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Beschreibung

Was heisst eigentlich "reformiert"? Die Frage nach der reformierten Identität ist nicht neu, sie zieht sich wie ein roter Faden durch das 20. Jahrhundert. Die Positionen der vorgestellten zwölf wichtigen reformierten Theologinnen und Theologen des 20. Jahrhunderts zeigen, dass sie in verschiedenen Kontexten zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich beantwortet wurde. Dabei wird deutlich, wie sensibel reformierte Theologie jeweils auf die Probleme ihrer Zeit reagiert - und darum Kirche, Ökumene und Gesellschaft unübersehbar und nachhaltig geprägt hat. Karl Barth, Colin E. Gunton, Jürgen Moltmann, Christiaan Frederick Beyers Naudé, J.E. Lesslie Newbigin, Reinhold Niebuhr, Wilhelm Niesel, Oepke Noordmans, Soon Kyung Park, Letty Russell, Thomas F. Torrance und Willem Adolf Visser 't Hooft.

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Marco Hofheinz, Matthias Zeindler (Hg.)

Reformierte Theologie weltweit

Zwölf Profile aus dem 20. Jahrhundert

TVZ Theologischer Verlag Zürich

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.d-nb.de abrufbar.

Umschlaggestaltung: Simone Ackermann, Zürich

ISBN 978-3-290-17627-3 (Buch) ISBN 978-3-290-17735-5 (E-Book)

|XX| Seitenzahlen des E-Books verweisen auf die gedruckte Ausgabe.

© 2013 Theologischer Verlag Zürichwww.tvz-verlag.ch

Alle Rechte vorbehalten

Inhaltsverzeichnis

Cover

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Marco Hofheinz/Matthias Zeindler

Was heisst eigentlich «reformiert»? Einleitende Bemerkungen zur Frage nach der re­formierten Identität und dem vorliegenden Buch­projekt

I. Reformierte Identität im Kontext der Krise der Moderne zu Beginn des 20. Jahrhunderts

Michael Weinrich

Karl Barth (1886–1968) – ein reformierter Reformierter Theologie für eine durch Gottes Wort zu reformie­rende Kirche

Akke van der Kooi

Oepke Noordmans (1871–1956): Reformierte Identität als Leben im Kraftfeld des Geistes

II. Reformierte Identität im Kontext von Natio­nalsozialismus und Kaltem Krieg

Hans-Georg Ulrichs

«Der ausgesprochenste Reformierte in Deutschland» Reformierte Identität im Kirchenkampf und im Kalten Krieg: Wilhelm Niesel (1903–1988)

Matthias Zeindler

Reinhold Niebuhr (1892–1971): «Christlicher Realismus» in Zeiten der Krise

III. Reformierte Identität im Kontext des ökumenischen und interreligiösen Dialogs

Wolfgang Lienemann

Reformierte Identität im Kontext der Öku­mene und des interreligiösen Dialogs: Willem Adolf Visser ’t Hooft (1900–1985)

John G. Flett

Bischof J.E. Lesslie Newbigin (1909–1998) und die missionarische Herausforderung konfessioneller «Identität»

IV. Reformierte Identität im Kontext politi­scher Transformationsprozesse

Ralf K. Wüstenberg

Reformierte Identität in Südafrikas politi­scher Transformation Das Beispiel Chris­tiaan Frederick Beyers Naudés (1915–2004)

Meehyun Chung/Lisa J.M. Sedlmayr

Soon Kyung Parks (*1923) feministische Theologie als koreanisches Beispiel reformierter The­ologie im 20. Jahrhundert

V. Reformierte Identität im Kontext der Her­ausforderungen durch die Naturwissen­schaften und die Moderne

Alasdair I.C. Heron

Thomas F. Torrance (1913–2007) als Repräsentant der reformierten Theologie

Stefan Heuser

Letzte Ausfahrt Trinitätstheologie? Colin E. Gunton (1941–2003) als Kritiker der Moderne

VI. Reformierte Identität im Kontext von Fe­minismus und jüdisch-christlichem Dialog

Margrit Ernst-Habib

Subversiv kirchlich – Letty Russells (1929–2007) Theolo­gie und reformierte Identität

Marco Hofheinz

Reformierte als reformierende Theologie Der Beitrag des reformierten Theologen Jür­gen Moltmann (*1926) zum jüdisch-christlichen und interreligiösen Dialog

Autorinnen und Autoren

Fussnoten

Seitenverzeichnis

|7|

Vorwort

Reformierte Christinnen und Christen haben oftmals ein Problem mit ihrer konfessionellen Identität. Wenn man sie fragt, warum sie eigentlich «re­formiert» seien und was es grundsätzlich bedeute, «reformiert» zu sein, trifft man nicht selten auf verlegenes Schweigen. Angesichts dieser Ver­legenheit halten wir es für erforderlich, die Frage nach der reformier­ten Iden­tität neu zu thematisieren, und zwar so, dass der wissenschaftli­che Dis­kurs zugleich nach aussen dringt und fruchtbar gemacht wird für alle Interessierten, insbesondere aber für Theologiestudierende als zu­künf­tige Pfarrerinnen und Pfarrer, Religionslehrerinnen und Religions­lehrer. Dies soll in dem vorliegenden Band geschehen. Er versucht die Ant­worten nach­zuzeichnen, die prominente reformierte Theologinnen und Theolo­gen aus aller Welt im 20. Jahrhundert mit ihrem Leben, Werk und Wirken an­gesichts der Herausforderungen ihrer Zeit gegeben haben. Die skizzier­ten theologischen Profile zeigen die Bedeutung des weltwei­ten Reformier­tentums für Theologie, Kirche und Gesellschaft im 20. Jahr­hundert.

Der vorliegende Band geht zurück auf ein im Frühjahrssemester 2011 an der Universität Bern im wöchentlichen Rhythmus (montags jeweils von 18.00–20.00 Uhr) angebotenes Vertiefungsseminar. Diese Veran­staltung traf auf ein grosses Interesse bei den Studierenden sowie Berner Pfarrerinnen und Pfarrern. Die methodische und thematische Anlage der Veranstaltung sah wie folgt aus: In jeder Sitzung haben Expertinnen und Experten jeweils das Porträt einer reformierten Theologin bzw. eines re­formierten Theologen präsentiert, die/der sich der Frage nach der refor­mier­ten Identität angesichts der besonderen Herausforderungen ih­rer/sei­ner Zeit in profilierter Weise gestellt hat. Nach jedem Referat erfolgte eine Besprechung, die des­sen jeweiligen thematischen «Brenn­punkt» zum Gegen­stand hatte. Auf jedes Thema bereiteten sich die Studierenden im Vor­feld anhand von Texten (zumeist Quellentexten), welche die Referen­tinnen und Referenten zur Verfügung stellten, gezielt und unter Bildung von «Expertenteams» vor. Sämtliche Referate sind in einer erweiterten und überarbeiteten Fas­sung in diesem Buch vereint. Das grosse Enga­ge­ment aller an dieser Ver­anstaltung beteiligen Personen, insbesondere das der Studierenden, hat uns dazu ermutigt, diesen Band zu publizieren.

Wir danken für vielfältige Anregungen, die wir insbesondere von den Professorinnen und Professoren Christine Lienemann-Perrin (Bern), Dar­rell Guder (Princeton), Frank Mathwig (Bern), Jürgen Moltmann (Tübin­gen) |8| und Georg Plasger (Siegen) erfahren haben. Im Blick auf die organi­sa­torische Durchführung des Seminars danken wir sehr für die Unter­­stützung durch unseren Berner Institutsdirektor, Prof. Dr. Thorsten Mei­reis, und die studentische Hilfskraft des Instituts, Frau Martina Häsler. Frau Raphaela Meyer zu Hörste und Herr Jens Heckmann haben uns bei den Korrekturen in verdienstvoller Weise unterstützt. In finanzi­eller Hinsicht wurde das Projekt ermöglicht durch den Schweizerischen Natio­nal­fonds (SNF). Für namhafte Druckkostenzuschüsse danken wir ferner­hin der Reformierten Landeskirche des Kantons Zürich, dem Syno­dalrat der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn und der Schweizeri­schen Reformationsstiftung, für geduldige verlegerische Betreuung Frau Lisa Briner vom Verlag TVZ.

Ein herzlicher Gruss geht mit diesem Band nach Göttingen zu Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Eberhard Busch, der dort soeben seinen 75. Geburtstag feiern durfte und der sich um das mit diesem Band verfolgte Anliegen wie kaum ein zweiter verdient gemacht hat.1

Bern und Hannover,

im September 2012

Marco Hofheinz/Matthias Zeindler

|9|

Was heisst eigentlich «reformiert»?

Einleitende Bemerkungen zur Frage nach der re­formierten Identität und dem vorliegenden Buch­projekt

Marco Hofheinz/Matthias Zeindler

Die Frage nach der reformierten Identität ist virulent – auch und nicht zuletzt in der Schweiz. Aus den unterschiedlichsten Gründen tun sich viele äusserst schwer mit konfessioneller Identität:1 Sei es aus allgemeiner religiöser Indifferenz; sei es, dass sie reformierte Identität mit der jeweils eigenen vorfindlichen Kirchlichkeit gleichsetzen; sei es, dass sie konfes­sio­nelle Identität mit konfessioneller Spaltung2 und provinzialistischer Klein­­geisterei identifizieren und sie als eine Art Hemmschuh von Öku­mene,3 interkonfessioneller und interreligiöser Begegnung erachten;4 sei es, dass sie ein klares Profil und scharfe Konturen vermissen, da sich das Re­­formiertentum – anders als etwa das Luthertum oder der Katholizis­mus – nicht durch den Be­zug auf einen Bekenntniskanon wie das Kon­kor­dien­buch (1580) oder den Ver­­­weis auf den höchsten Würdenträger im Vatikan bildet. Es wäre ignorant, wollten Theologie und Kirche den Be­fund bezweifeln, dass viele Men­schen – bis in die Kreise der kirchen­treuen |10| Gemeindeglieder und der Theologiestudierenden hinein – nicht wissen, warum sie reformiert sind, bzw. was es überhaupt bedeutet, re­formiert zu sein. Eine zutreffende De­fi­nition des Wesens des Reformier­tentums und seiner Erscheinungs­wei­­sen bereitet grosse Schwierigkeiten.5 Dementsprechend schiessen viele Vorur­teile im Blick auf das Reformier­tentum ins Kraut.6 Man wird dies nicht verübeln dürfen, zumal sich diese Frage nicht eilfertig durch (histo­risie­rende) Verweise auf das historische Erbe und auch nicht aus der em­pi­rischen Erhebung eines Ist-Zustandes beantworten lässt.

