! Totentanz. Beginn der Vorstellungen um 23 Uhr. Das wäre nicht günstig für unser Image.«
»Wir sind schon ein armseliger Haufen«, murmelte der Mann von der Poststation.
Man trennte sich und ging in drei Richtungen davon. Niemand musste auf den Straßenverkehr achtgeben. Um diese Zeit gab es keinen Straßenverkehr mehr.
Kleine Orte haben einen großen Vorteil für alle Bewohner, die ernsthaftes Interesse für die Gemeinde aufbringen. Das ist der leichte Zugang zu den wichtigen Vorhaben, den wichtigen Zahlen und die Situation der örtlichen Geschäfte, Büros und aller anderen wirtschaftlichen Adressen. Um sich einen Überblick zu verschaffen, ist es nicht nötig, Mitglied einer politischen Partei zu sein. Es reicht völlig, enge Verbindungen mit einer Organisation oder einem Verband zu haben, die wie ein Spinnennetz über jeder Gemeinde liegen. Heinrich Treitschkes jahrzehntelange berufliche Aktivität im Tiefbau und im Hochbau vom Straßenbau bis zu privaten und öffentlichen Bauvorhaben war mit dem Rückzug in den Ruhestand nicht abgerissen. Dazu war der Mann zu vital und neugierig, dafür war seine nie eingestandene Angst, ein für alle Mal abgehängt zu werden, viel zu groß. Vor allem hielten ihn die Freunde jung, denn neun von zehn Verbindungen waren durch den Beruf begründet. Nicht zuletzt hatte Treitschke eine kluge Lebensgefährtin. Ruth kannte mehrere Fälle im Bekanntenkreis, dort lebten die Frauen nach dem Beginn des Ruhestandes mit einer Zeitbombe unter einem Dach. Unausgelastet, gelangweilt und erfüllt von der Furcht, dass auch der heutige Tag ungefähr eine Woche dauern werde, verbreiteten sie wahlweise Unruhe, schlechte Laune sowie die Jagd auf neue Hobbys, die nach maximal vier Wochen von einem neuen Hobby abgelöst wurden. Renatus und Inge hatten sich nach 35 Jahren Ehe getrennt, weil es einfach nicht mehr gegangen war. Sie malte und töpferte jetzt im Tessin, er gab den Handlanger in einem Resort an der deutschen Ostsee, das Angeltouren und Törns in die dänische Inselwelt anbot.
Was Heinrich Treitschke mit der meisten Motivation versorgte, bloß nicht an Spannkraft zu verlieren, waren die Seniorenresidenzen, die den Stadtteil durchzogen. Neubau bedeutete hier seit zwei Jahrzehnten in der Mehrzahl der Fälle Anlagen für betagte Menschen, deren finanzieller Hintergrund es ihnen erlaubte, neben dem Wohnraum auch Anteile an ordentlicher Infrastruktur zu erwerben. Treitschke mochte alte Menschen und mied sie nicht. Aber er wollte nicht lauter Gleichaltrige als Nachbarn und Mitbewohner haben. Dass Enkel Stan sein Praktikum bei den Großeltern absolvierte, war für Treitschke pure Medizin. Der Junge brachte ernsthaftes Interesse für den Wohnort auf. So kam es, dass sich Treitschke mehrmals dabei zuhörte, wie er statistisches Grundlagenwissen referierte. Jedes Mal stand am Ende das gleiche Ergebnis: Poppenbüttel war hoffnungslos überaltert. Zwar fehlte es an ungewöhnlich großen Wohnanlagen, auch extrem teure Nobeladressen wie an der Elbe fehlten. Aber auch 30 kleinere Wohnanlagen ergeben unterm Strich eine Riesenanlage. Die Senioren im Ort saßen auf einem Berg Kaufkraft. Aber sie hatten keine Gelegenheit, ihr Geld um die Ecke auszugeben. Dazu gab es zu wenige Geschäfte, ein überschaubares Angebot, einen einfallslosen Mix. Vor allem waren die Alten viel zu munter, um sich mit Durchschnitt zufriedenzugeben. Das Einkaufszentrum war manchem zu weit entfernt für einen Spaziergang, zumal am Ende ja noch der Rückmarsch bevorstand. Aber fast jedes betagte Paar besaß ein Auto. Oder sie besaßen den Willen, den Bus zu besteigen oder ein Taxi.
