Rechtliche Grundlagen in der Heilpädagogik - René Wenk - E-Book

Rechtliche Grundlagen in der Heilpädagogik E-Book

René Wenk

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Beschreibung

Wie andere Berufsgruppen im Sozialbereich verfügen auch Heilpädagogen nach Abschluss ihres Studiums nur über unzureichende Kenntnisse von den rechtlich verankerten Voraussetzungen und Rahmenbedingungen ihrer Tätigkeit. Dabei gibt gerade das Recht die Strukturen vor, die in allen Tätigkeitsbereichen der heilpädagogischen Profession von Bedeutung sind. Um Studierenden, aber auch Praktikern den Zugang zur oft als "trocken" empfundenen Rechtsmaterie zu erleichtern, beschränkt sich das Buch bewusst auf zentrale Themen, die sich aus der Berufspraxis ergeben, und diskutiert die rechtlichen Grundlagen entlang der wesentlichen heilpädagogischen Berufs- und Handlungsfelder. Die Studierenden und Praktiker lernen dabei an zahlreichen Fallbeispielen nicht nur die praktische Relevanz des Rechts kennen. Sie sollen gleichzeitig auch befähigt werden, das Recht für die Interessen ihrer Klientel und ihrer Arbeit nutzbar zu machen, um darüber nicht zuletzt ihre Handlungskompetenz zu steigern.

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Praxis Heilpädagogik – Grundlagen

 

Herausgegeben von

Heinrich Greving

René Wenk

Antje Groth-Simonides

Rechtliche Grundlagen in der Heilpädagogik

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

1. Auflage 2017

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-028606-1

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-028607-8

epub:    ISBN 978-3-17-028608-5

mobi:    ISBN 978-3-17-028609-2

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

Inhalt

 

 

 

Vorwort

Zur Gliederung des Buches

1 Heilpädagogik zwischen Assistenz und Anwaltschaft – Hinführung an ein komplexes Themengebiet

1.1 Heilpädagogik als ganzheitliche Wissenschaft

1.1.1 Zur individuellen Ebene der Heilpädagogik

1.1.2 Zur systemischen Ebene der Heilpädagogik

1.2 Heilpädagogik als integrative Wissenschaft

1.2.1 Weiterführende Gedanken zur systemischen Sichtweise der Heilpädagogik

1.3 Exkurs: Heilpädagogik als Metakompetenz bezogen auf das Themengebiet »Recht«

2 Allgemeine rechtliche Bedingungen

2.1 Vier einführende Thesen zum Recht für Heilpädagoginnen

2.2 Eine Übersicht – das »Rechtsdreieck der Heilpädagogik«

3 Recht – individuell

3.1 Elterliche Sorge – Kindschaftsrecht

3.1.1 Die Anwaltschaft der Heilpädagogik bei Kindeswohlgefährdung

3.1.2 Die Anwaltschaft der Heilpädagogik für Kinder in strittigen Trennungs- und Scheidungssituationen

3.2 Betreuungsrecht

3.2.1 Die Anwaltschaft der Heilpädagogik in einem ressourcenorientierten rechtlichen Betreuungsverhältnis

3.2.2 Die Anwaltschaft der Heilpädagogik in Sachen UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK)

4 Recht – institutionell

4.1 Rechtliche Grundlagen der Frühförderung behinderter oder von Behinderung bedrohter Kinder

4.2 Rechtliche Grundlagen der Integration behinderter Kinder im Kindertagesstätten

4.2.1 Exkurs in Sachen »Die Assistenz der Heilpädagogik«

4.3 Rechtliche Grundlagen der heilpädagogischen Kinder- und Jugendheime

4.3.1 Exkurs in Sachen »Die Assistenz und Anwaltschaft der Heilpädagogik«

4.4 Rechtliche Grundlagen der vollstationären Wohneinrichtungen für Menschen mit Behinderung

4.4.1 Das sozial- und jugendhilferechtliche (subsidiäre) Dreiecksverhältnis

4.4.2 Exkurs in Sachen »Die Assistenz der Heilpädagogik«

5 Recht – allgemein

5.1 Einführung in das Verwaltungsrecht

5.2 Sozialdatenschutz

5.3 Wichtige Grundlagen des Infektionsschutzgesetz

6 Aufsichtspflicht und Haftung in den Berufs- und Handlungsfeldern der Heilpädagogik

6.1 Grundlagen der Aufsichtspflicht

6.1.1 Aufsichtsbedürftige Personen

6.1.2 Entstehung der Aufsichtspflicht

6.2 Begriff der Aufsichtspflicht

6.3 Bestimmungsfaktoren der Aufsichtspflicht

6.3.1 Personengebundene Faktoren

6.3.2 Gruppenbezogene Faktoren

6.3.3 Räumliche oder örtliche Faktoren

6.3.4 Sachbezogene Faktoren

6.3.5 Personelle Faktoren

6.4 Pflichten des Aufsichtspflichtigen

6.4.1 Die Informationspflicht

6.4.2 Die Überwachungspflicht

6.4.3 Die Handlungspflicht

6.5 Haftung des Aufsichtspflichtigen

6.5.1 Zivilrechtliche Haftung

6.5.2 Schaden bei einem Aufsichtspflichtigen

6.5.3 Strafrechtliche Haftung

6.5.4 Arbeitsrechtliche Haftung

7 Einführung in das Arbeitsrecht für Heilpädagoginnen und Heilpädagogen

7.1 Bereiche des Arbeitsrechts

7.1.1 Individualarbeitsrecht

7.1.2 Kollektivarbeitsrecht

7.2 Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbegriffe

7.3 Die Rechtsquellen und Grundbegriffe im Arbeitsrecht

7.3.1 Grundgesetz

7.3.2 Bundesgesetze

7.3.3 Rechtsverordnungen (RVO)

7.3.4 Tarifverträge (TV)

7.3.5 Betriebsvereinbarungen (BV)

7.3.6 Weisungsrecht des Arbeitgebers

7.3.7 Betriebliche Übung

7.4 Rangregelungen und Normenkonkurrenz

7.4.1 Normenkonkurrenz auf einer Stufe

7.4.2 Normenkonkurrenz auf verschiedenen Stufen

7.5 Vertragsanbahnungsverhältnis

7.5.1 Stellenausschreibung

7.5.2 Bewerbungsverfahren

7.5.3 Vorstellungsgespräch und Fragerecht/Mitteilungspflicht

7.5.4 Schutzpflichten des Arbeitgebers

7.5.5 Ersatz der Vorstellungskosten

7.6 Abschluss eines Arbeitsvertrages

7.7 Regelungen im Arbeitsvertrag

7.8 Haupt- und Nebenpflichten im Arbeitsverhältnis

7.8.1 Die Hauptpflicht des Arbeitnehmers

7.8.2 Die Hauptpflicht des Arbeitgebers

7.8.3 Die Nebenpflichten des Arbeitnehmers

7.8.4 Die Nebenpflichten des Arbeitgebers

7.9 Pflichtverstöße und ihre Konsequenzen

7.10 Beendigung des Arbeitsverhältnisses

7.10.1 Aufhebungsvertrag

7.10.2 Kündigung

7.11 Der Rechtsschutz im Arbeitsrecht

7.11.1 Arbeitsgerichtsbarkeit am Beispiel Brandenburg

Zusammenfassung der rechtlichen Grundlagen der Heilpädagogik

Literatur

Vorwort

 

 

»Trocken« ist das am meisten genannte Adjektiv, welches von Studierenden sowie Teilnehmerinnen/Teilnehmern von Aus-, Fort- und Weiterbildungen genannt wird, wenn wir fragen, welche Erfahrungen diese mit dem Unterrichtsfach »Recht in der Heilpädagogik« gemacht haben.

