Reiselust im Wunderland Marokko - Karl Plepelits - E-Book
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Reiselust im Wunderland Marokko E-Book

Karl Plepelits

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Beschreibung

Mit 31 Abbildungen Wie hängen die Namen Marokko und Marrakesch zusammen? Was hat der Name Berber mit den Barbaren zu tun? Klingt doch verdächtig ähnlich, wie? Was hat der Hohe Atlas mit Atlantis und dem Atlantik zu tun? Was bedeutet der Name Barack, und was hat er mit dem Islam und speziell mit Marokko zu tun? Und schließlich: Mit welchem Recht nennt man Marokko ein Wunderland? All dies und noch vieles mehr erfährt man in diesen amüsanten, flott geschriebenen Reiseberichten.

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Karl Plepelits

Reiselust im Wunderland Marokko

Ein Land aus Tausendundeiner Nacht

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

1

2

3

4

5

6

7

Impressum neobooks

1

Alles begann damit, dass mir eines schönen Tages Ute, meine Eheliebste, einen Reiseprospekt unter die Nase hielt, den Sie heute im Briefkasten entdeckt hatte, und auf folgenden Text hinwies: „Trekkingtouren in Marokko – das ultimative Abenteuer.“ Und weiter unten: „Wandern im Atlas-Gebirge, Wandern entlang der Atlantikküste, Wandern in der Sahara. Sie glauben nicht, wie vielfältig die marokkanische Wüste ist.“ Und dazu ein paar bunte Bilder, die offenbar Appetit machen sollten. Und mir tatsächlich Appetit machten.

„Oho, das klingt ja interessant“, erwiderte ich.

26. Dezember 1999.

Hurra, wir fliegen nach Marokko – Papi, Mami, Eva und Mira, unsere zwei Kleinen. Und vier weitere Familien mit Kindern.

Wir landen in Marrakesch, werden von einem lustig kostümierten Marokkaner, der sich als Omar vorstellt, begrüßt und in einen Bus verladen. (Lustig kostümiert: Damit meine ich so einen merkwürdigen Kapuzenmantel, in dem er aussah wie ein mittelalterlicher Mönch. Er erinnerte mich jedenfalls an Sean Connery als der Franziskaner William von Baskerville im Film Der Name der Rose. Ich wusste noch nicht, dass dies die marokkanische Nationaltracht ist. Ihr Name ist Dschellaba.)

Das Ziel dieser Fahrt ist nicht irgendein Hotel, sondern dieser riesige, aus zahlreichen Abbildungen weithin bekannte Platz mit dem sonderbaren Namen Place Dschmâa (Jemâa) el-Fna. Und das bedeutet laut Omar, unserem mittelalterlichen Mönch, Platz der Moschee der Getöteten. Hier werden wir schon erwartet. Nicht nur unsere Koffer, auch die kleineren Kinder, darunter unsere Jüngere, Klein-Mira, werden auf Schubkarren verladen und unter dem Jubel der Einheimischen durch die Gassen der Medina, der nun wirklich mittelalterlichen Altstadt, kutschiert, ein Service, den Eva, unsere Ältere, weit von sich weist: „Ich bin doch kein Baby mehr!“

Die Karawane hält vor einem unansehnlichen, fensterlosen Bau.

„Was? Hier sollen wir wohnen?“, maule ich. „Da wär mir ja ein Wüstenzelt noch lieber.“

Aber meine Enttäuschung wird gar schnell von ungläubigem Staunen abgelöst. Denn die Eingangstür gibt den Weg frei zu einem prachtvollen Innenhof inklusive Swimmingpool. Und damit öffnet sich eine Traumwelt aus Tausendundeiner Nacht. Alle sind fasziniert, vor allem die insgesamt sechs Kinder. Auch die Dachterrasse finden sie „megacool“. Hier bauen sich die Kleineren unter ihnen aus bunten Polstern und einer Decke einen Iglu und verstecken sich darin. Nur unsere Eva und ein etwa gleichaltriger Bub namens David fühlen sich zu erwachsen, um sich an solchen Spielchen zu beteiligen.

27.Dezember 1999.

