Reise an den Rand des Universums - Urs Widmer - E-Book

Reise an den Rand des Universums E-Book

Urs Widmer

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Beschreibung

»Kein Schriftsteller, der bei Trost ist, schreibt eine Autobiographie«, lautet der erste Satz. Urs Widmer hat die eigene Warnung in den Wind geschlagen und ein großartiges Erinnerungsbuch verfasst. Mit dreißig begann sein Leben als Schriftsteller. Die Zeit davor bildet das Fundament seines Werks, und ihr ist dieses Buch gewidmet, den Fakten und Erinnerungen, wie es »tatsächlich« war. Eine persönliche Geschichte aus den für die Weltgeschichte so entscheidenden Jahren 1938-1968."

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Seitenzahl: 448

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Urs Widmer

Reise an den Randdes Universums

Autobiographie

Die Erstausgabe erschien

2013 im Diogenes Verlag

Umschlagillustration:

Shirana Shahbazi, ›Schnecke-01-2011‹ (Ausschnitt)

C-print auf Aluminium

Copyright © Shirana Shahbazi

Mit freundlicher Genehmigung der Galerie Bob van Orsouw, Zürich

Für Juliana

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2015

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24330 7 (1.Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60338 5

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] 1938–

[7] KEIN Schriftsteller, der bei Trost ist, schreibt eine Autobiographie. Denn eine Autobiographie ist das letzte Buch. Hinter der Autobiographie ist nichts. Alles Material verbraucht. Kein Erinnerungsrätsel mehr.

Immer näher rücken mir die Erinnerungen in ihrer puren Nüchternheit. Ich bin in der Falle des eigenen Lebens. Es ist wie bei einer Sanduhr: Der Sand, anfangs überreich im obern Glas, rinnt unerbittlich nach unten, und an einem Tag ist die letzte Erfindung, die in etwas Erlebtem wurzelt, erzählt. Du bist nicht tot – das ist ein anderer Sand in einem andern Stundenglas –, aber du hast alle Geschichten erzählt.

Außer: Du machst, hoffentlich rechtzeitig noch, aus deiner Not eine Tugend. Tust das Unabänderliche mit Lust und erfindest das Leben mit genau dem, was du erinnerst. Mit den Tatsachen. Mit dem, was du redlich und aufrichtig dafür zu halten gewillt bist. Denn früher einmal dachte ich, dass die Phantasie nichts anderes als ein besonders gutes Gedächtnis sei. Heute glaube ich eher, dass jedes Erinnern, auch das genaueste, ein Erfinden ist. Das Tatsächliche erinnern: Auch daraus kann nur ein Roman werden.

Vermutlich aber gehorche ich nur einem banalen Gesetz der Menschen: Erst träumen wir von der Zukunft, dann leben wir sie, und am Ende, wenn diese gelebte Zukunft vergangen ist, erzählen wir sie uns noch einmal.

[8] SO wurde ich gezeugt: Meine Eltern, seit zwei Jahren verheiratet, verbrachten ihre Ferien im Lötschental. Das war damals so weit weg von jeder Welt, dass sie seinen Eingang kaum fanden. Der Zug hielt zwar in Goppenstein, direkt am Ende des Lötschbergtunnels. Aber da war dann nur ein einsames Stationsgebäude, eine unter Felswände geduckte Steinburg, und auf der andern Talseite, vor ähnlich steilen Fluhen und keinen Steinwurf entfernt, ein Haus, für das es keine Erklärung gab. Denn wer sollte hier wohnen? – Zwischen Haus und Bahnhof der Bach, ein reißendes Gewässer.

Ins Tal gelangten sie durch einen Stollen, der so breit wie ein Maultier war, kaum breiter, und ohne Licht. Nasse Wände. Allerdings sahen sie den Ausgang bereits, als sie das Höhlenloch betraten. (Wie waren die Talbewohner vor dem Bau des Stollens in ihr Tal gelangt? Mit Hilfe einer Hängebrücke, die über dem gischtenden Bach hing? Auf einem heute verschwundenen Kletterpfad?) – Wie auch immer: Hinter dem Stollen öffnete sich das Tal, schön und grün und sonnig. An seinem Ende, fern, eine schneeglitzernde Bergwand mit einer Kerbe in ihrer Mitte, der Lötschenlücke, über der der blaue Himmel strahlte. Es gab keine Straße, oder nur eine, die den Maultieren gehörte, allenfalls einem Karren. In der Mitte des Tals, hinter Kippel, hörte auch der Karrenweg auf, und meine Eltern gingen hintereinander auf einem fußbreiten Saumpfad. Sie trotteten, ohne Maulesel oder gar einen Wagen, ihre prallvollen Rucksäcke auf dem Rücken, durch einen Weiler nach dem andern – Ferden, Kippel, Wiler –, bis sie in Blatten ankamen. Dem Ziel ihrer Sehnsucht. Es war das hinterste Dorf im Tal und roch heftig [9] nach seinen Maultieren, aber meine Eltern störten sich nicht daran, sondern waren entzückt von all dem Urtümlichen. Ich habe keine Ahnung, warum es sie just in dieses Blatten verschlagen hatte, das zwischen dem Mittelalter und der Gegenwart keinen Unterschied machte und auf den Karten der Landestopographie nur zu finden war, wenn man mit einer Lupe danach suchte. Vielleicht durch Conrad Beck, einen Komponisten, der mit ihnen (seine Frau war auch dabei) und ein passionierter Berggänger war. Das Bietschhorn, das dann seine Beute wurde, ragte vor ihnen in die Höhe, jener furchterregende Viertausender, dessen Erstbesteiger der Vater Virginia Woolfes gewesen war. Ganz so unbekannt konnte das Lötschental doch nicht gewesen sein. Wie sonst hätte Virginia Woolfes Papa es sonst gefunden? – Aber noch immer riegelte der erste Schnee das Tal von der Außenwelt ab. Wer an diesem Schicksalstag in ihm drin war, blieb drin. Wer draußen war, musste auf die Schneeschmelze warten. Das war das Gesetz, gegen das es keinen Einspruch gab. Es gab kaum je einen Winter ohne einen Eingesperrten oder Ausgesetzten. Es gab sogar einen Winter ohne Pfarrer – der hatte seinen Kollegen in Gampel besucht und war, heimwärts stürmend, langsamer als der vom Himmel strömende Schnee gewesen –, und vier Lötschentaler starben ohne eine Letzte Ölung. Drei kleine Menschenkinder mussten bis zum Frühling auf ihre Taufe warten.

Meine Eltern und die Becks mieteten sich in einem schwarzverwitterten Holzhaus ein, dem größten und schönsten des Dorfs in der Tat, in der Wohnung im ersten Stock, deren Fenster, wie alle Fenster im Tal, so klein waren, dass sie kaum die Köpfe hindurchstecken konnten. Unter ihnen [10] toste der Bach, die Lonza. Die Lonza war so laut, dass sie sich anbrüllen mussten, wenn sie beim Frühstück um die Butter baten. Es war ein ununterbrochenes unerbittliches Tosen. Meine Eltern brüllten, die Becks brüllten, aber nach ein paar Tagen hatten sie sich daran gewöhnt, brüllend nach dem Salz zu fragen oder einen Witz zu erzählen. (Conrad Beck war ein Meister des Witze-Erzählens.) Die Einheimischen brüllten nicht. Sie hatten über viele Generationen hin eine Technik des Sprechens entwickelt, mit deren Hilfe sie besser als meine Eltern und der Rest der Welt mit dem Getöse fertig wurden, das sie gar nicht mehr hörten. Sie sprachen laut, das schon. Aber vor allem fistelten sie mit hohen Kopfstimmen, die weit besser durch das Lonza-Tosen drangen als die Baritone meines Vaters und Conis. Auch die Frauen sprachen mit gepressten Lauten, die sie hoch oben im Kopf bildeten. Da waren die Stimmen meiner Mutter und Conis Frau beinah schon Bässe dagegen. Weit wirkungsloser jedenfalls gegen die Lonza als die der Einheimischen. – Alle im Tal trugen schwarze Gewänder, und die Frauen Kopftücher. In Blatten gab es keinen Menschen, der nicht schwarz war.