Unser ambitioniertes Ziel ist es, die rechtlichen Grundlagen der Heilpädagogik in diesem Buch weniger »trocken«, sondern vielmehr sehr praxisnah, praxisrelevant und leicht verständlich darzulegen. Hierfür haben wir verschiedene inhaltliche Schwerpunkte gesetzt, die sich – wie ein »roter Faden« – durch dieses Buch ziehen.

Besonders wichtig erscheint es uns, dass sich das Buch hierfür speziell an den Berufs- und Handlungsfeldern der Heilpädagogik – respektive der Heilpädagoginnen und Heilpädagogen – orientiert.1 Die Berufs- und Handlungsfelder (Dieckmann, 2009, 52 ff.), in denen der größte Teil der ausgebildeten und studierten Heilpädagoginnen arbeitet, sind:

•  integrativ und/oder inklusiv arbeitende Kindertageseinrichtungen/Kindertagesstätten (sogenannte I-Kitas)

•  interdisziplinäre Frühförderstellen (IFF) und/oder Sozialpädiatrische Zentren (SPZ)

•  Einrichtungen der stationären Kinder- und Jugendhilfe, hier heilpädagogische Kinder- und Jugendheime

•  Wohneinrichtungen der vollstationären Behindertenhilfe.

Natürlich gibt es weitere Berufs- und Handlungsfelder, in denen Heilpädagoginnen beschäftigt sind. Zu nennen wären:

•  Beratungsstellen der Kinder- und Jugendhilfe, welche oftmals zusammengefasst im Sinne des § 18 in Verbindung mit § 28 Sozialgesetzbuch VIII (Kinder- und Jugendhilfegesetz) – nachfolgend SGB abgekürzt – als »Ehe-, Familien- und Erziehungsberatungsstellen« zu finden sind.

§ 18 SGB VIII »Beratung und Unterstützung bei der Ausübung der Personensorge und des Umgangsrechts«

(1) Mütter und Väter, die allein für ein Kind oder einen Jugendlichen zu sorgen haben oder tatsächlich sorgen, haben Anspruch auf Beratung und Unterstützung

1.    bei der Ausübung der Personensorge einschließlich der Geltendmachung von Unterhalts- oder Unterhaltsersatzansprüchen des Kindes oder Jugendlichen,

2.    bei der Geltendmachung ihrer Unterhaltsansprüche nach § 1615l des Bürgerlichen Gesetzbuchs.

(2) Mütter und Väter, die mit dem anderen Elternteil nicht verheiratet sind, haben Anspruch auf Beratung über die Abgabe einer Sorgeerklärung und die Möglichkeit der gerichtlichen Übertragung der gemeinsamen elterlichen Sorge.

(3) Kinder und Jugendliche haben Anspruch auf Beratung und Unterstützung bei der Ausübung des Umgangsrechts nach § 1684 Absatz 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs. Sie sollen darin unterstützt werden, dass die Personen, die nach Maßgabe der §§ 1684, 1685 und 1686a des Bürgerlichen Gesetzbuchs zum Umgang mit ihnen berechtigt sind, von diesem Recht zu ihrem Wohl Gebrauch machen. Eltern, andere Umgangsberechtigte sowie Personen, in deren Obhut sich das Kind befindet, haben Anspruch auf Beratung und Unterstützung bei der Ausübung des Umgangsrechts. Bei der Befugnis, Auskunft über die persönlichen Verhältnisse des Kindes zu verlangen, bei der Herstellung von Umgangskontakten und bei der Ausführung gerichtlicher oder vereinbarter Umgangsregelungen soll vermittelt und in geeigneten Fällen Hilfestellung geleistet werden.

§ 28 SGB VIII »Erziehungsberatung«

Erziehungsberatungsstellen und andere Beratungsdienste und -einrichtungen sollen Kinder, Jugendliche, Eltern und andere Erziehungsberechtigte bei der Klärung und Bewältigung individueller und familienbezogener Probleme und der zugrunde liegenden Faktoren, bei der Lösung von Erziehungsfragen sowie bei Trennung und Scheidung unterstützen. Dabei sollen Fachkräfte verschiedener Fachrichtungen zusammenwirken, die mit unterschiedlichen methodischen Ansätzen vertraut sind.

•  Auch Einrichtungen der Geragogik (Altenhilfe) beschäftigen Heilpädagoginnen, hier größtenteils als sogenannte »zusätzliche Betreuungskraft« im Sinne des § 87b SGB XI (Soziale Pflegeversicherung) für die Versorgung (zum Beispiel in Form von Freizeitbeschäftigung in einem tagestrukturierenden Angebot) von psychisch kranken Menschen, Menschen mit Demenz und Menschen mit mentalen (geistigen) Behinderungen in stationären Pflegeeinrichtungen.

Als weitere Berufs- und Handlungsfelder der Heilpädagogik seien hier noch die Lehre (schulische Ausbildung) zum Beispiel in einer Fachschule für Heilerziehungspfleger/innen und/oder die Möglichkeit, als selbstständige Heilpädagogin zu arbeiten, genannt. Die beiden zuvor genannten Felder eint, dass es überwiegend rechtliche Regelungen der einzelnen Bundesländer gibt, die diese zulassen.

Wir werden uns in diesem Buch im ersten Schwerpunkt auf die vier zuvor genannten Berufs- und Handlungsfelder konzentrieren, in denen die meisten der Heilpädagoginnen arbeiten. Ausgewählte Fallbeispiele aus der heilpädagogischen Praxis (Kapitel 4) des jeweiligen Berufs- und Handlungsfeldes sollen ergänzen.

Eine wichtige rechtliche Grundlage der Heilpädagogik ist, dass die Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, der Frühförderung und der Behindertenhilfe gesetzlich verpflichtet sind, »Qualität« zu sichern und weiterzuentwickeln. Diese Verpflichtung ergibt sich unter anderem aus § 22a, Abs. 1 SGB VIII, § 78a, Abs. 1 SGB VIII, § 20 SGB IX in Verbindung mit § 135a SGB V sowie § 75, Abs. 3 SGB XII.

Qualität unterteilt sich in drei Dimensionen (Eitle, 2012, 278 ff.), der sogenannten »Strukturqualität«, »Prozessqualität« und der »Ergebnisqualität«. Die »Strukturqualität« beschreibt die strukturellen Voraussetzungen, die notwendig sind, um eine heilpädagogische Dienstleistung zu erbringen. Strukturelle Voraussetzungen sind neben dem Menschenbild, welches die Einrichtung präferiert, dem (qualifizierten) Personal auch die konzeptionellen Schwerpunkte und die konzeptionelle Ausrichtung der Einrichtung, in der Heilpädagoginnen beschäftigt sind. Diesen Teil der »Strukturqualität« kann man allgemeinhin als »Konzeptqualität« bezeichnen.

