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Ein liebender Verräter, ein blutdurstiger Retter und zwischen ihnen eine Heldin mit gebrochenem Herzen
Ausgerechnet der Mensch, dem Skadi ihr Herz geöffnet hat, hatte das dunkelste Geheimnis von allen. Schwer verletzt sieht sie ihrem Tod entgegen, doch in letzter Sekunde taucht erneut Ikaris de Cruz auf und bringt sie zu den anderen Mitgliedern der Red Umbrella Society. Skadi könnte sich keinen schlimmeren Ort vorstellen. Oder einen unerträglicheren Pfleger als Ikaris de Cruz, doch sie hat keine Wahl. Nur sein Blut hält sie noch am Leben.
Während Skadi von Panikattacken und einem brennenden Verlangen zu Töten heimgesucht wird, bietet David ihr einen Deal an, aus der Abhängigkeit von Ikaris und den Red Umbrellas zu entkommen. Aber wie soll sie ihm je wieder vertrauen? Sind die White Umbrellas wirklich, was sie zu sein schein? Nur eines ist sicher. Jeder hat ein Geheimnis und es wurden noch längst nicht alle aufgedeckt.
Der Abschluss der atemberaubenden Urban-Fantasy-Dilogie voller prickelnder Gefühle und einer düsteren Geheimgesellschaft.
Alle Bände der »Red Umbrella Society«-Reihe:
Der Kuss des Schmetterlings (Band 1)
Der Biss der Schlange (Band 2)
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Seitenzahl: 377
CAROLINE BRINKMANN
DER BISS DER SCHLANGE
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Content Note:
Erwähnt: Suizid und sexueller Missbrauch
Erstmals als cbt Taschenbuch Dezember 2024
© 2024 cbj Kinder- und Jugendbuch Verlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Dieser Titel wurde vermittelt durch die Agentur Peter Molden
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Carolin Liepins
Umschlagmotive © Shutterstock.com (AJONE, Isared Honghin, Shutterstock.AI, Bokeh Blur Background, suns07butterfly, 21PKH)
FK · Herstellung: DiMo
Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss
ISBN 978-3-641-31548-1V001
www.cbj-verlag.de
For my hometown, New York,
A city as varied as its people.
We are all different,
yet united in our struggles and dreams.
Jetzt starb ich schon zweimal in meinem Leben. Das sollte wirklich nicht zur Gewohnheit werden.
Das erste Mal, als mich eine Motorradgang erledigt hatte, war schon ziemlich heftig gewesen, aber von dem Mann, dem ich mein Herz geöffnet hatte, erschossen zu werden, war nun wirklich nicht zu toppen.
Wie hatte ich das nicht kommen sehen?
Ich wusste, dass ich ein Händchen dafür hatte, mich in Lügner und Betrüger zu verlieben, in Männer, die es nicht ernst meinten, aber bei David hatte ich wirklich geglaubt, jemanden gefunden zu haben, der anders war. Obwohl ich ihn damit aufgezogen hatte, hatte ich ihn dafür bewundert, dass er sein Leben dem Ziel widmete, Ungerechtigkeiten zu bekämpfen.
Und doch hatte er selbst die größte von allen begangen, indem er ausgerechnet auf die Frau, die ihm ihr Herz schenken wollte, geschossen hatte.
Ich starrte auf die wachsende Blutlache. Einen deutlicheren Beweis für meinen Irrtum konnte es nicht geben, trotzdem weigerte sich ein Teil von mir, zu glauben, dass er so etwas wirklich tun konnte.
Gut. Am Anfang hatte er mich spüren lassen, wie wenig er von mir hielt. Ich war die Schakai von Ikaris de Cruz, er ein Detective, der die Red Umbrella Society aufhalten wollte. Ich konnte verstehen, dass er mir gegenüber so misstrauisch, ja feindselig war. Aber je mehr Zeit wir miteinander verbracht hatten, desto mehr schien sein Misstrauen mir gegenüber zu schwinden. Er hatte sich meine Seite der Geschichte angehört und mir geglaubt. Sein Blick war weicher geworden, seine Worte weniger spitz. Er hatte meine Wunden versorgt, Blut aus meinem Teppich geschrubbt und auf mich aufgepasst. Er hatte sich mir wie eine dieser Blumen geöffnet, die nur alle zehn Jahre blühen. Nie würde ich vergessen, wie wir uns zum ersten Mal geküsst haben. Seine Lippen waren weicher, als ich es erwartet hatte. Sanft, aber doch bestimmend. Vorsichtig, aber doch leidenschaftlich. Während seine Hände meinen Körper erkundeten, hinterließen sie eine heiße, prickelnde Gänsehaut.
Warum, David?
War all das überhaupt echt gewesen?
Er schien seine Meinung in dem Moment geändert zu haben, als ich mich mit Ikaris in der Gasse gestritten hatte und von dem Strigoi gerettet worden war. Ich dachte, David hätte in diesem Moment verstanden, dass ich nicht auf der Seite meines Meisters stand. Aber ihm musste in diesem Moment etwas anderes ebenfalls klar geworden sein: Ich hatte eine Verbindung zum Strigoi und konnte damit als Einzige den vermissten roten Schirm finden. Je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr begann ich unsere letzten Tage infrage zu stellen.
Wer war diese Penelope Vice, mit der David verschwunden war?
Jeder in New York kannte die einflussreichen Red Umbrellas mit ihren leuchtend roten Schirmen. Sie waren eine geheimnisvolle Gruppe, um die sich so viele Mythen und Legenden rankten, und jeder war von ihnen fasziniert. Aber von einer Frau mit weißem Schirm hatte ich noch nie gehört.
Wer also war diese Person, die engelsgleich in meine Wohnung geschwebt war? Auch wenn sie perfekt und lieblich ausgesehen hatte, lief mir bei der Erinnerung an ihre dunklen Augen ein Schauer über den Rücken. Es schien so, als hätten sie direkt in meine Seele geblickt und mich für schuldig befunden.
Und nun war es vorbei.
Tränen traten in meine Augen und rannen meine Wangen hinunter, um sich mit dem Blut, das den Boden meiner Wohnung tränkte, zu vermischen. Der Schmerz in meiner Brust schwoll so sehr an, dass ich das Gefühl hatte zu explodieren. Ich wollte schreien, aber meinen Lungen fehlte die Kraft. Stattdessen erschauderte mein Körper und brachte die Pfütze aus Blut zum Vibrieren. Ich schluchzte, mehr brachte ich nicht zustande. Bei jeder Bewegung spürte ich, wie das Blut schneller aus dem Einschussloch quoll.
Ich sollte versuchen, an mein Handy zu kommen, aber ich schaffte es nicht einmal, meinen Arm zu heben. Stöhnend sank ich zurück in die Pfütze, die bei jeder Bewegung plätscherte. Das Geräusch erinnerte mich an Regen.
Pitsch Patsch.
Ich liebte den Regen. Als Kinder hatten Remi und ich es geliebt, in Pfützen zu springen.
Pitsch, patsch.
Einmal hatte Mom uns danach verprügelt, weil wir klatschnass nach Hause gekommen waren.
Remi …
Wer würde sich dann um Remi und Mako kümmern? Und wer würde David in den Allerwertesten treten? Ich ballte die Hände zu Fäusten. Wütend knirschte ich mit den Zähnen, aber egal, wie sehr ich versuchte, an meiner Wut und Entschlossenheit festzuhalten, sie entglitt mir langsam. Floss wie das Blut einfach aus mir heraus. Und mit ihm meine Lebenskraft.