Die Lonza, ihr Lärm, führte auch dazu, dass die beiden Paare – frisch verheiratet, sehr verliebt – in den Nächten, obwohl die Wände zwischen ihren Schlafzimmern dünne Fichtenbretter waren, keine Rücksicht aufeinander nehmen mussten. So laut wie die Lonza konnte kein Liebespaar sein. So tosten Anita und Walter im einen Zimmer, Coni und seine Frau (wie hieß sie nur?) im andern, ohne die geringste Scham und ohne einander zu hören. Selbst Anita verstand ja kaum, was Walter ihr ins Ohr brüllte. »Ich liebe [11] dich!« – Ich wurde aber nicht in diesen Nächten gezeugt – da waren sich meine Eltern später sicher –, sondern an einem einsamen Nachmittag, an dem der bergwilde Coni sich mit seiner Frau (Tildi?) auf den Weg aufs Hockenhorn oder den Petersgrat gemacht hatte und meine Eltern (mein Vater stieg auf keine Berge; meine Mutter war an jenem Tag gerne mit ihm solidarisch) zuerst ein bisschen durch die hellen Wiesen bummelten und sich dann, wieder im Haus, mit einer wortlosen Selbstverständlichkeit aufs Bett legten und sich küssten. Jetzt konnte mein Vater so laut brüllen wie er wollte – kein Coni, keine Anni (ich glaube, sie hieß Anni) weit und breit –; denn wenn die Lonza auch tatsächlich alle andern Geräusche zunichtemachte, so hörte mein Vater doch sich, und damit hörten ihn, in seiner Vorstellung, alle. Anita, ich weiß nicht, ob sie laut war oder still. – Am Abend kamen Coni und Anni strahlend vor Glück zurück (sie hatten nur auf die Lötschenlücke gewollt, ein Spaziergang für sie, waren aber hinter der Fafleralp in einem Arvenwäldchen steckengeblieben und hatten dort den halben Tag verbracht), und meine Mutter kochte Spaghetti, die, wie manches andere inzwischen, aus der fernen Welt ins Tal gebracht und in einem Laden, über dessen Tür »Handlung« stand, verkauft wurden. Billiger, nicht teurer als im Unterland, sonst hätte sie sich keiner der Lötschentaler leisten können. Zwar kamen sie inzwischen auch nicht mehr um die Geldwirtschaft herum. Aber eigentlich war ihnen ein Tauschhandel der alten Art immer noch lieber. Sie wussten sehr genau, was ein Korb voll Kartoffeln wert war. Einen großen Krug voll Milch oder zwei Ballen Butter. – Die Handlung war auch das Postamt und mein Vater [12] der Einzige, der regelmäßig Post erhielt. So regelmäßig, wie es die Maultiere eben zuließen, denen der Postsack in Goppenstein oben auf das gepackt wurde, was sie eigentlich transportierten. Schaufeln, Sensenklingen, Spaghetti. – Auch die Zeitung, die National-Zeitung aus Basel, kam mit einer Woche Verspätung.

Das Lötschental wurde auch für mich der Ort, in dem ich meine Sommer verbrachte. Ich hieß ja auch der Lötschi. »Lötschi, trink endlich deine Milch!« (Später verbat ich mir diesen Namen und wollte so gerufen werden, wie ich hieß. Nun rief mich mein Vater »Uti«, und später »Gütterli«.) Wir waren jetzt nicht mehr in Blatten, sondern – hoch über dem Talboden – in Weißenried, einem noch viel kleineren Weiler mit einer Handvoll verwitterten Holzhäusern und ein paar Stadeln auf Pfählen und kreisrunden Granitplatten, die den Mäusen verboten, ins Heu zu gelangen. Am Beginn der Ferien, wenn wir von Goppenstein her kamen, wählten wir nun in Wiler einen steilen, noch schmaleren Bergpfad, der uns den Umweg über Blatten ersparte. Über uns, am Hang klebend, leuchtete während Stunden die Kapelle von Weißenried und war ein, zwei Male unerreichbar, auf diesem Weg wenigstens, denn der führte – Weißenried schon ganz nahe – über einen schier lotrecht nach unten tosenden Bergbach, dessen Brücke ein Baumstamm war, der vom einen Ufer aufs andere geworfen und so glitschig war, dass ich mich heute noch frage, woher meine Eltern den Wahnsinnsmut nahmen, mit Rucksäcken und einem Kind auf dem Buckel über ihn zu balancieren. Ein Ausrutscher, und Rucksack, Kind und Papa wären in der Tiefe verschwunden, im Nu bis zur Lonza hinabgespült und mit [13] dieser bis in die Rhone und ins Mittelmeer. – Zwei, drei Male kehrten wir auch tatsächlich um, unser Heim in Griffnähe, gingen den ganzen Serpentinenweg bis Wiler zurück, auf dem Talboden nach Blatten und von dort, von der andern Seite her, in weit sanfteren Kehren hinauf nach Weißenried. Auch da stürmte mein Vater, der einen Herzfehler hatte, im Tempo eines Irren seiner Frau weit voraus und wartete dann nach Luft ringend auf sie. Ich, in seinem Rucksack, hüpfte auf und ab und kreischte vor Vergnügen und Sorge. Meine Mutter kam – ich umklammerte mit meinen Patschhänden Papas schweißnassen Schädel – mit ruhigen regelmäßigen Schritten näher. Wenn sie bei uns angekommen war, stürmten mein Vater und ich wieder los.

DAS Haus, in dem wir nun waren (ohne Coni und Anni), stand mitten im Dorf, war schwarz verwittert, beinah fensterlos und hatte einen so niedrigen Eingang, dass sogar ich, der kleine Lötschi, mich bücken musste. Die Erwachsenen krochen durch die Eingangslücke. Sie führte in eine Küche, deren einziges Licht ein Feuer auf einem mächtigen Stein war, über dem an einem Haken ein riesigschwarzer Eisentopf hing. Der Schatten der Mutter, wenn sie in ihm rührte, hüpfte an den Wänden. – Eine Tür führte in ein Zimmer – jeder Erwachsene schlug sich mehrmals am Tag den Kopf an –, das zwei oder sogar drei Fenster hatte, Schießscharten allerdings eher, durch die immerhin einiges Tageslicht drang. Ein Tisch, eine Bank der Fensterwand entlang, ein paar Holzstühle. Kleine postkartenartige Bildchen an der Wand, ein Kreuz mit einem Heiland wohl auch. War da ein [14] Ofen? Eine Öllampe fürs Licht (es gab im ganzen Tal keine Elektrizität). Wenn ich schlafen ging, nahm ich eine Kerze. Ich schlief in einem Zimmer, einem Verschlag im ersten Stock, den ich über eine Außentreppe hinterm Haus erreichte. In der Nacht fürchtete ich mich. Da lag ich unterm schrägen Dach. Meine einzige Verbindung zur Welt der Lebenden war ein Loch im Fußboden, den ein Holzdeckel mit einer Lederschlaufe verschloss, an der ich ziehen und dann ins Zimmer unter mir lugen konnte. Meine Eltern wussten gewiss nichts von dieser Öffnung (wer hatte sie warum in den Fußboden geschnitten?), denn ich sah direkt auf ihr Bett. Ich habe ausschließlich und nur die Erinnerung an die hell im Tageslicht strahlende Bettdecke (rotweiß gehäuselt). Ich ließ, wenn ich schlief, den Holzpfropfen offen. Die Geräusche der bewohnten Welt wiegten mich in den Schlaf.