»Prozessqualität« hingegen beschreibt, mit welchen Mitteln und Methoden ein heilpädagogisch angestrebtes Ziel (z. B. welche Form der Förderung) erreicht werden soll. Es erklärt sich von selbst, dass die konzeptionelle Ausrichtung als Teil der »Strukturqualität« gleichwohl d’accord sein muss mit den Mitteln und Methoden der genannten und einrichtungsspezifischen »Prozessqualität«.

Als »Ergebnisqualität« ist lediglich der Zielerreichungsgrad zum Beispiel der Fördereinheit definiert.

Abb. 1: Drei Dimensionen der Qualität (nach Eitle, 2012)

In der Fachzeitschrift »Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete« (VHN) appelliert Otto Speck eindringlich, dass Heilpädagogik sich dem Thema »Qualität/Qualitätsentwicklung in heilpädagogischen Einrichtungen« verstärkt annehmen muss und es inhaltlich ausgestalten sollte (Speck, 2000, 240 ff.). Daraus ergibt sich ein weiterer wichtiger Schwerpunkt dieses Buches. Neben dem Darlegen und Erläutern der rechtlichen Bedingungen in den jeweiligen heilpädagogischen Berufs- und Handlungsfeldern werden auch ergänzende, konzeptionell-inhaltliche Hinweise für eine – vom Gesetzgeber geforderte – Qualitätsentwicklung aufgezeigt.

Beispiel

Der Gesetzgeber verlangt im § 11, Punkt 2 des Heimgesetzes (HeimG), dass volljährige Menschen mit Behinderung in vollstationären Einrichtungen der Behindertenhilfe (hier: »Heim«) einen rechtlichen Anspruch auf »sozialpädagogische Betreuung und heilpädagogische Förderung« haben. Welche Möglichkeiten und Methoden Heilpädagoginnen in solchen »Heimen« haben und anwenden, soll dargestellt werden.

Was »heilpädagogische Förderung« in einer vollstationären Wohneinrichtung für erwachsene Menschen mit Behinderung bedeuten kann, wird im Kapitel 4.4 erläutert.

1     Der Einfachheit halber und der Lesefreundlichkeit wegen werden wir künftig nur noch die weibliche Berufsbezeichnung verwenden, da der Großteil dieser Berufsgruppe weiblich ist.

Zur Gliederung des Buches

 

 

Es liegt in der Natur der Sache, dass wir im ersten Kapitel unter der Überschrift » Heilpädagogik zwischen Assistenz und Anwaltschaft« auf die geschichtliche Verantwortung und die Definition der Heilpädagogik, auch im Kontext zum Themengebiet »Recht«, eingehen werden.

Im zweiten Kapitel werden wir allgemeine rechtliche Grundlagen darstellen und uns dabei einem Konstrukt bedienen, welches wir »Rechtsdreieck für Heilpädagoginnen« nennen. Dieses Modell soll sich als roter Faden durch das Buch ziehen.

Eine Darstellung der rechtlichen und konzeptionellen Aspekte der Berufs- und Handlungsfelder (Integrationskindertagesstätten, Frühfördereinrichtungen, Kinderheime der Jugendhilfe und Einrichtungen der Behindertenhilfe), in denen die meisten bundesdeutschen Heilpädagoginnen arbeiten, wird das dritte Kapitel in diesem Buch beinhalten.

»In der heilpädagogischen Arbeit steht man doch stets mit einem Bein im Gefängnis« ist eine häufig gehörte Aussage von Heilpädagoginnen. Dass dem nicht so ist, wird im vierten Kapitel erläutert.

Heilpädagoginnen befinden sich zumeist in einem arbeitsrechtlichen Verhältnis. Das vorletzte Kapitel des Buches wird die wesentlichen Aspekte des Arbeitsrechts behandeln.

1          Heilpädagogik zwischen Assistenz und Anwaltschaft – Hinführung an ein komplexes Themengebiet

 

1.1       Heilpädagogik als ganzheitliche (Handlungs-)Wissenschaft

 

Schon 1925 schrieb Theodor Heller: »Der Begriff ›Heilpädagogik‹ ist keineswegs eindeutig bestimmt« und verwies damit zurecht auf die Unklarheiten und Missverstände, die der Begriff »Heilpädagogik« mit sich bringen kann. Insofern sind eine geschichtliche Betrachtung, eine Definition und eine Darstellung der Heilpädagogik notwendig.

Der Begriff »Heilpädagogik«, begründet von Heinrich Marianus Deinhardt, Jan-Daniel Georgens und Jeanne Marie von Gayette, geht zurück auf das Jahr 1861/1863. Die Pädagogen Deinhardt und Georgens veröffentlichten ihre Erkenntnisse und Beobachtungen zum Thema »Heilpädagogik« in zwei Bänden unter dem Titel Die Heilpädagogik mit besonderer Berücksichtigung der Idiotie und der Idiotenanstalten (Georgens/Deinhardt, 1979). Sie betrieben in der Nähe von Wien eine Einrichtung mit dem Namen »Levana« (Bundschuh, 2010, 47 ff.), welche heute einem Wohnheim für Menschen mit mentalen Beeinträchtigungen gleichkommen dürfte.

Ein von Theodor Heller problematisiertes Missverständnis der Heilpädagogik verbirgt sich schon im Namen, genauer gesagt im Wortteil »Heil-«. Allzu oft wird »heil« gedanklich im Sinne eines medizinischen Heilens verwendet. Es ist jedoch dem historisch-deutschen Sprachgebrauch nach von »ganz« abgeleitet.

Beispiel

»Da sind die Verfasser aber heilfroh, dass Sie sich für dieses Fachbuch entschieden haben.«

An dem genannten Beispiel wird deutlich, dass der Begriff »heil« in dem Wort »Heilpädagogik« einen ganzheitlichen Ansatz in der Arbeit mit Menschen verfolgt (Speck, 2003).

Heilpädagogik ist demnach eine ganzheitliche Pädagogik am/für/mit Menschen!

Der heilpädagogische (ganzheitliche) Ansatz und Anspruch verortet sich auf zwei Ebenen:

•  der individuellen Ebene in der heilpädagogischen Arbeit und

•  der systemischen Ebene in der heilpädagogischen Arbeit.

1.1.1     Zur individuellen Ebene/Betrachtungsweise des Menschen in der Heilpädagogik

Die individuelle Ebene in der heilpädagogischen Arbeit impliziert auch die Annahme der Untrennbarkeit des Körpers, der Seele und des Geistes eines Individuums. Dass der Mensch mehr als die Summe seiner Teile ist, zeigt sich in der heilpädagogischen Arbeit täglich.