»K«, hauchte ich und die Smartwatch an meinem Arm erwachte zum Leben.
»Es sieht nicht gut aus«, bestätigte sie und dabei hörte sie sich beinahe wirklich betroffen an, aber vielleicht war das auch nur die Einbildung einer sterbenden Frau. »Hast du irgendwelche letzten Worte? Ein Testament, welches ich aufzeichnen soll? Ich wette, Remi würde sich über deine Kamikaze-Kaito-Jeanne-Sammlung freuen.«
Ich spürte, wie die Kälte in meinen Körper kroch und ihre gierigen Zähne in mich schlug. Mein Herz wurde mit jedem Schlag schwächer und zu atmen fiel mir immer schwerer, so als würde ich gegen einen Widerstand anatmen. Egal wie sehr ich versuchte, wach zu bleiben, die Müdigkeit brach unbarmherzig über mich herein. Meine Lider wurden schwerer und ich ahnte, dass ich sie nie wieder öffnen würde.
Außer …
Ich horchte in mich hinein, versuchte eine Verbindung zu ihm zu finden. Es war der dumme Gedanke einer Sterbenden, die nicht bereit war zu gehen.
»Hilfe«, flüsterte ich beinahe lautlos, denn meine Stimme versagte bereits. Beinahe sah ich seine kritisch hochgezogene Augenbraue vor meinem inneren Auge. »Hilfe, Meister.«
Ich wartete, aber nichts geschah.
Niemand wird kommen, Skadi!
»Bewege deinen knackigen Arsch hierher. Ich sterbe, verdammt noch mal.«
Nichts.
Gerade als ich die Hoffnung aufgeben wollte, spürte ich es. Die Kälte, die sich in meinem Nacken ausbreitete wie eine erblühende Frostblume. Normalerweise erstarrte ich bei dem Gefühl, aber dieses Mal zuckte ein Lächeln über meine Lippen, denn ich wusste es.
Er würde kommen.
Ikaris de Cruz. Der Meister, den ich hasste. Aber der Einzige, der mir geben konnte, was ich wollte.
Gerechtigkeit.
War ich tot?
Nein.
Außer, der Tod roch nach Kaffee und Zimtschnecken. In dem Fall hatte ich bereits das Zeitliche gesegnet und den Tod vollkommen zu Unrecht gefürchtet.
Ein weiterer Geruch kitzelte mich in der Nase. Ein würziges Aftershave, welches dafür sorgte, dass sich die Härchen auf meinem Arm aufstellten. Der Geruch war nur ganz leicht, überhaupt nicht aufdringlich oder penetrant, sondern perfekt, um das gepflegte Äußere zu unterstreichen und den süßlichen Geruch des Todes darunter zu überdecken. Ich würde diesen Duft unter tausenden erkennen.
Beinahe konnte ich das arrogante Lächeln durch die geschlossenen Augenlider sehen.
»Bist du wach, mein Schmetterling?«, fragte Ikaris de Cruz. Die Stimme klang überheblich und gelangweilt, eine Mischung, die mich in den Wahnsinn trieb.
Also kam meine Antwort prompt. »Nein! Ich tue nur so.«
Er lachte leise. »Ich sehe schon, du bist kratzbürstig wie eh und je.«
Er saß auf einem Sessel, die Beine übereinandergeschlagen, und genoss den Kaffee, den ich gerochen hatte. Der rote Schirm, den jeder Umbrella stets bei sich trug, stand in unmittelbarer Nähe. Allein der Anblick des tiefen, immer ein wenig feucht aussehenden Rot jagte mir eine Gänsehaut über den Körper. Beinahe meinte ich die Kälte zu spüren, die von dem dämonischen Gegenstand ausging und sich wie eisige Nadeln unter meine Haut schob.
Schnell riss ich den Blick davon los.
Wir waren in einem luxuriösen Hotelzimmer, von dessen Fenster man auf New York hinabsah. Bis zum Horizont nur graue Häuser und Türme, die im grauen Dunst tief hängender Regenwolken lagen. Hier schien alles beim Alten zu sein, während sich mein Leben in einem Wimpernschlag komplett verändert hatte.
»Woher wusstest du, dass ich in Schwierigkeiten war?«, fragte ich Ikaris.
»Du hast mir geschrieben.« Ikaris zückte sein Handy, um die Nachricht vorzulesen.
»Bewege deinen knackigen Arsch hierher. Ich sterbe, verdammt noch mal.«
»K! Warst du das?«, rief ich empört, aber erhielt keine Antwort. Da, wo normalerweise meine Smartwatch saß, war mein Handgelenk nackt. »Wo sind mein Handy und meine Uhr?«
»Ich musste sie entsorgen, um sicherzugehen, dass uns dein Detective nicht orten kann.«
Ich musste schlucken. »Du hast sie zerstört?«
»Im Hudson River versenkt.«
Oh nein. Der Verlust hinterließ eine ziehende Leere in meinem Herzen. K mochte keine echte Person sein, aber in den letzten Wochen war sie zu einer Vertrauten, ja vielleicht sogar einer Freundin geworden. Ohne sie fühlte ich mich seltsam allein.
»Willst du mir erzählen, was passiert ist?«, fragte Ikaris.
»Auf mich wurde geschossen.«
»So viel wusste ich bereits. Mich interessiert vor allem das Wer und Warum.«
»David …« Die Antwort blieb mit beinahe im Hals stecken.
»Ich hab es geahnt. Die heißesten Detectives sind immer die schlimmsten.«
Ich widersprach nicht, obwohl ich mir ziemlich sicher war, dass das nicht stimmte. »Er ist ein Schakai … Mias Schakai.«
»Ach tatsächlich?«
Ich konnte nicht sicher sein, ob Ikaris das wirklich überraschte. Trotzdem fuhr ich fort: »Es war noch jemand da.«
Jetzt setzte sich Ikaris aufrechter hin. »Wer?«
»Eine Frau mit weißem Schirm.«
»Ein weißer Schirm.« Etwas veränderte sich in seiner Miene. Für einen Moment meinte ich beinahe so etwas wie Sorge über sein Gesicht huschen zu sehen. »Bist du dir sicher? Vielleicht war es bloß ein normaler Regenschirm.«
»Nein. Er hat sich anders angefühlt … mächtiger. Es war beinahe wie bei den roten Schirmen, und doch ganz anders.«
Ikaris stellte seinen Kaffee zur Seite, ohne mich aus den Augen zu lassen. »Inwiefern?«
»Er war so rein, so perfekt. In seiner Gegenwart habe ich mich schmutzig gefühlt. Schuldig. Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll.«
Jetzt konnte Ikaris seine Sorge nicht mehr verstecken. Er erhob sich von seinem Sessel und begann im Raum auf und ab zu gehen. »Die White Umbrellas.«
»Was? Es gibt noch mehr von euch?«
»Oh, sie sind anders als wir und obendrein nicht besonders gut auf uns zu sprechen.«
»Warum?«
»Die weißen und die roten Schirme sind so etwas wie Katz und Maus, Engel und Teufel, Tag und Nacht. Im Prinzip ist es wie immer, wenn sich zwei Gruppen bekriegen. Beide glauben, sie seien die Guten …« Ikaris blieb vor dem Fenster stehen und starrte auf die Stadt hinunter, als wüsste die eine Lösung für seine Probleme.