Das war eine der wenigen Disziplinen, in denen die Waitzstraße ihnen nicht das Wasser reichen konnte. Zwar hatte auch die Waitzstraße ein großes Einkaufszentrum in der Nähe, aber das in Poppenbüttel war größer. Das mochte kindisches Denken sein, aber es war eine Denkweise, die den Poppenbüttlern guttat. Mochten sie auch selten darüber sprechen, so dachten sie doch oft daran, einige täglich.
Dann folgten die beiden Tage, in denen vieles zusammenkam. Unzusammenhängendes fügte sich, Kleinigkeiten bauten aufeinander auf. Zufällige Begegnungen setzten bei einem Teilnehmer Gedanken und Einfälle frei. Am Ende der beiden Tage fühlte sich Heinrich Treitschke 20 Jahre jünger und in einem Maße energiegeladen, das er sich gar nicht mehr zugetraut hatte.
Es begann damit, dass Stan am Küchentisch von seiner neuen Freundin schwärmte. Das war an sich noch keine Idee, jedenfalls keine, die die Großeltern für eine Idee hielten, geschweige denn für eine gute Idee. Enkelkinder reichten ihnen völlig, die Aussicht auf Urenkel rief ihnen zuallererst die eigene Vergänglichkeit ins Bewusstsein und nicht die Vorfreude auf süße Babys.
Sie hieß Babett ohne e. Stan erwähnte das so oft, bis Treitschke fragte, ob es so im Ausweis stünde. Sie studierte in Hamburg Biologie im zweiten Semester. Ihr Professor war dicke mit der Tübinger Professorin, deshalb betreuten Babett ohne e und ein Mitstudent Stan und die vier Kommilitonen aus dem Süden. Babett spielte Hockey, das überraschte Treitschke nicht. Hamburg wimmelt von Hockeyklubs, eine Handvoll ist deutsche und europäische Spitze. Natürlich war Babett bei den Alster-Damen aktiv. Oder wie Stan es ausdrückte: »Wenn sie etwas macht, muss sie sich gleich richtig einbringen. Sie sagt, sie kann nur so und nicht anders.«
Das war der Moment, in dem seine Großeltern einen Blick wechselten. Er dauerte nicht lange und drehte sich vor allem um die Frage, wer den nichtsahnenden Eltern von Stan den Beginn einer Liebelei mit möglicherweise nachgeschobener beziehungsweise angeschobener Schwangerschaft mitteilen sollte.
Treitschke plädierte für Ruth als Überbringerin, er würde sich lieber um die Sache mit dem Zelt kümmern. In Babetts Klub lief ein ehemaliger Spitzenspieler herum. Vor 20 Jahren hatten solche Leute nach dem Ende der Sportkarriere den Trainer gegeben, heute gründeten sie Start-ups. Der Gründer und zwei Mitstreiter ignorierten die großen Vereinsadressen, um sich auf die Ebene darunter zu konzentrieren. Angeblich gäbe es noch viel Heu zu ernten. Zitat Babett ohne e. Treitschke fand den Spruch immer ärgerlicher, denn ein E hatte ja doch noch überlebt. Vor zwei oder drei Tagen hatte man auf einer Rundreise durch die norddeutsche Provinz Station in Poppenbüttel gemacht. Das Kriterium war die Existenz eines geeigneten Platzes, egal ob im Zentrum oder an der Peripherie. Das Start-up hatte drei verschiedene Größen von Zelten im Angebot. Sie reichten am unteren Ende von dem Format, das wie angegossen auf den Poppenbüttler Markt passen würde, bis zur Megaversion für Handballspiele mit 2000 Besuchern. Treitschke erinnerte sich dunkel, davon gelesen zu haben. In der trostlosen Corona-Ära hatte man von Themen gelesen, die sonst wohl keine Chance gehabt hätten.