Beispiel

Ein neunjähriger Junge erlebt mit seiner Mutter einen Autounfall, die Mutter verstirbt. Der Junge verarbeitet diese traumatischen Erlebnisse nicht bzw. sehr schwer. Er »entwickelt« einen selektiven Mutismus. In diesem Fall spricht der Junge nicht mehr verbal, sondern schreibt alles, was er möchte, auf ein Blatt Papier und zeigt dieses Blatt nur bestimmten, von ihm ausgewählten (subjektiv vertrauenswürdigen) Personen. Es wäre nicht zielführend, mit dem Jungen eine sprachheilpädagogische Behandlung durchzuführen, da man bestenfalls nur die körperlichen (physischen) Symptome behandeln könnte. Die Ursache ist – wie dargestellt – jedoch seelischer (psychischer) Natur, die seine soziale (somit auch geistige) Umwelt, im Sinne von »Kommunikation ist Interaktion« beeinträchtigt.

Beim Selektiven Mutismus (ICD-10: F94.0) zeigen die Kinder nur bestimmten Personen gegenüber eine Sprechverweigerung und wirken ängstlich und gehemmt, unterschwellig oft trotzig und verbohrt (Möller/Laux/Deister, 2005, 454).

Dieser Gedanke, dass der Mensch sich nicht in seine »Einzelteile« aufteilen lässt, unterscheidet die Heilpädagogik bisweilen von medizinisch-therapeutischen Berufen. Diesem »Bio-Psycho-Soziomodell« und der damit einhergehenden Untrennbarkeit findet sich auch in der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur »Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit« (WHO-ICF) wieder. Der ganzheitliche Ansatz der WHO-ICF einer untrennbaren »Bio-Psycho-Sozio-Einheit« eines Menschen war auch federführend (Deinert/Welti, 2014, 147) für den im Jahr 2001 eingeführten § 2, Abs. 1 im SGB IX. Dort heißt es:

»Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist.«

1.1.2     Zur systemischen Ebene der Heilpädagogik

Ein wesentlicher Wegbereiter des systemischen Denkens ist der Schweizer Uri Bronfenbrenner. In seinem Buch Die Ökologie der menschlichen Entwicklung (1981) unterscheidet er vier bzw. fünf Systeme, in denen der Mensch – mehr oder weniger – aktiv teilhat. Das systemische Denken in der Tradition Bronfenbrenners hat sich in den vergangenen dreißig Jahren stetig weiterentwickelt und ist heute für die Heilpädagogik nicht mehr wegzudenken.

Bronfenbrenner benennt vier Systeme, welche synonym auch »Kosmen« genannt werden können: das Mikrosystem, das Mesosystem, Exosystem und das Makrosystem. Ergänzend hinzu kommt das Chronosystem.

Das Mikrosystem ist ein Lebensbereich (z. B. Familie, Wohngruppe, Schulklasse, Arbeitsstelle etc.), in dem der Mensch durch direkte Interaktion teilnimmt und im Rahmen seiner Möglichkeiten interagiert.

Die nächsthöhere Ordnung nimmt das Mesosystem ein. Es ist gekennzeichnet durch die Wechselwirkungen der einzelnen Mikrosysteme, z. B. Kindertagesstätte → elterliches Zuhause, Werkstatt für Menschen mit Behinderung (WfbM) → Wohngruppe für Menschen mit Behinderung etc.

Als Exosystem kennzeichnet Bronfenbrenner ein System, das keinen direkten Einfluss mehr auf die unmittelbare Lebenswelt des individuellen Mikrosystems hat. Als Beispiele seien hier genannt: Freundschaften oder Großeltern, die den Eltern in der Erziehung ihrer Kinder zureden, Beschlüsse von Teamsitzungen, die in Wohngruppen eines Kinderheimes umgesetzt werden, etc.

Gesellschaftliche Weltanschauungen und Ideologien, die durch Politik und ggf. Kirche repräsentiert werden, finden sich im sogenannten Makrosystem. Beispielhaft sei hier die Integration von Menschen mit Behinderung genannt.

Das Chronosystem schließlich repräsentiert die geschichtlichen und paradigmatischen Wandlungen der einzelnen zuvor genannten Systeme, z. B., dass Frauen heutzutage als Arbeitnehmerinnen zum familiären Einkommen beitragen. Im Jahr 1920 war das nahezu undenkbar.

Paul Moor schrieb bereits 1965 in seinem Buch »Heilpädagogik – ein pädagogisches Lehrbuch« wesentliche Grundannahmen des ganzheitlichen (heilpädagogischen) und systemischen Denkens und Handelns der Heilpädagogik in drei Grundsätzen wider:

1.  Erst verstehen, dann erziehen.

2.  Nicht gegen die Fehler, sondern für das Fehlende.

3.  Nicht das Kind ist zu erziehen, sondern sein Umfeld.

Die gedankliche Übereinstimmung der Aussage Moors »Nicht das Kind ist zu erziehen, sondern sein Umfeld« zum systemischen Denken Bronfenbrenners ist naheliegend. Besonders, wenn man die zuvor genannten horizontalen und linearen Einflussfaktoren des jeweiligen Mikrosystems auf die Entwicklungsfähigkeit des Menschen berücksichtigt.

Abb. 2: Systemische Sichtweise der Heilpädagogik (Köhn, 2003, 82 ff.)

Besonders deutlich ergibt sich aus der Aussage Paul Moors » Nicht das Kind ist zu erziehen, sondern sein Umfeld« der Auftrag, nicht nur mit dem Kind (respektive Klienten), sondern auch mit seinen Eltern (respektive Angehörigen) zu arbeiten. Diese Forderung ergibt sich unter anderem auch aus § 22a, Abs. 2, Punkt 1 des SGB VIII, in dem eine Zusammenarbeit der Fachkräfte in Kindertagesstätten mit den Erziehungsberechtigten gefordert wird.

§ 22a SGB VIII »Förderung in Tageseinrichtungen«

(2) Die Träger der öffentlichen Jugendhilfe sollen sicherstellen, dass die Fachkräfte in ihren Einrichtungen zusammenarbeiten

1.   mit den Erziehungsberechtigten und Tagespflegepersonen zum Wohl der Kinder und zur Sicherung der Kontinuität des Erziehungsprozesses, […]

Auch § 5, Abs. 2 der Verordnung zur Früherkennung und Frühförderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder (Frühförderungsverordnung – FrühV), fordert die Zusammenarbeit mit den Eltern/Erziehungsberechtigten. Heilpädagoginnen sollen die Erziehungsberechtigten nicht nur beraten, sondern auch begleitend (bei dem Bewältigungsprozess) zur Seite stehen.