Nun ist es keineswegs so, dass die Frage nach der reformierten Iden­tität eine völlig neue Frage darstellt,7 sondern vielmehr eine Frage, die be­reits seit dem sogenannten konfessionellen Zeitalter8 virulent ist und auch in den verschiedenen theologischen und gesellschaftlichen Kontexten des 20. Jahr­hunderts brisant wurde und zu neuen Antwortversuchen nötigte.9 So stellte etwa der Theologe Wilhelm Niesel in seiner viel­be­ach­­te­ten Schrift «Was heisst reformiert?»10 angesichts der Heraus­for­­derungen der |11| beginnenden nationalsozialistischen Herrschaft explizit diese Frage. Wenn man so will, zieht sich diese Frage wie ein roter Faden durch das gesamte 20. Jahrhundert und durch die verschie­denen Kon­tex­te, in denen jeweils neu theologisch explorierte und ge­schichtlich, kul­­­tu­rell und ge­sellschaft­lich vermittelte Antworten auf diese Frage gegeben wur­den. Der vor­liegende Band möchte diesen Antworten nachgehen und sie gleichsam in ihrem jeweiligen Kontext im 20. Jahrhundert aufsuchen.

Dies ist deshalb nötig, weil die Frage nach der konfessionellen Identi­tät nicht unabhängig vom gesellschaftlichen Kontext gestellt werden kann, in dem sich die jeweilige Identität ausprägt(e). Reformierte Identität bildet sich im Oszillieren zwischen aktuellen, situativ im jeweiligen Kon­text wahrgenommenen Herausforderungen, traditionellen Bindungen durch Kultur, Gesellschaft, konfessionelle Prägung und den lebendigen Be­zügen auf die normativ vorgeordnete Heilige Schrift Alten und Neuen Testa­ments.11 Reformierte Identität entsteht in dieser spezifischen We­chsel­wir­kung, gleichsam im spannungsreichen Wechselverhältnis von Text und Kontext,12 die als Begründungs- und Entdeckungszusammen­hang13 theo­logischer Erkenntnisse und Einsichten fungieren. Wer über die Iden­tität reflektiert, ohne dabei den Kontext, in dem sie gebildet wird, zu berück­sichtigen, gelangt unvermeidlich zu einem reduktiven, weil gleich­sam «ortlosen» Begriff von Identität und damit häufig zu gravierenden Miss­verständnissen |12| über sich selbst. Hingegen ist für die Identität die Ein­bin­dung in den Kontext von konstitutiver Bedeutung.14 Diese Einsicht bildet die hermeneutische Grundlage des vorliegenden Bandes.

Da das Reformiertentum, genauer: die reformierte Konfessionsfami­lie15 ein auf verschiedene Länder – wie etwa Südkorea, Südafrika, die USA und die Niederlande – bezogenes globales Phänomen darstellt,16 darf es nicht ausbleiben, die unterschiedlichen Kontexte auf verschiede­nen Kontinenten aufzusuchen. Dies ist auch aus einem weiteren Grund un­umgänglich, auf den Alasdair I.C. Heron aufmerksam macht:

«Schon der Begriff ‹reformiert› – wie etwa in ‹reformierte Kirche› oder ‹re­formierte Theologie› – ist mehrdeutig, je nach dem, in welchem Zu­sam­menhang bzw. von wem er verwendet wird. […] Die Assoziatio­nen und Resonanzen des Wortes ‹reformiert› haben die Eigenart, in ver­schiedenen Kontexten verschiedene Schwingungen zu erzeugen.»17

Die Pluralität der Kontexte ist bereits charakteristisch für die Entstehung der nach Gottes Wort reformierten Kirchen,18 insofern jene «ein plurales |13| Er­eignis»19 war. Das hat damit zu tun, «dass reformierte Gemeinden in heil­samer Weise gezwungen waren, ihren Glauben in Annäherung und Widerstand kontextuell zu bekennen und zu gestalten».20

Indes gilt dies nicht nur für die Genese, sondern auch die gegenwär­tige Gestalt der reformierten Kirchen – einschliesslich ihrer jeweiligen Be­kennt­nistradition und Denkbewegungen: Es geht im reformierten Pro­testantismus

«immer um Bekenntnis, Kirche, Gottesdienstgestaltung und Theologie im Plural. Diese weltweite Pluralität in den kirchlichen Gestaltungs­for­men und theologischen Denkbewegungen kann geradezu als ein We­sens­merkmal des reformierten Protestantismus betrachtet wer­den».21

Ein Einheitsbekenntnis22 ist dem reformierten Protestantismus ebenso fremd wie eine Einheitskirche oder eine Einheitsliturgie23. Ein reformier­tes |14| Bekenntnis und eine reformierte Kirche wie Liturgie gibt es nur im Plural. Das hängt damit zusammen, dass Bekennen und Gemeindebil­dung als tätiger Schriftgehorsam verstanden werden. So heisst es bereits im Berner Synodus von 1532:

«Wird uns aber von Pfarrern und von anderer Seite etwas vorgebracht, was uns näher zu Christus führt und was nach Massgabe des Gottes­worts allgemeiner Freundschaft und christlicher Liebe zuträglicher ist als die jetzt hier verzeichnete Meinung, so wollen wir das gern an­neh­men und dem Heiligen Geist seinen Lauf nicht sperren.»24

Dementsprechend verbirgt sich auch hinter dem Titel des vorliegenden Buches «Reformierte Theologie weltweit» nicht die homogene Gestalt einer Einheits- bzw. Normaltheologie, sondern ein pluriformes Spektrum. Ansichtig werden vielmehr ganz unterschiedliche theologische Profile, die wiederum aus ganz unterschiedlichen Kontexten stammen. Refor­mierte Theologie ist immer datierte Theologie. Es gibt sie nicht im Singu­lar. Sie ist und bleibt ein Pluraletantum.

Das genannte Vorgehen des Aufsuchens der verschiedenen Kontexte, das nötig ist, um «reformierte Theologie weltweit» in Augenschein zu neh­men, kann selbstverständlich nur exemplarisch erfolgen. Dies setzt den vorliegenden Band unvermeidlich dem Vorwurf der Willkür aus. Zur Subjektivität der Auswahl gesellt sich die ebenso unvermeidbare Lücken­haftigkeit der vorliegenden Sammlung hinzu. Die Beschränkung, die sowohl bezüglich der Kontexte als auch der einzelnen Vertreterinnen und |15| Vertreter besteht und im Blick auf die wir auf verständnisvolle Leserin­nen und Leser hoffen, schmerzt, da notwendigerweise wichtige theologi­sche Profile wie etwa die der Schweizer Martin Werner, Fritz Buri und Ulrich Neuenschwander oder die der Niederländer Hendrik Kraemer, Arnold A. van Ruler, Gerrit C. Berkouwer und Hendrik Berkhof unbe­rücksichtigt bleiben müssen, um nur einige Europäer zu nennen. Auch müs­sen hier die bisweilen als «neocalvinistisch» bezeichneten reformier­ten Aufbrüche vor dem Ersten Weltkrieg, die ein neues konfessionelles Interesse unter den Bedingungen der Moderne erkennen lassen (u. a. in den Niederlanden: Abraham Kuyper, Herman Bavinck; in Österreich: Eduard Böhl, Josef Bohatec; in Nordamerika: Benjamin B. Warfield; in Deutschland: Wilhelm Kolfhaus; in Frankreich: Auguste Lecerf), ausge­spart werden.25 Ein Anspruch auf Vollständigkeit wäre vermessen. So kön­nen nur einzelne Porträts bedeutsamer reformierter Theologinnen und Theologen gezeichnet werden, die sich in ihrem jeweiligen Kontext den jeweils aktuellen gesellschaftlichen und politischen Herausforderun­gen gestellt und die Frage nach reformierter Identität beantwortet ha­ben.26 Dabei wirkte der gesellschaftliche und kulturelle Kontext nicht nur auf ihre Theologie ein, sondern umkehrt wirkte auch ihre Theologie auf den gesellschaftlichen und kulturellen Kontext zurück. Auch in dieser Hin­sicht ist also eine Wechselwirkung zu beobachten. Berücksichtigt wer­den sollen im Einzelnen:

im Blick auf den Kontext der Krise der Moderne zu Beginn des 20. Jahrhunderts die sogenannten Dialektischen Theologen Karl Barth aus der Schweiz und Oepke Noordmans aus den Nieder­lan­den;

im Blick auf den Kontext von Nationalsozialismus und Kaltem Krieg der auf der Seite der Bekennenden Kirche Widerstand leis­tende deut­sche Pfarrer und spätere Präsident des Reformierten Weltbundes Wilhelm Niesel und der international renommierte ame­rikanische Theologe und Präsidentenberater Reinhold Niebuhr;

im Blick auf den Kontext des ökumenischen und interreligiösen Dia­logs der erste Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kir­chen,

|16|

Wil­lem Adolf Visser ’t Hooft, sowie der Missionstheologe und in­dische Bi­schof J.E. Lesslie Newbigin;

im Blick auf den Kontext politischer Transformationsprozesse in Südafrika (Kampf gegen den dortigen Rassismus/Apartheid) und in Südkorea der südafrikanische Theologe Christiaan Frederick Beyers Naudé und die südkoreanische Theologin Soon Kyung Park;

im Blick auf den Kontext der Herausforderungen durch die Natur­wis­senschaften und die Moderne die beiden britischen Theolo­gen Thomas F. Torrance und Colin E. Gunton;

im Blick auf den Kontext von Feminismus und jüdisch-christlichem Dia­log die nordamerikanische Theologin Letty Russell sowie der deut­sche Theologe Jürgen Moltmann.

