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Das Lehrbuch für alle, die sich konzentriert auf das Staatsexamen vorbereiten wollen. Knapp und präzise fasst es alles zusammen, was Studierende und angehende Religionslehrkräfte im Fach Religionspädagogik wissen sollten. Jedes Kapitel wird mit konkreten Beispielen für Prüfungsaufgaben abgeschlossen. Spart Zeit und Nerven! Hans Mendl hat in dieser Neuausgabe die neuesten Forschungsergebnisse und Literatur berücksichtigt und eingearbeitet.
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Seitenzahl: 478
Hans Mendl
Religionsdidaktik
kompakt
Für Studium, Prüfung und Beruf
Kösel
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überarbeitete und erweiterte Ausgabe
Copyright © 2018 Kösel-Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Covergestaltung: Kaselow Design, München
Covermotiv: Getty Images / Tadayuki Naitoh
Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
ISBN 978-3-641-22854-5V002
www.koesel.de
Inhalt
Vorwort
1. Rahmenbedingungen religionsdidaktischer Reflexion
1.1 Postmoderne – Pluralisierung und Individualisierung, Globalisierung und Digitalisierung
1.1.1 Die Gleichzeitigkeit von Moderne und Postmoderne, Globalisierung und Digitalisierung
1.1.2 Religion oder Konfession? Vom Wandel der Religion
1.1.3 (Religiöse) Individualisierung und Pluralisierung in einer globalisierten und digitalisierten Welt
1.1.4 Pluralität als religionspädagogische Herausforderung
1.2 Rechtliche und historische Grundlagen des Religionsunterrichts
1.2.1 Gesetzliche und gesellschaftspolitische Grundlage des Religionsunterrichts
1.2.2 Das Verhältnis von Kirche und Schule – historisch betrachtet
1.2.3 Alternative Formen des Religionsunterrichts
1.2.4 Religionsunterricht in anderen Ländern – Ein Blick über den Zaun
1.3 Religiöse Entwicklung, Moralentwicklung, Lebenszyklus
1.3.1 Entwicklungsmodelle
1.3.2 Religionspädagogischer Umgang mit den Erkenntnissen der Religionspsychologie
1.4 Lebenswelt als Ort religiöser Bildung und Erziehung: Soziologische Rahmendaten
1.4.1 Veränderte Kindheit
1.4.2 Jugendalter
1.4.3 Religion im Jugendalter
1.4.4 Religionspädagogische Folgerungen
2. Religionsdidaktische Konzepte und Ziele
2.1 Konzepte des Religionsunterrichts im 19. und 20. Jahrhundert
2.1.1 Die Dominanz katechetischer Modelle
2.1.2 Die Krise des Religionsunterrichts – Das Karussell der Konzepte
2.2 Korrelation als hermeneutisches Grundprinzip: Die Bedeutung der Würzburger Synode
2.2.1 Die Würzburger Synode: Das Dokument einer Wende
2.2.2 Korrelative Theologie – Korrelationsprinzip
2.3 Korrelation in der Kritik
2.3.1 Kritische Anfragen an die Korrelationsdidaktik und -praxis
2.3.2 Symboldidaktik als Alternative?
2.3.3 Weiterentwicklung des Korrelationsgedankens
2.4 Aufgaben und Ziele eines Religionsunterrichts in Pluralität
2.4.1 Religiöse Kompetenz – Leitziel für den Religionsunterricht heute
2.4.2 Das Zueinander von konfiguriertem und individuiertem religiösen Wissen
2.4.3 Narrative, multiple Identität
3. Inhaltsbereiche
3.1 Bibel
3.1.1 Grundsätzliche konzeptionelle Fragen
3.1.2 Religionspädagogische Aspekte
3.1.3 Didaktische Perspektiven
3.2 Glaubenslehre
3.2.1 Grundsätzliche konzeptionelle Fragen
3.2.2 Religionspädagogische Aspekte
3.2.3 Didaktische Perspektiven
3.3 Gottesfrage
3.3.1 Grundsätzliche konzeptionelle Fragen
3.3.2 Religionspädagogische Aspekte
3.3.3 Didaktische Perspektiven
3.4 Kirchengeschichte
3.4.1 Grundsätzliche konzeptionelle Fragen
3.4.2 Religionspädagogische Aspekte
3.4.3 Didaktische Perspektiven
3.5 Ethik
3.5.1 Grundsätzliche konzeptionelle Fragen
3.5.2 Religionspädagogische Aspekte
3.5.3 Didaktische Perspektiven
3.6 Vorbilder – Biografisches Lernen
3.6.1 Grundsätzliche konzeptionelle Fragen
3.6.2 Religionspädagogische Aspekte