Eigentlich immer nahm mein Vater einen Jungen in unsere Ferien mit, jedes Mal einen andern. Hans, Willy, Oreste. Er war ein Lehrer und hatte sein Lehrerleben lang eine Handvoll Sorgenkinder um sich herum – nur Buben, denn er arbeitete an einem Bubengymnasium –, die er aus irgendeinem Schlamassel retten wollte. Gift und Galle zu Hause, und alle waren schlecht in der Schule. Sie machten mit uns Ferien, und mein Vater brachte ihnen jeden Morgen ein, zwei Stunden lang die Regeln des Subjonctif oder des Passé simple bei. Ich war immer jünger – am Gymnasium war man zwölf oder mehr – und also immer kleiner und schwächer und unwissender als meine Freunde auf Zeit. Eigentlich hätte ich gerettet werden müssen; keine Frage, dass ich auf diese Armee von Schutzbedürftigen [15] eifersüchtig war. Aber ich spielte natürlich auch mit ihnen, mit Hans einmal Ball – ich meine: einmal –, denn Hans warf mir den Ball zu, das Geschenk der Eltern für seine Ferien, und ich konnte ihn nicht fangen, und dann sahen wir beide, wie er, ein feuerroter Punkt, in immer größeren Sprüngen den Steilhang hinuntersprang und endlich zwischen Kriecharven verschwand, nahe bei der Lonza schon. – Vom vierten oder fünften Weißenrieder Sommer an war auch mein Cousin Thomas da. Er war ebenfalls älter und trug immer die Hosen, von denen ich wusste, dass ich sie in einem Jahr tragen musste. So wie er sich ansehen musste, wie ich, sein Erbe, in seinen ehemaligen Gewändern ging. (Keine Ahnung, woher er die Hosen und Pullover hatte, die, wenn sie bei mir anlangten, schon recht heruntergekommen waren.) Meine Eltern – nein, das war nur meine Mutter – sagten mir jeden Tag, wie vorbildlich Thomas durchs Leben schreite, und er musste sich zu Hause anhören, was für ein lieber Kerl ich sei. Immer fertigessen, freudig die Zähne putzen, all das. Er wohnte in einem Haus am Dorfende, das viel schöner als unseres war. Mit ihm Tante Norina und Onkel Emil, den alle Hä nannten. (Er hieß Emil Häberli.) Ja, all jene, die auch in meinem Winterleben die Hauptrolle spielten, waren nun in Weißenried. Sogar meine Patentante Hildegard, deren Gelächter, Lonza hin oder her, durchs ganze Dorf dröhnte. Ihr Gelächter und ihr Husten, denn sie war Kettenraucherin. – Ich lernte, Bergtouren zu machen, die schon mehr als Spaziergänge waren (Norina und Hä waren genauso angefressene Bergfexe wie Coni Beck das gewesen war). So kam ich mindestens bis aufs kleine Hockenhorn und kann mich an ein Gewitter [16] erinnern, in das wir auf dem Rückweg von irgendeiner fernen Alp gerieten. Es war eines jener Unwetter der Alpen, die auch einem Erwachsenen – gerade einem Erwachsenen – Schauer der Angst den Rücken hinunterjagen konnten. Meine Mutter ließ mich sofort im Stich, das heißt, sie rief »Rennen!« und sauste los. Hinter ihr, in immer größerem Abstand, Hans Schudel und endlich ich, von Anfang an verloren in diesem Rennen um unser aller Leben. Es regnete nun wie aus Kübeln, die Welt war schwarz, und aus der Schwärze heraus fegten Blitze, rings um uns einschlagend. Ganz tief unten auf dem Schlängelweg sah ich meine Mutter, den Hals panisch vorgestreckt, über ihr, und näher bei mir in der Gegenrichtung rennend, Hans. Ich weinte nicht, ich sprang mit erstarrtem Herzen über Steine und Heidelbeerstauden, stur auf Kurs bleibend zwischen den Blitzen. Zu Hause war ich nass bis auf die Knochen. Meine Mutter kochte, glaube ich, einen heißen Tee. – In Weißenried verliebte ich mich auch zum ersten Mal, und zwar in die Hirtin der Ziegen, die wie ich etwa fünf Jahre alt war und ihre Herde jeden Tag an unserm Haus vorbeitrieb. Bald ging ich mit ihr, wie sie mit einem Stecken in der Hand. Wir sprachen nicht miteinander, weil wir uns die paar Male, als wir es versucht hatten, nicht verstanden hatten. Es war nicht nur die Lonza, das war mir klar. Sie fistelte wie ein himmlischer Engel, und ich glotzte blöd. Mein Onkel Hä erzählte mir, da wo er arbeite – das war, mitten im Krieg, der Nachrichtendienst der Schweizer Armee –, wenn er da eine Meldung übermittle, für deren Verschlüsselung keine Zeit mehr bliebe, nach Berlin zum Beispiel, dann nehme er immer seinen Walliser. Einen Hilfsdienstler [17] aus Ferden. Den verstünde niemand, er selber nicht, kein deutscher Überwacher und auch nicht der Botschafter am andern Ende des Drahts, der ein Berner sei. Hä lachte fröhlich. Ich hatte zwar kein Wort verstanden, lachte aber auch, getröstet. – Einmal kriegte ich ein Glas Milch, das die Mutter meiner Freundin aus einer Ziege molk. Ich hasste Milch, aber diese eine schmeckte wie das Paradies. Ich kam strahlend vor Glück nach Hause, mit einem weißen Rand über der Oberlippe. – Meine Freundin trug Kleider wie eine Erwachsene. Rock, Bluse, Kopftuch, nackte Füße, die zuweilen in riesigen Bergschuhen steckten, die wohl ihrem Vater oder einem großen Bruder gehört hatten.

Eines Tages ging ich das letzte Mal den Weg nach Goppenstein hinunter. Das war 1947. Ich wurde längst nicht mehr von meinem Papa im Rucksack getragen, sondern hatte einen eigenen, in dem meine Siebensachen waren, zum Beispiel der Stoffneger, den ich liebte wie keinen anderen Menschen. Am Hals meines Vaters hing jetzt meine Schwester, obwohl auch sie schon fünf war und – so dachte ich jedenfalls – allein gehen konnte.

ZUR Welt kam ich in Basel, irgendwann in der Nacht. Halb eins, fünf Uhr früh. Ich hatte einen Kopf wie eine Birne, weil ich mit einer Zange ins Freie befördert werden musste. Wenn mein Vater es mir erzählte, schüttete er sich aus vor Lachen, weil der Schreck so groß gewesen war. Ich war aber gesund, außer dem Hirn war nichts zerdrückt worden.

Die ersten Wochen und wohl auch Jahre liegen in einem Nebel, wie auch anders. Gefühlte Erinnerungen, wenige [18] Bilder. Immer aber schien die Sonne, da bin ich mir sicher. Ein warmes Strömen in mir, wenn ich an die frühe Zeit denke; einige Inseln des Schreckens. Gerüche (der Duft der Haut der Mutter?), Geräusche (ein sehr fernes Trommeln oder Rattern, das so stetig da war, dass ich es für ein Urgeräusch hielt; am deutlichsten aber das Scharren der Vögel, die im Rollladenkasten nisteten), die Hitze des Lichts auf der Haut. Manchmal, beim Erinnern, ein Panikhieb, ein Fratzenbild, das für den Hauch eines Augenblicks klar konturiert aufscheint (grün, lodernde Augen, Feuer) und doch so schnell wegschwimmt, dass ich es nicht festhalten kann. Der Schreck bleibt noch eine Weile.

Das über mir schwebende Gesicht der Mutter: ein Mund, die Lippen, schwarze Augen. Sah ich Farben? Haare drum herum wie eine Löwin. Ihre Brust, eher ein Geruch, ich saugte so heftig an ihr, dass ich ihr weh tat. Diesmal war es die Mutter, die es mir immer wieder sagte. Bald kriegte ich eine Flasche mit Milch, deren Gummizapfen fremder schmeckte. – Der Vater, wenn er sich über mich beugte, füllte auch den ganzen Horizont. Er hatte aber keine Löwenmähne, er hatte überhaupt keine Haare und spiegelnde Gläser vor den Augen. Er sang tapsige Lieder, brummte improvisierte Verse – dumm, bumm, schrumm – und blies mir einen Rauch in die Nase, dessen Geruch ich bald mehr liebte als das kalte Ozon, das über mich hereinbrach, wenn meine Mutter wieder einmal das Fenster aufriss. Lüften war ihre Passion. (Ich wurde, als ich erwachsen war, ein Nichtraucher, der gern mit Rauchern zusammen war. Mit Raucherinnen. Ich hatte, wie sie, meine Lieblingsmarken, die ich aber nie rauchte. Gauloises, Gitanes.) – Zuweilen [19] hechelte ein drittes Antlitz in meine Wiege hinein. Es gehörte Astor, der Dogge Onkel Erwins. Eine lange Zunge leckte mich, und ich kreischte.

DIE Mutter, der Vater und Astor waren fraglos da. Es gab nur sie. Alles, was ich fühlte, dachte und lernte, bezog sich nur auf sie. Sie waren für mich da, für wen sonst. Sie waren so etwas wie die verschiedenen Teile eines Etwas, das meinen Hunger und Durst stillte und mich trockenlegte, wenn ich nass war. Obwohl sie aber nur wegen mir existierten, wurden sie immer erneut und ohne dass mich etwas darauf vorbereitet hätte, in einen Raum weggesaugt, von dem ich keine Ahnung hatte. Flupp, waren sie fort. Vielleicht war das gar kein Raum, sondern ein Zustand, in dem sie materielos schwebend verharrten und auf ihren nächsten Einsatz warteten. Wenn sie weg waren, taten sie nichts anderes. Sie waren weg. Ich schrie. Was schrie ich, und wie vergeblich.