§ 5 FrühV »Leistungen zur medizinischen Rehabilitation«

(2) Die Leistungen nach Absatz 1 umfassen auch die Beratung der Erziehungsberechtigten, insbesondere

1.   das Erstgespräch,

2.   anamnestische Gespräche mit Eltern und anderen Bezugspersonen,

3.   die Vermittlung der Diagnose,

4.   Erörterung und Beratung des Förder- und Behandlungsplans,

5.   Austausch über den Entwicklungs- und Förderprozess des Kindes einschließlich Verhaltens- und Beziehungsfragen,

6.   Anleitung und Hilfe bei der Gestaltung des Alltags,

7.   Anleitung zur Einbeziehung in Förderung und Behandlung,

8.   Hilfen zur Unterstützung der Bezugspersonen bei der Krankheits- und Behinderungsverarbeitung,

9.   Vermittlung von weiteren Hilfs- und Beratungsangeboten.

Den Menschen ganzheitlich in seiner Bio-Psycho-Sozio-Einheit zu betrachten, zu begegnen und ggf. auch entsprechend zu fördern ist eine Denkweise, die der Heilpädagogik eigen ist. Diese Denk- und Handlungsweise wird jedoch noch ergänzt: » Nicht gegen die Fehler, sondern für das Fehlendende« postuliert den ressourcenorientierten (Denk- und Handlungs-)Ansatz der Heilpädagogik.

Insbesondere in den Fällen ist der ressourcenorientierte Ansatz Paul Moors vonnöten, in dem die autonome Kybernetik der Mikrosysteme erschwerende Bedingungen schafft.

Beispiel

Ein vierjähriges Mädchen mit einer körperlichen Behinderung (Spina bifida in der Ausbreitung einer Meningomyelozele) in einer Intergrations-Kindertagesstätte fällt durch ihr herausforderndes Verhalten auf. Sie ist wenig in der Lage, sich an Regeln und Abläufe in der Einrichtung zu halten. Ihr oppositionelles Verhalten zeigt sich in der schwierigen Interaktion mit Kindern (nimmt einfach deren Spielzeug weg) und dem pädagogischen Personal (spuckt dieses an, wenn ihr etwas nicht gefällt). In einer Dienstberatung wird festgestellt, dass sich dieses Verhalten besonders am Montag/Dienstag zu manifestieren scheint. Gespräche mit der alleinerziehenden Mutter gestalten sich schwierig, immer wieder rekurriert die Mutter darauf, dass man doch Rücksicht auf ihr »behindertes Kind« nehmen müsse, weil dieses »doch schwer gebeutelt ist«. Eines Tages fällt Ihnen auf, dass das Mädchen einen sehr einfühlenden Kontakt zu einem kleineren Jungen (zwei Jahre) aufbaut, der neu in die Gruppe gekommen ist. Das Mädchen mit Behinderung zeigt ihm alles und nimmt ihn auch bei Konflikten mit anderen Kindern in Schutz. Das Mikrosystem »Familie« bietet (scheinbar besonders am Wochenende) wenig Kontinuität und Regeln, im Mikrosystem »Kita« können Ressourcen bei dem Kind entdeckt und entsprechend gefördert werden.

Neben dem Postulat des systemischen Denkens und des ressourcenorientierten Handels in der Heilpädagogik werden in Paul Moors Aussage »Erst verstehen, dann erziehen« die verstehenden und analytischen Anforderungen an die Heilpädagogin zum Tragen gebracht (Lotz, 2009, 83 ff.). Deutlich wird der verstehende/analytische Anspruch der Heilpädagogik auch in Beispiel auf Seite 16; die Heilpädagogin muss die Besonderheiten des Kindes (z. B. mit selektiven Mutismus) erst verstehen, um fachgerechte und sinnvolle Hilfsangebote zu erarbeiten.

 

1.2       Heilpädagogik als integrative Wissenschaft

 

Nach dieser kurzen Einführung in die Geschichte und wesentlichen Grundlagen der Heilpädagogik erscheint es angebracht, sich dem Themengebiet und der Relevanz der Jurisprudenz in der Heilpädagogik zu widmen.

Heilpädagogik ist, laut Deinhardt und Georgens, ein Zweig der allgemeinen Pädagogik, insofern kann davon ausgegangen werden, dass die Heilpädagogik als eklektische Wissenschaft sich auch der Erkenntnisse anderer Nachbargebiete, z. B. der allgemeinen Pädagogik bedient (so auch Greving/Ondracek, 2009b, 118 ff.).

Abb. 3: Das »gemeinsame Haus von Allgemeiner, Sozial- und Heilpädagogik und seiner Nachbargebiete« (Gröschke, 1997, 74)

Neben der »Theologie« als Ergänzung zu Greving und Ondracek hebt Gröschke (1997) auch die »Politologie« und die » Rechtswissenschaften« als Nachbargebiete der Heilpädagogik hervor. Insbesondere Urs Haeberlin (1996) gilt als einer der vehementen Verfechter dafür, dass sich die Heilpädagogik auch ihrer gesellschaftlichen und politischen Verantwortung deutlicher bewusst sein muss.

Einigkeit besteht allgemein darin, dass »Heilpädagogik Pädagogik ist und nichts anderes«, daraus folgt, dass sie im Grundsätzlichen dieselben Möglichkeiten besitzt wie »Normalpädagogik« (Moor, 1974, 273). Aus diesem Grund gibt es auch in der Grafik keine klare Trennung zwischen der Heilpädagogik und der Sozialpädagogik/Sozialarbeit. In letzteren als eigenständige Berufsgruppe ist man sich der sozialpolitischen Verantwortung bewusst.

Neben einem Mandat der Sozialpädagogen/Sozialarbeiter für das Individuum benennt Dieter Röh (2013, 68 ff.) das Mandat der politischen Verantwortung der Sozialarbeit gegenüber der Gesellschaft sowie das Mandat für die eigene Berufsgruppe (Selbstmandatierung der Profession Sozialer Arbeit). Zudem verweist er auf das sozialpolitische Mandat, welches sich in Zeiten ökonomisierender und marktwirtschaftlicher Verteilungskämpfe national und international zu verschärfen droht. Deutlich wird, dass sich auch die Sozialpädagogik/-arbeit als Nachbardisziplin der Heilpädagogik ihrer Verantwortung zur Assistenz und zur Anwaltschaft sehr wohl bewusst ist.

Abb. 4: Heilpädagogik als eklektische Wissenschaft

1.2.1     Weiterführende Gedanken zur systemischen Sichtweise der Heilpädagogik

Diese Notwendigkeit des politischen Mandats im Sinne einer Anwaltschaft ergibt sich zwingend, betrachtet man die geschichtlichen Aspekte (chronosystemischen Betrachtungsweisen) der Heilpädagogik (Dederich, 2013) und Pädagogik für Menschen, die unsere Hilfen bedürfen.

Die Begründer der Heilpädagogik Deinhardt und Georgens kamen gleichwohl zu der Überzeugung, dass die Heilpädagogik – eo ipso – ein politisches Mandat (im Makrosystem) innehat, gesellschaftliche Entwicklungen und Strukturen kritisch zu betrachten und zu begleiten. Dieses Mandat der (politischen und gesellschaftlichen) Anwaltschaft, welches die Autoren der Heilpädagogik mit »auf die Fahnen geschrieben haben«, zeigt sich in folgenden Zitaten:

»Die Sorge für diese Anstalten kommt dem Staate eben so zu, wie die Sorge für das allgemeine und öffentliche Schulwesen […].«

»Man darf gewiss nicht bedenken zu sagen, dass derjenige der sich für die Reform des Gefängniswesens und der öffentlichen Krankenanstalten interessiert, sich vernünftiger Weise ebenso oder noch entschiedener für die Reform und Herstellung der heilpädagogischen Anstalten interessieren müsste […].«(Georgens/Deinhardt, 1979, 157, 361)

Unter »Anstalten« versteht man im heutigen Sprachgebrauch »Einrichtungen«.