»Und David arbeitet für die Gegenseite?«
»So sieht es aus. Die White Umbrellas würden alles tun, um einen roten Schirm in ihren Besitz zu bringen.«
»Warum?«
»Um unsere Anzahl zu dezimieren, nehme ich an. Je mehr Träger wir haben, desto stärker sind wir. Und das gefällt ihnen gar nicht. Ihnen wäre es lieber, wenn es uns gar nicht erst geben würde.«
Oh David. Wie viele Geheimnisse hast du noch? Anscheindend wusste ich wirklich nichts über dich.
Ich griff mir an die Brust, wo mich seine Kugel getroffen hatte. Dabei bemerkte ich, dass mich jemand umgezogen hatte. Ich trug einen Seidenschlafanzug mit Figuren drauf, die mir erschreckend bekannt vorkamen. Natürlich! Ich schnappte nach Luft, als ich die platinblonden Haare und das süffisante Grinsen meines Gegenübers darauf erkannte.
»Was bei den sieben Höllen ist das?«
»Diesen Pyjama habe ich vom Designer meines Vertrauens exklusiv für dich anfertigen lassen«, berichtete er zufrieden. »Ist er nicht fantastisch? Extravagant und speziell. Er soll dich an mich erinnern.«
»Hast du mich etwa umgezogen?«
»Natürlich. Deine Kleidung war voll vertrocknetem Blut. Damit hättest du hier alles ruiniert. Aber keine Sorge, du bist nicht die erste bewusstlose Frau, die ich umgezogen habe.«
»Was?« Entsetzt starrte ich ihn an, während ich innerlich beschloss, ihm bei nächster Gelegenheit einen Pflock durchs Herz zu rammen.
Ikaris runzelte die Stirn. »Rückwirkend betrachtet, klingt die Aussage anders, als gedacht.«
»Ach wirklich? Wie war es denn gedacht?«
»In meinem vorherigen Leben war ich Arzt.«
»Oh wirklich?« Ich hob skeptisch meine Augenbraue hoch. »Vom Mediziner zum Meuchelmörder? Was ist passiert?«
»Ich wurde umgebracht, aber anstatt zu sterben, habe ich wie du ein Angebot bekommen. Ich wurde ein Schakai, arbeitete mich hoch und verdiente mir die Unsterblichkeit.«
»Du bist nicht unsterblich«, korrigierte ich ihn. »Sieh dir Mia Servage an. Ihr seid nicht unantastbar.«
»Mia hat einen Fehler begangen. Die Schirme beschützen uns, geben uns Fähigkeiten, von denen andere nur träumen können, aber das ist nicht umsonst. Sie werden von dem unersättlichen Verlangen getrieben, die Welt vom schuldigen Blut zu befreien. Es gibt kein Zurück, wenn du dieser Aufgabe deine Seele widmest.«
Er verschränkte seine Finger ineinander und sah mich streng an, wie ein Lehrer, der seine Schülerin mal wieder maßregeln musste. »Auch du bist an den Schirm gebunden. Er hat dich vor dem Tod gerettet, kleiner Schmetterling, und das nun schon zum zweiten Mal. Es hat ihn viel Kraft gekostet, dich zu retten und diesen Bund zu erneuern. Du schuldest ihm Blut.«
»Aber … Was ist mit meinem Schirm?«
»Du meinst Mias Schirm? Ich habe eure Verbindung getrennt, um dir deine Schmetterlinge zurückzugeben.«
Ich krempelte die Ärmel meines Schlafanzuges hoch und stellte etwas enttäuscht fest, dass die Tattoos, die mich an Ikaris und seinen Schirm banden, wieder da waren. Sie sahen aus wie eh und je, und ich spürte ihren Hunger, der sich tief in meine Seele fraß.
»Ich bin also immer noch deine Schakai.«
»Ist ein heiß begehrter Platz, so nah an meiner Seite arbeiten zu dürfen. Frag meine Fans. Sie würden dafür töten.«
Ich starrte noch immer auf meine Tattoos. Ich hatte nie Teil der Society sein wollen und besonders keine Schirmträgerin. Trotzdem zog sich mein Herz bei dem Gedanken an den Verlust des Schirms zusammen, beinahe so, als würde mein Körper ihn schmerzlich vermissen oder die glorreiche Zukunft, die er mir geboten hätte.
»Es tut weh, oder?«, fragte Ikaris, als hätte er meine Gedanken gelesen. »Er hatte bereits eine geistige Verbindung zu dir aufgebaut. Es ist schwer, so eine Macht einfach aufzugeben.«
»Eigentlich bin ich froh, dass der Schirm nicht länger meine Gedanken liest. Aber was wollen die White Umbrellas damit? Werden sie ihn vernichten?«
»Ich weiß es nicht. Detective Bell ist nach dem, was du sagst, noch an den Schirm gebunden. Solange er seine Inkara hat, stirbt er, wenn der Schirm zerstört wird.«
»Inkara?«
»So heißen die roten Tattoos, die dir der Schirm vermacht hat. Sie sind Schulddetektor, Waffe, Bluttransporter in einem. Jedes Inkara hat eine Form und ist dennoch beliebig verformbar. Faltbar wie ein Blatt Papier. Schnell wie ein Schatten. Ein zusätzliches Organ, welches jeglichen Regeln der Physik trotzt. Es ist ein Geschenk des Schirms, aber keines, das ein Schakai einfach zurückgeben kann.«
»Dann wird David den Schirm weiter mit Blut versorgen?«
»Das wäre seine Aufgabe, aber wie du weißt, lässt sich der Hunger bis zu einem gewissen Grad unterdrücken. Zum Beispiel mit Silbergaze. Wenn er jedoch verletzt wird, steigt ihr Hunger immens an. Und irgendwann werden sie sein Blut anzapfen.« Genau das war mir passiert. Ich hatte meine Schmetterlinge ausgetrocknet, bis ich mit einer schweren Blutarmut ins Krankenhaus eingeliefert worden war.
»Vielleicht versucht David auch selbst, der neue Träger zu werden«, überlegte ich.
»Als Schakai erfüllt er dafür vermutlich die Voraussetzungen. Aber ich denke nicht, dass er das tun wird. Die White Umbrellas fürchten sich vor der verzehrenden Wut des Schirmes.«
»Warum sollten sie wütend sein? Es sind Schirme! Empfinden sie überhaupt etwas?«
»Ja, das liegt daran, wie sie geschaffen wurden. In ihnen schlägt das unsagbare Leid derer, die keine Gerechtigkeit erfahren haben. Darum trachten sie auch nach dem Blut der Schuldigen.«
»Das klingt ziemlich abgedreht.«
»Sie verschaffen denen Gerechtigkeit, die keine bekommen.«
Ich verschränkte die Arme. »Selbstjustiz ist verboten. Dafür gibt es die Behörden.«
»Denkst du das wirklich?« Seine Augen flackerten düster. Er entließ mich nicht eine Sekunde aus seinem Blick. »Du solltest doch am allerbesten wissen, wie ungerecht das System ist. Es hat deine bemitleidenswerten Jungs ins Gefängnis gebracht.«
»Sie werden bald rauskommen.«
»Das stimmt, aber …«
»Aber?«
»Eher Richtung Leichenschauhaus.«
Ich sprang vom Sofa auf. Obwohl mein Kreislauf Karussell fuhr, behielt ich Ikaris fest im Auge. »Was?«
»Oh. Erwähnte ich das nicht?« Unschuldig angelte Ikaris sich die Zimtschnecke vom Teller und biss hinein.