ICH begann die Erforschung der Welt auf dem Rücken liegend. Rechts und links waren die Stoffwände des Betts, hinter denen ich keine weiteren Welten vermutete. Das neue Licht überflutete mich, nach neun Monaten gemütlicher Trübnis im warmen Fruchtwasser. Ich blinzelte, riss die Augen auf und schloss sie schnell wieder. Alles, was weiter weg als die Stummelfingerchen direkt vor meinen Augen war, war ein so grelles Geleuchte, dass ich keine Farben unterschied. Hell, sehr hell, so leuchtend, dass ich die Augen schließen musste: Das genügte mir. Meine Finger [20] fassten den Rand der Bettdecke und ließen sie wieder los. Das tat ich unermüdlich. Fassen, loslassen. Allmählich trat ein erstes scharf umrissenes Etwas, das nicht ganz nah bei mir war, aus dem diffusen Licht hervor, in das ich starrte. Eine Kugel, die über mir schwebte und, wenn der übrige Raum dunkel geworden war, selber leuchtete. Eine Lampe (»Lampe«). Auf dem Kugelboden häuften sich, innen hinterm trüben Glas, schwarze Trümmer an, unbewegliche Punkte. Nur hie und da, selten, bewegte sich einer von ihnen, eine Weile noch. War dann, wie die übrigen, auch eine tote Fliege (»toti Fliege«).

Bald konnte ich sitzen, im Bett oder sogar auf der Wickelkommode (»Wickelkommode«), und zuweilen stand ich sogar, von meiner Mutter gehalten, auf dem Fensterbrett und presste meine Nase gegen das Glas. Zuerst sah ich gewiss, nach Kinderart, ausschließlich den kleinen Käfer direkt vor mir auf der Fensterscheibe, wenn meine Mutter »Schau dort, ein Häschen, schau!« rief und weit nach draußen deutete. Ich jubelte auf, meine Mutter jubelte, und beide freuten wir uns, jeder über etwas anderes. Ferner Hase, naher Käfer.

Dann aber sah ich sie auch: die Felder, den Wald, am Horizont die blauen Hügelberge, deren ruhiger Wellenfluss an einer Stelle von einem jäh abfallenden Knick unterbrochen wurde, einer Fluh, so als habe ein Riesengott dem Hügelzug einen Handkantenschlag versetzt. Wenn ich heute, ganz woanders, eine ähnliche oder gleiche Bergform sehe (die Natur wiederholt sich), wird mir warm ums Herz, bevor ich den Hügelknick sehe. Ich glühe unvermittelt auf jene besondere Weise, und also suche ich den Horizont ab: Und [21] tatsächlich, dort ist sie, die Fluh meiner Kindheit, irgendwo in Brasilien oder Hessen. – In der Ferne auch, näher, ein Turm (»Wasserturm«). Rund, massiv, mit einem Dach wie ein Hut. Dass aus ihm das Trinkwasser in die Stadt hinunterfloss – und auch zu unserm Haus, obwohl es kaum tiefer stand –, erfuhr ich erst später und begriff noch lange nicht, wie das funktionieren sollte. Denn innen war der Turm, der bald das Ziel meiner Spaziergänge wurde, keineswegs voll Wasser, sondern leer und hohl. – Hie und da fuhr ein Auto unter meinem Fenster vorbei, wendete am Straßenende (unser Haus stand auch für Erwachsene am Ende der bewohnten Welt) und kam zurück. Meine Mutter und ich winkten. Autos waren damals so selten wie Maulesel heute. Mein erstes Wort – erneutes Hörensagen – war Auto (»Auti«). – Meistens aber Raben, Hasen, Schwalben, Katzen, die ich, wenn sie sich bewegten, auch Auto nannte. Einmal ein Mann – inzwischen war Winter, die Sonne ließ den Schnee glitzern –, der einen Hasen angeschossen hatte. Der Hase tobte oder taumelte auf zerfetzten Beinen im Kreis herum und sah zu, wie der Mann über die Ackerfurchen zu ihm hinstolperte. Er fasste zwei drei Mal daneben, dann packte er ihn bei den Hinterläufen und schlug seinen Kopf gegen die eisharten Schollen. Immer wieder. Endlich tat er den Hasen, der sich jetzt nicht mehr bewegte, in einen Sack, warf ihn sich über den Rücken und stapfte davon.

ABER dann konnte ich gehen! Jetzt stand ich ohne Hilfe auf meinen Beinen, stützte mich an der Wickelkommode ab und fasste mein erstes Ziel ins Auge. Es war der Rahmen [22] der offenen Tür, fern auf der andern Zimmerseite. Weit, sehr weit weg. (Kann sein, dass meine Mutter hinter mir war, meine ersten Schritte zu behüten. Denn wie sonst wäre ich aus dem Kinderbett hinausgekommen?) Ich holte tief Luft, ließ die Kommode los, setzte den ersten Fuß in die geplante Richtung, den andern, wieder diesen, jenen erneut, und so, immer schneller vorwärtstaumelnd und stumm vor Konzentration, kriegte ich das Rahmenholz der Tür zu fassen. Wahnsinn! Ich war förmlich geflogen! Vor mir nun ein Korridor, der Korridor (»Gang«), und an seinem andern Ende, sehr, sehr weit weg, die Wohnungstüre (»Wohnigsdüüre«), die sich just jetzt öffnete. Mein Vater, in Hut und Mantel. Das war also der Ort, wo die Verschwundenen warteten, bis ich für sie bereit war! Ich stürzte ihm entgegen. »Ja er kann ja gehen, der kleine Mann!«, rief er und hob mich hoch. Ich zappelte in seinen hochgereckten Händen und kreischte. Unter mir das Gesicht meines ebenso begeisterten Papas, aus dem mir die Zigarette entgegenglühte. Fern, als er mich hochstemmte, meine Nase versengend, als er mich zu sich niederzog. Die Mutter stellte mich auf den Boden zurück. Auch sie glühte vor Stolz. Ich spurtete erneut los, ins Esszimmer (»Ässzimmer«) hinein.

An seinem Ende, neben einer Fensterfront, ein Schrank mit blauen Türen. (Der »Ässzimmerkaschte«. Wie viele Dinge gab es in dieser Welt, deren Namen ich noch nicht kannte! Ist es nicht ein Wunder, wie locker ich inzwischen »Fensterfront«, »Schrank« und »Welt« sage und noch viel mehr – alle Wörter dieses Buchs –, als sei das selbstverständlich?) Die Schranktüren waren aus einem matten Glas, das dennoch spiegelte und in dem ich, auf den Schrank [23] zutaumelnd, eine Gestalt größer und groß werden sah, bis ich Auge in Auge mit einem blauen Riesen stand. Keine Spur kleiner als ich. Ich stützte beide Hände gegen das Glas – mein Gegenüber tat das Gleiche – und staunte die Erscheinung an. Mich. Ich sah mich zum ersten Mal. Meine Augen, direkt vor mir. Die Nase, platt. Den Mund. Blaue Locken. Ich bewegte den Kopf vom Glas weg, aufs Glas zu, einige Male. Mein Gegenüber, ich, tat, was ich tat, sogar als ich ihm zuwinkte und in die Hände klatschte. Ich näherte mein Gesicht dem Glas. Der Fremdvertraute auch. Endlich pressten wir unsere Nasen aufeinander. Ich starrte in die großen blauen Augen des andern.

Aber irgendetwas lockte meinen Blick dann doch von meinem Spiegelbild fort. Es war ein Leuchten, das mich anzog. So etwas wie glühende Luft. Ich drehte mich also zu dem lockenden Licht hin und stand starr vor Verblüffung. Ich vergaß mich und mein blaues Gegenüber auf der Stelle. Vor mir lag, vom Rahmen einer Schiebetür eingefasst, eine Landschaft, die so reich war, dass sie kein Ende zu haben schien. Das Wohnzimmer (»Wohnzimmer«), das auch für Große groß war. Ich stand wie die Forscher der frühesten Jahre, als sich Schwarzafrika zum ersten Mal vor ihnen auftat. Mungo Park, Livingstone, die gewiss genauso erregt nach Luft schnappten wie ich es jetzt tat. Es war auch ihr erstes Mal, und auch sie erkannten, wie ich jetzt, in der neuen Fülle vorerst nichts Klares und Vertrautes. Auch sie konnten nicht auf Anhieb sagen, wo das eine anfing und das andere aufhörte. Ob die schwarzen Stämme der Urwaldbäume nicht doch reglose Eingeborene waren, die sie herzlich empfangen oder auffressen mochten.