Der Bummel durch die Suks (französische Schreibung: Souks), wie hier die orientalischen Basare heißen, ist für die Kinder ein Abenteuer wie aus dem Märchen. Uns Erwachsenen öffnen sie die Herzen der kinderfreundlichen Marokkaner. Unser mittelalterlicher Mönch führt und dolmetscht. Es ist Vergnügen pur. Übrigens stellen wir fest, dass die meisten Männer hier so „kostümiert“ sind. Hinzu kommen die tiefschwarz und obendrein total verschleierten Frauengestalten; gerade, dass ein schmaler Schlitz die Augen freihält. Dies ist ja mittlerweile auch bei uns in Europa kein seltener Anblick mehr.

28. Dezember 1999.

Ja, wen hat denn „unser Mönch“ heute Morgen bei sich? Einen blau beturbanten Jüngling, der uns mit blitzenden Zähnen entgegenlacht. Er stellt ihn vor als unseren Trekkingführer Mustafa. Die Kinder sind außer sich vor Aufregung, denn sie wissen: Heute beginnt das Wüstenkarawanenabenteuer.

Nein, zunächst beginnt ein erneutes Schubkarrenkarawanenabenteuer. Und auf dem riesigen Platz mit dem komplizierten Namen erwartet uns keine Kamelkarawane, sondern eine Karawane aus hochbeladenen Jeeps und ein großer, drahtiger älterer Mann. Der „Mönch“ stellt ihn uns vor als unseren Koch Jusuf und wünscht uns gute Reise.

Die Aufregung steigt. Wir steigen ein. Die Jeepkarawane setzt sich in Bewegung. Sie durchquert ausgedehnte Olivenhaine und bewegt sich auf eine spektakuläre, schneeweiße Gebirgskette, den Hohen Atlas, zu. Die heißt es also überwinden, ehe wir den Ozean aus Sand erreichen. Die Straße beginnt zu steigen, zwängt sich in eine Schlucht, windet sich in Serpentinen in die Höhe, erreicht eine Passhöhe. Fotostopp. Wunderbarer Blick auf die nahe gerückte Bergkette. Eichenwälder anstelle der Olivenhaine. Die Straße fällt wieder ab, beginnt erneut zu steigen, sich in abenteuerlichen Serpentinen zu winden. An den steilen Hängen winzige Dörfer mit niedrigen, flach gedeckten, aus Bruchsteinen errichteten Häusern, darunter winzige Terrassenfelder. Erneuter Halt in einem etwas größeren Dorf, umgeben von mächtigen Nussbäumen. Unsere Verpflegung für die nächsten Tage wird eingekauft: Brot, Gemüse, Obst, Fleisch. Entlang der Straße schreiende Händler, die uns zum Kauf von Kristallen, Fossilien und den verschiedensten Halbedelsteinen drängen.

Wieder heißt es einsteigen. Die Straße schraubt sich weiter himmelwärts. Die Hänge werden kahl und immer kahler. Wir erreichen die Passhöhe, den Tischka-Pass (Tizi n’Tichka; das Wort bedeutet in der Berbersprache angeblich Alm), 2260 Meter hoch, der höchste Straßenpass Marokkos. Fotostopp. Wieder schreiende Mineralienhändler. Wunderbarer Blick auf nackte, graue Steilhänge, beiderseits überragt von Gipfeln in leuchtendem Weiß. Trotzdem große Enttäuschung: Eisiger, schneidender Wind.

Rasch wieder in die behagliche Wärme des Jeeps, und Weiterfahrt. Große Überraschung: Eine völlig konträre Landschaft. Kaum noch Steilhänge. Dazwischen weite, ebene Flächen. Aber weiterhin kahl, der Boden, die Felsen auffallend rot, genauer, ockerfarben, ins Gelbliche changierend. Eine geradezu biblische Landschaft. Die Straße ist nun deutlich weniger steil und bald auch weniger kurvenreich. Auch die Dörfer sehen ganz anders aus als bisher, heben sich kaum von der umgebenden Landschaft ab.

Plötzlich biegen wir nach links in ein schmales Sträßchen ab und stehen nach einiger Zeit, am Rand eines kleinen Berberdorfes namens Teluet in noch immer 1870 Meter Seehöhe, vor einer riesigen Kasba (Qasba, arabisch für Burg oder Festung, Mehrzahl: Ksabi), einem ganzen Palastkomplex für tausend Personen, bis 1956 die Wohnburg von El Glaui, heute großteils verfallen. Einige Teile sind jedoch restauriert worden und beeindrucken uns durch ihren unglaublichen Prunk.