»Fuck! Nein! Was ist mit ihnen?«
Er ließ sich Zeit und biss ein weiteres Mal von der Zimtschnecke ab.
»Wenn du nicht willst, dass ich dich mit dem Ding ersticke, redest du endlich«, knurrte ich.
»Nun ja«, nuschelte er. »Es sieht so aus, als hätten es ein paar üble Typen auf deine Jungs abgesehen.«
»Wer?«
»Ein paar loyale Anhänger von Devin Doyle.«
In mir zog sich alles zusammen. Offiziell war Doyle Geschäftsmann, Besitzer eines Clubs und eines Wellnesstempels, Kunsthändler und großzügiges Mitglied einiger Wohltätigkeitsorganisationen. Inoffiziell war er einer der gefährlichsten Unterweltbosse in New York. Drogen. Geldwäsche. Einbrüche. Körperverletzung. All das ging auf seine Kappe, bis ich ihn getötet hatte.
»Was wollen sie von Remi und Mako?«
»Ach, du weißt doch, wie das läuft. Seine ehemalige Anwältin Olivia Sanchez hat ein paar Leuten gesteckt, dass ihr etwas mit seinem Tod zu tun habt. Und nun fühlen sich ein paar Typen dazu berufen, ihren Boss zu rächen. Du kennst die Menschen. Ihr Sinn für Gerechtigkeit ist vor allem eins: individuell anpassbar. Weshalb die Arbeit der roten Schirme umso wichtiger ist. Wir sind die Einzigen, die unsere Welt besser machen können.«
Mir wurde schwindelig. All das Gerede über die Schirme interessierte mich gerade nicht. »Wir müssen sie da rausholen … Bitte!«
»Ich könnte ein paar Anrufe tätigen, aber…« Ikaris wischte sich seine Hände an einer Stoffserviette ab. »… es ist kompliziert.«
»Du bist ein Umbrella. Verdammt. Du hast doch jede Menge Einfluss, oder nicht?«
»Schon, aber selbst ich kann niemanden einfach so aus dem Gefängnis holen.«
Ich zwang mich dazu, mich zu fokussieren und nicht von der Angst überrollen zu lassen. Ikaris hatte schon einmal gelogen. Er hatte schon einmal meine Sorge um Remi und Mako benutzt, um mich in die von ihm gewünschte Richtung zu lenken. »Wenn du mich noch mal verarschst, dann erschlage ich dich mit deinem Schirm.«
Er lachte leise. »Ich befürchte, dieses Mal ist es wahr, wütender Schmetterling. Auch wenn ich zu gerne sehen würde, wie du versuchst mir meinen Schirm abzunehmen.«
»Unterschätz mich nicht!«
Herausfordernd schnappte er sich den Schirm und streckte ihn mir entgegen, so als wollte er mir sofort die Gelegenheit geben, meinen Worten Taten folgen zu lassen. Doch obwohl es mir in den Fingern juckte, ließ ich es bleiben und entschied mich für eine neue Strategie.
»Bitte, Meister«, presste ich mühsam hervor. »Ihnen darf nichts passieren.«
Er schmunzelte. »Na schön. Weil du mich so brav bittest, bin ich in meiner unendlichen Güte bereit mir die Lage anzusehen.«
Wenig später standen wir im privaten Fahrstuhl, der uns in die Lobby brachte. Mir fiel auf, dass ich immer noch den Seidenschlafanzug trug, beschloss aber, es zu ignorieren. Die Leute in New York würde es nicht einmal vom Hocker hauen, wenn ein Yeti durch den Central Park streunern würde. Auch einen hässlichen Pyjama würden die meisten gar nicht erst bemerken.
Ich nahm Ikaris gegenüber Platz in der Limousine. Meine Unterlippe war vor Sorge ganz wundgekaut. »Was hast du vor? Hast du einen Plan, wie wir mit ihnen reden können?«
»Ich habe Mittel und Wege, immer zu bekommen, was ich will«, erwiderte Ikaris vage. »Aber umsonst ist nur der Tod. Meine Hilfe hat immer einen Preis, wie du weißt.«
Das Innere der Limousine erschien mir plötzlich entsetzlich kalt, so als hätte jemand die Klimaanlage voll aufgedreht, und ich fröstelte. Natürlich wusste ich genau, wie sich Ikaris bezahlen ließ, aber er war nicht der Einzige, der sich nach Blut sehnte.
Meine Schmetterlinge – meine Inkara – zogen ungeduldig über den linken Arm. Ich spürte ihren Hunger wie ein unangenehmes Ziehen und Jucken, das sich von dort aus in meinem Körper ausbreitete. Ich hatte keine Silbergaze bei mir, um sie mit einem Verband in Schach zu halten und das Gefühl erträglicher zu machen.
Es war bereits später Nachmittag, als wir das MDC Brooklyn erreichten.
»Lass uns dort heraus, Franka«, sagte Ikaris zu unserer Fahrerin. Sie hatte dunkles, kurzes Haar und trug eine Uniform mit Hut und weißen Handschuhen. Mehr konnte ich von meinem Platz aus nicht erkennen. Sie hatte bisher nie gesprochen oder sonst die Aufmerksamkeit auf sich gezogen, aber ich fragte mich, wie viel sie von seinen Machenschaften wusste.
Jetzt ließ sie ein knappes »Ja, Sir« verlauten, um zu signalisieren, dass sie verstanden hatte, und hielt unter der breiten Autobahnbrücke, die an dem Gefängnis vorbeiführte. Hier gab es zwischen Müllsäcken und Schrott zahlreiche Parkplätze. Allerdings sahen diese nicht nach einem Ort aus, an dem ich eine Limousine abstellen würde.
Als wir an dem roten, klotzigen Gebäude entlanggingen, wanderte mein Blick nach oben. Ich sah unzählige schmale, verdunkelte Fenster mit Gittern, die es unmöglich machten, auch nur zu erahnen, wer dahinter sein mochte. Instinktiv wollte ich K fragen, wo die Insassen untergebracht waren, aber mein leeres Handgelenk erinnerte mich an ihren Verlust. Remi würde sich kaputtlachen, wenn er erfuhr, wie lieb ich diese KI gewonnen hatte.
Als wir wenige Minuten später den Eingangsbereich des MDC Brooklyn betraten, erwartete uns ein gelangweilter Beamte hinter einem Glasfenster. Er sah genauso abweisend und missmutig aus wie sein Kollege bei meinem letzten Besuch, aber immerhin setzte er sich etwas aufrechter hin, als er Ikaris entdeckte. Der bedachte ihn mit diesem einnehmenden Lächeln, welches ihm stets alle Türen öffnete.
»Wir wollen zu Remi Young und Mako Kimura«, sagte er.