Um noch einmal die Unvermeidlichkeit der Reduktion zu betonen und das Bedauern über die Beschränkung auf eine Auswahl zum Ausdruck zu bringen: Zweifellos hätten im Einzelnen auch andere Theologinnen und Theologen als Gewährsmänner und -frauen für die Wahrnehmung der kon­textuellen Herausforderungen herangezogen werden können, im Blick auf den Kontext des Kalten Krieges etwa Emil Brunner bzw. der tschechi­sche Theologe Jan Milič Lochman, oder etwa der französische Theo­loge George Casalis bzw. der deutsche Theologe Walter Kreck mit ihren Bei­trägen zum christlich-marxistischen Dialog oder im Blick auf die Her­aus­forderungen durch die Moderne etwa Nicholas Wolterstorff und Alvin Plantinga mit ihrer «reformed epistemology». Dasselbe gilt hin­sicht­lich des ökumenischen Kontextes beispielsweise für Oscar Cull­mann, Jean-Louis Leuba, Lukas Vischer und Dietrich Ritschl, ebenso wie im Blick auf den jüdisch-christlichen Dialog für Kornelis Heiko Miskotte und Hans-Joachim Kraus.27 Die Reihe der genannten Personen und Kon­texte liesse sich mühelos erweitern.

Alle in diesem Band präsentierten Profile vereint in charakteristischer Gemeinsamkeit, dass es sich jeweils um eine zugleich lage- und sachbe­wusste und eben in dieser Verschränkung datierte Theologie handelt. In der spezifischen Zuordnung beider Akzente variieren die verschiedenen |17| Entwürfe. Und im Blick auf einige Positionen ist die kritische Rückfrage un­vermeidbar, ob nicht die «Sache» der «Lage» untergeordnet, ihr Ver­hält­nis zueinander mithin nicht verkehrt wird, so dass die Theologie gleichsam a posteriori die vorab gebildete politische Position legitimiert. Eine streng sachbezogene Theologie vertraut hingegen darauf, dass Inhalt und Struktur der Theologie selbst gleichsam politische Hinweise enthal­ten. Demzufolge geht es sicherlich nicht einfach um eine Synthese von Sache und Lage, Text und Kontext, Theologie und Politik,28 sondern um nichts anderes als um eine konsequente Theologie, die gerade darum und gerade dort eminent politisch ist, weil und wo sie nicht anders als theolo­gisch sachgerecht arbeitet.29 In besonderer Weise hat dies Karl Barth ein­ge­­schärft, der nicht nur betonte: «Wo theologisch geredet wird, da wird im­plizit oder explizit immer auch politisch geredet»30, sondern auch ge­gen­über seinem Freund Josef L. Hromádka geltend machen konnte:

«Um was es mir […] ging und geht, ist schlicht dies: dass ich nun ein­mal, seit ich hier in der Schweiz meine Erfahrungen mit dem ‹religiö­sen Sozialismus› von Kutter und Ragaz machte, seit ich dann 1921 nach Deutschland kam und dort die Jahre 1933f. miterlebte, höchst al­lergisch reagierte gegen alle Identifikationen, aber auch gegen alle sol­che Parallelisierungen und Analogisierungen des theologischen und sozial-politischen Denkens, in welchen die Superiorität des analogans (des Evangeliums) gegenüber dem analogatum (den politischen An­sichten der betreffenden Theologen) nicht eindeutig, sauber und un­umkehrbar festgehalten und sichtbar bleibt.»31|18|

Insgesamt soll mit dem vorliegenden Buch ein Panorama reformierter Theologie(n) entstehen, deren Vertreterinnen und Vertreter sich um einen kritisch-befreienden Dialog mit ihrer jeweiligen Zeit bemühten und neue theologische Perspektiven sowohl für die theoretische als auch praktische Orientierung in den jeweils aktuellen Herausforderungen eröffnen woll­ten. Ein solches Panorama, das zugleich ein Prisma der Zeitgeschichte dar­stellt, kann – wie gesagt – nur anhand einer Reihe von Querschnitten durch die mannigfaltigen Ausprägungen reformierten Theologie im 20. Jahr­hundert gewonnen werden. Das Denken der hier vorgestellten Theolo­ginnen und Theologen spiegelt die Weite und den grossen Reich­tum an theologischen Orientierungen und Denkstilen wider, welche den refor­mier­ten Protestantismus kennzeichnen.32 Der vorliegende Band inten­diert, eine theologische und zeitgeschichtliche Begegnung mit kultu­rell und gesellschaftlich-politisch «Anderem» bzw. «Fremdem» an­zubah­­nen. Solch eine Begegnung ist im Blick auf die Frage nach der eigenen Identität unabdingbar, gilt doch die grundlegende hermeneuti­sche Ein­sicht: «Nur im Spiegel der ‹anderen› bekommen wir unsere Iden­tität zu Gesicht.»33

Identitätsbildung entsteht also nicht einfach durch Abgrenzung, son­dern im Gespräch mit den anderen Konfessionen. Gerade weil im refor­mierten Protestantismus das Gemeinsame inmitten aller Pluralitäten, der pulsierende Herzschlag in allen Differenzierungen in der Bindung der Kir­che an das Wort Gottes als lebendiger Kraft des Evangeliums (Röm 1,16) besteht, wird er das Gespräch und den Dialog mit den ande­ren, ebenfalls um das Hören des Wortes Gottes ringenden Konfessionen suchen und führen.34 Die ökumenische Ausrichtung ist «ein Akt konfessio­nell gebo­tener Selbstentsprechung»35: Weil sich das reformierte Bekenntnis als Schriftgehorsam versteht,36 erkennt es den Vollzug von Schriftgehorsam |19| in anderen Kirchen an.37 Reformierterseits meint konfessi­onelle Identität immer auch ökumenische Identität.38 Es gibt keine konfessionelle neben einer ökumenischen Identität.39 Insofern wird man Otto Webers wegwei­sen­de Bemerkung zum Vorwurf der Unionsfreudig­keit der Reformierten auch auf deren Verhältnis zur Ökumene übertragen können und müssen: «Wir können nicht aufhören, für die Union einzu­treten, weil wir sonst aufhören würden, reformiert zu sein. Das heisst, das Wort Gottes über alle kirchlichen Behauptungen zu stellen.»40 Die porträ­tierten Theologin­nen und Theologen haben je auf ihre Weise versucht, dem die Kirche im Sinne des semper reformanda41 reformierenden Wort Gottes42 Raum zu ge­ben.43|20| Diese Intention wird man ihnen ebenso wenig absprechen dür­fen, wie man kritische Rückfragen hinsichtlich des Gelingens ihrer je­wei­ligen Um­setzung dieser Intention unterlassen sollte. Denn an dieser Inten­tion kann man auch heute die unterschiedlichen Lehrgestalten refor­mier­ter Theo­logie messen. Das semper reformanda weist Theologie und Kirche den Weg.

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I. Reformierte Identität im Kontext der Krise der Moderne zu Beginn des 20. Jahrhunderts

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Karl Barth (1886–1968) – ein reformierter Reformierter

Theologie für eine durch Gottes Wort zu reformie­rende Kirche

Michael Weinrich

Vor allem in Deutschland wurde Karl Barth von seinen Kritikern immer wie­­­der mit dem Stigma seines Re­for­mier­tentums etikettiert – beson­ders in­­ten­siv zur Zeit des Kirchen­kamp­fes. Häufig wurde damit zu­min­dest indirekt eine grundsätzli­che Dis­qua­­lifikation annonciert, die Grund ge­nug war, Barth gegenüber einen prin­zi­piellen Abstand zu wah­ren. Gleich­zei­tig befand sich Barth in einer durch­aus bemerkenswerten Kons­tanz gerade auch mit den Re­formier­ten in einer kritischen Auseinan­der­set­­zung – und das keineswegs nur am Rande. Von beiden Seiten schlug ihm Skepsis entgegen, die zwar sehr un­ter­­­schied­lich begründet war, aber in jedem Fall mit dem reformierten Profil seiner Theologie zu tun hatte; was den einen (in der Regel ohne nähere Benennung der problematischen Aspekte) zu reformiert war, erschien den anderen zu wenig reformiert, weil die spezifische Prägekraft der reformierten Tradition zu wenig her­ausgestellt werde (Barth liess jeden reformierten Stallgeruch vermissen). Bei aller Unterschiedenheit waren beides mehr gefühlte als tatsächlich ausgewiesene Vorbehalte. Tatsächlich aber wirkte Barth, verglichen mit den geltenden kon­fessio­nel­len Verlässlichkeiten, wie ein programmatisch agieren­des unregelmäs­siges Verb, indem er nicht nachliess, die überkom­mene Regelmässigkeit in den theologischen Deklinationen anzu­greifen. |24| Barth attackiert die Harmlosigkeit gewohnheitsmässigen Theolo­gietrei­bens, das mit den üblichen Regelmässigkeiten verbunden ist und eben dann in der Regel auch nur zu mässigen Einsichten führt.

Die angedeutete diffuse Gemengelage legt die Frage nahe, wie es sich nun tatsächlich mit Barths Beziehung zur reformierten Tradition verhält. Ist Barth im konfessionellen Verständnis ein reformierter Theologe und wenn ja, in welchem Sinne ist er es? Der erste Teil der Frage wird sich relativ einfach beantworten lassen, während eine Antwort auf den zwei­ten Teil der Frage durchaus mit einigen Schwierigkeiten verbunden ist.