„Bitte, wer ist El Glaui?“, warf ich am Ende von Mustafas Führung ein.

„Kurze Antwort: ein unerbittlicher Despot. Er hatte sich mit den Kolonialherren, den Franzosen, verbündet und war dafür von ihnen zum Pascha von Marrakesch ernannt worden. Skrupellos, wie er war, wurde er zum reichsten Mann Marokkos, zum Großgrundbesitzer und damit zum Herrn über Tausende von Pächtern. Überall ließ er Kasbas errichten und bemannte sie mit seinen Stellvertretern, um die von ihm Unterworfenen ständig unter seiner Knute zu haben und aus ihnen unverschämt hohe Abgaben zu pressen. Er selbst lebte wie ein König aus Tausendundeiner Nacht. Bewundernd nannte man ihn im In- und Ausland Sultan des Südens und Löwe des Atlas. Ab etwa 1950 war er mächtiger als Sultan Mohammed V. in Rabat. Den Franzosen lieferte er 1953 den Vorwand, um diesen abzusetzen und zunächst nach Korsika und dann nach Madagaskar zu verbannen. Doch nur zwei Jahre später sahen sie sich gezwungen, ihn wieder heimkehren zu lassen und zu inthronisieren. Und damit war El Glauis Macht gebrochen.“

Und weiter geht die Fahrt, nun auf der alten Passstraße, durch eine traumhaft schöne wüstenhafte Landschaft, die im Übrigen schon lange nicht mehr wie ein Hochgebirge wirkt, obwohl es ständig bergab geht und wir uns noch immer weit über der Tausend-Meter-Marke befinden. Plötzlich biegt Mhamid, der Fahrer unseres Jeeps, inmitten eines Dorfes nach links ab, sodass wir bald das Atlas-Gebirge neuerlich vor unseren staunenden Augen haben, nur jetzt eben von der anderen Seite.

Und dann glauben wir zu träumen. Aber es ist kein Traum aus Tausendundeiner Nacht. Es ist ein Traum aus einer anderen Welt, zugleich ein Quintett von Farben: Das Himmelblau eines Flüsschens, wie bei uns in den Alpen inmitten des Hellgraus eines breiten Trockenbetts, umgeben vom Grün einer Flussoase, dahinter, vor der Kulisse des weiß schimmernden Atlas-Gebirges, in das allgegenwärtige Ocker getaucht, ein niedriger Berg, auf seinem Gipfelplateau eine verfallene Kasba, und darunter, an den steilen Abhang geschmiegt, die ineinander verschachtelten Mauern eines Ksar: Aït-Ben-Haddu, benannt nach dem hier ansässigen Berberstamm. Aït“, so Mustafa, „bedeutet in der Sprache der Berber Die Söhne von und wird bei den Berbern dem Stammesnamen vorangestellt. Damit entspricht es dem arabischen Wort Beni. So heißt eine Stadt am Nordfuß des Hohen Atlas offiziell Beni Mellal. Aber die Berber nennen sie Aït Mellal. Und Ben-Haddu bedeutet, auf arabisch, Sohn des Haddu. Das arabische Wort für Sohn ist zwar Ibn. Wenn es aber als Namensbestandteil gebraucht, wird aus Ibn Bin oder Ben,“

„Und bitte, was ist ein Ksar?“, ruft meine vorlaute Eva.

Geduldig antwortet Mustafa: „Ksar, Mehrzahl Ksur (Ksour), bedeutet Burg oder Festung. Bei uns versteht man darunter meistens ein Wehrdorf, das heißt, ein Dorf mit einer hohen Stadtmauer rundherum. Es besteht fast ausschließlich aus Stampflehm oder Lehmziegeln. Die Häuser der einfacheren Leute sind bis zu drei Stock hoch. Die reicheren, angeseheneren und wohl auch mächtigeren Familien wohnten mit ihren Sklaven in einer Kasba, also einem burgartigen Gebäude. Diese stehen entweder inmitten des Ksar oder, umgeben von einer eigenen zinnengekrönten Schutzmauer, davor an beherrschender Stelle. In der Schriftsprache, man kann auch sagen: im klassischen Arabisch, heißt das Wort nicht Ksar, sondern Kasr (Qasr), Mehrzahl Kusur (Qusur). Angeblich leitet sich Kasr vom gleichbedeutenden lateinischen Wort Castrum ab, während Kasba original arabisch ist. Das hat mir sehr netter Reisegast erzählt, mit dem ich einmal unterwegs war. Oft werden die Begriffe Ksar und Kasba auch bedeutungsgleich verwendet. Wir sind also hier auf der berühmten Straße der Kasbas. Man kann auch sagen: auf der Straße der tausend Kasbas“