[24] Der Zimmerkontinent leuchtete in allen Farben. Zwar sah ich weder Bäume noch Eingeborene; aber Grünpflanzen und feurige Blumen in bauchigen Vasen. Teppiche wie Wiesen, mit Wollfäden, die knöchelhoch wuchsen. Möbelbeine, Stahlrohre, Bücherwände, schwarzgeflammte Hölzer, Dämonenfratzen an den Wänden und ein zähnefletschendes Holzmonster auf dem Boden. Fische in grünem Wasser, Bilder in heftigen Farben, Decken und Kissen. Riesige Fenster. Ich blickte dahin, dorthin, auf jenes und auf dieses, weit in die Ferne und nah vor mich hin. Als ob ich in ein Kaleidoskop für Riesen hineinsähe, auf sich immer neu ordnende Farbmuster. Das Sonnenlicht strahlte. So etwas hatte ich noch nie gesehen.

UND sofort, um das Wunder vollständig zu machen, setzte, von nah und doch ohne eine sichtbare Quelle, jenes Trommeln ein, jenes Geratter, das ich, fern allerdings, seit meinem ersten Tag gehört hatte und das mir so selbstverständlich geworden war, dass ich glaubte, es sei der Herzschlag der Welt. Es hatte einen sich wiederholenden Rhythmus und war doch nie gleich. Ein Rattern, ein Ratschen. Das Geklingel einer Glocke auch, in stets ähnlichen Abständen. Jedes Mal hörte dann das Rattern auf, und das Ratschen setzte ein. Pausen auch, kurze, nach denen das Trommeln umso vehementer wiederkam, als müsse eine verlorene Zeit eingeholt werden. Kurbeln und Schnarren.

Ich stürzte dem Zaubergetöse entgegen. Kann sein, dass ich mich unterwegs an Möbelbeinen oder Stehlampen festhielt. Dass ich hinfiel und mich wieder aufrappelte. Ich [25] erreichte jedenfalls das andere Ende des Raums, der sich dort zu einer Art Bucht erweiterte. Einer dunklen Höhle. Das Geschepper war nun sehr nah, und jäh begriff ich, wo es herrührte. Von meinem Vater. Er produzierte diese Laute! Sein Hinterkopf ragte über eine breite Stuhllehne hinaus. Über seinem nackten Schädel schwebten die Kringel seines Zigarettenrauchs. Wie war er hierhergelangt? So schnell? Er war doch eben noch bei der Wohnungstür gestanden! Ich taumelte ein letztes Mal los und hielt mich am Stuhl oder, mag sein, an einem Bein des Vaters fest. »Papa!«, mit einem in den Nacken gelegten Kopf zum Vatergesicht steil über mir hochrufend. Er bemerkte mich nicht, mein Papa, starrte auf etwas, was ich nicht sah, und hatte einen spitzen Mund, als ob er pfiffe. (Pfeifen konnte er auch mit der Zigarette.) Sein einer Arm und gewiss auch die unsichtbare Hand lagen ruhig auf der Tischplatte, aber der andere hob und senkte sich rasend schnell. Der Zeigefinger fuhr weit ausgestreckt in die Höhe und verschwand hinter dem Horizont der Schreibtischkante, tauchte wieder auf, verschwand erneut, in einem solchen Tempo, dass ich nur ein Gewirbel sah, tausend Finger, die wie besessen auf- und niederfuhren. Das Schlaggeprassel war nun dröhnend laut. Mir war klar, dass diese Wirbelfinger es verursachten.

»Papa!«, rief ich. »Papi!«, so lange, bis mein Vater aus seiner Trance erwachte, den Zeigefinger da ließ, wo er gerade war – hoch über seinem Kopf –, und rief: »Ja hallo was machst du denn hier?« Er setzte mich auf seine Knie, und endlich sah ich die Quelle all dieser herrlichen Trommellaute. Die Schreibmaschine (»Schribmaschine«). Schwarz, schön, geheimnisvoll. Der Vater schrieb nun mit mir auf [26] den Knien, mich von hinten umarmend, und ich sah zu, wie die Buchstabenbügel aus ihrer Versenkung hochfuhren und aufs Papier wirbelten. Die Walze mit dem Papier ruckte vorwärts – Buchstabe reihte sich an Buchstabe – und klingelte, wenn sie an ihrem Ende angekommen war. Der Vater fetzte sie mit einem entschlossenen Ruck an ihren Anfang zurück. Das Ratschen! Das Aus-der-Walze-Reißen eines vollbeschriebenen Papiers, das Einspannen eines neuen: Das konnte mein Vater in einer Bewegung. Ich schlug auch auf die Tasten ein – mein Vater hielt mich nicht zurück; feuerte mich im Gegenteil an –, schaffte es aber nicht, die Tasten bis aufs Papier hinunterzudrücken. Auch nicht, als ich die ganze Faust nahm. Da verhedderten sich die vielen Buchstabenbügel. »Halt!«, rief mein Vater lachend und entwirrte das Metalldurcheinander. Ich half ihm, zerrte auch an den Bügeln herum. »Stopp!« Er hob mich von seinem Schoß hoch, setzte mich am Boden ab, und während ich ins Kinderzimmer zurückpurzelte, tippte er im alten Tempo weiter. Seine Rhythmen wurden leiser und leiser, und als ich bei meinem Bett angekommen war, klangen sie wieder so fern, als kämen sie aus mir.

(SPÄTER entwirrte sich das Chaos des Wohnzimmers. Die Bücher an jenen Wänden, die nicht Fenster waren – in Papis Schreibhöhle vor allem –, wurden mir vertraut. Die Buchrücken, die eigentlich alle aus einem braunen Leder waren. Der Kaffeetisch [»Kaffidisch«], der auf dünnen Metallbeinen hin- und herschwankte, wenn ich mich an ihnen festhielt. Ich strahlte zu Mama und Papa hoch, die zu mir [27] herunterlachten und den verschütteten Kaffee aus den Untertellern in die Tassen zurücktaten. – Die beiden Fauteuils [»Fotöi«], ein dunkelblauer und ein weißer, auf glänzenden Stahlrohrgestellen. Der Lehnstuhl [»Lähnschtuel«], blau, der auf gelben Holzkufen stand, wie ein Schlitten, und auf dem ich, weil er wippte wie ein Trampolin, auf und nieder hüpfte. »Nein, Uti!« Die Kufen barsten dann mit einem Knall, als sich meine Großmutter sacht in den Stuhl plumpsen ließ. – Die Stehlampe, auch sie mit einem spiegelnden Metallfuß. Die Couch, auf der eine vielfarbige Decke lag, die kratzte wie Putzwolle. Zwei Holzfiguren, die – wie der Dämon, der den Eingang zur Schreibecke bewachte – tatsächlich aus Afrika stammten und auf einem niederen Regal standen. Ein Mann und eine Frau. Beide mit starren Augen und langen Kinnen. [An sie muss ich mich nicht erinnern. Sie haben mich überallhin begleitet und stehen über meinem Schreibtisch von heute.] Und natürlich der Marconi [»Marconi«], der Radio und Grammophon in einem war. Er war ein truhengroßes Möbel aus Nussbaumholz, mit abgeschrägten Seitenwänden und drei Lautsprecheröffnungen aus einem sandfarbenen Jutestoff. – Ich erforschte auch die Küche, das Bad und das Klo [»Abee«]. Nur ins Zimmer, in dem Papa und Mama schliefen, kam ich nie. Die Tür war zu.)

DIE übrigen Bewohner des Hauses waren (denn ich fand bald einmal heraus, dass ich, Astor, Papa und Mama nicht die einzigen Lebewesen auf Erden waren): Carino, Onkel Erwin und Tante Norina. Sie lebten im Stockwerk über [28] uns, in das ich nun auch – über eine Treppe mit einem roten Teppich – hochkletterte. Aufwärts auf allen vieren, abwärts auf dem Hosenboden von Stufe zu Stufe rutschend und einmal auch, mich überschlagend, schneller als jeder Erwachsene.