»Sind das Zelte zum Aufblasen?«
Stan starrte ihn an, als sei aus dem Großvater gerade das späte Kind hervorgebrochen. Er wusste wenig, vor allem wusste er nicht, welcher Sportverein in Poppenbüttel für so einen Trumm von Zelt infrage kommen würde. Und ob überhaupt ein Sportverein.
Treitschke spürte Ruths Blick. Ihre Antennen waren von morgens bis abends ausgefahren, um als Erste über heraufdämmernde Projekte ihres Mannes informiert zu sein. Sie hatte unter Treitschke nicht leiden müssen und war nicht so naiv, ernsthaft für möglich zu halten, dass seine Natur eines Tages müde geworden sein könnte. Treitschke war nie der Typ für Traumschlösser und Luftikus-Projekte gewesen, durch Ausbildung und Interessen aufs Handfeste, Berechenbare und Baubare eingeschworen, war für ihn stets nur von Interesse gewesen, was er sich in Originalgröße in der Original-Realität vorzustellen vermochte.
Das Zelt war der Startschuss, den Rest des Vormittags verbrachte Treitschke im Büro. Mit der unendlichen Sanftheit bei nie erlahmender Hartnäckigkeit einer liebenden Frau hatte Ruth die Arbeitswelt aus dem Wohnbereich erst in den bewohnbaren Keller und danach in den Anbau der Garage verlagert. Es hatte 15 Jahre gedauert, zeitweise hatte sie Zweifel verspürt, ob es ihr gelingen würde, den sturen Hund auf das von ihr ersehnte Spielfeld zu befördern. Jetzt sah es aus, als wäre es nie anders gewesen.
Treitschke sprang ins Internet, Stans Namen und Daten nutzend. Es gab diese Zelte, es gab Zahlen, es passte auf den Markt. Aber häufiger Auf- und Abbau wären nicht optimal.
Mittags kehrte Treitschke mit seinem Gast beim »Italiener der Poppenbüttler Herzen« ein. Im Vorfeld hatte er einen A-Gast annonciert, das passierte nur zweimal im Jahr und ließ die Betreiber nicht im Zweifel, dass es jetzt gelten würde. Das Alter hatte an Treitschke einiges abgeschliffen, was ihn in den Jahren seiner Höchstform ausgezeichnet hatte. Aber einiges würde er mit ins Grab nehmen, und das war nicht zuletzt sein Wille, keinen Spaß zu kennen und keine Halbheiten zu akzeptieren, wenn das Ergebnis großartig zu werden versprach.
Der Bürgermeister wusste, dass etwas auf ihn zukommen würde. Einzelheiten kannte er nicht, aber er kannte seine Pappenheimer und wusste einzuschätzen, wen man herunterhandeln konnte und welchen Mitbürger man auf eine Bank schieben konnte, die schon am ersten Tag lang war und mit jedem weiteren Tag immer länger wurde, bis das am ersten Tag so dringende Projekt begann, Staub anzusetzen und sich am Ende durch Nichtstun erfolgreich von selbst erledigt hatte.
Treitschke hatte im Vorfeld 29 Telefonate geführt und einen unüberschaubaren Mailaufstand inszeniert. Dennoch dauerte es bis zum Nachtisch, bis der Start-up-Mann auflief. Treitschke war auf einen in die Jahre gekommenen angeberischen Surfertypen eingestellt und sah sich einer angenehmen Mischung aus Ex-Sportler und Geschäftsmann gegenüber. Dass an Tattoos kein Weg vorbeiführt, war ihm nicht erst seit heute bekannt. Seinen Frieden würde er mit dieser Unsitte in diesem Leben nicht mehr machen. Seemann und Zuchthäusler in Gnaden – alles andere war Geschmacksverirrung.