„Wieso eigentlich diese ungewöhnliche Wehrhaftigkeit?“, fragt eine Mami.

„Eine gute Frage. Erstens, um sich und sein Hab und Gut vor den Angriffen verfeindeter Stämme und den ständigen Überfällen der Nomaden zu schützen. Nomaden gibt es noch heute in der Sahara. Mittlerweile scheinen sie aber gelernt zu haben, dass Raub kein legales Mittel des Erwerbs ist. Und was die Feindschaft zwischen den einzelnen Stämmen betrifft, so gehört auch sie der Geschichte an, seit unser Land nach heroischem Widerstand gegen die Kolonialherren wieder ein souveräner Staat wurde. Dies geschah im Jahre 1956. Und zweitens, weil sich von einer solchen Kasba aus die übrige Bevölkerung im Ksar wunderbar beherrschen, sprich, unterdrücken und ausbeuten ließ.

Leider sind die meisten Bewohner von Aït-Ben-Haddu in dieses neue Dorf auf der anderen Flussseite übersiedelt, das wir gerade durchquert haben, sodass das Ksar, weil eben aus Stampflehm oder Lehmziegeln bestehend, heute von rapidem Verfall bedroht ist. Dabei hat Lehm in trockenen, heißen Regionen so wie hier enorme Vorteile gegenüber vielen anderen Baumaterialien, weil er Wärme exzellent speichert. Während des Tages heizt er sich in der Sonne auf und gibt die gespeicherte Wärme nachts langsam an die Umgebung ab. Dadurch bleibt ein aus Lehm errichtetes Gebäude tagsüber kühl und nachts warm. Nur muss es ständig gepflegt und ausgebessert werden. Sonst verfällt es rapide. Größter Feind ist natürlich Wasser.

Aït-Ben-Haddu gilt als einer der schönsten Orte Marokkos und hat schon oft als Drehort für Filme gedient. Es ist aber auch kein gewöhnliches Ksar. Denn es besteht aus sechs dicht ineinander verschachtelten Kasbas, und jede besteht aus einem engen Gewirr unzähliger Wohn- und Lagerräume, die ihrerseits durch ein Gewirr von Korridoren verbunden sind.“

Die Straße endet vor dem steilen Abstieg ins Flussbett. Von hier an müssen wir wandern. Wir müssen sogar balancieren, nämlich auf den Steinen, die aus dem Wasser ragen, ans andere Ufer. Keine Brücke. Kein Steg.

Mustafa: „Bei Hochwasser, also im Frühjahr, während der Schneeschmelze, oder nach heftigen Regengüssen, kommt niemand hinüber. Aber den Großteil des Jahres ist das Flussbett völlig ausgetrocknet.“

(Mittlerweile gibt es eine Fußgängerbrücke über den Fluss.)

Am Stadttor angekommen, entlässt uns Mustafa aus seiner Obhut. Also machen sich die meisten auf eigene Faust auf den Weg. Die versammelte Kinderschar hat, wie alsbald nicht zu überhören ist, in den leeren, schmalen Gassen dieser Geisterstadt ihren größten Spaß.

Nur wenige Kilometer nach Aït-Ben-Haddu kommt ein weiteres Dorf mit Kasba in Sicht. Es nennt sich Tabourahte (sprich: Taburacht). Die Kasba entpuppt sich als Hotel. Und darin dürfen wir heute übernachten.