Carino zuerst. Er war eine Dogge wie Astor, sein Bruder vielleicht, aber anders als dieser offen bösartig. Augen aus mattem Stahl, Zähne, die er mir bei jeder Bewegung zeigte. Kaum eine Minute, in der er nicht knurrte. Er war sogar seiner Herrin und seinem Herrn – Norina und Erwin eben – so unbehaglich, dass sie ihn in einem Zwinger im Garten wohnen ließen. Da rannte er einen hohen Gitterzaun entlang und bellte auch wie ein Tobsüchtiger, wenn nur ich über die Granitplatten des Gartenwegs gehüpft kam. Zuweilen war er mit Erwin, der Stöcke warf, die Carino im Flug auffing und hechelnd zurückbrachte. Manchmal auch schleifte er Norina, an seiner Leine zerrend, da- und dorthin. Er zerbiss alles, was ihm ins Maul geriet, Bälle, Hölzer, Gartenschuhe. Sicher hätte er es auch mit Kindern getan, hätte er einmal eines erwischt. Onkel Erwin war dennoch nicht sicher, ob Astor und Carino wirklich so scharfe Wachhunde waren, wie er das von ihnen erwartete, und beauftragte einen Freund, der Herr Schwarz hieß, sie auf die Probe zu stellen. Herr Schwarz kletterte also, finster gekleidet und mit einem mit dicken Polstern umwickelten linken Arm, über den Gartenzaun und schickte sich an, einbrechergleich über den Rasen zu huschen. Ich stand auf der Terrasse unseres Hochparterres, auf die er zustrebte. Astor sah ihm dabei neugierig zu, aber Carino fegte sofort rasend vor Mordgier zu ihm hin und verbiss sich im [29] gepolsterten Arm, den ihm Herr Schwarz in seiner Not entgegenreckte. Die beiden drehten sich im Kreis, in einem irren Tanz, Carino auf den Hinterbeinen springend und durch die Zähne heulend, Herr Schwarz »Erwin! Hol das Vieh weg!« brüllend. Erwin rief ein ums andre Mal »Carino! Fuß!«, ohne jede Wirkung. Astor hockte im Gras und wedelte mit dem Schwanz. Ich hatte den Mund offen vor Schreck. Herrn Schwarz gelang es schließlich, sich über den Zaun zu retten. In Carinos Geifermaul verblieben Teile des Matratzenpolsters und wohl auch des Hosenbodens von Herrn Schwarz. Erwin tätschelte seinen klugen Wachhund. »Brav, Carino, brav.« Carino schaute dankbar zu ihm hoch. – Manche Jahre später saß ich in den Zweigen des Baums mit den japanischen Zieräpfeln (eine tolle Konfitüre), als ein Auto näher kam und direkt unter mir hielt. Ein MG, ein schwarzes Cabrio mit Speichenrädern. (Es gab nun wieder Autos. Erwin hatte seines auch ausgemottet.) Mit einem lockeren Tanzschritt entstieg ihm Herr Schwarz, den ich nicht wiedererkannte, sehr wohl aber Carino, der in seinem fernen Zwinger aufheulte, obwohl er von dort aus Herrn Schwarz gar nicht sehen konnte. Allenfalls ahnen oder riechen. Trotzdem tobte er so gegen die Gitter, dass er sie zu durchbrechen drohte. Er nahm Anlauf, warf sich gegen den Zaun, holte erneut aus und warf sich wieder. Die Delle in den Gittermaschen wurde immer größer, und die Haltestangen verbogen sich. Herr Schwarz, der seinerseits Carino nur hören konnte, stand mit einem in der Luft erhobenen Fuß. Er hörte, wie ich, das nun völlig hysterische Gebelle und das Krachen des Maschenzauns, machte rechtsumkehrt und fuhr so schnell davon, dass die Reifen [30] quietschten. Er kam nie mehr zurück. Er hatte eigentlich in eine der Einzimmerwohnungen im obersten Stockwerk einziehen wollen. In dieser wohnte dann ein Herr Keller, der abends in einem dunkelroten Seidenmantel auf der Dachterrasse stand – mit einem Champagnerglas in der Hand und oft mit einer Dame – und den Carino nur maßvoll zu verbellen versuchte. Astor schloss ihn sofort in sein Herz und dehnte seine unablässigen Hausbesuche auch in den obersten Stock aus.

ERWIN dann. Er war groß und hager und hatte ähnliche Augen wie Carino, nur dass dieser keine Brille trug. Er hatte am gleichen Tag wie ich Geburtstag (am 21.Mai), obwohl er viele Jahre älter als ich war. Ein Rätsel. Trotzdem schuf das eine schicksalhafte Verbundenheit, die mich beunruhigte. Wenn mein Vater brüllte: »Der Erwin ist verrückt, der ist ganz einfach verrückt!«, dann konnte auch ich gemeint sein. Ihm gehörten das Haus und auch die Kindergefängnisse des Landes (er war Staatsanwalt beim Jugendgericht und wurde später der Verfasser eines renommierten Standardwerks des Jugendstrafrechts). Ich wusste, dass er auch mich einsperren konnte und das zuweilen sogar in Erwägung zog. Einmal zum Beispiel, als er mir nahelegte, nicht so laut die Treppe hinabzupoltern, und ich ihm die Zunge herausstreckte. Meine Mutter war demütig, wenn sie mit ihm sprach, und mein Vater machte Witze. – Sonst war Onkel Erwin der Besitzer des einzigen Autos der Straße (später kam, weit unten, ein Studebaker dazu, der aber nach wenigen Tagen gestohlen wurde), eines Wanderer der Auto-[31] Union. Er war ein hellgrünes Cabrio mit dunkelgrünen Schutzblechen und braunen Ledersitzen. Mit Weißwandreifen. Er war das, was meine Mutter einen »bildschönen Wagen« nannte. Ich habe das abgeschabte Gummi des Gaspedals heute noch vor Augen. Fotografisch genau. Ja, eigentlich hat sich das ganze Auto auf diesen Gummifetzen über einem hell blinkenden Metall reduziert. Da saß ich neben Erwin und starrte auf seinen glücklichen Fuß, der, als sei das nichts, das Pedal niederdrückte und wieder losließ. Aufs Bremspedal wechselte, das anders geformt war. Einmal selber so ein Auto fahren dürfen! Einmal einer wie Onkel Erwin sein, die eine Hand locker am Lenkrad, die andere draußen im Fahrtwind! Der Blinker war eine orangerote Kelle, die links oder rechts aus der Karosserie fuhr, wenn Erwin einen Schalter in der Mitte des Armaturenbretts bediente. Einmal durfte ich das machen. »Links!«, sagte Onkel Erwin, und ich schob den Hebel auf eine Seite, aufs Geratewohl, denn ich wusste nicht, wo links und wo rechts war. Draußen, als ich mich auf meiner Seite aus dem Fenster beugte und nachschaute, war der Zeiger nur halbwegs aus seinem Schlitz gekommen und hing schräg nach unten. Erwin sagte: »Links. Das ist doch nicht links!«, und bog nach der andern Seite ab. – In Erwins Auto sitzend sah ich auch meinen ersten Toten. Erwin hatte mich zum Gärtner mitgenommen, und wir fuhren in Münchenstein auf die Brücke zu, die dort die Birs überquert. Es war Abend, ein Sommerabend. Ein blauer Himmel im letzten Licht, die Straßen schon verschattet. Der Tote lag mitten auf der Straße. Er war mit einem Leintuch zugedeckt. Eine Hand ragte unter dem Tuch hervor, die weißen Finger eines [32] Mannes eher als einer Frau. Ein Auto hatte ihn überfahren, vor ein paar Minuten wohl schon, denn die Menschen standen starr und schwiegen. Das Täterauto stand schräg auf der Straße. Erwin fuhr im Schritttempo an dem Toten vorbei, halb auf dem Trottoir. Keiner sprach ein Wort, bis wir zu Hause waren. Ich rannte ins Haus, und Erwin lud seine Blumenkästen aus.