Der Zeltmann war in Begleitung seines treuen Freundes gekommen und spielte auf dem Bildschirm die Geburt eines Zelts vom Abladen vom Hänger über das Aufblasen bis zum ersten Tennismatch vor Publikum vor. Dass die 1000 Zuschauer hineinoperiert worden waren, erfuhr Treitschke eine Woche später, immerhin vom Urheber. Der Bürgermeister sah aus wie bei der Bescherung. Er hatte wohl nicht mehr damit gerechnet, dass seine Amtszeit solche Höhen erreichen könnte. Aber er hatte noch nicht die Hälfte des Auftriebs erlebt.
Anja Fux gab sich die Ehre, was beim Zeltmann das Notebook, war bei ihr Lucie, ein Labrador, dem ins treudoofe Gesicht eingeschrieben stand, dass die Evolution mit seiner Rasse ein für alle Mal abgeschlossen hatte. Jeder andere Hund hätte im Restaurant zu Stehdebatten im Hintergrund geführt. Aber Lucie war eine Institution, ihr Frauchen war als durchsetzungsstark bekannt. Und da sie nicht zuletzt das geschäftliche und organisatorische Gesicht des noblen Golfhotels fast in Abschlagweite war, hatte sie die nötige Lufthoheit erreicht, ohne ihre pfundschweren Wimpern ein einziges Mal über Normalnull hinaus heben zu müssen.
Anja Fux überbrachte die Liebeserklärungen ihrer Führungsriege. Alles, was das verschnarchte Poppenbüttel wachzuküssen versprach, würde sich wenige Stunden später segensreich auf den Hotelbetrieb auswirken.
Der BM zeigte deutlich Wirkung, die zu diesem Zeitpunkt noch Ausstehenden verspäteten sich. Ob sie es sich schuldig waren oder ob sie viel beschäftigt waren – man weiß es nicht.
Die örtliche Geschäftswelt rückte dann zu zweit an. Treitschke liebte es, die Promis zu Paaren zu treiben. In diesem Fall ergänzte man sich wunderbar. Der eine hatte das Amt des obersten Kaufmanns im Ort inne, der andere hatte einen Ruf als Lautsprecher und würde auf der Beliebtheitsliste nie mehr unter die besten Zehn gelangen. Wenn es dein liebstes Hobby ist, die Hände, die dich füttern, in regelmäßigen und kurzen Abständen zu beißen, muss man sich darüber nicht wundern. Von Beruf Finanzmakler, wusste er viel, was man sonst nur in schlechten Filmen dargestellt findet. Aber er bestätigte auf Nachfrage gern, dass seine Wirklichkeit noch unvorstellbarer sei. Treitschke kannte mehrere Insider, die höhere Beträge darauf verwetteten, dass dieser Mann eines Tages übertreiben und in einen Ort einziehen würde, wo dein WLAN-Empfang auf null geht. Bis dahin würde er für den Ort brennen, weil es ihm nach eigener Aussage unmöglich war, lauwarm zu leben.
Die beiden Geschäftsleute wurden mit dem Zeltaufbau bedacht, der Finanzmakler wandte sich lächelnd an den BM und sagte ihm lächelnd ins Gesicht: »Wenn du das auch noch vergeigst, werfe ich höchstpersönlich die Fackel in deinen Dachstuhl. Das darf gern zitiert werden.«
Einen prinzipiellen Nachteil hatte das Restaurant, den ihm nicht jeder verzieh. Der Standort in der Mitte der steil ansteigenden Straße von der Ebene Richtung Ortskern machte es unmöglich, per Auto auf eine Weise vorzufahren, die der Ankunft etwas Bedeutsam-Fimreifes verleiht. Aber einen Wagen mit NDR-Emblem erkennen erwartungsvolle und eitle Augen auch aus dem Winkel.
Der Norddeutsche Rundfunk erledigt in Hamburg den Job, für den im Vatikan der Heilige Vater zuständig ist: Man bildet das obere Ende der Hitliste, über dem NDR kommt nur noch der Himmel. Das gilt nicht nur für Normalbürger, Promis der Güteklasse B bis F, sondern erst recht für Politiker und Funktionsträger des politischen Geschäfts.