„Ja, und besonders interessant finde ich das hier: Wanderreisen mit Maultieren und Kamelen für Familien mit Kindern ab vier Jahren. Wär das nicht was für uns?“

„Du, ja. Du hast recht. Für diese Wanderreise für die ganze Familie rund um Silvester melden wir uns an, ja? Und entfliehen gleichzeitig dem kalten und unfreundlichen Wetter bei uns.“

2

26. Dezember 1999.

Hurra, wir fliegen nach Marokko – Papi, Mami, Eva und Mira, unsere zwei Kleinen. Und vier weitere Familien mit Kindern.

Wir landen in Marrakesch, werden von einem lustig kostümierten Marokkaner, der sich als Omar vorstellt, begrüßt und in einen Bus verladen. (Lustig kostümiert: Damit meine ich so einen merkwürdigen Kapuzenmantel, in dem er aussah wie ein mittelalterlicher Mönch. Er erinnerte mich jedenfalls an Sean Connery als der Franziskaner William von Baskerville im Film Der Name der Rose. Ich wusste noch nicht, dass dies die marokkanische Nationaltracht ist. Ihr Name ist Dschellaba.)

Das Ziel dieser Fahrt ist nicht irgendein Hotel, sondern dieser riesige, aus zahlreichen Abbildungen weithin bekannte Platz mit dem sonderbaren Namen Place Dschmâa (Jemâa) el-Fna. Und das bedeutet laut Omar, unserem mittelalterlichen Mönch, Platz der Moschee der Getöteten. Hier werden wir schon erwartet. Nicht nur unsere Koffer, auch die kleineren Kinder, darunter unsere Jüngere, Klein-Mira, werden auf Schubkarren verladen und unter dem Jubel der Einheimischen durch die Gassen der Medina, der nun wirklich mittelalterlichen Altstadt, kutschiert, ein Service, den Eva, unsere Ältere, weit von sich weist: „Ich bin doch kein Baby mehr!“

Die Karawane hält vor einem unansehnlichen, fensterlosen Bau.

„Was? Hier sollen wir wohnen?“, maule ich. „Da wär mir ja ein Wüstenzelt noch lieber.“

Aber meine Enttäuschung wird gar schnell von ungläubigem Staunen abgelöst. Denn die Eingangstür gibt den Weg frei zu einem prachtvollen Innenhof inklusive Swimmingpool. Und damit öffnet sich eine Traumwelt aus Tausendundeiner Nacht. Alle sind fasziniert, vor allem die insgesamt sechs Kinder. Auch die Dachterrasse finden sie „megacool“. Hier bauen sich die Kleineren unter ihnen aus bunten Polstern und einer Decke einen Iglu und verstecken sich darin. Nur unsere Eva und ein etwa gleichaltriger Bub namens David fühlen sich zu erwachsen, um sich an solchen Spielchen zu beteiligen.

27.Dezember 1999.

Der Bummel durch die Suks (französische Schreibung: Souks), wie hier die orientalischen Basare heißen, ist für die Kinder ein Abenteuer wie aus dem Märchen. Uns Erwachsenen öffnen sie die Herzen der kinderfreundlichen Marokkaner. Unser mittelalterlicher Mönch führt und dolmetscht. Es ist Vergnügen pur. Übrigens stellen wir fest, dass die meisten Männer hier so „kostümiert“ sind. Hinzu kommen die tiefschwarz und obendrein total verschleierten Frauengestalten; gerade, dass ein schmaler Schlitz die Augen freihält. Dies ist ja mittlerweile auch bei uns in Europa kein seltener Anblick mehr.

28. Dezember 1999.

Ja, wen hat denn „unser Mönch“ heute Morgen bei sich? Einen blau beturbanten Jüngling, der uns mit blitzenden Zähnen entgegenlacht. Er stellt ihn vor als unseren Trekkingführer Mustafa. Die Kinder sind außer sich vor Aufregung, denn sie wissen: Heute beginnt das Wüstenkarawanenabenteuer.

Nein, zunächst beginnt ein erneutes Schubkarrenkarawanenabenteuer. Und auf dem riesigen Platz mit dem komplizierten Namen erwartet uns keine Kamelkarawane, sondern eine Karawane aus hochbeladenen Jeeps und ein großer, drahtiger älterer Mann. Der „Mönch“ stellt ihn uns vor als unseren Koch Jusuf und wünscht uns gute Reise.