NORINA. Sie war die Frau Erwins und meine Tante, das ist gewiss, obwohl meine Mutter der Ansicht war, sie sei ihre Schwester. Ich fragte Norina: Tante, ganz klar. Ich mochte genauso wenig glauben, dass meine Großmutter (»Großmami«) die Mutter meines Vaters sein sollte. Entweder oder. Sie mussten sich entscheiden. Norina konnte ja nicht gut eine Schwester sein, wenn sie eine Tante war, und eine Großmutter war keine Mutter. Allein schon das Alter. Eine Mutter war jung, so wie meine, und nicht ein graues gebücktes Weiblein, das nach Mottenkugeln roch. – Norina war so oft mit mir wie meine Mutter. Wenn nicht öfter. Meine Mutter stand nicht gern früh auf, sie konnte das einfach nicht. Sie sagte es jeden Tag, wenn sie, obwohl dieser schon alt war, mit ungekämmten Haaren und im Nachthemd auftauchte. Norina kam, wenn ich auf den Beinen war. Um fünf, um sechs, um sieben. Ich weiß nicht, wie sie wusste, wann ich wach war. Sie war jedenfalls da. Zuerst wickelte und fütterte sie mich, später, als ich gehen konnte, tobten wir zusammen durchs Haus. Ich war jeden Tag in ihrem ersten Stock, der fremd und vertraut in einem war, denn die Küche war am gleichen Ort wie bei uns, und das [33] Klo auch. Da, wo bei uns das Ess- und das Papi-Mami-Zimmer waren (das bald einmal »die Wärme« hieß), war bei ihr allerdings ein einziger Raum, ein Saal, in dem meine Taufe gefeiert wurde, denn ich wurde getauft nach allen Regeln der protestantischen Kirchenkunst, obwohl weder mein Vater noch meine Mutter Mitglieder einer Kirche waren. Dies, weil – da war mein Vater überzeugt – meine Großmutter einen jähen Herztod sterben würde (»Tschodder«, tödlich diesmal), wenn sie erführe, dass ihr Enkelkind ohne die Hilfe des Herrn aufwachsen müsste, und weil mein Onkel Otto, den mein Vater liebte und von dem er behauptete, er sei sein Bruder, ein Pfarrer war. Er war legitimiert, Haustaufen durchzuführen. Ich lag auf einem Kissen, glaube ich, in den Armen meiner Patentante (»Gotte«) gewiss, und wurde, vermute ich, vom Onkel nassgespritzt. Es war wie bei Gotthelf; Ottos Frau (»Tante Annemarie«) stammte ja aus dem Emmental. – Ein Tschodder war übrigens nicht tödlich. Er war eine Eigenheit meiner Großmutter, die dann weit über achtzig Jahre alt wurde und nicht an ihrem unruhigen Herzen starb. Ich habe unzählige Tschodders miterlebt. Alle sahen tödlich aus, keiner war es. Manchmal kamen sie einfach so, aus heiterem Himmel; aber oft wurden sie von meinem Vater ausgelöst. Durchaus ohne Absicht. Er stand grinsend in einer heiteren Familienrunde, die Großmutter irgendwo klein im Hintergrund, und gab eine Geschichte zum Besten, die wohl einigermaßen gottfern war, lustig auch, frech und lästerlich, und meine Großmutter griff sich plötzlich ans Herz, bekam einen ganz besonderen Blick – fragend in eine weite Ferne gerichtet – und flüsterte: »Ich glaube, ich kriege einen [34] Tschodder.« Sofort war es aus mit der frechen, lästerlichen und gottfernen Geschichte des Vaters, und alle rannten hin und her, fächelten der Großmutter Luft zu und öffneten ihr die Blusenknöpfe. (Der Gerechtigkeit halber muss ich sagen, dass schwache Herzen in der Vater-Familie die Regel waren und sind. Tante Elsi starb in jungen Jahren unter dem Messer von Professor Nissen [»Sie hat nicht mehr leben wollen«, so meine Großmutter], auch Otto stürzte tot zu Boden, als er im besten Mannesalter war. Mein Vater kam, als er noch keine vierzig war, zur Tür hereingestürmt und rief meiner Mutter und mir zu: »In drei Monaten bin ich tot, sagt Blacky, wenn ich nicht mit dem Rauchen aufhöre!« Er sah entsetzt zu uns hin und zündete sich mit zitternden Fingern eine Zigarette an. – Blacky war sein Arzt, ein Dr.Schwarz, glaube ich. [War er der Einbrecher von früher?] – Auch eine Cousine von mir, Monika, stürzte tot zu Boden, kaum zwanzig Jahre alt. Eine Generation später mein Neffe, Dimitri, beim Tennisspielen. Ich wurde an der Herzklappe operiert, an der Professor Nissen fünfzig Jahre zuvor bei Elsi gescheitert war. Dank den Fortschritten der Medizin bin ich am Leben geblieben.) – Zum Taufessen bei Norina (und Erwin, der aber nicht teilnahm) kamen so viele Gäste, dass unser Esstisch nicht ausgereicht hätte. Das Erinnerungsfoto zeigt sogar zwei junge Frauen, Mädchen beinah noch, die Häubchen, schwarze Röcke und Blusen und weiße Schürzchen trugen. Personal! Es kamen, alle festlich gekleidet, Großmami, Großpapi, Onkel Otto, Tante Annemarie, Tante Elsi, Tante Nettel, Tante Marthi (sie wurde die erste Tote, deren Namen ich kannte), Onkel Robi. Meine Patentante Hildegard (»Gotte«) saß neben [35] meinem Paten (»Götti«), der entweder Ueli oder Hans hieß, Senn auf jeden Fall, und den ich nach der Taufe nie mehr sah. Er zerstritt sich noch vor dem Nachtisch mit meinem Vater – mehrere Grappas inzwischen, am hellen Nachmittag –, der ihn einen blöden Frömmler nannte. Götti Ueli oder Hans versteinerte, stand auf, faltete die Serviette, legte sie neben seinen Teller und ging. Gott sei Dank hatte die Großmutter nicht mitbekommen, weshalb er so unvermutet aufbrach. (Ich sah ihn dann doch noch einmal. Sechzehn Jahre später nämlich, am Tag meiner Konfirmation und wenige Tage vor meinem Austritt aus der Kirche, klingelte es. Ein fremder Mann stand vor mir und sagte: »Ich bin dein Götti.« Er überreichte mir ein Paket und hastete davon, bevor ich »Kommen Sie doch herein, Herr Götti« sagen konnte. In dem Paket war eine Bibel, die mir heute noch nützlich ist.)

NORINA immer noch. Wir taten alles zusammen. Wir rüsteten Gemüse (ich wusch die Karotten, die sie danach nochmals wusch), wir kochten (ich konnte bald die Karotten ins heiße Wasser werfen), wir deckten den Tisch. Sie sagte: »Noch zwei Gabeln«, und ich holte zwei Gabeln aus der Schublade. Ich strahlte vor Stolz. Wir hängten die Wäsche auf, an einer Art Karussell aus Stangen und Seilen, das Norina drehen konnte, bis die Hemden flatterten wie an ihren Kragen aufgehängte Männer. Wir kletterten auf den Komposthaufen und hockten zwischen Riesenzucchini. Wir sammelten unter dem Nussbaum, einem wahren Baumriesen, die Nüsse ein. Wenn wir Verstecken spielten, [36] kauerte Norina so hinter der Wassertonne, dass ich ihr rotes Kopftuch von weitem leuchten sah und triumphierend zu ihr hinrennen konnte. »Eins, zwei, drei für Norina!« Ich hockte dann mit geschlossenen Augen neben dem Schuppen und hielt mich, weil ich nichts sah, für unsichtbar. Norina strich zwischen den Bohnen herum und rief: »Wo ist er denn, wo steckt er denn nur?« Die Begeisterung, gefunden zu werden! Wir gingen Hand in Hand durch den nahen Wald, in Millionen Anemonen, die weiß in einem grünen Blätterteppich blühten. Ich war überwältigt von so viel Schönheit.

KANN sein, dass meine andere Hand in der Simones lag. Simone nämlich wohnte plötzlich auch bei uns. Ich liebte sie bald so sehr wie Norina. Sie war fast noch ein Mädchen, ein großes Mädchen und ein bisschen dick, rondelette. Sie hatte zündrote Haare und Sommersprossen. Sie sprach französisch, nur französisch, mit einer hellen, lustigen Stimme. Ich verstand sie auf Anhieb, und sie verstand mich. Sie war von ihren Eltern, die im Welschland lebten, in die deutsche Schweiz verschickt worden, manger de la vache enragée. Bei uns kriegte sie aber normales Essen. Wenn meine Mutter mit andern Leuten von Simone sprach, nannte sie sie »unser Dienstmädchen«. Sie kriegte irgend so was wie eins fünfzig am Tag und Kost und Logis. Dafür brachte sie, wenn sie einmal für einen Sonntag nach Hause fuhr, Körbe voll Eier und hie und da einen Schinken mit, denn sie kam von einem Bauernhof mit echten Kühen und Schweinen. Sie wälzte sich mit mir im Gras. Ich lachte. Sie [37] kreischte und ließ mich in ihren hocherhobenen Händen zappeln. Ich lag auf ihr, die Nase zwischen ihren Brüsten, die Nase überall. Sie roch wunderbar. Oft kam auch Norina, wälzte sich mit uns. Auch Astor tat mit, weil er bei jedem Menschenspiel wissen wollte, ob er es auch konnte. Er konnte mich nicht hochheben, das nicht. Er roch auch nicht gut. Aber das Sich-Wälzen schaffte er so gut wie alle. Zuweilen saß sogar meine Mutter bei uns, schaute uns zu, lächelte ernst. Sie hatte große Augen.