»Haben Sie einen Termin?«
»Nein. Ich bin ihr Anwalt. Ikaris de Cruz.«
»Sie stehen nicht auf der Besucherliste der Insassen.«
»Ich bin der neue Anwalt, und wenn ich das so sagen darf, kein Unbekannter. Sie haben sicherlich schon von mir gehört.«
»Ich brauche trotzdem einen Ausweis, Sir.«
Ikaris griff in seine Anzugtasche und zückte ein Kärtchen aus dickem weißem Papier, auf dem sein Name mit Goldfolie bedruckt draufstand.
Der Beamte nahm es skeptisch entgegen. »Da steht bloß ihr Name.«
»Und meine Nummer. Für alle Fälle.« Ikaris zwinkerte ihm verheißungsvoll zu. Eines musste man ihm lassen. Er hatte ein natürliches Talent zum Flirten, denn bei ihm wirkten selbst die plumpsten Versuche irgendwie charmant.
Den Justizbeamten interessierte das wenig. »Ohne offiziellen Ausweis kann ich Sie nicht freischalten lassen.«
»Na schön, Sie Spaßbremse. Hier ist er, aber gucken Sie sich das Foto nicht an. Es ist schrecklich unvorteilhaft.« Ikaris zückte eine Karte und schob sie über den Tisch.
»Danke, Sir. Das Freischalten kann ein paar Stunden dauern. Kommen Sie einfach morgen wieder.«
»Wir müssen aber jetzt rein«, platzte es aus mir heraus.
»Das geht nicht.«
Ikaris seufzte und griff abermals in seine Tasche. »Und da kann man wirklich nichts machen?«, fragte er, während er ein Bündel 100-Dollar-Scheine herauszog.
Der Beamte verzog keine Miene. »Nein, und wenn Sie noch einmal versuchen mich zu bestechen, lasse ich Sie festnehmen.«
Ikaris fasste sich ans Herz und wich zurück. »Ich bin schockiert.«
»Ich mache hier nur meinen Job, Sir.«
»Ganz offensichtlich.«
Tatsächlich schien der Mann ein ehrlicher Typ zu sein, denn meine Schmetterlinge interessierten sich nicht die Bohne für ihn. Stattdessen zog es sie ins Innere des Gefängnisses. Auch wenn wir hier im Eingangsbereich nichts von den Insassen mitbekamen, schienen sie das schuldige Blut durch die Mauern hindurch zu spüren. Ihre Flügel zuckten vor Hunger und Verlangen und sie drängten mich, einfach loszulaufen … An den Wachen vorbei zu den Zellen.
Ich wandte mich wieder an den Beamten. »Was ist mit mir? Darf ich Remi Young besuchen? Ich bin Skadi Young, seine Schwester.«
Der Beamte warf einen Blick in den Computer. »Sie stehen ebenfalls nicht auf der Besucherliste.«
»Ich bin mir sicher, er will mich sehen. Können Sie nicht nachfragen?«
»Nein.«
»Das gibt es doch nicht.« Meine Stimme schnellte in die Höhe, und die zwei Wachen warfen mir einen warnenden Blick zu, um mich daran zu erinnern, wo wir uns befanden. Aber das war mir egal. Es ging hier um Remi und Mako, und ich würde nicht zulassen, dass ihnen etwas passierte.
»Sie sind vielleicht in Gefahr. Ich muss sie sehen.«
»Unser Gefängnis ist sicher. Da müssen Sie sich keine Sorgen machen.«
Er mochte ein anständiger Kerl sein, aber so langsam platzte mir die Hutschnur. »Ich will da jetzt rein, Sie …«
»Schon gut, kleine Schakai.« Ikaris’ Hand landete auf meiner Schulter und ich hielt inne. »Wir finden einen anderen Weg.«
»Ich dachte, du hast Mittel und Wege, zu bekommen, was du willst, und jetzt sagst du, dass du nicht mehr als einen Augenaufschlag und eine Menge Geld zu bieten hast?«
»Mein Augenaufschlag funktioniert normalerweise sehr gut, aber … dieser Mann nimmt seinen Job sehr ernst. Ein Ärger für uns, eine Bereicherung für die Welt.«
»Was ist mit deinen Kräften? Kannst du den Typen nicht irgendwie manipulieren?«
»Wir können weder die Gefühle noch die Gedanken anderer beeinflussen. Immerhin sind wir hier die Guten, schon vergessen?«
»Du hast die Erinnerungen von Lu und mir verändert.«
»Ja, aber das geht nur, wenn es um Erinnerungen geht, die im Zusammenhang mit den Umbrellas stehen. Ein Schirm beschützt bloß seinen Träger und verleiht ihm Fähigkeiten, um unentdeckt zu bleiben, damit wir uns ungestört der Jagd nach Schuldigen widmen können.«
»Na schön … Was machen wir dann?« Alleine der Gedanke, was meinen Jungs da drinnen widerfahren könnte, drehte mir den Magen um. Wir waren so nah und konnten doch nichts tun.
»Wir machen einen Spaziergang«, schlug Ikaris vor.
»Ein Spaziergang wird sie nicht retten.«
»Selbstmitleid auch nicht … Komm schon.«
Ikaris schlenderte neben der Autobahnbrücke entlang und ich folgte ihm aus Mangel an Alternativen. Während sich in Manhattan zahlreiche funkelnde Hochhäuser dicht aneinanderreihten, waren hier die Häuser flacher und der Abstand zwischen ihnen größer.
Die Luft war schwer und es roch nach Benzin und einem süßlich stechenden Gestank, der aus den herumliegenden Müllsäcken stieg.
»Wo gehst du hin?«, fragte ich ungeduldig.
»Zu einem Ort in der Nähe. Der wird dir gefallen.«
Ich bezweifelte, dass Ikaris wusste, was mir gefiel.
Wir passierten besprühte Wände und Geschäfte, deren Fenster mit Metallrollläden gesichert waren. Zu unserer Linken tauchte ein graues Fitnessstudio auf, an dem noch nicht mal ein Schild angebracht worden war. Ein schiefes Graffiti wies es als Crossfit718 aus.
Dies war keine Gegend, die ich, wie Ikaris gekleidet betreten wollte. Trotzdem schlenderte er sorglos weiter, bis er ein quietschgrünes Gebäude erreichte, welches erst auf den zweiten Blick als Bar zu erkennen war.
Mama Tried, stand auf einer kleinen Neontafel im Fenster.
»Was wollen wir hier?«
»Etwas essen. Hungrig schmiedet man keine guten Pläne.«
Er hatte recht. Ich fühlte mich gleich auf zwei Arten ausgehungert. Mein Magen war ebenso leer wie meine Schmetterlinge und beides zehrte an meinen Nerven. »Remi und Mako brauchen unsere Hilfe. Ich kann sie nicht hängen lassen.«
»Im Moment sind deine Jungs sicher.«
»Wie kannst du das wissen?«
»Mein Schirm hat es mir soeben geflüstert.«
»Ach wirklich?«
»Nein.« Ikaris öffnete die Tür und steuerte zielsicher durch die Bar, deren Inneneinrichtung wild zusammengewürfelt war. Kein Tisch oder Stuhl glich dem anderen. An den Wänden hingen gerahmte Fotos. Die meisten schief. Und auf einer Tafel war mit pinker Kreide die Karte für heute geschrieben.
Ikaris hatte recht, ich mochte Orte wie diese. Orte mit Charakter.