Die Aufregung steigt. Wir steigen ein. Die Jeepkarawane setzt sich in Bewegung. Sie durchquert ausgedehnte Olivenhaine und bewegt sich auf eine spektakuläre, schneeweiße Gebirgskette, den Hohen Atlas, zu. Die heißt es also überwinden, ehe wir den Ozean aus Sand erreichen. Die Straße beginnt zu steigen, zwängt sich in eine Schlucht, windet sich in Serpentinen in die Höhe, erreicht eine Passhöhe. Fotostopp. Wunderbarer Blick auf die nahe gerückte Bergkette. Eichenwälder anstelle der Olivenhaine. Die Straße fällt wieder ab, beginnt erneut zu steigen, sich in abenteuerlichen Serpentinen zu winden. An den steilen Hängen winzige Dörfer mit niedrigen, flach gedeckten, aus Bruchsteinen errichteten Häusern, darunter winzige Terrassenfelder. Erneuter Halt in einem etwas größeren Dorf, umgeben von mächtigen Nussbäumen. Unsere Verpflegung für die nächsten Tage wird eingekauft: Brot, Gemüse, Obst, Fleisch. Entlang der Straße schreiende Händler, die uns zum Kauf von Kristallen, Fossilien und den verschiedensten Halbedelsteinen drängen.

Wieder heißt es einsteigen. Die Straße schraubt sich weiter himmelwärts. Die Hänge werden kahl und immer kahler. Wir erreichen die Passhöhe, den Tischka-Pass (Tizi n’Tichka; das Wort bedeutet in der Berbersprache angeblich Alm), 2260 Meter hoch, der höchste Straßenpass Marokkos. Fotostopp. Wieder schreiende Mineralienhändler. Wunderbarer Blick auf nackte, graue Steilhänge, beiderseits überragt von Gipfeln in leuchtendem Weiß. Trotzdem große Enttäuschung: Eisiger, schneidender Wind.

Rasch wieder in die behagliche Wärme des Jeeps, und Weiterfahrt. Große Überraschung: Eine völlig konträre Landschaft. Kaum noch Steilhänge. Dazwischen weite, ebene Flächen. Aber weiterhin kahl, der Boden, die Felsen auffallend rot, genauer, ockerfarben, ins Gelbliche changierend. Eine geradezu biblische Landschaft. Die Straße ist nun deutlich weniger steil und bald auch weniger kurvenreich. Auch die Dörfer sehen ganz anders aus als bisher, heben sich kaum von der umgebenden Landschaft ab.

Plötzlich biegen wir nach links in ein schmales Sträßchen ab und stehen nach einiger Zeit, am Rand eines kleinen Berberdorfes namens Teluet in noch immer 1870 Meter Seehöhe, vor einer riesigen Kasba (Qasba, arabisch für Burg oder Festung, Mehrzahl: Ksabi), einem ganzen Palastkomplex für tausend Personen, bis 1956 die Wohnburg von El Glaui, heute großteils verfallen. Einige Teile sind jedoch restauriert worden und beeindrucken uns durch ihren unglaublichen Prunk.

„Bitte, wer ist El Glaui?“, warf ich am Ende von Mustafas Führung ein.

„Kurze Antwort: ein unerbittlicher Despot. Er hatte sich mit den Kolonialherren, den Franzosen, verbündet und war dafür von ihnen zum Pascha von Marrakesch ernannt worden. Skrupellos, wie er war, wurde er zum reichsten Mann Marokkos, zum Großgrundbesitzer und damit zum Herrn über Tausende von Pächtern. Überall ließ er Kasbas errichten und bemannte sie mit seinen Stellvertretern, um die von ihm Unterworfenen ständig unter seiner Knute zu haben und aus ihnen unverschämt hohe Abgaben zu pressen. Er selbst lebte wie ein König aus Tausendundeiner Nacht. Bewundernd nannte man ihn im In- und Ausland Sultan des Südens und Löwe des Atlas. Ab etwa 1950 war er mächtiger als Sultan Mohammed V. in Rabat. Den Franzosen lieferte er 1953 den Vorwand, um diesen abzusetzen und zunächst nach Korsika und dann nach Madagaskar zu verbannen. Doch nur zwei Jahre später sahen sie sich gezwungen, ihn wieder heimkehren zu lassen und zu inthronisieren. Und damit war El Glauis Macht gebrochen.“

Und weiter geht die Fahrt, nun auf der alten Passstraße, durch eine traumhaft schöne wüstenhafte Landschaft, die im Übrigen schon lange nicht mehr wie ein Hochgebirge wirkt, obwohl es ständig bergab geht und wir uns noch immer weit über der Tausend-Meter-Marke befinden. Plötzlich biegt Mhamid, der Fahrer unseres Jeeps, inmitten eines Dorfes nach links ab, sodass wir bald das Atlas-Gebirge neuerlich vor unseren staunenden Augen haben, nur jetzt eben von der anderen Seite.