 

1.3       Exkurs: Heilpädagogik als Metakompetenz bezogen auf das Themengebiet »Recht«

 

Über die Notwendigkeit der Heilpädagogik, sich aus verschiedenen Perspektiven mit dem Themengebiet »Recht« auseinander zu setzen, wurde berichtet.

Martin Stahlmann (2005, 62 ff.) weist auf die sogenannten Metakompetenzen der Heilpädagogik hin. Das Präfix »Meta-« impliziert, dass es sich dabei um übergeordnete Kompetenzen handelt, die die Heilpädagogin und auch die in Ausbildung befindliche Heilpädagogin für ihre berufliche Tätigkeit noch erlernen sollte. In seinen Ausführungen unterteilt Stahlmann sowie nachfolgend Greving und Ondracek (2009b, 108 ff.) vier grundlegende Metakompetenzen für die Heilpädagogik:

•  hermeneutische Metakompetenz

•  heuristische Metakompetenz

•  mediative Metakompetenz

•  berufsbiografische Metakompetenz.

Das Wort »heureka« entspringt dem altgriechischen Satz »Hurra, ich habe es entdeckt«. In der heuristischen Metakompetenz geht es um die Tatsache, dass Heilpädagoginnen in ihrem beruflichen Alltag und Werdegang eine Vielzahl von Veränderungen erlebt haben, aktuell erleben und auch weiterhin erleben werden.

Diesen Veränderungen, z. B. bei neuen Methoden der Heilpädagogik oder sich stetig veränderten, neuen rechtlichen Bedingungen für die heilpädagogische Arbeit, gegenüber grundsätzlich offen und bestenfalls neugierig zu sein, impliziert die heuristische Metakompetenz der Heilpädagogik. Exemplarisch sei an dieser Stelle das derzeit vieldiskutierte »Bundesteilhabegesetz für Menschen mit Behinderung« und die weitere Umsetzung der »UN-Behindertenrechtskonvention« genannt, die die Heilpädagogik an ihr Mandat der Anwaltschaft im heuristischen Kontext verweisen.

Eine weitere Metakompetenz, die Stahlmann aufzeigt, ist die mediative Metakompetenz. Der Begriff »Mediation« bedeutet »vermitteln« und impliziert die vermittelnde Fähigkeit, auch als Metakompetenz der Heilpädagogin. Die mediative Metakompetenz ist sowohl im Umgang mit Klienten, Kolleginnen, Vorgesetzten, aber auch mit Leistungsträgern zu sehen. In vielen Berufs- und Handlungsfeldern der Heilpädagogik hat in den letzten Jahren ein Prozess des Umdenkens stattgefunden, der die mediativen Metakompetenzen der Heilpädagogin fordert. So konstatierte schon Otto Speck einen paradigmatischen Wandel von der Heilpädagogin als alleinige Expertin in der Frühförderung von Kindern mit Behinderung, oder die von Behinderung bedroht sind, hin zu einem Modell der Erziehungspartnerschaft (Speck/Warnke, 1983, 13 ff). Gerade der Ansatz, Eltern als Partner und somit gleichwohl als Experten in eigener Sache zu betrachten, erfordert einerseits eine Abkehr vom traditionellen Expertendasein hin zu einer mediativen Rolle den Eltern und dem Kind gegenüber für die Heilpädagogin selbst.

Ein weiteres Beispiel für die mediative Metakompetenz ist der Umdenkungsprozess der Behindertenhilfe in den letzten Jahren. Hatte die Heilpädagogin in der Vergangenheit noch oft die alleinige Expertenrolle inne, wandelt sich dieser Gedanke im Zuge des Empowerment-Prozesses (Herriger, 1996, 290 ff.) dergestalt, dass der Mensch mit Behinderung Experte in eigener Sache wird und die Heilpädagogin eher assistierend zur Seite steht. Der Gedanke dieses Paradigmenwechsels im beruflichen Selbstverständnis der Heilpädagogin hin zur mediativen Metakompetenz findet sich teilweise auch in Paul Moors Aussage »Nicht gegen die Fehler, sondern für das Fehlende« wieder.

Diesen Veränderungsprozess im beruflichen Selbstverständnis von der Expertenrolle hin zur Heilpädagogin als Entwicklungsbegleiterin nennt Stahlmann u. a. »berufsbiographische Metakompetenz«. Diese Veränderungen in der Berufsbiografie der Heilpädagogin, welche einerseits individuell (z. B. Wechsel des Berufs- und Handlungsfeldes) sein kann, aber auch sozialpolitisch-gesellschaftlich gefordert wird (z. B. durch die Abschaffung von Sondereinrichtungen für Kinder mit Behinderung), erfordern durch ein ständiges sich darauf Einlassen berufsbiografische Metakompetenzen der Heilpädagogin.

Metakompetenzen sind die Fähigkeiten der Heilpädagogin, sich veränderten gesellschaftlichen, politischen (makrosystemischen und chronosystemischen) Entwicklungen und sozialrechtlichen Bedingungen anpassen zu können. Vor 25 Jahren zum Beispiel wäre es undenkbar gewesen, dass Menschen mit Behinderung sich einen Teil ihrer Leistungen als »persönliches Budget« nach § 17 SGB IX vom jeweiligen Leistungsträger auszahlen lassen und dann damit Heilpädagogen als persönliche Assistenzen einstellen.

Es ist jedoch anzumerken, dass es auch gesellschaftliche Veränderungen gibt, die von der Heilpädagogik kritisch wachsam (metakompetent) beobachtet werden müssen. Insbesondere die Entwicklungen der Humangenetik und die damit einhergehenden Gefahren der Selektion »lebensunwerten« Lebens fordern die Heilpädagogik in dem Mandat der Anwaltschaft:

»Heilpädagogik ist in ihrem ethischen Grundsatz zum wertorientierten Handeln herausgefordert, will sie sich nicht an der schon voraussehbaren Barbarei der Zukunft – gentechnologisch ermöglichte Züchtung Erwünschter und Eliminierung Unerwünschter – mitschuldig machen.« (Haeberlin, 2000, 40 ff.)

Es wäre demnach nicht verkehrt, der Heilpädagogik eine »anthropologische Metakompetenz« zuzusprechen, um das heilpädagogisch-anwaltschaftliche Mandat zu fundamentieren.

Um die Bedeutung und den Stellenwert der heilpädagogische Metakompetenzen, als Kompetenzerwerb welcher noch im beruflichen Alltag erworben werden muss, darzustellen, bedienen wir uns der Geschichte des Straßenkehrers Beppo in Michael Endes Momo:

»Siehst Du, Momo«, sagte Beppo, »es ist so: Manchmal hat man eine sehr lange Straße vor sich. Man denkt, die ist so schrecklich lang; das kann man niemals schaffen, denkt man.« Er blickte eine Weile schweigend vor sich hin, dann fuhr er fort: »Und dann fängt man an, sich zu eilen. Und man eilt sich immer mehr. Jedes Mal, wenn man aufblickt, sieht man, dass es gar nicht weniger wird, was noch vor einem liegt.