Immerhin wurde Barth 1921 ausdrücklich für die reformierte Theolo­gie von seiner Schweizer Pfarrstelle an die Theologische Fakultät in Göt­tingen berufen, nicht zuletzt unter dem Einfluss des profunden Kenners der reformierten Bekenntnisschriften in Erlangen, Ernst Friedrich Karl Müller (1863–1935). Es wurde von Barth erwartet, dass er insbesondere den reformierten Studierenden das spezifische Profil der reformierten Theologie lehren solle, wozu er als Mitglied einer reformierten Kirche in der Schweiz als besonders prädestiniert angesehen wurde. Barth hinge­gen war zwar Mitglied einer reformierten Kirche, weil in der Schweiz die protestantische Kirche eben vorzüglich reformiert ist, aber er sah sich nun durch den Ruf nach Göttingen seinerseits das erste Mal dazu herausge­fordert, sich in substantiell vertiefter Weise mit der reformierten Tradi­tion auseinanderzusetzen, um schliesslich auch für sich selbst eine Ant­wort auf sein Verhältnis zur reformierten Tradition zu finden. In der volks­kirchlichen Mehrheitssituation der Schweiz war offenkundig auch für Barth die reformierte Tradition die selbstverständlich hingenommene geschichtliche Prägung seiner Kirche, die er in ihrem Alltag von anderen Fragen in Atem gehalten sah als von ihrem konfessionellen Profil.1 Das änderte sich grundlegend mit dem Wechsel nach Göttingen. Barth war nun zu differenzierter akademischer Auskunft über die reformierte The­o­logie herausgefordert und hat diese Herausforderung auch entschlossen und intensiv angenommen. |25|

Barth hat dabei einen ganz eigenen Weg eingeschlagen, auf dem er sich zwar auf verschiedene Leitmotive der reformierten Tradition beruft, die er aber ausdrücklich einem reformierten Traditionalismus mit seinen konfessionalitischen Neigungen entgegenstellt.2 Wenn Barth sich auf die reformierte Tradition bezieht, will er konsequent als ein Theologe evan­gelischer Freiheit verstanden werden, der sich um eine unter den gegen­wärtig gegebenen Umständen einzunehmende Position bemüht. Das möch­te ich an drei ausgewählten Beispielen ein wenig illustrieren. Zu­nächst möchte ich mich mit Barths Verhältnis zum Bekenntnis beschäfti­gen (1.). Sodann soll mit einigen Andeutungen Barths besonderes Ver­ständnis des Wortes Gottes angesprochen werden, das die Theologie einer­seits zu einer prinzipiellen Vorbehaltlichkeit nötigt – dafür steht der bleibend dialektische Charakter seiner Theologie – und andererseits ihr eine Freiheit eröffnet, hinter der sie in ihren geschichtlichen Koalitionen und mit ihren ängstlichen Zögerlichkeiten faktisch in beschämender Per­manenz zurückbleibt (2.). Schliesslich möchte ich mich einer unbeachteten Platzanweisung zuwenden, die Barth für die Reformierten in der Öku­mene gleichsam als eine konkrete Konsequenz der Freiheit im Auge hatte (3.). Zum Schluss wird dann eine vorläufige Bilanz gezogen (4.).

1. Von der Besonderheit des Bekenntnisses

Ausweislich des Protokolls der Sitzung der Göttinger Theologischen Fa­kultät am 12. Mai 1921 wird Barths Lehrtätigkeit ausdrücklich auf die «Einführung in das reformierte Bekenntnis, reformierte Glaubenslehre und reformiertes Gemeindeleben» beschränkt.3 Barth musste sich also unweigerlich intensiv mit dem reformierten Bekenntnis und seiner Tradi­tion |26| beschäftigen. Gleich in seinem ersten Semester hält Barth eine Vorle­sung über den Heidelberger Katechismus. Es folgen Vorlesungen über Calvin4 und Zwingli5 und im Sommer 1923 eine Vorlesung über die Theolo­gie der reformierten Bekenntnisschriften6. In dieser Zeit erwirbt Barth nicht nur umfängliche Kenntnisse über das reformierte Bekenntnis und die reformierten Bekenntnisse, sondern er bestimmt zugleich auch sein eigenes Verhältnis zur reformierten Tradition und erarbeitet sich ein eigenes Verständnis von der Bedeutung und Reichweites eines Bekennt­nisses einschliesslich der damit verbundenen Konsequenzen. Das bedeu­tet weniger, dass er nach seinem persönlichen Zugang zu den Bekennt­nissen fragt, wohl aber, dass er konsequent die Forderung erhebt, dass es nicht allein darum gehen könne, die reformierten Bekenntnisse zu pfle­gen, sondern auch die Art und Weise dieser Pflege habe eine reformierte zu sein. Es reiche nicht aus, die reformierten Bekenntnisse in Ehren zu halten und sich an ihnen zu orientieren, sondern es komme auf einen seinerseits ausdrücklich reformierten Umgang mit ihnen an, der sich durchaus von dem lutherischen Umgang mit den Bekenntnissen unter­scheidet.

Ich möchte dies an einem konkreten Beispiel veranschaulichen. Ge­rade weil es in diesem Beispiel um die Frage eines erst zu formulierenden Bekenntnisses geht, wird an ihm besonders deutlich, was für Barth mit einem Bekenntnis auf dem Spiele steht. Am 30. Juni 1924 erhielt Barth vom Generalsekretär des Reformiertes Weltbundes, John Robert Fleming, die offizielle Anfrage, ob er bereit wäre, in einem Vortrag auf der zwölf­ten Generalversammlung 1925 in Cardiff auf die Frage zu antworten, ob eine gemeinsame Glaubenserklärung bzw. Bekenntnis für die reformier­ten Kirchen der Welt wünschenswert und möglich sei.7 Das ist eine Frage, |27| die den Reformierten Weltbund schon länger bewegt hat und offenkun­dig bis heute immer wieder aufbricht, wenn erneut nach der reformierten Identität gefragt wird.8

In der veröffentlichten Langfassung des Vortrags formuliert Barth fol­gende konzise Definition für ein Bekenntnis im reformierten Verständnis:

«Ein reformiertes Glaubensbekenntnis ist die von einer örtlich um­schrie­benen christlichen Gemeinschaft spontan und öffentlich formu­lier­te, für ihren Charakter nach aussen bis auf weiteres massgebende und für ihr eigenes Lehren und Leben bis auf weiteres richtungge­bende Darstellung der der allgemeinen christlichen Kirche vorläufig ge­schenkten Einsicht von der allein in der Heiligen Schrift bezeugten Offenbarung Gottes in Jesus Christus.»9

Beim einmaligen Hören lassen sich die vielen Aspekte kaum fassen, die in dieser kompakten Definition stecken. Da stehen relativierende Aspekte (örtlich, bis auf weiteres, vorläufig geschenkte Einsicht) neben anderen, in denen die Verbindlichkeit annonciert wird (massgebend, richtunggebend, allgemeine christliche Kirche). Das entscheidende Kriterium wird am Schluss genannt: die Offenbarung Gottes in Jesus Christus, wie sie in der Heiligen Schrift bezeugt wird – eine Assoziation zu der ersten These der einige Jahre später verabschiedeten Barmer Theologischen Erklärung drängt sich geradezu auf. Doch bevor wir auf die theologische Kri­teriologie zu sprechen kommen, wollen wir uns zunächst mit den äus­seren Anforderungen beschäftigen, unter denen sich für Barth die For­mulierung |28| eines Bekenntnisses als sinnvoll und dann eben auch als not­wendig darstellt.

Die entscheidende Anforderung ist die, dass ein Bekenntnis konkret sein muss. Aus dieser Anforderung leiten sich im Grunde alle weiteren Anforderungen ab. Was aber meint hier «konkret»? Um dies näher erfas­sen zu können, müssen wir uns den spezifischen Akzent ansehen, den Barth für das reformierte Kirchenverständnis reklamiert. Gewiss gilt für die Kirche entschieden, dass sie eine über die ganze Erde verstreute und somit im substantiellen Sinne eine katholische, d. h. universale Kirche ist. In ihr wird auf das Wort Gottes gehört, geglaubt, geliebt und gehofft, ohne dass es eine Rolle spielt, wie weit die Glieder dieser Kirche vonei­n­ander entfernt sind. Für das tatsächliche Leben der Kirche kommt es aber entscheidend darauf an, dass die Kirche nicht nur hört, sondern die im Hören sich ihr erschliessende Freiheit ergreift und auf das Gehörte antwortet. Sie bekennt nun ihrerseits, was sie gehört hat und was es des­halb unter ihren konkreten Bedingungen zu bezeugen gilt.

Eine recht hörende Kirche wird notwendig zu einer bekennenden Kir­che. Das Bekenntnis ist dabei wohlgemerkt nicht das Sammelgefäss der Wahrheit Gottes, in dem die Kirche nun diese Wahrheit aufbewahrt, son­dern die jeweils von der Kirche und somit von auch fehlbaren Menschen zu gebende Antwort – Barth nennt es auch eine «Empfangsbestätigung»10. Zwar bezieht sich das Bekennen auf das, was Gott gesagt hat, es formu­liert aber das, was der Mensch gehört hat und ist insofern konsequent vom Wort Gottes zu unterscheiden. Es steht nicht für die Aktion Gottes, sondern ist die Reaktion des Menschen, mit der er kundgibt, dass er et­was vernommen hat, was sein Leben in einen neuen Horizont versetzt und somit Folgen für seine Wahrnehmungen der Wirklichkeit hat.

Solches Antworten vollzieht sich jedoch nicht in einer die ganze Welt umspannenden Allgemeinheit – es ergeht sich nicht in einer immer auch problematischen Zusammenstellung von Richtigkeiten –, sondern immer nur in einer konkreten geschichtlichen Situation, in einem benennbaren Lebenszusammenhang, unter einigermassen überschaubaren Umständen. Gott steht kein abstrakter Mensch gegenüber, sondern immer nur kon­krete und somit durchaus unterschiedliche Menschen, die von Gott in |29| ihren unterschiedlichen Situationen angesprochen werden und nun ihrer­seits darauf reagieren. So wie die Rede von «dem Menschen» eine Ab­strak­tion darstellt11, so kann auch die Rede von der Kirche zu einer Abstrak­tion werden, wenn dabei nicht die konkrete Kirche im Blick ist, in der man sich jeweils befindet.12 Darin sieht Barth ein zentrales Element der reformierten Ekklesiologie.13 In dem hier gemeinten Antworten geht es im umfassenden Sinn um das Handeln der Kirche, welches eben immer auch Entscheidung voraussetzt – nicht Entscheidung zum Glauben, son­dern Entschiedenheit und Entscheidung im Glauben.14

Wenn das Handeln der Kirche tatsächlich die Lebensumstände der Menschen tangieren soll, wird es das Handeln einer benennbaren Ge­meinde bzw. lokalen Kirche sein müssen. Die Verabschiedung des corpus christianum durch die reformierten Reformatoren brachte nicht nur beiläu­fig, sondern durchaus entschlossen ein gewisses kongregationalistisches Ferment mit sich, das sich in Barths Kirchenverständnis deutlich zurück­meldet, nicht als Zurückweisung des Motivs der Universalität der Kirche, wohl aber als Schutzwall gegen die Versuchung, sich mit mehr oder we­niger verbindlichen Allgemeinheiten zufrieden zu geben. In dem lutheri­schen Festhalten am mittelalterlichen corpus christianum diagnostiziert Barth einen vor allem politisch motivierten «rückwärts orientierten Sinn»15.