Und dann glauben wir zu träumen. Aber es ist kein Traum aus Tausendundeiner Nacht. Es ist ein Traum aus einer anderen Welt, zugleich ein Quintett von Farben: Das Himmelblau eines Flüsschens, wie bei uns in den Alpen inmitten des Hellgraus eines breiten Trockenbetts, umgeben vom Grün einer Flussoase, dahinter, vor der Kulisse des weiß schimmernden Atlas-Gebirges, in das allgegenwärtige Ocker getaucht, ein niedriger Berg, auf seinem Gipfelplateau eine verfallene Kasba, und darunter, an den steilen Abhang geschmiegt, die ineinander verschachtelten Mauern eines Ksar: Aït-Ben-Haddu, benannt nach dem hier ansässigen Berberstamm. Aït“, so Mustafa, „bedeutet in der Sprache der Berber Die Söhne von und wird bei den Berbern dem Stammesnamen vorangestellt. Damit entspricht es dem arabischen Wort Beni. So heißt eine Stadt am Nordfuß des Hohen Atlas offiziell Beni Mellal. Aber die Berber nennen sie Aït Mellal. Und Ben-Haddu bedeutet, auf arabisch, Sohn des Haddu. Das arabische Wort für Sohn ist zwar Ibn. Wenn es aber als Namensbestandteil gebraucht, wird aus Ibn Bin oder Ben,“

„Und bitte, was ist ein Ksar?“, ruft meine vorlaute Eva.

Geduldig antwortet Mustafa: „Ksar, Mehrzahl Ksur (Ksour), bedeutet Burg oder Festung. Bei uns versteht man darunter meistens ein Wehrdorf, das heißt, ein Dorf mit einer hohen Stadtmauer rundherum. Es besteht fast ausschließlich aus Stampflehm oder Lehmziegeln. Die Häuser der einfacheren Leute sind bis zu drei Stock hoch. Die reicheren, angeseheneren und wohl auch mächtigeren Familien wohnten mit ihren Sklaven in einer Kasba, also einem burgartigen Gebäude. Diese stehen entweder inmitten des Ksar oder, umgeben von einer eigenen zinnengekrönten Schutzmauer, davor an beherrschender Stelle. In der Schriftsprache, man kann auch sagen: im klassischen Arabisch, heißt das Wort nicht Ksar, sondern Kasr (Qasr), Mehrzahl Kusur (Qusur). Angeblich leitet sich Kasr vom gleichbedeutenden lateinischen Wort Castrum ab, während Kasba original arabisch ist. Das hat mir sehr netter Reisegast erzählt, mit dem ich einmal unterwegs war. Oft werden die Begriffe Ksar und Kasba auch bedeutungsgleich verwendet. Wir sind also hier auf der berühmten Straße der Kasbas. Man kann auch sagen: auf der Straße der tausend Kasbas“

„Wieso eigentlich diese ungewöhnliche Wehrhaftigkeit?“, fragt eine Mami.

„Eine gute Frage. Erstens, um sich und sein Hab und Gut vor den Angriffen verfeindeter Stämme und den ständigen Überfällen der Nomaden zu schützen. Nomaden gibt es noch heute in der Sahara. Mittlerweile scheinen sie aber gelernt zu haben, dass Raub kein legales Mittel des Erwerbs ist. Und was die Feindschaft zwischen den einzelnen Stämmen betrifft, so gehört auch sie der Geschichte an, seit unser Land nach heroischem Widerstand gegen die Kolonialherren wieder ein souveräner Staat wurde. Dies geschah im Jahre 1956. Und zweitens, weil sich von einer solchen Kasba aus die übrige Bevölkerung im Ksar wunderbar beherrschen, sprich, unterdrücken und ausbeuten ließ.