Und man strengt sich noch mehr an, man kriegt es mit der Angst, und zum Schluss ist man ganz außer Puste und kann nicht mehr. Und die Straße liegt immer noch vor einem. So darf man es nicht machen.«

Er dachte einige Zeit nach.

Dann sprach er weiter: »Man darf nie an die ganze Straße auf einmal denken, verstehst du?

Man muss immer nur an den nächsten Schritt denken, an den nächsten Atemzug, an den nächsten Besenstrich.

Und immer wieder nur an den nächsten.«

Wieder hielt er inne und überlegte, ehe er hinzufügte:

»Dann macht es Freude; das ist wichtig, dann macht man seine Sache gut. Und so soll es sein.«

Und abermals nach einer langen Pause fuhr er fort: »Auf einmal merkt man, dass man Schritt für Schritt die ganze Straße gemacht hat. Man hat gar nicht gemerkt wie, und man ist nicht außer Puste.«

Er nickte vor sich hin und sagte abschließend: »Das ist wichtig.« (Ende, 2015, 39 ff.)

2          Allgemeine rechtliche Bedingungen

 

 

 

In den vorangegangenen Kapiteln wurde dargelegt, warum sozialrechtliche, politische und gesellschaftliche Aspekte und Bedingungsfaktoren in der Heilpädagogik zwingend Berücksichtigung finden müssen.

 

2.1       Vier einführende Thesen zum Recht für Heilpädagoginnen

 

Um Heilpädagoginnen für das Themengebiet »Recht« zu sensibilisieren, erscheint es zweckmäßig, vier einführende und ausgewählte Thesen zu benennen und zu erörtern, um das »Rechtsbewusstsein« anzustoßen und zu schärfen.

These 1: Es gibt keinen rechtsfreien Raum!

UN-BRK, UN-KRK, EUV-Lissabon, GG, AGG, BGG, LpartG, SGB I, SGB II, SGB III, SGB X, BDSG, KunstUrhG, VwVfG, VwGO, ZPO, SGB IX, SGB VIII, SGB XI, IfSG, SGB V, FrühV, JGG, JugSchG, SGB XII, BKGG, EingliederungsVO, WerkstattVO, HeimG, HeimPersVO, MeinMindVO, HeimratsVO, WBVG, BudgetV, BGB, OEG, GewSchG, MediationsG, StGB, StPO, BtMG, FamFG, BKiSchG, TVöD, AVR-Diakonie, AVR-Caritas, TVG, ArbZG, BetrVG, KSchG, HGB, TzBfG, AentG, MuSchG, JuArbSchG, EStG, BAföG, BFDG etc.

Diese Auflistung relevanter Gesetzbücher in der heilpädagogischen Arbeit muss naturgemäß dahingehend differenziert werden, in welchem Berufs- und Handlungsfeld die Heilpädagogin beschäftigt ist. Wenn zum Beispiel eine Heilpädagogin in einer Werkstatt für behinderte Menschen tätig ist, braucht sie keine detaillierten Kenntnisse über das »Gesetz zur Regelung von Verträgen über Wohnraum mit Pflege- oder Betreuungsleistungen« (WBVG).

Zudem ist anzumerken, dass die rechtlichen Regelungen auf Landesebene, z. B. das »Gesetz für psychisch Kranke« (PsychKG) oder auch die landestypischen Regelungen zur Integration/Inklusion von Kindern mit Behinderung in Kindertageseinrichtungen (§ 26 SGB VIII), berücksichtigt werden müssen. Diese wurden in der Auflistung relevanter Gesetze für die heilpädagogische Arbeit nicht aufgeführt. Auch sind im Arbeitsrecht unterschiedliche Tarifverträge auf die einzelnen Bundesländer, Gebiete und Träger vorhanden. Diese einzeln aufzuzählen würde den Rahmen sprengen.

Dennoch erstaunt die Menge an Gesetzeswerken für Heilpädagoginnen, wenngleich die Auflistung nicht den Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. »Heuristische Metakompetenzen« der Heilpädagogik sind hier ein wichtiges Stichwort. Die Heilpädagogin muss sich bewusst werden, dass sie nicht im rechtsfreien Raum agiert, sondern dass eine Vielzahl von gesetzlichen Regelungen ihren Arbeitsplatz tangiert.

Es ist immer wieder erstaunlich, dass zum Beispiel Jugendfreizeiteinrichtungen, auch Fachschulen für Heilpädagogik und Kinderheime nicht wissen, dass sie Gemeinschaftseinrichtungen im Sinne des § 33 Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (IfSG) sind und dementsprechend alle Mitarbeiter/innen regelmäßig belehren müssen (siehe § 35 IfSG).

These 2: Recht reflektiert in Paragraphen und Gesetzestexte »gegossene« geschichtliche Normen und Werte!

Paragraphen und Gesetze unterliegen einem geschichtlichen und somit politisch-gesellschaftlichen Wandel.

Im Jahr 1900 hatte die Mutter erst die »elterliche Gewalt« über ihre minderjährigen Kinder, wenn der Vater »verstorben oder für Tod erklärt wurde« (siehe § 1684 Bürgerliches Gesetzbuch – BGB).

Betrachtet man das BGB aus dem Jahre 1974, dann hat nur die Mutter die »elterliche Gewalt« bei nichtehelichen Kindern (§ 1705 BGB).

Geht man in der Geschichte wieder ein Schritt weiter ins Jahr 2015, dann hat die Mutter die »elterliche Sorge« über die minderjährigen Kinder, wenn die Eltern nicht miteinander verheiratet sind und auch keine sogenannte Sorgeerklärung abgegeben haben (§ 1626a BGB).

Signifikant ist der gesellschaftliche Paradigmenwechsel von Familie bei diesen drei Beispielen. Während man im Jahr 1900 noch sehr patriarchalisch vom Vater als absolutem Familienoberhaupt ausging, wandelte sich das Bild von Familie. Der Mutter minderjähriger, nichtehelicher Kinder wurde deutlich mehr, bzw. das alleinige Recht an den Kindern zugesprochen.

Bedingt durch einen gesellschaftlichen Wandel in vielen bundesdeutschen Familien, die die gemeinsame Verantwortung für ihre Kinder nicht erst durch eine Hochzeit legitimieren wollten, fügte der Gesetzgeber die Möglichkeit der »gemeinsamen Sorgeerklärung nicht miteinander verheirateter Eltern minderjähriger Kinder« (§§ 1626a–e BGB) hinzu, um den veränderten Familienstrukturen gerecht zu werden. Wenn Elternteile allerdings nicht einander heiraten wollen und auch keine Sorgeerklärung abgegeben wurde, hat die Mutter gemäß § 1626a, Abs. 2 BGB die alleinige elterliche Sorge über das Kind bzw. die Kinder. Dies rügte das Bundesverfassungsgericht im Jahre 2010 in einem Urteil und forderte den Gesetzgeber auf, hier mehr Gleichbehandlung beider Elternteile herbeizuführen.