Die deutliche Relativierung von ökumenischen Bekenntnissen für die Gesamtkirche zielte nicht auf eine Schwächung der Katholizität der Kir­che, sondern stand im Gegenteil gerade im Zeichen ihrer Konkretisie­rung. In diesen Sinne ist es zu verstehen, wenn es an anderer Stelle bei Barth heisst: «Der legitime Weg zur Universalität ist hier also gerade die Partikularität.»16 Auch die Katholizität bedarf der Konkretisierung und ist |30| eben nicht ein Rückzugsraum für vom Leben der Ortskirche unberühr­bare Wahrheiten. Das Bekennen der Kirche bliebe weit unter dem zu er­wartenden Niveau, wenn es die Kirche dabei belassen wollte, der Welt ein paar immer richtige Einsichten oder Forderungen zuzurufen, die im besten Fall damit rechnen können, freundlich zur Kenntnis genommen zu werden. Wenn Barth von der «unerbittlichen Konkretheit des reformier­ten Kirchenbegriffs» spricht17, tritt er der gerade von den Kirchen so gern ergriffenen Flucht in die Unverbindlichkeit entgegen.

Das Bekenntnis im Sinne des angesprochenen Antwortens ist weniger öffentliche Verlautbarung oder Deklaration, als vielmehr «Akt, Ereignis, Handlung»18. Die Universalität der Kirche gibt es grundsätzlich nicht anders als örtlich, und da ist sie eben auch zur Geltung zu bringen, nicht als eigenwillige Individualpräsentation, sondern in einer vor der ganzen Kirche zu verantwortenden konkreten Gestalt. Deshalb betont Barth auf der einen Seite die Partikularität: «Wir, hier, jetzt – bekennen dies!» und hält diese aber stets auf der anderen Seite mit dem Anspruch verbunden, eben dies im Namen der einen Kirche zu tun.19 Für Barth ist das Bekennt­nis in reformierter Perspektive «[u]niversal-christliche Wahrheit, aber jetzt und hier in bestimmter Weise erkannt und ausgesprochen von einer christlichen Gemeinde».20

Eine letzte Anforderung, die Barth für ein Bekenntnis der Kirche er­hebt, besteht in seiner Dringlichkeit, die keineswegs immer gegeben ist, der aber da, wo sie gegeben ist, nicht ausgewichen werden darf. Vielmehr hat sich die Kirche in diesem Fall entschieden und öffentlich zu positio­nieren. «Jedes andere Credo ist ein fauler Zauber und vom Teufel, und wenn es wörtlich das Apostolikum wäre», heisst es provokant.21 Ein sol­ches in der Bedrängnis gesprochenes Bekenntnis fällt nicht einfach vom Himmel, sondern ihm geht ein ernsthaftes Ringen um seine Angemes­senheit und Deutlichkeit voraus.

«Vor einem Bekenntnis ohne charakteristische biblische Einsichten, ohne Narben vorangegangenen Kampfes, ohne notwendiges Anliegen, |31| vor einem dogmatisch bedeutungslosen, wohl gar bedeutungslos sein wollenden Bekenntnis, davor behüte uns, lieber Herre Gott!»22

Deshalb ist es auch mit der Rezitation der alten Bekenntnisse nicht getan, wenn nicht zumindest ein authentischer Kommentar dazu gegeben wird. Die ungeprüfte Wiederholung bereits von der Kirche formulierter Ein­sichten, also eine rein traditionsgebundene Orthodoxie stellt Barth später sogar unter den Verdacht der Häresie.23 Es kann nicht darum gehen, dass die Kirche zu jeder Gelegenheit und zu Allem das Wort erhebt, sondern dass sie da, wo sie aufgrund ihrer Bindung an das Wort Gottes das Wort er­heben muss, dies auch in der ihr gegebenen Freiheit und Deutlichkeit tut.

Dieser Dringlichkeit, ja Unausweichlichkeit entspricht dann auf der anderen Seite auch die Verbindlichkeit. Gewiss auch nur «vorläufig», d. h. «bis auf weiteres» – wie es in der zitierten Definition geheissen hat –, jetzt aber gilt es, d. h. es ist für die Kirche «richtunggebend»24. In diesem Sinne formuliert das Bekenntnis eine Wahrheit, von der man sich nicht einfach abkehren kann, ohne sich nicht zugleich von der Kirche insgesamt abzuwenden. Es geht um Dogmatik im Vollzug: Dogmatik, indem die Angemessenheit des Gotteszeugnisses der Kirche zur Debatte steht, aber eben im Vollzug, weil das Gotteszeugnis von einer konkreten Situation herausgefordert wird, auf die es auch bezogen ist. 25

Das, was Barth hier mit seinen Ausführungen für den Reformierten Weltbund zu bedenken gibt, findet dann acht Jahre später in der Barmer |32| Theologischen Erklärung, an der Barth bekanntlich massgebend beteiligt war, seinen exemplarischen Ausdruck. Alle Anforderungen, die Barth an ein Bekenntnis im reformierten Sinne stellt, lassen sich hier in pointierter Weise demonstrieren, was jetzt nicht weiter vertieft werden soll.

Barth kann sich auch eine Beschäftigung der Kirche mit ihren Be­kenntnissen vorstellen, über die sie das eigene Bekennen versäumt. Ange­sichts seiner Bewertung der Verabschiedung des Barmer Bekenntnisses als ein Wunder26 wird man davon ausgehen können, dass dies in seinen Augen wohl eher die Regel als die Ausnahme ist. Deshalb ist hervorzu­heben, dass es bei der Frage nach dem rechten Bekenntnis entschieden nicht um die Verwaltung und Vergegenwärtigung eines bereits erworbe­nen Lehrbestandes gehen kann. Nicht die konfessionell reformierten Be­kenntnisse haben Barth geprägt, so sehr er sie im Einzelnen durchaus geschätzt hat, sondern die reformierte Affinität zum Bekennen als einer Fundamentalbestimmung der Kirche. An die Stelle des Konfessionellen rückt das Konfessorische. Wenn es darauf ankommt, Barth mit der refor­mierten Tradition in Beziehung zu setzen, wird wohl dieses von ihm her­ausgestellte dynamische Prinzip in das Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt werden müssen. Jede andere Bindung an das Reformiertentum würde Barth wohl als im eigentlichen Sinne unreformiert bezeichnen.

2. Wort Gottes und Freiheit

Als inhaltliches Kriterium für ein Bekenntnis nennt Barth in der zitierten Definition die «allein in der Heiligen Schrift bezeugte Offenbarung Gottes in Jesus Christus». Die erste Wahrheit des Barmer Bekenntnisses27 nennt als einzigen Bezugspunkt für theologische Einsichten «Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird» als «das eine Wort Gottes», das «Quelle ihrer [sc. der Kirche] Verkündigung» ist. In formaler Hinsicht ist das gemeint, was Barth in den 1920er Jahren noch das Schriftprinzip nennt. |33| Inhaltlich geht es um sein differenziertes Verständ­nis des Wortes Gottes.

Damit kommt ein Grundzug der Theologie Barths in den Blick, der seiner Theologie ihr charakteristisch dialektisches Gepräge gegeben hat, nicht nur in den 20er Jahren, sondern mit einigen Akzentverschiebungen bis hinein in die letzten vorliegenden Fragmente seiner unvollendeten Kirchlichen Dogmatik28. Lieber als von der reformierten Kirche sprach er von der durch Gottes Wort reformierten Kirche.29 Auch wenn es offen­kun­dig zu sein scheint, was Barth damit meint, kommen wir mit der Frage nach dem Verständnis des Wortes Gottes zu dem sensiblen Kern seiner Theologie, der in diesem Rahmen nur angedeutet werden kann. Das eben zitierte Barmer Bekenntnis weist auf drei Dimensionen des Wortes Gottes: Jesus Christus, das biblische Zeugnis und die Verkündi­gung der Kirche. In den Prolegomena seiner Kirchlichen Dogmatik entwi­ckelt Barth über die Lehre von der dreifachen Gestalt des einen Wortes Gottes seine für alle theologische Erkenntnis grundlegende trinitarische Hermeneutik – beginnend mit dem verkündigten Wort über das ge­schriebene Wort und das offenbarte Wort schliesslich zur Hervorhebung der Einheit des Wortes Gottes.30 Er übernimmt damit die in umgekehrter |34| Reihenfolge gemachte Distinktion Offenbarung – Schrift – Lehre (Pre­digt), wie sie für diverse reformierte Bekenntnisse charakteristisch ist.31

Die entscheidende Pointe besteht nun darin, dass in allen drei Gestal­ten des Wortes Gottes dieses nicht einfach greifbar zur Verfügung steht. So sehr sich Gott in seinem Wort offenbart, so sehr hält er sich in ihm zugleich verborgen.32 So sehr sich auf sein Wort verweisen lässt, so wenig ist es einfach offenkundig. Wo sein Wort in Erscheinung tritt, ist es nicht in dem Sinne offensichtlich, dass sich jeder gleichsam unwidersprechbar darauf berufen könnte. Dass es sich um sein Wort und eben nicht um eines unserer Worte handelt, kann er nur selbst zeigen. Auch im Blick auf das inkarnierte Wort, auf das es Barth entscheidend ankommt, ist das nicht anders: Der Blick auf Jesus gibt nicht von sich aus den Christus zu erkennen.