Wir gingen in einen kleinen Hinterhof, der ebenso bunt aussah wie das Innere der Bar. Irgendjemand hatte Strohteppiche an die Mauern gehängt, die wohl für etwas Urlaubsfeeling sorgen sollten.
Ikaris setzte sich an einen der Tische und schlug elegant die Beine übereinander.
»Setzt dich«, sagte er und deutete auf den freien Platz gegenüber. Der durchdringende Blick seiner goldenen Augen ließ keinen Widerspruch zu. Also nahm ich auf der Kante meines Stuhles Platz. Der Kies unter mir knirschte bei jeder noch so kleinen Bewegung. »Also schön. Was ist der Plan?«
»Wir werden ein paar Stunden warten und es dann erneut probieren«, antwortete er.
»Aber dann ist die Besuchszeit vorbei.«
»Ich weiß.«
»Und wie gedenkst du dann hereinzukommen?«
»Wir werden einbrechen.«
»Einbrechen?« Ich schnappte nach Luft. Das war mein Fachgebiet, darum wusste ich, dass so ein Unterfangen unmöglich war. Erst recht ohne entsprechende Planung. »Wie?«
Ikaris lehnte sich vor und ergriff mein Handgelenk. Ein Kribbeln schoss durch meinen Körper. Ich versuchte meine Hand wegzuziehen, aber sein Griff war fest wie ein Schraubstock, obwohl Ikaris in keiner Weise angestrengt erschien.
»Es ist möglich, aber du musst mir versprechen, dass du mir gehorchst. Bedingungslos. Keine Alleingänge.« Er hob die perfekt geformte Augenbraue hoch und wartete auf eine Antwort.
»Ich kenne nicht mal den Plan.«
»Versprich es.«
»Na schön. Ich verspreche es, Meister«, sagte ich artig und kreuzte hinter meinem Rücken die Finger.
Der Klapptisch hatte schon bessere Tage erlebt. Ebenso wie alles in der Bar. Ikaris’ Anzug und Schmuck waren vermutlich mehr wert als der ganze Ort, aber das schien niemanden zu interessieren. Überhaupt schienen die Blicke der anderen Gäste förmlich an uns vorbeizugleiten.
»Wie machst du das?«, stellte ich Ikaris zur Rede.
»Was?«
»Niemand scheint sich für uns zu interessieren, obwohl du nicht gerade unauffällig aussiehst. Ist dafür auch der Schirm verantwortlich?«
Ich erwartete eine seiner typischen unverbindlichen Antworten, die er so gerne gab, aber überraschenderweise nickte er. »Die Red Umbrella Society ist recht bekannt. Die Leute sind seit Jahren von unserer Organisation und den Mysterien fasziniert, und doch existieren weder Fotos noch Videos von uns. Die Schirme beschützen unsere Geheimnisse, denn was würden die Menschen sagen, wenn sie herausfinden würden, dass einige von uns über hundert Jahre alt sind?«
Mir klappte der Unterkiefer herunter. »So alt bist du?«
Ein wildes Lächeln stahl sich auf seine Lippen. »Ich hab mich gut gehalten, oder?«
Allerdings. Ich hatte mich immer schwergetan, sein Alter zu schätzen, aber das hatte ich nicht erwartet. Seine Haut sah makellos aus, sein Körper strotzte vor Kraft und Stärke. Wie war das möglich? Eigentlich kannte ich die Antwort. Blut.
Ikaris fuhr fort: »Und hast du vor Mia Servage je von einer ausgesaugten Leiche gehört? Normalerweise kümmern wir uns um die Erinnerungen der Hinterbliebenen, die das Opfer vermissen könnten. Und auch Society-interne Skandale regeln wir normalerweise hinter geschlossenen Türen, aber im Fall von Mia war jemand schneller. Ich vermute, es waren die White Umbrellas, die die Polizei informierten.«
Ikaris hielt inne und winkte einem Kellner zu, der daraufhin endlich zu uns kam und unsere Bestellung – einen Pink Angel, eine Cola und zweimal Veggie Chili mit Sour Cream, Tortilla-Chips und Guacamole – annahm.
»Ich verdurste«, seufzte Ikaris. »Lassen Sie uns nicht zu lange warten.«
»Ich gebe mein Bestes, Sir«, versprach der Kellner. Als er davoneilte, wandte ich mich wieder an meinen Meister. »Aber warum lasst ihr zu, dass die Menschen überhaupt von der Society wissen?«
»Die Society bedeutet Macht. Jeder von uns steht für Geld und Einfluss und hat Unterstützer in allen Bereichen. Senatoren, Richter, Anwälte, Herausgeber, Polizisten … Dieses Netzwerk haben wir über viele Jahre aufgebaut. Es unterstützt uns und schützt uns vor unseren Feinden.«
In dem Moment kam der Kellner mit unseren Getränken zurück und wir verstummten. Ungeduldig warte ich darauf, dass Ikaris mit seiner Erzählung fortfuhr.
Er nahm einen großen Schluck von seinem Cocktail, bevor er weitersprach. »Ob du es glaubst oder nicht, aber eine Schakai zu sein, ist ein großes Privileg, für das viele unserer Anhänger töten würden. Deine Inkara beschützen dich und heilen dich, damit du die Welt vom wahrhaft Bösen befreist.«
»Was ist mit Joe Miller? Er war ein Mistkerl, aber wahrhaft böse? Dass er meine Jungs erpresst und zusammenschlagen lassen hat, war eine Lüge von dir. Das hat er nie getan.«
»Ja, das Video mit deinen Jungs war nicht echt. Ich dachte bloß, dass du eine persönliche Motivation brauchst, um endlich deinen Job zu machen …«
»Ich bin durch die Hölle gegangen, weil ich dachte, die beiden könnten tot sein.« Alleine bei der Erinnerung an die Aufnahmen zog sich alles in meinem Inneren zusammen.
»Reg dich nicht auf. Du hast keinen Unschuldigen getötet. Wenn du mir nicht glaubst, frag seine Ex-Frauen, die er zusammengeschlagen hat.«
Erneut kam der Kellner. Dieses Mal mit unserem Essen.
»Ich hoffe, es schmeckt, Sir«, sagte er übereifrig. Mir schenkte er keinerlei Beachtung. Ich war mir nicht einmal sicher, ob er mich überhaupt bemerkt hatte. Allerdings war das in meinem Falle keine Schirmsuperkraft, sondern meine eigene. Ich war einfach schon immer gut darin gewesen, unscheinbar zu sein.
»Du hast mich schon einmal belogen. Warum sollte ich dir irgendetwas glauben?«, murmelte ich, als der Kellner gegangen war.
Ikaris’ Augen verengten sich. Er mochte gut darin sein, den charmanten Retter zu mimen, aber ebenso schnell konnte er seine Maske fallen lassen. »Weil du keine andere Wahl hast, Schakai. Du brauchst mich, um deine Jungs zu retten.«
Er hatte recht. Ohne Geld, freiwilligen Anwalt oder Space Shuttle (Ks Idee) war er der Einzige, der mir helfen konnte.
Beruhig dich, Skadi. Es geht um Remi und Mako.
»Na schön. Was willst du von mir?«
»Ich will lediglich, dass du dich auf deine neue Aufgabe als meine Blutsammlerin einlässt. Da du nach unserem Deal abgehauen bist, weißt du so gut wie nichts über unsere Society oder unsere Fähigkeiten, und das sollten wir ändern.«
Mir lag eine spitze Antwort auf der Zunge, aber sein strenger Blick erinnerte mich an mein Versprechen. Also sagte ich mit zuckersüßer Stimme: »Ich bin ein leeres Glas, das darauf wartet, gefüllt zu werden, Meister.«
Er nickte zufrieden und deutete auf seinen Arm. »Deine Inkara nehmen, je nachdem, welcher Meister sie dir vermacht hat, eine andere Form an. Deine sind Schmetterlinge, was ausgezeichnet zu meinem bezaubernden Charakter passt. Findest du nicht?«
»Nein.« Eine lästige Mücke hätte besser zu ihm gepasst …
»Nun. Diese liebreizenden Wesen passen nicht nur auf dich auf. Sie sind, wie du bereits weißt, ein Detektor für Schuld.« Ikaris hielt inne, um sich einen Tortilla-Chip zu angeln. »Nur zu. Sieh dich um, Schakai. Sieh dir die anderen Gäste genau an. Was bemerkst du?«
Instinktiv kratzte ich über die Stelle am Arm, wo ich sie spüren konnte. Wie immer, wenn ich an einem öffentlichen Ort mit vielen Menschen war, waren sie aufgeregter als gewöhnlich. Und … hungriger.
Ich ließ meinen Blick durch den Raum gleiten. Es war etwa die Hälfte aller Tische besetzt. Menschen, die miteinander plauderten, aßen, tranken. Gegen Abend würden immer mehr Leute kommen, um von der Arbeit zu entspannen. Ich tauchte meinen Löffel in das Chili und ließ meinen Blick weiterwandern.
Die Stimmung war gut.
Eine Band hatte zu spielen begonnen.
Die meisten Leute waren für meine Inkara uninteressant. Zum Beispiel die zwei Freundinnen am Nachbartisch, die sich Chips mit Guacamole teilten. Bei denen zuckten sie nicht einmal mit den Flügeln. Auch der Kellner interessierte sie nicht. Bei einem Pärchen spürte ich, wie sich ihre Unruhe steigerte. Allerdings war es vor allem der Frontsänger der Band, der ihre Aufmerksamkeit wie ein Leuchtturm anzog. Ich spürte, wie sie sich ihm entgegenstreckten und vor Hunger nach ihm verzehrten.
»Nicht jeder Mensch fühlt sich gleich an«, berichtete ich Ikaris.
Seine Augen funkelten wissend. »Richtig. Du erkennst die Wölfe unter den Schafen.«
War er das? Ein Wolf?
Er sah aus wie ein Sunnyboy, groß, blond, attraktiv. Und er schien großes Interesse an der jungen Frau zu haben, die alleine an einem Tisch saß und dem Auftritt andächtig lauschte. Immer wieder zwinkerte er ihr zu, was sie zum Kichern brachte.
»Was hat er getan?«, fragte ich Ikaris.
»Ich weiß es nicht. Auch ich spüre nur, dass der Schirm ihn will.«
»Vielleicht ist er bloß ein überzeugter Falschparker oder ein gewiefter Steuerhinterzieher. Wo fängt Schuld an?«
Ikaris kicherte. »Falschparken allein macht einen nicht zur Delikatesse für die Inkara. Sie sind nur an denen interessiert, die anderen Menschen schlimme Dinge antun. Je größer der Schmerz ist, den sie hinterlassen, desto größer ist die Schuld.«
Ich schlang mein Chili herunter, ohne es genießen zu können. Mein Blick wanderte immer wieder in die Richtung des Frontsängers.
In der Pause ging er zu dem Tisch der Frau und setzte sich dazu. Die beiden redeten miteinander. Von außen wirkten sie wie ein glückliches Pärchen auf ihrem ersten Date, zurückhaltend, aber ganz offensichtlich aneinander interessiert. Trotzdem hatte ich ein mulmiges Gefühl. Wenn das alles stimmte, dann war er ein böser Mensch. Einer von der schlimmsten Sorte.
Ich wandte mich an Ikaris, der gerade einen weiteren Cocktail bestellte. »Wie erfahre ich, was er getan hat?«
»Alle Antworten auf diese Fragen sind in seinem Blut zu finden. Blut lügt nicht und es kennt alle Geheimnisse.«
»Ich muss ihn also erst aussaugen, um entscheiden zu können, ob er es verdient hatte.«
»Oh, deine Schmetterlinge wissen bereits, dass er es verdient hat.«
Ich warf dem Sänger erneut einen Blick zu und ein quälender Hunger breitete sich in mir aus. Ein Hunger, den weder Chili noch Chips auch nur ansatzweise stillen konnten. Ich schüttelte mich vor Ekel, und gleichzeitig konnte ich an nichts anderes denken, als ihn zu berühren, und die Erleichterung, die es mir verschaffen würde, wenn mein Schmetterling ihn bis auf den letzten Tropfen aussaugen würde.
»Wehre dich nicht gegen deine Bestimmung, Skadi. Im Prinzip bist du eine Heldin. Wie in diesen Filmen, die alle so feiern.«
»Superhelden saugen keine Leute aus.«
»Die coolen schon.«
Ich riss meinen Blick von dem Sänger und schwor mir, bei nächster Gelegenheit meinen Arm mit Silbergaze abzubinden.
»Ist er der Preis? Der Preis, damit du mir hilfst, das Gefängnisproblem zu lösen? Dann vergiss es. Ich lass mich nicht erpressen, Leute zu töten.«
»Keine Sorge, kleiner Schmetterling.« Ikaris zupfte eine Physalis von seinem Cocktail und schob sich die Frucht in den Mund. »Ich will dich nicht zwingen, Leute umzubringen. Ich will dich überzeugen.«
Als wir das Mama Tried verließen, versank die Sonne bereits zwischen den Plattenbauten.
Obwohl ich das Chili aufgegessen hatte, war der quälende Hunger nicht verschwunden. Ich hatte mir bereits wider besseres Wissen den Arm zerkratzt, in dem vergeblichen Versuch, das Jucken, das meine Tattoos auslösten, unter Kontrolle zu bringen. Aber die Nähe des Frontsängers hatte ihre Jagdinstinkte geweckt.
Ikaris beobachtete mich. »Du solltest ihn erledigen. Sein Tod wäre für die Welt ein Segen. Und wir werden für unser Unterfangen, in das Gefängnis einzubrechen, die Hilfe des Schirmes brauchen. Da käme das Blut des Sängers gerade recht.«
Ich schüttelte den Kopf. Ikaris hielt an. Er nahm mich an den Schultern und drehte mich zu sich. Seine von dichten Wimpern umrahmten Augen strahlten golden. »Noch ist es nicht zu spät«, wisperte er und ein Schauer kroch mir klebrig wie eine Nacktschnecke über den Rücken.
Im selben Moment hörte ich Schritte, die sich schnell näherten. Meine Schmetterlinge zuckten mit den Flügeln, und noch während ich mich umdrehte, ahnte ich bereits, wer dort stehen würde.