(GLÜCK. Wenn ich an diese erste Zeit denke, finde ich es in mir. Wie einen Schatz. So etwas wie ein Notvorrat, der in einem tiefen Stollen in mir aufbewahrt liegt. Lebendig immer noch, warm, leuchtend. Natürlich habe ich inzwischen nicht nur Glück erfahren. Wem widerführe dies. Dennoch aber: Was für ein, ja, Massel: ein Leben lang kein Krieg, keine Fluchten, kein Hunger. Kein jähes Exil an einem fremden Ort, nach einem hastigen Aufbruch mitten in der Nacht. Keine gewaltsamen Tode um mich herum. Das, was ich heute bin, kommt bruchlos aus dem, was war. Glück.)

ÜBRIGENS: Da ist eine Erinnerung, um die ich mich schon eine ganze Weile lang herumdrücke. Keine Erinnerung wirklich, ein Bild, ein Gefühl, eine Szene, erfunden vielleicht, eine Konstruktion. Wie ein Zehn-Sekunden-Film, den ein unbekannter Operateur zuweilen, ohne mich zu fragen, in mir abspielt. Sicher ist, dass ich diese Szene seit immer in mir trage und dass sie mich heute noch [38] aufschreckt, wenn sie auftaucht. Gewiss ist auch, dass ich ihr Held bin, ihr Opfer, und dass ich klein bin. Ein Baby, zwei, drei Jahre alt, was weiß ich. Ich liege da, und etwas nähert sich mir, flammend. Ein brennendes Kissen, in einem grünen Licht, plötzlich und schrecklich und tödlich. Meine Mutter versucht, mich mit einem Kissen zu ersticken: das wäre meine Erklärung. Sie ist sicher falsch. Es kann nicht so gewesen sein, es war gewiss nicht so. Niemand hat mich erstickt, da war kein brennendes Kissen in der wirklichen Welt. Es brannte in meinem Hirn.

DIE paar andern Erinnerungen aus sehr frühen Jahren: Sprachen sie tatsächlich von Glück? Meine Mutter kauert auf allen vieren auf dem Bett, mit offenen Haaren, einer gewaltigen Mähne, die sie schüttelt. Sie knurrt, tappt mit den Pfoten nach mir und ruft, sie sei ein Löwe. »I bi-n-e Leu!« Ich, vor ihrem Rachen, rufe schnell, ich sei auch ein Löwe. »Und iich bi dr Kindli-Leu!« Tatsächlich: Die Mutter zerreißt mich nicht. – Ein Postbus kommt auf einer steilen Bergstraße näher und lässt sein Signalhorn erklingen. Drei Töne. Sie sind so verstimmt, dass ich bis heute den mittleren Ton im Kopf nachstimme – um eine Nuance nach unten –, wenn ich den klassischen Dreiklang höre, der inzwischen bei allen PTT-Bussen rein und korrekt ist. – Das waren schon Töne des Glücks. Andrerseits waren meine Mutter und ich nicht freiwillig unterwegs. Wir waren aus der Grenzstadt Basel ins Wallis geflohen, weil sich jedermann sicher war, dass die Wehrmacht in den nächsten Tagen in die Schweiz einmarschieren würde. Mein Vater [39] wusste es, Erwin auch. Das war im Mai 1940. Im Bahnhof ein gehöriges Durcheinander. Rufen, Drängeln, Fluchen. Wir landeten nicht im Lötschental – vielleicht war sein Eingang noch voller Schnee –, sondern im Val d’Anniviers, in Grimentz, im Haus von Monsieur Roulet, der im Leben meiner Mutter eine wichtige Rolle gespielt hatte und offenbar immer noch spielte (»Monsieur Roulet hat gesagt«: ein häufiger Satz meiner Mutter) und dessen Sohn, glaube ich, einmal um die Hand meiner Mutter angehalten hatte. Oder war das Monsieur Roulet selber gewesen? – Der Bus war gelb, aber sein Gelb war dunkler und wärmer als das Postgelb heute. Eine verschwundene Farbe. – Mein Vater war in Basel geblieben. Er musste wohl Schule geben (die Kinder der Armen waren noch in Basel, so wie die Armen selber, und ihre Lehrer). Oder lernte er zu der Zeit schon als ein beinah vierzigjähriger Herzkranker in einer Rekrutenschule für hilfsdienstfähige Nachzügler, wie man mit einem Karabiner einen Panzer aufhält? – Die Deutschen kamen dann doch nicht, und Mama und ich fuhren nach Basel zurück. Ein letztes Mal, auf der Fahrt ins Tal hinunter, die drei herrlichen Töne, wenn der Bus in eine enge Kurve steuerte. In diesem Sommer wohl auch – denn ich war kleiner als eine Roggenähre – tappte ich mutig in die von viel größeren Kindern getretenen Labyrinthgänge eines Getreidefelds hinein. Ich ging neugierig, entzückt, um eine Kurve – der Eingang, der auch der Ausgang war, war nicht mehr zu sehen –, um eine andere dann, noch eine, eine weitere in eine neue Richtung, über eine Kreuzung. Ich wählte diese Abzweigung und dann jene, dahin, dorthin und wusste bald nicht mehr, wie wieder hinaus. Rings um mich die Kornhalme, [40] überlebensgroß, und weit oben der Himmel. Nun stolperte ich angstvoll, panisch bald. Ich rief nicht, denn ich wollte keines der Ungeheuer anlocken, die gewiss auch durch die Korridore strichen. Wenn mir jäh ein Menschenfresser entgegenkäme? Ich war längst in Tränen aufgelöst, als ich unvermutet auf den Fußweg hinauspurzelte. Ich stand am andern Ende des Kornfelds. Fern meine Mutter, die mit einer Nachbarin plauderte. »Ich rede mit Frau Schaub«, sagte sie, als ich schluchzend bei ihr anlangte. »Das ist doch kein Grund zum Weinen.« – Und einmal der Maler Paul Camenisch, wie er mich hochwarf, noch einmal hochwarf, wieder hochwarf. Ich flog, wurde gefangen, flog wieder. Ich juchzte. Die Lust war größer als die Angst, oder umgekehrt.

DANN kam meine Schwester zur Welt. Nora. Ich hatte nicht gesehen, nie, dass meine Mutter einen immer dickeren Bauch bekommen hatte (falls ich es doch sah, deutete ich es falsch), und als ich gefragt wurde, ob ich mir nicht ein kleines Schwesterchen wünschte, antwortete ich, dass mir ein Fahrrad lieber wäre. Noch heute habe ich die Neigung, die Schwangerschaften von Frauen zu übersehen. Vor Jahren, als mein Patenkind Babette zur Welt kam, hatte ich bis unmittelbar vor der Geburt den Bauch Evas ignoriert. Dabei ging Eva längst nicht mehr, sie rollte. – Nora also. Sie verdankte ihren Namen (die große Norina) ihrer neuen Tante. Auch weil ich Norina liebte wie niemanden sonst, wollte ich nicht, dass es eine Variante von ihr gab. Ich machte klar, dass ich dieses kleine Wesen nie mit dem Namen Nora [41] ansprechen würde. Nie. Margherita, ja, wenn sie jetzt schon einmal da war und man sie tatsächlich nicht im Spital zurückgeben konnte, dann also Margherita. Ich brüllte, ich tobte. Margherita, oder gar nichts. – Ich sang damals gern ein Lied, das »Margherita, bella Margherita« hieß. Margherita, bella Margherita, minem Hüsli grade vis-à-via, sing i dir es kleines Schtändeli, jo? Chumm e bitzeli abe, oder soll i uffe cho?