3.6.3 Didaktische Perspektiven
3.7 Christentum – konfessionelle Kooperation – Ökumene
3.7.1 Grundsätzliche konzeptionelle Fragen
3.7.2 Religionspädagogische Aspekte
3.7.3 Didaktische Perspektiven
3.8 Interreligiöses Lernen
3.8.1 Grundsätzliche konzeptionelle Fragen
3.8.2 Religionspädagogische Aspekte
3.8.3 Didaktische Perspektiven
3.9 Glaubenspraxis: Gebet – Liturgie – Sakramente – Kirchenraum
3.9.1 Grundsätzliche konzeptionelle Fragen
3.9.2 Religionspädagogische Aspekte
3.9.3 Didaktische Perspektiven
3.10 Weltverantwortung – politisch und global lernen
3.10.1 Grundsätzliche konzeptionelle Fragen
3.10.2 Religionspädagogische Aspekte
3.10.3 Didaktische Perspektiven
4. Prinzipien
4.1 Subjektorientiert lernen
4.1.1 Herkunft, Ziel und Beschreibung
4.1.2 Didaktische Horizonte
4.2 Symbolorientiert lernen
4.2.1 Herkunft, Ziel und Beschreibung
4.2.2 Didaktische Horizonte
4.3 Ästhetisch lernen
4.3.1 Herkunft, Ziel und Beschreibung
4.3.2 Didaktische Horizonte
4.4 Erinnerungsgeleitet lernen
4.4.1 Herkunft, Ziel und Beschreibung
4.4.2 Didaktische Horizonte
4.5 Konstruktivistisch lernen
4.5.1 Herkunft, Ziel und Beschreibung
4.5.2 Didaktische Horizonte
4.6 Performativ lernen
4.6.1 Herkunft, Ziel und Beschreibung
4.6.2 Didaktische Horizonte
4.7 Kinder- und jugendtheologisch lernen
4.7.1 Herkunft, Ziel und Beschreibung
4.7.2 Didaktische Horizonte
4.8 Inklusiv lernen
4.8.1 Herkunft, Ziel und Beschreibung
4.8.2 Didaktische Horizonte
5. Planung und Durchführung von Religionsunterricht
5.1 Planung von Religionsunterricht
5.1.1 Planungsprinzipien
5.1.2 Ein Planungsmodell
5.1.3 Elementarisierung als Kern der Unterrichtsvorbereitung
5.1.4 Kompetenzorientiert lehren und lernen
5.2 Sozialformen, Unterrichtsverfahren, Medien
5.2.1 Unterrichtsformen
5.2.2 Grundlegende Lehr- und Lernformen
5.3 Evaluation
5.3.1 Problemfeld Evaluation
5.3.2 Ebenen und Akteure von Evaluation
5.4 Lehrperson
5.4.1 Rollenerwartungen und Habitus
5.4.2 Kompetenzen der Religionslehrenden
5.4.3 Lebenslanges Lernen
6. Außerunterrichtliche Lernorte religiösen Lernens
6.1 Schulpastoral
6.1.1 Geschichte und Notwendigkeit
6.1.2 Handlungsfelder
6.1.3 Grundprinzipien
6.1.4 Lehrerkompetenzen
6.1.5 Ganztagsschule, Schulkultur und Schulentwicklung
6.2 Gemeinde und Familie als Bezugsorte des Religionsunterrichts
6.2.1 Gemeinde und Gemeindekatechese
6.2.2 Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Gemeindekatechese und Religionsunterricht
6.2.3 Familie
6.2.4 Kontaktzonen zwischen Familie, Pfarrgemeinde und Religionsunterricht
6.3 Öffentlichkeit und Popularkultur
6.3.1 Die Religionsproduktivität der Profanität
6.3.2 Aufgaben einer religionspädagogischen Alltagsdeutung
6.3.3 Umgang mit religiösen Elementen in der Popularkultur
Anhang
Literaturliste
1. Religionspädagogische Handbücher und Grundlagenwerke
2. Grundlegende Dokumente
3. Sekundärliteratur
Abkürzungsverzeichnis
Stichwortverzeichnis
Vorwort
Wenn man sich konzentriert und arbeitsökonomisch auf Prüfungen vorbereiten will, sind Bücher willkommen, die eine präzise Zusammenfassung eines Fachgebiets bieten. Dieses Anliegen, das meine Studierenden immer wieder geäußert haben, motivierte die Entstehung dieser »kleinen« Religionsdidaktik. Eine solche komprimierte Zusammenfassung zentraler religionsdidaktischer Fragen bedeutet zwangsläufig, dass in jedem Teilgebiet Vertiefungen nötig sind. Die Kurzdarstellung soll dazu anregen, auf die im Studium bereits erworbenen Wissensbestände und Einsichten zurückzugreifen, die entsprechenden breiter ausgeführten Handbücher zu studieren und so eine ertragreiche Basis für das Bestehen von mündlichen und schriftlichen Prüfungen zu schaffen. Die Literaturverweise am Ende eines jeden Teilkapitels wollen hier Spuren für ein vertieftes Studium legen. