Recht und Wirtschaft der Türkei - Dr. Christian Rumpf - E-Book

Recht und Wirtschaft der Türkei E-Book

Dr. Christian Rumpf

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Beschreibung

Das Buch liegt hier jetzt in der fünften, stark verbesserten und erweiterten Auflage vor. Es richtet sich an Unternehmen und Privatpersonen sowie Angehörige steuer- und rechtsberatender Berufe und vermittelt einen Überblick über diejenigen wesentlichen Themenstellungen des türkischen Wirtschaftsrechts, die auch die tägliche anwaltliche Praxis des Autors beherrschen. Selbst solche Leser, die bereits in der Türkei aktiv und verwurzelt sind und sich mit Rechtsproblemen vor Ort auseinander zu setzen haben, werden in diesem Buch einen hilfreichen Leitfaden finden. In Anbetracht eines ausführlich gehaltenen Inhaltsverzeichnisses wurde auf einen eigenständigen Index und im Interesse besserer Verständlichkeit auf einen wissenschaftlichen Fußnotenapparat verzichtet. Stattdessen gibt es zahlreiche Hinweise auf weiterführende Webseiten sowie eine Auswahlbiografie.

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Recht und Wirtschaftder Türkei

Ein Überblick für die Praxis

von

Dr. Christian Rumpf

Rechtsanwalt in StuttgartHonorarprofessor an der Universität Bamberg

Impressum

5. überarbeitete Auflage

© Christian Rumpf 2017

Druck und Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

Rumpf Rechtsanwälte

Lenzhalde 68 – D-70192 Stuttgart

Tel. +49 711 997 977 0 – Fax +49 711 997 977 20

E-Mail: [email protected]

Zum Autor:

Dr. Christian Rumpf ist seit 1989 als Rechtsanwalt zugelassen, zunächst in Heidelberg, später in Mannheim und seit 1996 in Stuttgart. 2008 gründete er Rumpf Rechtsanwälte in Stuttgart. Im Jahre 2004 erhielt er den Titel eines Honorarprofessors an der Universität Bamberg. Er hat zahlreiche wissenschaftliche Beiträge zum türkischen und internationalen Recht publiziert. Für deutsche Gerichte und internationale Schiedsgerichte, Behörden und Organisationen ist er als Gutachter tätig. Er saß mehrere Male internationalen Schiedsgerichten vor oder war als Beisitzer oder Prozessvertreter an Schiedsverfahren beteiligt. Er spricht neben seiner Muttersprache Deutsch auch fließend Türkisch und Englisch sowie Französisch.

Inhalt

Vorwort

Einführung

Die Türkei auf ihrem Weg in die EU

Bedeutung der Beitrittsverhandlungen

Zollunion

Allgemein

Gleiche Voraussetzungen

Abbau der Zölle

Harmonisierung der Politiken

Beitrittsperspektive

Türkische Wirtschaft im Aufwind

Recht und Justiz

Rechtssystem

Verfassungsrecht

Privat- und Handelsrecht

Strafrecht

Verwaltungsrecht

Das Gerichtssystem

Einführung

Verfassungsgericht

Die Verwaltungsgerichtsbarkeit

Die ordentliche Gerichtsbarkeit

Die Staatsanwaltschaft

Die Militärgerichte

Der Konfliktsgerichtshof

Der Rechnungshof

Haftung der Gerichte

Schiedsgerichtsbarkeit in der Türkei

Allgemein

Nationale Schiedsgerichtsbarkeit

Internationale Schiedsgerichtsbarkeit

Das Schiedszentrum Istanbul

Mediation und Schlichtung

Mediation

Schlichtung

Ausländische Investitionen

Gleichbehandlung ausländischer und türkischer Investoren

Förderung durch den türkischen Staat

Allgemein

Standort

Besonders wichtige Sektoren

Förderung durch die EU

Sonstige Förderungen

„Hermes“

Standortwahl

Allgemein

Technologieparks

Organize Sanayi Bölgeleri (OSB)

Endüstri Bölgeleri (EB)

Sonderindustriegebiete (IEB)

Freizonen

Einzelinvestitionen

Gesellschaftsgründung

Einführung

Überblick über das türkische Gesellschaftsrecht

Grundregeln

Die Gesellschaftsformen

Umwandlung, Fusion, Aufspaltung

Umwandlung

Fusion

Aufspaltung

Schutz der Arbeitnehmer

Gesellschaftereigenschaft

Gesellschaftsgründung durch Ausländer

Das Handelsregister

Publikationspflichten

Die GmbH

Gründungsformalitäten

Besonderheiten

Firma

Die Gesellschafter und ihre Anteile

Das Kapital und die Anteile

Nachschusspflichten

Haftung

Organe der Gesellschaft

Satzung und Satzungsänderung

Buchführung und Dokumentation

Beendigung der Gesellschaft

Die Aktiengesellschaft

Grundelemente der AG

Gründung

Firma

Firmenanwaltszwang

Die Aktionäre und ihre Anteile

Das Kapital

Haftung

Organe der Gesellschaft

Satzung und Satzungsänderung

Minderheitsrechte

Buchführung

Weitergehende Verpflichtungen

Beendigung der Gesellschaft

Gewinnverwendung

Eigenkapitalregeln

Die Regelung

Steuerliche Behandlung

Insolvenz

Gründungskosten

Niederlassung

Verbindungsbüro

Joint Venture

Wettbewerb und Kartell

Überblick

Kartellrecht

Die öffentlich-rechtliche Seite

Privatrechtliche Folgen

Unlauterer Wettbewerb

Steuerrecht

Überblick

Einzelne Steuerarten

Körperschaftsteuer

Einkommensteuer

Abgeltungsteuer (stopaj)

Mehrwert- und Umsatzsteuer

Sonderverbrauchssteuer

Telekommunikationsteuer

Stempelsteuer

Reklamesteuer

Grundsteuer

Handelsvertreter

Vorbemerkung

Grundlagen

Begriff des Handelsvertreters

Der Begriff des Prinzipals

Arten von Handelsvertretern

Selbstständigkeit

Handelsvertretervertrag

Dauerhaftigkeit

Gewerbsmäßigkeit und Kaufmannseigenschaft

Gebietsherrschaft und Ausschließlichkeit

Vermittlungstätigkeit

Mehrfachvertretung

Abgrenzung gegenüber ähnlichen Rechtsverhältnissen

Vertretung ausländischer Unternehmen

Gerichtsstand

Rechte und Pflichten der Parteien

Pflichten des Handelsvertreters

Pflichten des Prinzipals

Wettbewerbsvereinbarung

Beendigung des Handelsvertreterverhältnisses

Arten der Beendigung

Entschädigung und Ausgleichsanspruch

Immobilienerwerb

Einführung

Grundlagen des türkischen Immobilienrechts

Erwerben und Erben

Allgemein

Der Vertragsschluss

Ausländer als Käufer

Türkische Gesellschaften mit ausländischem Kapital als Käufer

Der Erwerb von Stockwerkseigentum

Der Erwerb von Zeiteigentum

Vertragsgestaltung

Weitere Hinweise

Vollmachten

Bauen

Einführung

Rechtsgrundlagen

Bauvertrag

Gewährleistung

Bauhandwerkerhypothek

Verjährung

Banken – Börse – Wertpapiere

Einführung

Institutionelle Formen des Finanzwesens

Überblick

Die zwei Pfeiler des türkischen Bankwesens

Die Zentralbank

Die Bankenaufsicht

Das Kredit-Regime

Einführung

Kreditbegriff

Kreditformen

Kreditsicherung

Das Einlagen-Regime

Das Zins-Regime

Gesetzliche Grundlagen

Geschäftsverkehr

Bankverkehr

Verbraucher

Gesetzliche Zinsen

Kapitalmarktrecht

Börsenrecht

Fonds

Wertpapierrecht

Arbeit und Aufenthalt

Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis

Stellensuche

Arbeitsrecht

Das Arbeitsverhältnis und seine Erfüllung

Die Beendigung des Arbeitsverhältnisses

Betriebsübergang

Arbeitssicherheit und –gesundheit

Leiharbeit

Sozialversicherung

Allgemein

Mutterschutz

Arbeitslosengeld

Versicherungsprämien

Meldepflichten

Rentenfonds

Entsendung von Arbeitnehmern

Devisenbestimmungen in der Türkei

Rechtsgrundlagen

Kapitalverkehr

Währungskurse

Transaktionen in ausländischen Währungen

Edelmetalle, Edelsteine und Wertsachen

Kapitaltransfer

Wertpapierverkehr

Liegenschaften

Kredite

Deviseneinlagen

Verstöße

Kaufen und Verkaufen – Vertreiben und Liefern

Einleitung

Welches Recht ist anwendbar?

Welches ist der richtige Gerichtsstand?

Das türkische Schuldrecht

Übersicht

Liefervertrag

Begriffe des allgemeinen Vertragsrechts

Formen im Vertragsrecht

Ware gegen Geld

Allgemeine Geschäftsbedingungen

Vertragsstrafe

Forderungsbeitreibung

Forensic investigation

Beschreitung des Rechtsweges

Ordentlicher Rechtsweg

Zwangsvollstreckung

Einführung

Vollstreckungsbehörden

Zustellung

Vorläufiges Vollstreckungsverfahren

Vollstreckung aus inländischen Urteilen

Vollstreckung aus ausländischen Urteilen

Vollstreckung aus Urkunden

Vollstreckungsmaßnahmen

Vorläufige Sicherungsmaßnahmen

Insolvenzverfahren

Anerkennung ausländischer Insolvenzbeschlüsse

Insolvenzverfahren in der Türkei

Handelsgesellschaften in der Insolvenz

Fristen in Gerichtsverfahren und Zwangsvollstreckung

Ein typischer Verfahrensablauf

Prozesskosten

Gerichtskosten

Gutachterkosten

Anwaltskosten

Sonstige Kosten

Marken und Patente

Einführung

Markenrecht in der Türkei

Rechtliche Grundlagen des Markenschutzes

Eintragung und Schutz

Die Markenverletzung

Patentrecht in der Türkei

Vorbemerkung

Rechtliche Grundlagen des Patentschutzes

Patentschutz in der Praxis

Zusammenfassung

Vergaberecht

Einführung

Grundlagen

Arbeitsgemeinschaft als Bieter

Aufsichtsbehörde

Arten der Vergabe

Anwendbarkeit des Vergaberechts

Sicherheiten

Zuschlag und Vertragsschluss

Rechtsschutz

Incoterms 2010 (Zusammenfassung)

Allgemein

Die elf Klauseln

Völkerrechtliche Verträge

Überblick

Multilaterale Abkommen

Österreich

Schweiz

Deutschland

Stille Post

Quellen

Literatur

Internet

Allgemein

Ministerien und Behörden

Diplomatische und konsularische Vertretungen

Kammern türkisch, deutsch, schweizerisch und österreichisch

Vorwort

In der täglichen Praxis des Verfassers und seiner Kolleginnen und Kollegen im Netzwerk der Kanzlei Rumpf Rechtsanwälte (www.rumpf-legal.com) hat sich in den vergangenen Jahren eine außerordentliche Diversifizierung der Beratungskonstellationen ergeben. Denn deutsche Unternehmen gehen längst nicht mehr nur in die Produktion von Kfz und ihren Komponenten, Maschinen, Textilien, auch große deutsche Presse- und Buchverlage, Leasinggesellschaften, Factoringgesellschaften, Bergbauunternehmen, Dienstleister und Produzenten für das Gesundheitswesen oder Versicherungsmakler suchen ein Standbein in der Türkei.

Dieser Leitfaden wird hier in fünfter und weiter verbesserter Auflage vorgelegt. Der Leitfaden erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und ersetzt naturgemäß nicht die qualifizierte Beratung im Einzelfall. Der Leitfaden reflektiert weitgehend diejenigen Fragestellungen, die typischerweise in der Beratungspraxis des Verfassers und der Kanzlei Rumpf Rechtsanwälte in Stuttgart mit ihrem Netzwerk in Deutschland und der Türkei sowie der Rumpf Consulting in Istanbul auftreten.

Weiterverweise im laufenden Text erfolgen durch die Angabe von Webseiten, über welche Zugang zu detaillierteren Informationen besteht. Wird auf türkische Seiten verwiesen, so öffnet sich zwar meist die türkische Hauptseite, es stehen dort aber meist auch Verlinkungen zu deutschen oder englischen Versionen zur Verfügung.

Der Autor bedankt sich herzlich bei seinen deutschen und türkischen Mitarbeitern in Stuttgart und Istanbul für ihre stetige und zuverlässige Unterstützung, die maßgeblichen Einfluss auf die Entstehung dieses Buches gehabt hat.

Stuttgart, im Mai 2017

Christian Rumpf

Einführung

Die Türkei hat in letzter Zeit eine rasante Entwicklung durchgemacht, die allerdings durch einige politische Verwerfungen an Tempo eingebüßt hat. Es wird aber weiter gebaut und Industrie angesiedelt, zahlreiche Förderprogramme der türkischen Regierung, aber auch Förderungen aus der EU und durch den Internationalen Währungsfonds bzw. die Weltbank beleben die internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit. Die durch die Regierung Erdoğan verursachte Unruhe in den Wirtschaftsbeziehungen zu Europa hat zwar in kürzester Zeit erheblichen Schaden für die türkische Wirtschaft angerichtet, ausländische Unternehmen finden in der Türkei aber nach wie vor hervorragende Möglichkeiten vor. Zudem ist zu erwarten, dass die Türkei ihre einzigartige geopolitische Situation auch in Zukunft für weitere Bemühungen um Wachstum und Prosperität nutzen wird.

Anfang 2012 hat die Türkei ein großes Förderprogramm für die Aktivitäten der türkischen Wirtschaft im Ausland aufgelegt. Ziel ist es, die Türkei bis 2023, dem 100. Jahrestag der Republik, unter die ersten zehn Volkswirtschaften der Welt zu bringen. Die türkische Bürokratie weist zwar zum Teil noch immer die für die Länder im Mittelmeerraum typischen Vor- und Nachteile auf. Doch werden Verwaltungsverfahren vereinfacht. Die einmal wegen ihrer Langsamkeit berüchtigte Justiz erhöht das Tempo, man kommt in der Regel zu Ergebnissen, wie man sie in einem europäischen Land erwarten darf. Gerade in Deutschland häufig zu hörende Kritik mag durchaus nachvollziehbar sein – aus deutscher Sicht. In der europäischen Perspektive bereits sieht das Bild anders, nämlich vergleichsweise durchaus positiv aus.

Der türkische Staat blickte 2013 auf eine 90-jährige Tradition als Republik zurück. Die Eingriffe des Militärs 1960, 1971 und 1980 haben an der grundsätzlichen demokratischen Charakteristik des Landes nichts Wesentliches geändert, im Gegenteil. Der erste Ministerpräsident nach der Junta 1983, Turgut Özal, darf als der spiritus rector der nachfolgenden Veränderungen bezeichnet werden, die über die Zollunion 1995/1996 in die heutige Zeit geführt haben. Dass derzeit eine Regierung am Werke ist, die sich mit einer Neuinterpretation des Begriffs „Demokratie“ versucht und sich in Richtung auf eine Diktatur zu bewegen scheint, irritiert viele Beteiligten. Dennoch hat gerade auch die Rechtspolitik dieser Regierung nur in eine Richtung gewiesen, nämlich die der Modernisierung nach europäischen Maßstäben, unter aktiver Einbindung ausländischer Investoren.

Ein günstiges Verhältnis zwischen Lohnkosten und Produktivität, die organisierte Industrieansiedlung sowie Fördermaßnahmen gestaffelt nach bestimmten Regionen machen die Türkei zu einem attraktiven Standort.

Die Türkei auf ihrem Weg in die EU

Bedeutung der Beitrittsverhandlungen

Bis zum 16. April 2017 war die Türkei eine pluralistische und säkulare Demokratie mit islamischer Bevölkerung und damit für viele Staaten im Nahen und mittleren Osten ein wichtiges Vorbild. Sie hatte dem Ausbau der Beziehungen mit den europäischen Ländern immer einen großen Wert beigemessen. Dabei legt die türkische Außenwirtschaftspolitik zunehmenden Wert auf andere Regionen als die EU, wie Zentralasien und Afrika. Auch eine verstärkte Annäherung an Russland ist zu beobachten. Die Türkei hat sich damit politisch diversifiziert. Offenkundig wird das im Syrienkonflikt, wo die Türkei eigene Vorstellungen von regionaler Sicherheit umzusetzen versucht. Wirtschaftlich jedoch ist sie weiterhin besonders stark nach Europa ausgerichtet.

Schon im 19. Jahrhundert hatte die Türkei die Anstrengungen darauf konzentriert, sich mit ihren wirtschaftlichen, politischen und sozialen Strukturen nach Westen hin zu orientieren. Nach dem Ersten Weltkrieg folgte die Türkei den auch in Europa neuen Tendenzen der Demokratisierung und Entmachtung der Fürstenhäuser und entschied sich – ähnlich wie Frankreich – für das Modell einer streng säkularen Republik.

Seit dieser Zeit blieb die Türkei immer nach Westen hin ausgerichtet, wobei mit dem Aufstieg der Vereinigten Staaten zur Weltmacht insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg auch die Amerikaner Einfluss auf die türkische Politik gewannen. Die Türkei ist ein Gründungsmitglied der Vereinten Nationen, ein Mitglied der NATO, des Europarates, der OECD und assoziiertes Mitglied der Westeuropäischen Union. In Konzepten zur Verteidigung des europäischen Kontinents spielt die Türkei eine zentrale Rolle. Die Kernelemente der türkischen Außenpolitik konvergieren allgemein mit denen der EU. Dies gilt selbst bzw. gerade auch unter der Regierung von Recep Tayyip Erdoğan, seit 2001 Ministerpräsident und seit August 2014 der Staatspräsident des Landes. Dieser wichtige Bereich der Zusammenarbeit läuft parallel zur wirtschaftlichen und politischen Beziehung zur EU. Diese ist zwar durch den aktuellen Präsidenten im Zusammenhang mit dem Referendum zur Verfassungsänderung rhetorisch in Frage gestellt worden, dennoch gibt es für die Türkei keine ernsthafte alternative Option, auch nicht mit Russland, das selbst von einer starken EU profitiert.

Die Türkei ist das älteste assoziierte Mitglied der EU, und im Verlauf der letzten 50 Jahre war sie an den Aktivitäten praktisch aller internationaler Organe, die bei der europäischen Integration eine Rolle spielen, beteiligt.

Im Jahr 1959 hat die Türkei zum ersten Mal einen Antrag auf Mitgliedschaft in der EWG, aus der die heutige EU hervorgegangen ist, gestellt. Dies führte zu dem Abkommen von Ankara (Assoziationsvertrag 1963), das zusammen mit dem Zusatzprotokoll von 1970 (in Kraft 1973) die Grundlage für die heutigen Beziehungen bildet. Mit besagtem Zusatzprotokoll wurde zur Errichtung einer der Vollmitgliedschaft vorausgehenden Zollunion ein Zeitplan für 22 Jahre vorgesehen. Die EU (damals noch EG) hat bis auf wenige Ausnahmen ihre Zölle für Industriegüter aufgehoben und für aus der Türkei stammende Importe von Agrar- und einigen verarbeiteten Agrarprodukten ein Präferenzsystem etabliert. Die Türkei hat ihrerseits seit Anfang der 1970er Jahre begonnen, ihre Zölle abzubauen und diesen Prozess von 1987 an beschleunigt. Am 1.1.1996 trat die Zollunion in Kraft.

Mit der Anerkennung, dass die Türkei für eine Mitgliedschaft qualifiziert ist, wurde der Weg für die anschließenden Verhandlungen geebnet, die im Oktober 2017 ihr zwölfjähriges Jubiläum feiern – im Vergleich zu anderen Beitrittsländern ein bereits viel zu langer Zeitraum. Ob es also tatsächlich zu einem Beitritt kommen wird, bleibt ungewiss, um so mehr, als die Türkei mit einer gravierenden Verfassungsänderung dabei ist, die Linie europäischer Grundwerte zu verlassen, dies nicht zuletzt auch infolge gravierender Fehler in der EU-Türkei-Politik. Denn die Türken sind zum einen zu Recht verärgert, nachdem kein anderer Staat vor der Aufnahme in die EU derart penibel auf die Einhaltung der Aufnahmekriterien abgeklopft worden ist und die Türkei sich demzufolge im Grunde abgelehnt fühlt, zum zweiten sind auch die Strukturen der EU und der Zustand des Wirtschaftsraums der EU mit verantwortlich dafür, dass die politischen Bindungen zur Türkei marode zu werden scheinen. Inzwischen ist es nicht mehr nur die ungeschickte Rhetorik vieler EU-Politiker, sondern auch der innere Zustand der EU selbst, der die Beziehungen zur Türkei problematischer zu machen scheint.

Dennoch: Die Türkei und ihre geographische Lage sprechen auf Dauer dafür, dass die Türkei für europäische Unternehmen ein wichtiger Partner bleibt.

Zollunion

Allgemein

Seit dem 1. Januar 1996 ist die Zollunion zwischen der Europäischen Union und der Türkei in Kraft. Diese Zollunion ist die engste wirtschaftliche und politische Beziehung zwischen der EU und einem Nicht-Mitgliedstaat.

Im Wesentlichen erlaubt die Zollunion der Türkei einen besseren Zugang zu den „Binnenmarkt-Ländern“. Sie garantiert einen freien Austausch von Industriegütern und verarbeiteten Agrar-Produkten. Zölle und Gebühren wurden aufgehoben, und mengenmäßige Beschränkungen, wie Quoten, sind nicht mehr zugelassen. Die Zollunion beinhaltet die Harmonisierung der türkischen Handels- und Wettbewerbspolitik mit derjenigen der EU sowie die Ausdehnung der Mehrzahl der EU-Handels- und Wettbewerbsbestimmungen auf die türkische Wirtschaft.

Die Zollunion bietet jedoch vor allem auch für die europäische Wirtschaft wichtige Vorteile, weil damit der Zugang zu einem großen und aufstrebenden Markt gewährleistet wird. Die türkische Industrie hat bisher dem hierdurch verschärften Wettbewerb im Wesentlichen standhalten können. Befürchtungen, die türkische Industrie würde dem Wettbewerbsdruck nicht standhalten können, haben sich nicht bewahrheitet. Im Gegenteil: Qualität und Produktivität sind in unerwartetem Maße angestiegen und haben für die ausländischen Investoren mehr Vorteile generiert als die so genannten Billiglohnländer im europäischen Osten oder in Fernost.

Gleiche Voraussetzungen

Die Zollunion betrifft alle Aspekte der Handels- und Wettbewerbspolitik um sicherzustellen, dass für türkische und europäische Firmen dieselben Voraussetzungen gelten. Der Beschluss des Assoziationsrates vom 6. März 1995, welcher der Zollunion zugrunde liegt, beinhaltet v.a. die Aufhebung von Zöllen, mengenmäßigen Beschränkungen und Maßnahmen gleicher Wirkung für den Handel mit Industriegütern und verarbeiteten Agrar-Produkten zwischen der Türkei und der EU, die Übernahme des Gemeinsamen Zolltarifs der EU durch die Türkei im Handel mit Drittländern, die Übernahme von Maßnahmen äquivalent zur Gemeinsamen Handelspolitik der EU durch die Türkei, einschließlich der Präferenzabkommen der EU mit bestimmten Drittländern, die Anpassung der Regeln der EU zum Wettbewerb einschließlich des Kartellrechts, zum gewerblichen Rechtsschutz (Schutz von Marken und Patenten), die Aufhebung freiwilliger Beschränkungen im Textil-Handel seitens der EU und schließlich die Errichtung eines gemischten Zoll-Unions-Ausschusses zwischen der Türkei und der EU. Die Anbindung an zahlreiche weitere Abkommen der EU sichern der Türkei umfassende Information und Konsultation in EU-Angelegenheiten.

In den nicht von der Zollunion erfassten Bereichen („Politiken“) wie der Industrieentwicklung, der transeuropäischen Netze sowie von Energie, Transport, Telekommunikation, Landwirtschaft, Umwelt, Wissenschaft, Statistik, Justiz, innere Sicherheit, Verbraucherschutz, Kultur, Information und Kommunikation wird die Zusammenarbeit stetig intensiviert.

Abbau der Zölle

Seit Inkrafttreten der Zollunion hat die Türkei alle Zölle und äquivalenten Gebühren für den Import von Industriewaren aus EU-Mitgliedsländern aufgehoben. Darüber hinaus hat sie ihre Zolltarife und die äquivalenten Gebühren für den Import von Industriegütern aus „Drittländern“ mit dem Gemeinsamen Zollaußentarif der EU harmonisiert. Die Türkei sollte bis 2000 die Handelspolitik und die Präferenz- und Zollpolitik der EU übernehmen, insoweit ist die Entwicklung jedoch noch nicht abgeschlossen.

Aufgrund all dieser Maßnahmen sind die für die Türkei geltenden Sätze für die Schutzzölle für den Import von Industriegütern von 5,9% auf 0% gefallen, gleiches gilt für Importe aus EFTA-Ländern.

Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass – sozusagen durch die Hintertür – immer wieder einmal andere Beschränkungen auftauchen, wie etwa umständliche Prüfungen der Übereinstimmung eingeführter Ware mit Standards.

Harmonisierung der Politiken

Die Zollunion umfasst nicht die Agrarwirtschaft. Dennoch wird auch hier die Zusammenarbeit ausgebaut.

Auch die Handelspolitik wird zunehmend harmonisiert. Die Harmonisierung schließt bisher das Monitoring und den Schutz von Importen aus der EU und Drittländern, das Management von mengenmäßigen Beschränkungen und Zolltarif-Quoten sowie die Bekämpfung von Importen zu Dumpingpreisen und von subventionierten Importen ein.

Zunehmend Gemeinsamkeiten bestehen auch in der Wettbewerbspolitik. Bis vor kurzem hatte die Türkei bisher kaum eine aktive Subventionierung von Wirtschaftszweigen betrieben, sondern sich auf die Förderung unterentwickelter Gebiete und auf den Erhalt des kulturellen Erbes konzentriert. Nach EU-Recht verbotene Beihilfeformen sind in der Türkei allerdings etwa in der Privilegierung türkischer Unternehmen bei Ausschreibungen erkennbar. Im Übrigen wird derzeit eine aktive Privatisierungspolitik betrieben –ganz im Sinne einer europäischen Politik, die auf die Entzerrung der – vormals staatlichen – Monopole in den Bereichen Telekommunikation und Energie gerichtet ist.

Und schließlich gibt es zwischen der Türkei und der EU eine aktive Zusammenarbeit in den Bereichen „Standardisierung, Eichung, Güteklassen, Zulassung, Prüfverfahren und Zertifizierung“.

Was Dienstleistungsverkehr wie auch die Niederlassungsfreiheit anbelangt, so harren diese noch der Anpassung an die in der EU geltenden Freiheiten.

Beitrittsperspektive

Die Beitrittsperspektive hängt vom Verlauf der Beitrittsverhandlungen ab. Hierfür gibt es ein Programm, das 35 Verhandlungskapitel vorsieht. Das größte Problem besteht darin, dass das Verhandlungstempo mit demjenigen, das etwa für den Beitritt von Bulgarien und Rumänien oder Kroatien vorgelegt worden ist, in keiner Weise vergleichbar ist. Befremdend wirkt auf den Beobachter auch, dass die konkrete Beitrittsperspektive von politischer Seite sehr viel zurückhaltender gesehen wird als dies bei den vorgenannten Ländern der Fall war. Und ausgerechnet die steigende Kritik an der voreiligen Aufnahme der jüngsten EU-Mitglieder stärkt die Front derjenigen, die einen Beitritt der Türkei für zu früh halten, sprich: ihn eigentlich nicht wünschen. Es dürfte kaum zu leugnen sein, dass hier eher mentale als rationale Vorbehalte zum Tragen kommen, die sich nachhaltig auf den politischen Diskurs auswirken. Auch wirtschaftsfremde Faktoren spielen bei der Türkei eine ganz andere Rolle als bei den meisten Balkanstaaten, wie etwa im früher recht kritischen Verhältnis zu Griechenland. Nun zeigt ausgerechnet Griechenland die eigene Unfähigkeit, den EU-Standards gerecht zu werden, gefolgt vom 2004 geradezu überstürzt aufgenommenen Inselstaat Zypern, während die Türkei die letzte Krise mit Bravour zu meistern scheint. Sie erfüllt derzeit sogar die Stabilitätskriterien für die Euro-Zone.

Neben religiös-kulturellen Gesichtspunkten dürfte auch das am besten nachvollziehbare Argument eine Rolle spielen, dass die Türkei allein schon wegen der Größe ihrer Bevölkerung und ihrer potenziellen Wirtschaftskraft zu einer Neubestimmung der Gewichte in der EU zwingen wird, was einen erheblichen strukturellen Reformaufwand in der EU selbst erfordert. Vor allem dürfte es den großen Staaten schwerfallen, ihre restlichen Einflussmöglichkeiten mit der Türkei zu teilen. Bis vor kurzem war die Türkei ein Schwellenland – jetzt ist sie auf dem Weg zum mächtigsten Staat in einer großen Region. Und wirkliche Augenhöhe mit der Türkei hat es für westliche Staaten, darunter einige ehemalige Großmächte, zuletzt vor gut 300 Jahren gegeben ...

Aber auch das Zypernproblem, das vor dem Beitritt Zyperns auf der Grundlage des so genannten Annan-Plans 2004 fast gelöst worden wäre, hätte die EU den Beitrittsprozess des Inselstaates nicht unnötig gefördert, darf nicht unterschätzt werden. Während Griechenland und die Türkei sich im Jahre 2004 für den Annan-Plan ausgesprochen hatten und dieser Linie dann auch die türkische Volksgruppe in Nordzypern in der fälligen Volksabstimmung gefolgt war, lehnte die zahlenmäßig stärkere griechische Volksgruppe im Süden der Insel, deren Regierung von der internationalen Gemeinschaft als die Regierung der Republik Zypern anerkannt wird, den Plan ab. Die Folge war der einmalige Vorgang, dass Zypern dennoch in die EU aufgenommen wurde – als Staat mit unklarer Verfassungslage und unklaren Staatsgrenzen, jetzt neben Griechenland das kritischste Sorgenkind der EU. Ein wirtschaftlich maroder Zwergstaat mit der Macht, durch sein Stimmverhalten den Beitritt der Türkei maßgeblich zu beeinflussen, ja zu verhindern. Die Türkei steht nun vor dem schwierigen Dilemma, dass ihr die Anerkennung der Republik Zypern in der gegenwärtigen Fassung und damit – letztlich – die Anerkennung eines Zustandes abverlangt wird, für den sie nicht diejenige Verantwortung trägt, die ihr heute gerne und leichtfertig zugeschrieben wird1.

Dass die Türkei allerdings nicht tatenlos auf den EU-Beitritt wartet, zeigt der Abschluss einer stetig steigenden Zahl von Freihandelsabkommen mit anderen Staaten und die zunehmenden außenpolitischen Aktivitäten in Richtung des Nahen Ostens und Zentralasiens. Oft erfolgt die Umsetzung von EU-Richtlinien schneller als in Deutschland und vielen anderen EU-Mitgliedstaaten. Selbst Afrika ist inzwischen fester Bestandteil türkischer Wirtschaftsaußenpolitik, die mit größerer Effizienz und Nachhaltigkeit betrieben wird als diejenige der EU, von Deutschland gar nicht zu reden.

Türkische Wirtschaft im Aufwind

Die türkische Wirtschaft boomt – so hieß es allenthalben bis Mitte 2016. Die verfügbaren Zahlen haben in der Tat dafür gesprochen, dass die Türkei durch eine geschickte Wirtschafts-, Außen- und Sicherheitspolitik auf einem guten Weg war2. Dass geplant ist, bis 2023 – zum hundertjährigen Bestehen der türkischen Republik – unter die besten Zehn der Weltwirtschaft zu gelangen, erschien durchaus realistisch. Gleichzeitig haben wir weltweit und vor allem auch in Europa einen geradezu dramatischen Verfall der Wirtschaftsleistung erlebt. Selbst wenn auch die Türkei ihre Prognosen zwischendurch nach unten korrigieren musste – sie hat im europäischen Vergleich nach wie vor die größte Dynamik aufgewiesen.

Ein mysteriöser Putsch am 15. Juli 2016 hat allerdings die Lage verändert. Er löste eine Hexenjagd gegen alles aus, was nach Fethullah Gülen riecht, einem Prediger, dem es gelungen ist, Zehntausende von Anhängern in allen interessanten Positionen von Bürokratie und Wirtschaft unterzubringen und gegen die der aktuelle Staatspräsident Erdoğan meint, mit allen Mitteln vorgehen zu müssen. Er bekämpft damit eine Bewegung, die nicht nur den Aufstieg der AKP als führende politische Kraft ermöglicht hat, sondern auch starke Anteile am wirtschaftlichen Aufschwung hatte. Die türkische Wirtschaft erlebt daher im Augenblick eine schwierige Phase mit hoher Arbeitslosigkeit (ca. 13%) und einem spürbaren Rückgang der Produktivität.

Recht und Justiz

Rechtssystem

Das türkische Rechtssystem hatte bereits in der Endphase des Osmanischen Reiches3 zwischen 1839 und 1919 einige wichtige Veränderungen durchgemacht, wobei zunächst der französische Einfluss vorherrschend war. 1876 bereits hatte das Reich eine moderne Verfassung. Bis zur Ausrufung der Republik 1923 fußte das System, trotz der Rezeption vieler europäischer Rechtsregeln4, im Wesentlichen auf islamischen Grundsätzen. Nach dem Zusammenbruch des osmanischen Reiches, dem unter anderem auch die Einführung des Grundbuch- und Katastersystems zu verdanken war, und der Reduktion des Riesenreiches auf das Territorium der heutigen Republik Türkei, kam es zu einer rasanten Modernisierung des Rechtssystems. Der ersten republikanischen Verfassung 1924 folgten in schneller Folge wichtige Kodifizierungen, zunächst – wie in Ansätzen zuvor schon im Osmanischen Reich – im Wege der Übersetzung ausländischer Gesetzestexte. So wurden die französischen Fassungen des schweizerischen ZGB, des Obligationenrechts (als OGB), die Zivilprozessordnung des Kantons Neuchâtel, die deutsche Strafprozessordnung, das italienische Strafgesetzbuch und das schweizerische Zwangsvollstreckungs- und Insolvenzrecht übernommen. Erst 1957 kam ein gut funktionierendes HGB, das – auch wenn für die Autorenschaft maßgeblich der deutsche Ernst E. Hirsch5 verantwortlich zeichnete – als gut gelungene Eigenproduktion bezeichnet werden konnte.

Das türkische Rechtssystem ordnet sich also nahtlos in die europäischen Rechtsordnungen kontinentaler Prägung ein. Anders als die Common-Law6-Staaten England und Irland folgt das System also einer strengen Hierarchie von Typen der Rechtsvorschriften und dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung. Das Parlament7 ist für den Erlass von Verfassung und Gesetzen zuständig, die Exekutive mit dem Präsidenten an der Spitze sowie den Ministerien und autonome Verwaltungseinheiten wie etwa Hochschulrat, Zentralbank, Rundfunk- und Fernsehrat u.a. vollzieht die Gesetze, der Präsident wird mit seinen Präsidialverordnungen nach der Umsetzung der mit dem Referendum am 16. April 2017 abgesegneten Verfassungsreform eine eigene starke Regelungskompetenz ausüben. Sonstige Verordnungen zur Durchführung von Gesetzen dürfen von den obersten Verwaltungsorganen, die überwiegend in Ankara sitzen, erlassen werden.

Sowohl die Rezeptionsgeschichte als auch die enge Verbindung zur EU haben dazu geführt, dass das türkische Recht inhaltlich viele Bezüge zu den Rechtsordnungen anderer Länder und zur EU aufweist. Zu hoffen ist, dass dies auch trotz der umstrittenen Verfassungsreform vom April 2017 so bleibt.

Verfassungsrecht

Die türkische Verfassung ist seit 1924 republikanischer Natur. Damals war sie inhaltlich und strukturell mit den Verfassungen der neuen Republiken, einschließlich der Weimarer Republik, nach dem Ersten Weltkrieg vergleichbar. 1961 gab es eine grundlegende Reform – ausgelöst durch einen Militärputsch, der der Herstellung des Rechtsstaates dienen sollte. Sie war redaktionell und inhaltlich vorbildlich, folgte in wesentlichen Punkten den Ideen des deutschen Grundgesetzes, ohne dessen redaktionelle Fehler zu übernehmen. Im Jahre 1982, nach dem Militärputsch vom 12. September 1980, der dieses Mal der Wiederherstellung der vermeintlich verloren gegangenen Staatsautorität diente, wurde die Verfassung gründlich überarbeitet und neu erlassen. Aber auch hier finden sich wieder die Ideen, die wir inzwischen aus den modernen westeuropäischen Verfassungen und der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten kennen. Der überstrenge Schutz des Staates gegenüber dem Bürger wich in verschiedenen Schritten – 1999, 2005, 2010 – einer liberaleren Sicht von der Position des Bürgers im Staat8.

Die türkische Verfassung gehört zu demjenigen modernen Verfassungstyp, der auch Grundentscheidungen für die Wirtschaftsordnung trifft. Man kann daher von einer geschriebenen „Wirtschaftsverfassung“ sprechen. Es gelten das Sozialstaatsprinzip und der Schutz der freien Märkte. Die Verfassung vermeidet die Festlegung sowohl auf ein planwirtschaftliches Modell als auch auf eine völlig freie Marktwirtschaft. Sie definiert stattdessen Verantwortlichkeiten des Staats für die Regulierung von Märkten in bestimmten sensiblen Bereichen im öffentlichen Interesse. Diese Bereiche können wie folgt aufgezählt werden:

Innere und äußere Sicherheit

Küstenschutz

Denkmal- und Kulturgüterschutz

Naturschutz, insbesondere Waldschutz

Gesundheitsschutz

Schutz des Kleinhandels und Handwerks

Im Übrigen gilt wie woanders auch, dass der Schutz der Grundrechte, darunter der des Eigentums, seine Schranken in vorrangigen Interessen der anderen Individuen bzw. der Öffentlichkeit hat. Hier das richtige Gleichgewicht herzustellen, fällt der Politik und Justiz – auch dies ist nichts Ungewöhnliches – nicht immer leicht. Wichtig ist in diesem Zusammenhang vor allem auch die Rechtsstaatlichkeit der Verfahren. Diese wird nicht nur durch eine unabhängige Justiz, sondern vor allem auch durch geeignete Verwaltungsverfahren garantiert; hier ist etwa das Enteignungsverfahren hervorzuheben, das auf einer eigenen Gesetzesgrundlage beruht.

In der Vorauflage hatten wir noch davon gesprochen, dass mit der Verfassungsreform eine weitere Modernisierung zu erwarten sei. Diese Erwartung ist nicht eingetreten. Statt der Ausweitung der Freiheiten als Wesensmerkmal einer klassischen Demokratie hat die Verfassungsreform zu einer Stärkung der Exekutive in einer Weise geführt, die erhebliche Gefahren für die demokratischen Grundstrukturen des türkischen politischen Systems mit sich gebracht hat. Der Ministerrat als Verfassungsorgan wurde durch einen starken Präsidenten ersetzt, der nunmehr auch den Vorsitz einer Partei innehaben darf und dies erfahrungsgemäß auch ausnutzen wird. Die Unabhängigkeit der Justiz, die bislang durch einen Hohen Richter- und Staatsanwälterat gewährleistet werden konnte, dessen Ernennung durch die Justiz selbst erfolgte, ist durch die Anbindung dieses Rates an die Politik nicht mehr gewährleistet. Mit schwerwiegenden Auswirkungen auf die Ziviljustiz ist jedoch bis auf weiteres nicht zu rechnen.

Privat- und Handelsrecht

Das Zivil- und Schuldrecht, das im Zivilgesetzbuch (ZGB) und im Obligationengesetzbuch (OGB) geregelt ist, stellte ursprünglich eine zum Teil noch wörtliche Übernahme des schweizerischen ZGB und OR dar, die in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts erfolgt war. Der Zivilprozess folgte einer Zivilprozessordnung, die ebenfalls aus der Schweiz stammte, so wie auch das Zwangsvollstreckungs- und Insolvenzrecht.

Spätere Reformen in der Schweiz wurden zum Teil in der Türkei nachvollzogen, teilweise – vor allem im Familien- und Erbrecht, aber auch im Sachenrecht – nahm das türkische Recht eigene Entwicklungen. Anfang 2002 trat ein modernisiertes ZGB in Kraft. Am 1.10.2011 folgte eine neue ZPO, am 1.7.2012 kamen ein neues OGB und ein neues HGB, mit denen einige wichtige Änderungen vorgenommen worden sind.

Während im alten HGB viele Anleihen aus Deutschland, der Schweiz und Frankreich zu erkennen waren, dringen im neuen HGB verstärkt EU-Standards in den Vordergrund.