Die zuvor genannten Beispiele für einen geschichtlichen Wandel der Paragraphen und Gesetze sind durchaus erfreulich und waren absolut erstrebenswert. Betrachtet man aber weitere Kapitel dieses historischen, gesellschaftlichen, politischen und rechtlichen Wandels der Jurisprudenz, dann stimmt die »Bilanz« eher nachdenklich. Beispielsweise das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« (Bleidick, 1999) aus dem Jahr 1934, das zur Folge hatte, dass Menschen mit mentalen/kognitiven Beeinträchtigungen und psychischen Erkrankungen sowie Alkoholiker zwangssterilisiert wurden. Auch die Tatsache, dass Menschen mit mentalen/kognitiven Beeinträchtigungen oder Menschen, die alkoholkrank waren, bis zum Jahre 1974 »entmündigt« werden konnten, sollte die Heilpädagogik in ihrem Mandat zur Anwaltschaft hellhörig werden lassen. Erschwerend kam hinzu, dass es keine Möglichkeit der Revision bei sogenannten »Entmündigungen« nach § 6 BGB gab.

Auch in den kommenden Jahren und Jahrzehnten werden Paragraphen und Gesetze geschichtlichen (chronosystemischen), gesellschaftlichen und politischen (makrosystemischen) Wandlungen unterliegen. In der Tradition Deinhardts und Georgens sollte die Heilpädagogik diese Veränderungen allerdings kritisch begleiten und sich ggf. in einem anwaltlichen Mandat zu Wort melden.

These 3: Recht unterscheidet sich in objektive und subjektive Merkmale!

Bleiben wir beim Familienrecht und betrachten zum besseren Verständnis dieser These den § 1619 BGB. Erstaunlicherweise erleben die Heilpädagoginnen in der Aus-, Fort- und Weiterbildung zum Themengebiet »Recht« beim Lesen dieses Paragraphen immer wieder ein »Aha-Erlebnis« und kommentieren allzu oft: »Solange du die Füße unter meinen Tisch stellst, hast du zu machen, was ich sage.«

§ 1619 BGB »Dienstleistungen in Haus und Geschäft«

Das Kind ist, solange es dem elterlichen Hausstand angehört und von den Eltern erzogen oder unterhalten wird, verpflichtet, in einer seinen Kräften und seiner Lebensstellung entsprechenden Weise den Eltern in ihrem Hauswesen und Geschäft Dienste zu leisten.

Deutlich wird das objektive Merkmal dieses Paragraphen, das Kind sei verpflichtet im Haushalt mitzuhelfen.

Schwieriger hingegen sind die subjektiven Merkmale des § 1619 BGB. Dort heißt es: »[…] in einer seinen Kräften und seiner Lebensstellung entsprechenden Weise […]«. Der Gesetzgeber sagt hier ganz klar, dass es im Einzelfall (gemessen an dem Subjekt) abgewogen werden müsse, was das Kind (mit seinen Kräften) im Haushalt zu leisten vermag und in welcher Lebensstellung (z. B. mitten im Abiturprüfungsstress) sich das Kind befindet. Diese »subjektiven Merkmale« sind besonders den Heilpädagoginnen bekannt. Gerade sie wissen, dass zwischen Lebens- und Entwicklungsalter eines Kindes oft eine Divergenz besteht. Auch diese sollte als »subjektives Merkmal« Berücksichtigung finden.

Besonders in der Beurteilung der Aufsichts- und Sorgfaltspflicht von Heilpädagoginnen sollten die objektiven und subjektiven Merkmale zum Tragen kommen. Objektiv kann eine Gruppe mit 14 Kindern im Alter von zwei bis sechs Jahren von einer Heilpädagogin beaufsichtigt werden; dieses ist der Heilpädagogin zuzumuten. Wenn allerdings von diesen 14 Kindern sechs Kinder ein nicht unerhebliches herausforderndes Verhalten haben, zum Beispiel »Impulskontrollverluststörungen« und die Heilpädagogin gerade erst den zweiten Tag in dieser Gruppe beschäftigt ist, sind diese subjektiven Merkmale bei der Beurteilung der Aufsichts- und Sorgfaltspflicht zwingend zu berücksichtigen.

Besonders deutlich ergibt sich aus dem Strafrecht, dass Unterscheidungen zwischen objektiven und subjektiven Merkmalen gemacht werden. Kommt ein Kind, welches die Heilpädagogin zu beaufsichtigen hat, zu Schaden, drohen ihr gemäß § 223 Strafgesetzbuch (StGB) eine Geldbuße oder bis zu fünf Jahren Haft. Das kleine Wort »bis« macht deutlich, dass das Gericht die objektiven und subjektiven Merkmale, wie es zu dieser Körperverletzung gekommen ist, prüfen und entsprechend werten muss.

These 4: Recht hat nichts mit »richtig« und »falsch« zu tun, sondern unterliegt einem subjektiven Rechtsverständnis!

Beispiel

Eine Mitarbeiterin in einer stationären Wohneinrichtung der Behindertenhilfe verkauft ihren Fernsehsessel für 50 € an eine Bewohnerin mit einer leichten mentalen/kognitiven Beeinträchtigung, die in eine eigene, ambulant betreute Wohnform ziehen möchte. Die Mitarbeiterin meint, sie habe »richtig« (subjektiv richtig) gehandelt, weil die Bewohnerin den Sessel schön fand, sich dadurch den Weg durch die überfüllten Möbelhäuser erspart und auch noch Geld gespart hat.

Nicht bedacht bei dieser, vielleicht gut gemeinten, Tat hat die Mitarbeiterin, ob die Bewohnerin nach § 104 BGB geschäftsfähig ist, wobei hier anzumerken ist, dass auch Menschen mit mentalen/kognitiven Beeinträchtigungen im Rahmen des § 105a BGB Geschäfte im geringen (Geld-)Umfang machen dürfen. Zudem ist fragwürdig, ob die Mitarbeiterin ein Abhängigkeitsverhältnis ausgenutzt hat. Auch stellt sich die Frage ob, der Fernsehsessel überhaupt 50 € wert ist. Ob ein Abhängigkeitsverhältnis von der Mitarbeiterin ausgenutzt wurde, ist ein subjektiver Tatbestand. Der tatsächliche Wert des Fernsehsessels wird schwer nachzuweisen sein. Auch, ob Geschäfte im Rahmen von 50 € noch unter den § 105a BGB, dem sogenannten »Taschengeldparagraphen«, fallen, ist schwer zu verifizieren.

Die Mitarbeiterin wurde jedoch von ihrem Arbeitgeber abgemahnt. Der Grund: Sie sei während ihrer hauptberuflichen Beschäftigung eine Nebentätigkeit nachgegangen, wofür nicht einmal das Einverständnis des Arbeitgebers vorgelegen habe. Nun mag man sich fragen, ob dieser gut gemeinte Verkauf eines Fernsehsessels eine derart drakonische arbeitsrechtliche Reaktion des Arbeitgebers rechtfertigt. Man sollte jedoch bedenken, dass das Verhalten der Mitarbeiterin, während ihrer