Das Wort Gottes erschliesst sich konsequent nur dann, wenn Gott selbst das Subjekt der Erkenntnis ist. Offenbarung wird also nicht als eine in der Vergangenheit anzusiedelnde Selbstvergegenständlichung Gottes verstanden. Barth verweist ausdrücklich auf die reformierte Lehre vom Heiligen Geist33, um zu unterstreichen, dass Offenbarung die conditio sine qua non für alle theologisch orientierende Erkenntnis bleibt. Sie ist keine feststehende Tatsache, der sich nicht mehr widersprechen lässt, sondern ein Geschehen, ein Ereignis, das von den Spuren, die hinterlassen wur­den, niemals auch nur annähernd festgehalten werden kann. Das Wort Gottes ist keine handhabbare Grösse. Ihm eignet eine in der Lebendigkeit Gottes gründende eigene Dynamik, in der es immer wieder neu gehört werden will. |35|

Hier kommt Barths kritische Auseinandersetzung mit der sogenann­ten natürlichen Theologie in den Blick. Sie ist nicht nur – wie jetzt Ger­hard Sauter annonciert hat34 – eine den besonderen historischen Heraus­forderungen geschuldete Überpointierung, sondern hat prinzipiellen Charakter.35 Die konsequente Offenbarungstheologie Barths ist m. E. als ein stringentes Zu-Ende-Denken des bereits von den Reformatoren für die Theologie als grundlegend festgehaltenen hermeneutischen Zirkels anzu­sehen, auf den man im Laufe der theologischen Erkenntnisarbeit unwei­gerlich an irgendeiner Stelle stösst. Indem Barth herausstreicht, dass dies nicht an irgendeiner Stelle geschieht, sondern bereits grundsätzliche Voraussetzung jeder theologischen Erkenntnis überhaupt ist, wird die Theologie in eine unabschüttelbare Verlegenheit versetzt, die sie dazu nötigt, sich in all der geforderten Entschlossenheit doch zugleich eine prinzipielle Vorbehaltlichkeit aufzuerlegen, in der sie sich ganz und gar auf den Selbsterweis des von ihr bezeugten lebendigen Gottes verwiesen weiss.

Diese Vorbehaltlichkeit wird bereits in den immer wieder zitierten Leitsätzen von Barths unter anderem auch vor reformiertem Publikum gehaltenen Vortrag «Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie» (1922) angemeldet: «Wir sollen von Gott reden» – «Wir sind aber Menschen und können als solche nicht von Gott reden» – «Wir sollen beides, dass wir von Gott reden sollen und nicht können, wissen und eben damit Gott die Ehre geben.»36 Wie Barth später verdeutlicht, liegt es allerdings nicht allein an unserer Menschlichkeit, dass wir nicht von Gott reden können, sondern vor allem an der Dynamik des lebendigen Gottes, der zwar nicht immer ein anderes Wort, wohl aber sein Wort immer wieder neu sagt, so dass nur da angemessen von Gott geredet wird, wo auf das aktuell erge­hende Wort Gottes geantwortet wird.

Gewiss können wir es lernen, uns in unseren Traditionen zu bewegen und diese dann auch in theologischen Disputen zu verteidigen oder zu |36| relativieren, aber es gibt in keiner Tradition ein Wahrheitsprivileg, weil wir von uns aus weder einen Zugang zur Wahrheit noch eine Verwal­tungshoheit über die Wahrheit haben.37 Das hat durchaus weitreichende Konsequenzen etwa für die Ökumene bis hinein in den heute so wichtig gewordenen interreligiösen Dialog, wenn Barth so konsequent die Wahr­heit auf der Seite Gottes belässt und sie davor schützt, zu einer Disponib­len des Menschen zu werden. Sie bleibt im Horizont der Erwählung Got­tes und verschafft sich darin Geltung, dass Gott eben auch heute erwählt, beruft und sendet38 – nicht zur Traditionsweitergabe, sondern zum Zeug­nis von der befreienden Versöhnung, durch welche der Mensch aus den Bindungen der alten Welt entnommen ist, so dass er den von diesen Bin­dungen nach wie vor ausgehenden Ansprüchen im aufrechten Gang ent­gegentreten kann.

Wenn Barth 1923 in seinem Vortrag auf der 19. Hauptversammlung des Reformierten Bundes in Emden die Reformierten dazu aufruft, das Zeugnis der Schrift doch erkennbarer in die Mitte ihres Selbstverständnis zu rücken, möchte er davor warnen, «die Frage der Lehre […] als ‹ir­gendwie› schon gelöst […] vorauszusetzen»39. Traditionalismus ist – poin­tiert gesprochen – mangelnde Ernsthaftigkeit, weil der in ihm liegende theo­logische Narzissmus der theologischen Aufmerksamkeit und Er­wartung im Extremfall so enge Grenzen setzt, dass es nur noch zur Selbst­bestätigung kommt. «Mit der Liebe des Antiquars, […] des religiö­sen Heimatschützlers, des Freundes reformierter Art, weil sie reformiert ist, kann gerade der reformierten Kirche auf keinen Fall gedient sein.»40 Viel­mehr konzentriert Barth die ganze reformierte Tradition auf die an­haltende konstitutive lebendige Beziehung zum seinerseits lebendigen biblischen Zeugnis: Es «gibt […] streng genommen keine reformierte Tra­dition |37| ausser der einen zeitlosen: dem Appell an die offene Bibel und an den Geist, der aus ihr zum Geiste redet.»41 Nur wenn der prinzipiell sekun­däre Charakter der theologischen Lehre konsequent im Bewusstsein steht, hat dieser Appell eine Chance, ernst genommen zu werden. «Ein Dogma im strengen hierarchischen Sinn kennt die reformierte Kirche also gerade nicht.»42 Und so verwundert es auch nicht, wenn Barth später in den Prolegomena zur Kirchlichen Dogmatik die Methode der Dogmatik vor allem in diesem grundsätzlichen Sich-Offenhalten gegenüber dem theologischen Altbesitz sieht43.

Damit wird wohlgemerkt nicht die theologische Lehre diskreditiert44, wohl aber ihre Dogmatisierung im Sinne einer Festschreibung. Sie be­kommt im Gegenteil eine ungleich anspruchsvollere Aufgabe, weil sie sich nicht auf den bereits erworbenen Errungenschaften ausruhen kann, sondern erst dann an ihr Ziel kommt, wenn sie sich als je neu zu formu­lierende Antwort auf das heute gehörte Wort Gottes artikuliert. Indem wir damit aber nicht bei Null anfangen, sondern auch die Bibel immer schon mit den Augen unserer Konfession lesen, weist Barth im Zeichen des fünften Gebots auf die Ehre, die wir unseren Müttern und Vätern – also der theologischen Tradition – zu erweisen haben, denn ohne sie wä­ren wir nicht, was wir sind. Ohne Schaden kann niemand einfach an der theologischen Tradition vorbeigehen.45 Wolfgang Lienemann weist zu Recht darauf hin, dass kaum ein Theologe so häufig wie Barth «immer wieder aufs Neue die Bekenntnisse der Kirche ausgelegt hat»46. Anstelle eines Bedingungsrahmens für die Theologie sind sie für Barth vor allem der die Theologie sprachfähig machende Orientierungshorizont für eine möglichst genaue Benennung von Entscheidungen, welche die Kirche in |38| ihrer Geschichte bereits zu bestehen hatte. Inwieweit sie allerdings tat­sächlich Autorität beanspruchen können, kann nicht kirchenrechtlich geregelt werden, sondern wird sich in ihrer für heute zu erprobenden Erschliessungskraft beim Verstehen des biblischen Zeugnisses erweisen. Wenn Barth vor dem theologischen Zitat warnt, dann nicht weil er an­nimmt, dass wir heute alles besser sagen können. Es kommt vielmehr darauf an, dass wir es uns von niemand abnehmen lassen können, die Antwort selbst zu sagen. Gerade weil es nicht einfach zur allgemeinen Verfügung steht, was Gott gesagt hat und sagt, sondern jeweils neu ge­hört werden muss, gilt es auch menschlich und d. h. im Horizont all der Unzulänglichkeiten, mit denen das Menschliche nun einmal behaftet ist, jeweils neu zu sagen47, was es als das Wort Gottes zu hören gibt und dies dann gegebenenfalls auch zu bekennen: Wir, hier, jetzt – dies.

Von den reformierten Aufbrüchen im 16. Jahrhundert ist von ihren Vertretern zu lernen, nun auch selbst wieder zum Anfänger zu werden.48 Alles, was durch etwas anderes als das Wort Gottes bewahrheitet wird, wird schwerlich den Anspruch erheben können, das Wort Gottes zu sein – nicht die Lehrautorität der Kirche steht zur Debatte, sondern die Aner­kennung der Autorität Gottes, die sich eben auch heute in seinem leben­digen Wort Geltung verschafft.49 In dem für die reformierte Tra­dition charakteristischen Schriftprinzip geht es schlicht und folgenreich darum, «sich eine so zufällige, kontingente, menschliche Grösse wie die Bibel allen Ernstes zum Zeugnis von Gottes Offenbarung, diese an sich profane zur Heiligen Schrift werden zu lassen».50 In einer neuen Erfassung des recht verstandenen «Schriftprinzips» sieht Barth ausdrücklich «den einzi­gen ernsthaften Programmpunkt einer reformierten Theologie für die nächste Zeit. Es wird, soweit es sich hier um ein menschliches Tun über­haupt handeln kann, darum gehen, die Kategorie der Offenbarung wieder denken und unter diesem Gesichtspunkt die Bibel Alten und Neuen Tes­taments wieder lesen zu lernen.»51|39|

In der Konzentration auf das Wort Gottes steht auch die Freiheit der Theologie zur Debatte, und das schliesst für Barth die Befreiung des in­zwischen von der eigenen Tradition domestizierten Reformiertentums mit ein – er nennt die Orthodoxie, den Pietismus, die Aufklärung und Schleiermacher als die vier Ecksteine seines Gefängnisses52 (was hier nicht weiter ausgeführt werden kann). Die Befreiung zielt auf die anspruchs­volle Freiheit des ersten Gebots. Christliche Freiheit und auch die Freiheit der Kirche gehen unmittelbar mit dem Gebotsgehorsam gegenüber die­sem Gebot zusammen, wobei es bedeutungsvoll bleibt, dass der Gott, der von dem Gebot als der Befreier Israels aus der Gefangenschaft in Ägypten gepriesen wird, der heute lebendige Gott ist, der sich durch den Heiligen Geist in der biblischen Bezeugung immer wieder neu vernehmbar zu machen verheissen hat. Es gilt, all die inzwischen zur Selbstverständlich­keit verkommenen Versuche der Gefangennahme Gottes zu beenden, durch welche sich der Mensch als Regisseur und Dramaturg seiner Reli­giosität zu behaupten versucht, ohne sich dabei von dem circulus vitiosus, in dem er sich dabei faktisch bewegt, irritieren zu lassen. Der sich selbst ausgelieferte Mensch bleibt auch in seinen Befreiungsversuchen ein Ge­fangener seiner selbst – wirkliche Befreiung, eben auch von seinen An­strengungen zur Selbstbefreiung, kann ihm nur von aussen eröffnet wer­den. Hier behält das erste Gebot seine fundamentale Bedeutung.53

3. Von der Mitte aus offen in alle Richtungen

Eine dritte Facette von Barths spezifischem reformiertem Profil, die bisher kaum Beachtung gefunden hat, lässt sich in einer bemerkenswerten Poin­tierung der ökumenischen Sendung der reformierten Kirchen entdecken, und zwar in einem durchaus pragmatischen Horizont – Barth spricht hier von einer «strategischen» Tatsache54. Im Rahmen der Gründungsvollver­sammlung |40| des Ökumenischen Weltrates der Kirchen 1948 in Amsterdam gab es ein Treffen, in dem sich die reformierten Kirchen unter sich trafen, um sich über ihre Wahrnehmungen und Hoffnungen auszutauschen. In dieser Versammlung hält Barth eine relativ kurze Ansprache, in welcher er seine Optionen für das Verhältnis der Reformierten zum Weltrat der Kirchen zur Diskussion stellt. Nachdem Barth u. a. auf das besondere öku­menische Potential des calvinischen Denkens hingewiesen hat, ver­sucht er den versammelten Reformierten die ökumenische Gesamtlage des Weltrates vor Augen zu rücken. Er tut das in der Absicht, die Auf­merksamkeit einmal von den gewiss sehr unterschiedlichen Motivations­lagen, mit denen die Kirchen aufgrund ihrer jeweiligen lokalen Erfahrun­gen nach Amsterdam gereist sind, auf die Gesamtsituation der zer­split­­terten «Kirchen» – Barth notiert den Begriff in Anführungszeichen – zu lenken, um dann den reformierten Kirchen eine Rolle ans Herz zu legen, welche nicht an Partikularinteressen, sondern an einer möglichst realisti­schen Wahrnehmung der Gesamtlage orientiert ist.

«Wenn ich die ganze Fülle der hier vertretenen ‹Kirchen› überblicke, dann sehe ich einen rechten und einen linken Flügel: am äussersten rechten Flügel unsere Freunde aus den orthodoxen Kirchen, für uns recht schwer zu verstehen, als ob sie in einem gewissen Nebel zu ver­schwinden drohten. Links von ihnen, mehr zur Mitte hin, die Anglika­ner mit einer Fülle von verschiedenen Möglichkeiten, nach ihnen die Altkatholiken und dann als unsere nächsten Nachbarn zur Rechten die Lutheraner. Und wir sehen links von uns in grosser Mannigfaltigkeit: die Congregationalisten, die Methodisten, Baptisten, die Disciples of Christ. Jenseits von ihnen beginnt für uns auch auf dieser Seite die Ne­belregion, wo die Mennoniten, die Quäker, die Heilsarmee zu Hause sind, die mit Taufe und Abendmahl nichts anzufangen wissen und bei denen es dunkel erscheint, ob sie noch Kirchen sind oder nicht, ob sie es auch nur sein wollen. Dieses Ganze ist der ‹Weltrat der Kirchen›: diese lange Front von rechts nach links mit all ihren Verschiedenhei­ten, heimlichen und offenen Widersprüchen. Das Besondere unseres reformierten Ortes ist dies, dass wir uns ziemlich in der Mitte befin­den: |41| in nächster Nachbarschaft rechts mit den Lutheranern, links mit den Congregationalisten.»55

Man mag die Schematisierung und die impliziten Bestimmungen der dargestellten Szenerie beklagen. Dennoch wird sich schwerlich bestreiten lassen, dass Barth hier im Blick auf die unterschiedlichen Ekklesiologien, um die es ihm geht, etwas benennt, was durchaus eine Evidenz hat, die sich ohne weiteres weiter untermauern liesse. Während auf der rechten Seite der Ton auf der geschichtlichen Kontinuität liegt, steht auf der lin­ken Seite die Betonung der durch Wort und Geist bewegten Freiheit im Vordergrund. Wenn Barth nun die Reformierten als «katholische Protes­tanten» und als «protestantische Katholiken» bezeichnet, dann sieht er bei den Reformierten sowohl Elemente, die den rechten Flügel charakterisie­ren, als auch solche, die dem linken Spektrum näherstehen. Nun liesse sich schnell einwenden, dass immer da, wo jemand für sich die Mitte beansprucht, Skepsis angebracht ist und sehr genau hinzusehen ist. Doch Barth geht es weniger um die Beanspruchung der Mitte als vielmehr um die Warnung, nicht nur in die eine Richtung zu blicken, und das wäre eben die rechte Richtung, von der sich die Reformierten von Anfang an in besonderer Weise beeindrucken liessen, während sie zugleich der ande­ren Seite gegenüber gern die kalte Schulter zeigten – um nur die harmlo­seste Variante zu nennen. Indem Barth auf beiden Seiten bestimmte Wahrheitsmomente anerkennt, kommt den Reformierten die Aufgabe zu, sich auch tatsächlich in beide Richtungen zu öffnen und sich eben nicht nur von der manifesten Kirchlichkeit auf der Rechten beeindrucken zu lassen.

Damit wird ein Aspekt angesprochen, der im Blick auf den Protestan­tismus inzwischen insgesamt eher an Problematik zugenommen als ab­genommen hat. Wenn man etwa die Amtsdiskussion betrachtet, die weite Teile der Ökumene in Atem hält, zeigen die protestantischen Kirchen eine signifikant grössere Beeindruckbarkeit von Seiten der hochkirchlichen Traditionen, als dass sie sich dafür einsetzen, den Wahrheitsmomenten der anderen Seite, die ja immerhin ihre Wurzeln vor allem in der Refor­mation hat, auch nur ausreichend Gehör, geschweige denn auch Geltung zu verschaffen. Wenn Barth in Amsterdam die Reformierten dazu er­mahnt, ihre Mittelposition ökumenisch zu nutzen, ging es ihm nicht um |42| Ausgewogenheit, wohl aber um das Eintreten für Wahrheitsmomente, die eben auch von dem linken Flügel zu vernehmen sind, der sich nicht so machtvoll in Szene setzen kann und will, wie es aufgrund des offenkun­dig unbefangenen und teilweise hemmungslos manifesten ekklesio­lo­gischen Selbstbewusstseins dem rechten Flügel möglich und sinnvoll erscheint. Die problematischen Seiten der selbstdarstellerischen Hoch­kirch­lichkeit halten sich ja keineswegs verborgen, aber sie werden mit einer gewissen Indolenz und einer frappanten Selbstverständlichkeit mehr oder weniger konsequent ausserhalb der Diskussion gehalten. So vor­sichtig und gerade nicht einseitig Barth seine Hoffnung für die Refor­mierten im Blick auf die Ökumene formuliert, so aktuell bleibt ihre impli­zite Kritik an der auch den reformierten Kirchen nicht fremden Neigung zur Selbstdarstellung. Dass Barth selbst eher in die Richtung des linken als in die des rechten Flügels tendierte, verschweigt er dabei keines­wegs.56 Zugleich ist erkennbar, dass sich Barth überaus wohlfühlt, in der Öku­mene als ein Reformierter auftreten zu können.57

4. Zum Schluss: Ein reformierter Reformierter

Wenn von Karl Barth als einem reformierten Theologen die Rede sein soll, bleibt zu beachten, dass sich Barth in einer ganz spezifischen Weise auf reformierte Wurzeln beruft. Er sah es als notwendig an, die Tradition zu kennen und mit ihr in Gespräch zu treten.58 Aber es ist nicht die Tradi­tion, die ihn bei aller Orientierung, die sie zu geben vermag, bewegt, son­dern die treibende Kraft sieht er in der Haltung und Perspektive, wie sie ihm vor allem aus der Zeit des reformierten Aufbruchs als energische Rückbesinnung der Kirche auf ihren tragenden Grund und ihre konkrete |43| Bestimmung vor Augen steht.59 Es ist dieses dynamische und in gewisser Hinsicht rückhaltlose reformatorische Drängen auf das rechte Hören des Wortes Gottes und die sich daraus ergebende Gestaltung der Kirche und des ganzen Lebens, in denen sich Barth an die reformierte Tradition ge­bunden weiss. Aus dieser spezifischen Bindung bezieht er dann eine weithin beispiellose Freiheit für respektvolle und durchaus würdigende und zugleich überaus weitreichende Umstellungen und Neuakzentuie­rungen, die ihn einerseits als Kenner der Tradition ausweisen und zu­gleich als einen ebenso konsequenten wie auch überraschenden Neuge­stalter der Theologie in Erscheinung treten lassen.

Für Barths spezifische reformierte Haltung scheinen mir folgende fünf Akzente im Vordergrund zu stehen:

1. Im Zentrum steht das Vertrauen in die Bibel als das orientierende und als solches durch nichts zu ersetzende oder zu überbietende mensch­liche Zeugnis von Gottes Geschichte mit dem Menschen. Auf ihm liegt die besondere Verheissung, zum jeweils lebendigen Wort Gottes zu wer­den, indem es durch eben den Geist zu uns spricht, der die Verfasser, Sammler und Redaktoren dazu gebracht hat, diese Texte zusammenzu­halten, so dass sie von Gott immer wieder dazu geheiligt werden, sein lebendiges Wort vernehmbar werden zu lassen. Es ist diese unverfügbare Dynamik, durch welche das biblische Zeugnis immer wieder zu der Of­fenbarung werden kann, auf welche die Kirche schlechterdings angewie­sen ist, wenn es darum geht, nicht nur die menschlichen Gedanken über Gott zur Sprache zu bringen, sondern Gottes Handeln an den Menschen, seinen Willen und seine Absichten, die nur dann zu vernehmen sind, wenn sie von ihm selbst erschlossen werden. Von Gott gibt es nur etwas zu hören, wenn er selbst spricht. Und das, was er spricht, ist seinem We­­sen nach etwas grundsätzlich anderes, als was wir uns auch selbst sagen könn­ten. Es ist diese vor allem auf dem biblischen Zeugnis liegende Of­fen­barungsverheissung, die ihm seine Unvergleichlichkeit verleiht und es je und je zur Heiligen Schrift macht.

2. Für Barth ist es entscheidend, dass das Wort Gottes das Wort Gottes bleibt und eben nicht zu einem mehr oder weniger mirakulösen Ereignis der Vergangenheit verkommt, das nun von der Erinnerungsgemeinschaft |44| der Kirche lebendig gehalten wird. Käme es dabei auf die Kirche an, gäbe es wenig Anlass, die Hoffnung auf das Wort Gottes zu setzen. Barth sieht sie weithin mehr mit der Behinderung des Wortes Gottes beschäftigt als mit seiner lebendigen Verbreitung. Dass aber dennoch das Wort Gottes heute vernehmbar ist, ist der Lebendigkeit Gottes selbst zuzuschreiben, in der er sich auch der Kirche bedient, so sehr diese auch versucht, den Sturzbach des lebendigen Wassers in ruhige und gemächliche Kanäle zu leiten. Barth macht dies zum zentralen Thema im dritten Band seiner Versöhnungslehre (KD IV/3).60

3. Indem das Bekenntnis auf der Seite des Menschen angesiedelt ist, kann es grundsätzlich nur relative Autorität beanspruchen. Die teilweise in der lutherischen Kirche gepflegte Kühnheit, von der Inspiriertheit der Bekenntnisschriften zu sprechen, registriert Barth immer mit erkennba­rem Befremden.61 Ganz abwegig ist die Vorstellung, dass in dem Bekennt­nis die Wahrheit zusammengefasst sei, denn diese gerät ihrem Wesen nach nicht in die Hände und die Regie des Menschen, sondern bleibt in der Macht des Geistes Gottes, in welcher sie sich hier und da klaren Aus­druck verschafft. In diesem Sinne bleibt das Bekennen wichtiger als das rezitierbare Bekenntnis. Das Engagement soll der jeweils konkreten Ant­wort auf Gottes Anrede in den jeweiligen geschichtlichen Umständen gelten. Barth hat die permanente Gefahr vor Augen, dass die Energie, welche die Kirche für die Bewahrung ihres Bekenntnisses und die vor allem museale Pflege ihres Bekenntnisstandes aufbringt, ihr dann in der Bewährung des konkreten Bekennens fehlen könnte.

4. Mit der Relativierung des Wortlauts verbindlicher Lehre verbindet sich eine besondere ökumenische Offenheit, die Barth essenziell der recht verstandenen reformierten Tradition zurechnet. Sobald eine Kirche für sich ausser dem biblischen Zeugnis auch noch anderes für verbindlich erklärt, etabliert sie exklusive Elemente in ihrem Selbstverständnis, die sich dann zwangsläufig als Hürde im Umgang mit anderen Kirchen er­weisen. Je mehr |45| solcher Hürden eine Kirche im Laufe ihrer Geschichte aufgerichtet hat, umso unbeweglicher erweist sie sich in der ökumeni­schen Kommunikation mit anderen Kirchen, umso unfähiger wird sie für wirkliche ökumenische Beziehungen. Der Verzicht auf die Etablierung solcher Hürden bedeutet ja keineswegs den Verzicht auf prägnante theo­logische Lehre, aber diese Lehre wird weniger als Grenzziehung als viel­mehr als ein zu weiterer Klärung einladender vorläufiger Erkenntnis­stand verstanden. Es kommt nicht auf gemeinsam zu formulierende Dog­men an, wohl aber auf die gemeinsame Blickrichtung, von der sich die Kirche die entscheidende Orientierung in ihren jeweils neu zu formu­lierenden Erkenntnissen erhofft. Ohne ein ausgewiesenes Mass an Selbst­relativierung kann die Kirche die zu ihrem Wesen gehörende Öku­me­ni­zi­tät nicht tatsächlich wahrnehmen.

5. Es geht Barth bleibend um das Anliegen, das er im Blick auf Calvin in der besonderen Aufgabe der zweiten Generation der Reformation her­ausgestellt hat.62 Ich möchte es einmal die Erdung der reformatorischen Theologie nennen.63 Die erste Generation hat die Kirche, die sich im ausge­henden Mittelalter ganz und gar an die horizontale Dimension ihrer irdischen Gestaltung verloren hatte, wieder an die sie konstituierende vertikale Dimension erinnert und diese eben dadurch ausgezeichnet, dass alles andere radikal relativiert wurde. Ohne den Paukenschlag, der hier insbesondere von Luther in unüberhörbarer Deutlichkeit zu vernehmen war, wäre wohl kaum Bewegung in die erstarrte Situation gekommen. Auf der anderen Seite hat die emphatische Konzentration auf den Glau­ben die dann auch eintretende Gefährdung mit sich gebracht, ihn zu einer leiblosen Angelegenheit werden zu lassen. Es war die keineswegs einfa­che und wohl auch unabschliessbare Aufgabe der zweiten Generation – und dies heisst für Barth reformiert sein –, das Charisma der von der ers­ten Generation wieder in den Blick gerückten vertikalen Dimension nun auch wieder mit der horizontalen Dimension zu verbinden, um den Glauben so ins Leben zu ziehen, dass er nicht nur rechtfertigt, sondern eben auch heiligt.64 Erst in der Heiligung des Menschen kommt die Versöh­nung an ihr Ziel, und deshalb bleibt auch der Zusammenhang von der Rechtfertigung mit diesem Ziel eigens zu bedenken und kann nicht einfach dem Zufall und den faktisch meist sparsamen Kontingenzen der Liebe überlassen werden, wenn nicht am Ende ein sehr beschnittenes |46| ästhetisierendes Verständnis des Glaubens herauskommen soll. Das Be­kennen schliesst das konkrete Lebenszeugnis mit ein – indem Barth dies betont, ist er bewusst reformiert.

Generell bleibt zu betonen, dass nur das in den Augen Barths tatsäch­lich als reformiert gelten kann, was sich tatsächlich ständig reformiert. Barth ist darin ein reformierter Reformierter, dass er sich in Wahrneh­mung seiner gegenwärtigen theologischen Verantwortung dazu gedrängt sieht, auch selbst vorgetragene Einsichten erneut zu reformulieren, um der menschlich erreichbaren Prägnanz eine grösstmögliche Klarheit zu ver­­leihen. Das Wissen um unsere Angewiesenheit auf den Heiligen Geist er­­laubt einerseits keine Nachlässigkeit in der Genauigkeit unseres Den­kens, wie es andererseits von einer grundsätzlichen Vorbehaltlichkeit ge­prägt sein sollte. Es gibt keinen theologischen Satz, der nicht auch in missbräuchlicher Weise benutzt werden kann – auch nicht das «Soli Deo glo­ria»65 –, und so gilt es, immer auf den Zusammenhang und das Gefälle zu achten, damit am Ende nicht ein vielleicht systematisch stimmiges, tat­sächlich aber lebloses und darin gottloses theologisches Konstrukt an die Stelle eines pünktlichen Denkens im Dienst eines lebendigen Zeugnisses tritt. Es geht um die theologische Entsprechung zu der die Welt verän­dernden Dynamik des Wortes Gottes. In diesem Sinne bestand Barths freies Reformiertsein in dieser Gleichzeitigkeit von klarer Entschiedenheit und prinzipieller Vorläufigkeit, die ihn immer wieder vor allem auf die Bitte um den Heiligen Geist geführt hat.

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Oepke Noordmans (1871–1956): Reformierte Identität als Leben im Kraftfeld des Geistes

Akke van der Kooi

1. Einleitung

In der Einleitung dieses Buches haben die Herausgeber das Problem skiz­ziert, dass heutzutage viele Men­schen aus reformiertem Hause über­haupt nicht mehr wissen, warum sie reformiert sind bzw. was es eigent­lich bedeutet, reformiert zu sein. Das ist in meinem Land, den Nieder­landen, kaum an­ders, auch wenn sich die Din­­­ge in kon­ser­vativeren Kreisen der re­for­mierten Familie (der «Refos,» im Volksmund) etwas nuan­cierter dar­stellen. In vielen protestan­tischen Kir­chen nehmen Fragen zur Sinn­gebung oft den Platz des Interesses an Refor­ma­tionsgeschichte und Kir­chen­lehre ein. Sehr verschiedene Ent­wicklun­gen haben zur Unsicherheit vieler Men­schen beigetragen, was sie sich unter dem Wort «reformiert» vorzustellen haben. Ich kann nur einige davon erwähnen. Es kann in diesem dritten Millennium einerseits die Entfremdung von der eigenen Tradition durch Säkularisierung, Kirchen­austritte und die Begegnung mit anderen Religionen und Kulturen kon­statiert werden. Andererseits gibt es die Aufarbeitung der grossen Ereig­nisse von Krieg und Gewalt des vo­ri­­gen Jahrhunderts, die ihren Einfluss auf das Denken über Gott und Glaube gehabt haben. Weiter sind viele Leute unsicher, was «reformiert sein» bedeutet, da die­ser Terminus oft mit Kirchlichkeit oder Dog­ma­tis­mus assoziiert wird. Zudem gibt es die neue Medienkultur, die die tradi­tio­­nelle Tradierungs­form des Evange­liums als Wortverkün­di­gung, die ja |48| in der reformierten Theologie und Kir­che zentral ist, zu einer überwunde­nen Gestalt zu ma­chen scheint. Auch existieren Vorurteile, die «reformiert sein» mit patriarchaler und auto­ritärer Gewalt verbinden, um nur einige Punkte zu nennen. Es ist dar­um sinnvoll, in unserem Jahrhundert der Fra­ge nachzugehen, welche Akzente reformierte Theolo­ginnen und Theolo­gen des 20. Jahrhunderts im Kontext ihrer Zeit formuliert haben, und zu sehen, wo die Vitalität ihres Denkens in unseren heutigen Diskussio­nen relevant gemacht wer­den kann.

Der Zukunftscharakter reformierter Identität