Ungeachtet der Entwicklungen im Bereich des Schuld- und Handelsrechts hat es in den letzten zwanzig Jahren zahlreiche wichtige Reformen in einzelnen Gebieten gegeben. Seit rund siebzehn Jahren wacht eine Wettbewerbsbehörde in Ankara über das ordentliche Funktionieren des Wettbewerbs am Markt, das Türkische Patentinstitut hat sich beim Schutz geistigen Eigentums bewährt, eine funktionierende und scharfe Bankenaufsicht hat den türkischen Bankensektor davor bewahrt, dass das türkische Bankensystem in den Strudel der Finanzkrise gerät, der Kapitalmarktrat kontrolliert den Kapitalmarkt, der derzeit vor allem in der Istanbuler Wertpapierbörse institutionalisiert ist, dem jedoch zwischenzeitlich ein zweiter Kapitalmarkt für nicht börsennotierte Unternehmen hinzugefügt wurde.

In diesem Umfeld ist ein Maß an Rechtssicherheit entstanden, das auch das in manchen EU-Mitgliedstaaten übertrifft.

Strafrecht

Das Strafrecht beruhte in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts ursprünglich auf der Übernahme des damals (und überwiegend auch heute noch) geltenden italienischen Strafgesetzbuchs, wurde jedoch im Jahre 2005 grundlegend umgestaltet und in ein neues Strafgesetzbuch gefasst, in dem sich nunmehr auch Elemente aus anderen europäischen Staaten, insbesondere Deutschland erkennen lassen. Die Strafprozessordnung lehnt sich nach der Reform im Jahre 2005 weiterhin an das deutsche Vorbild an.

Das Strafrecht enthält auch zahlreiche Bestimmungen zum Wirtschaftsstrafrecht, von den klassischen Straftatbeständen des Betrugs über die Urkundenfälschung bis hin zum Steuerstrafrecht. Auch rudimentäre Reste der Devisenbewirtschaftung finden sich in strafbewehrten Regeln zur Erfassung des Devisenverkehrs. Die Praxis im Wirtschaftsstrafrecht krankt allerdings an der fehlenden Sensibilität türkischer Staatsanwaltschaften für dieses Gebiet. Leichtfertig werden zu häufig Strafverfahren eingestellt oder nicht mit der erforderlichen Nachhaltigkeit betrieben, weil man irrtümlich davon ausgeht, dass handelsrechtliche Streitigkeiten nicht Sache der Strafgerichte seien. Diese prinzipiell richtige Feststellung wird viel zu häufig auch auf Fälle ausgedehnt, in denen die Parteien in den Handelsprozessen gefälschte Beweismittel vorlegen oder der Tatbestand der Untreue nachgewiesen werden kann. Die Folge ist eine mangelhafte Durchsetzung der Wahrheitspflicht im Prozess und damit der Beeinträchtigung der Verlässlichkeit der Justiz.

Verwaltungsrecht

Im öffentlichen Recht schließlich ist die französische Rechtstradition erkennbar. Es gibt kein allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz, in welchem das Verwaltungsverfahren einheitlich geregelt wird.

Dennoch folgt das Verwaltungsverfahren einheitlichen Grundsätzen und ist im Übrigen in zahlreichen Einzelgesetzen für bestimmte Bereiche der öffentlichen Verwaltung konkretisiert worden. Dabei legt der Gesetzgeber größten Wert auf Rechtssicherheit, die Wahrung des rechtlichen Gehörs und Transparenz. Umfangreiche Informations- und Offenlegungspflichten der Behörden gewähren dem betroffenen Bürger eine gewisse Sicherheit ohne gleichzeitig dessen Interesse am Daten- und Geheimnisschutz zu verletzen.

Einfluss auf die wirtschaftliche Bewegungsfreiheit nicht nur der Ausländer hat das Verwaltungsrecht in zahlreichen Zusammenhängen. Bei Immobilien- und Bauprojekten sind etwa nicht nur das öffentliche Baurecht zu beachten, sondern auch Regeln des Küsten-, Wald- und Denkmalschutzes. Hinzu kommen noch besondere Anforderungen und Regeln wie etwa die Erdbebensicherheit. Auch das Vergaberecht ist nach wie vor öffentlich-rechtlich geprägt.

Zwar wird in der Türkei zügig privatisiert und dereguliert. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass auf allen wesentlichen Gebieten, in denen im “öffentlichen Raum” gehandelt und gewirtschaftet wird, das Verwaltungsrecht seine Präsenz nicht aufgegeben hat. Europäischen Standards folgend sind in bestimmten Bereichen Regulierungsbehörden aktiv, welche das private Wirken scharf kontrollieren, wie in den Bereichen der Telekommunikation, des Verkehrs und der Energie. Diese Behörden schaffen aufgrund gesetzlicher Ermächtigungen umfangreiche Regelwerke, die zu beachten sind.

Das Gerichtssystem

Einführung

Unabhängigkeit der Gerichte

Die türkische Justiz sollte von Verfassungswegen unabhängig und keinerlei Weisungen unterworfen sein. Sie wird in Personal- und Disziplinarangelegenheiten durch einen Richter- und Staatsanwälterat (Hakimler ve Savcılar Kurulu)9überwacht, der auch über die Einrichtung neuer Gerichte und die Definition der Gerichtssprengel bestimmt. Dieser Rat setzt sich wiederum vor allem aus Vertretern der Richterschaft zusammen. Zu Zwecken der Demonstration seiner Unabhängigkeit wurde dieser Rat um zahlreiche Mitglieder aus der Justiz im Zuge der Reform 2010/2011 erweitert und seine Verwaltung aus dem Justizministerium ausgegliedert. Mit der Verfassungsreform 2017 wurde die Zahl der Mitglieder fast halbiert, die Wahl erfolgt nicht mehr durch die Justiz, sondern durch Präsident und Parlament für eine Amtszeit von vier Jahren mit der Möglichkeit der Wiederwahl. Die Unabhängigkeit der Justiz von der Politik ist damit nicht mehr gewährleistet.

Praktische Probleme