»Verzeihung«, rief besagter Frontsänger. »Sind Sie nicht Ikaris de Cruz?«
»Der bin ich.«
»Ich bin Liam Barett und ein großer Fan von Ihnen«, jubelte er mit aufgeregt glühenden Wangen. »Mein Vater ist Richter. Vielleicht erinnern Sie sich? Brett Barett.«
»Ich kenne ihn und seine harten Urteilssprüche.«
»Sie haben uns mal bei Gericht getroffen. Ich studiere auch Jura.«
Meine Schmetterlinge zappelten in meiner Haut, so als könnten sie es kaum erwarten, sich auf ihn zu stürzen. Es fühlte sich an, als würden sie Krallen in mein Fleisch bohren. Mein ganzer Arm brannte, so sehr verlangten sie, dass ich tätig wurde. Sie wollten sein Blut, konnten an nichts anderes denken, und auch mir fiel es schwer, mich auf etwas anderes als das zu konzentrieren.
»Ich hatte keine Ahnung, dass Sie auch in diese Bar gehen. Der Ort ist doch eher untypisch für Leute wie … na ja … Ich dachte, jemand wie Sie geht woandershin.«
»Ich mag die Cocktails und bin öfter hier in der Nähe.«
»Wegen des Gefängnisses, oder? Na klar. Es ist gleich um die Ecke. Ich hoffe, es stört Sie nicht, dass ich Sie einfach angesprochen habe. Dürfte ich vielleicht noch einen draufsetzen und Sie um ein Selfie bitten?«, fragte Liam Barett. Er wirkte aufgeregt, sein Idol zu treffen, ein bisschen nervös. Eigentlich nicht unsympathisch. Was war es, das ihn so schuldig machte, dass der Schirm seinen Tod wollte?
»Sicher.« Ikaris trat näher an den Mann heran, um ein Foto zu schießen. Gerade als der seinen Arm mit dem Handy ausstreckte, hängte Ikaris den Schirm darüber. Zuerst dachte ich an einen Scherz, aber der Mann erstarrte mitten in der Bewegung und rührte sich von jetzt auf gleich nicht mehr, so als wäre für ihn die Zeit stehen geblieben.
Ikaris wandte sich an mich. »Schakai.«
Angesichts der Betonung dieses Wortes gefror alles in mir. Ich wusste, was er von mir verlangte. Während sich meine Schmetterlinge vor Aufregung gegen die Haut drückten, musste ich dem Drang widerstehen, mich zu übergeben.
»Trag ihn da unter die Brücke.« Ikaris deutete auf die Autobahnbrücke, direkt gegenüber der Bar. Ich war beinahe froh, dass er vorerst nicht verlangt hatte, ihn auszusaugen, und näherte mich dem Sänger, aber er war steif wie ein gefrorenes Fischstäbchen und viel zu schwer.
»Ich vergesse immer, wie schwach Menschen sind. Na gut. Selbst ist der Umbrella«, stöhnte Ikaris und hob den Mann hoch. Ohne Mühe trug er ihn in den Schatten der Brücke, wo wir zwischen Müll und parkenden Autos ungestört waren.
»Was ist mit ihm?«
»Der Schirm hat ihn vorübergehend betäubt«, erklärte Ikaris. »Solange er da an seinem Arm baumelt, haben wir Zeit.«
»Zeit wofür?«
»Ich werde dir etwas zeigen.« Ikaris fischte etwas aus seinem Anzug, das aussah wie ein Minidolch in der Größe einer Nagelfeile. Er zog ihn aus der Scheide und pikte Liam in den Arm, bis ein paar Tropfen Blut aus der Wunde hervorquollen. Der zwinkerte nicht einmal oder zeigte ein anderes Anzeichen dafür, dass er etwas von all dem mitbekam.
»Gib mir deine Hand«, forderte Ikaris und sammelte das Blut mit der Feile.
Zögernd gehorchte ich. Die Schmetterlinge zogen Ikaris entgegen und wanderten bis in die Innenfläche meiner Hand, wo sie sich dem Leckerbissen ungeduldig entgegenstreckten. Ikaris wählte einen der Inkara aus und ließ das Blut hineintropfen. »Und nun sieh hin.«
Ich gehorchte und plötzlich bewegten sich die roten Tropfen innerhalb des Tattoos. Sie verwischten und nahmen eine neue Form an. Bilder entstanden. Erst wirkten sie zu abstrakt, um Sinn zu ergeben. Doch je länger ich mich darauf konzentrierte, desto mehr offenbarten sie mir.
Bilder von Liam.
Und von Frauen. Vielen Frauen. Er traf sie meistens bei seinen Konzerten. Sie redeten, lachten, tanzten, und dann mischte er etwas in ihre Drinks. Erst danach verschwand er mit ihnen. Ins Hinterzimmer. Auf die Toilette. Auf den Rücksitz eines Autos. Ihre Körper klappten zusammen, aber das war es, was ihm so gefiel. Das war der Moment des Abends, den er jedes Mal herbeisehnte. Und während sie hilflos dalagen, drängte er sich zwischen ihre Beine und verging sich an ihnen. Mein Magen drehte sich um, als ich spürte, wie sich sein Blut vor Erregung kräuselte. Er hatte kein schlechtes Gewissen bezüglich seiner Taten. Sie hatten ihn doch eh gewollt, sich ihm förmlich an den Hals geworfen. Es verschaffte ihm nun mal einen zusätzlichen Kick, es so zu tun. Es war aufregender und er musste keine Rücksicht nehmen. Er hatte sich immerhin auch stundenlang ihre langweiligen Geschichten angehört, gelächelt und sich durch das Date gequält. Es war also nur fair, dass auch er etwas Spaß hatte.
Ich schloss meine Hand, um seine unerträglichen Gedanken darin einzuschließen. Schwer atmend blieb ich stehen und starrte auf den Sänger, der immer noch zur Salzsäule erstarrt zwischen den parkenden Autos stand.
Ich wollte ihn anschreien, aber kein Wort konnte meine Wut und meinen Ekel auch nur annähernd zum Ausdruck bringen. Ich hätte ihn am liebsten verprügelt. Also trat ich gegen sein Schienbein, aber er zuckte nicht einmal zusammen.
»Du hattest recht«, sagte ich an Ikaris gewandt. »Er ist böse.«
»Wenn die Inkara jemanden so lieben wie den Surferboy, dann sei dir sicher, dass er eine der drei großen Sünden begangen hat.«
»Die drei großen Sünden?«
»Mord, Folter und Vergewaltigung. Das sind die Taten, die sie in eine Art Rausch versetzen.«
Bisher hatte ich meine Tattoos einfach nur für immer lästige, hungrige Biester gehalten. Das mit den drei Sünden warf ein neues Licht auf sie.
»Du kannst ihn aufhalten. Dafür wurden deine Inkara geschaffen«, säuselte Ikaris mit einem Lächeln, als wüsste er bereits, was ich tun würde. »Es ist deine Entscheidung.«
Ich öffnete meine Hand, in deren Innenfläche immer noch der Schmetterling ruhte. Sofort wurde ich wieder von den Bildern und den verdrehten Gefühlen einer zutiefst gestörten Seele überschwemmt.
Die paar Tropfen hatten meine Inkara noch mehr angestachelt. Es war wie ein Appetizer, der ihren Hunger verstärkte. Wie ein schmerzhaftes Loch breitete er sich in meinem Inneren aus.
»Du solltest dich beeilen«, sagte Ikaris. »Die Uhr macht ticktack.«
Ja, es wäre eine Genugtuung für all die Frauen, die ihm zum Opfer gefallen waren, aber wer war ich, darüber zu entscheiden, wer leben und wer sterben durfte …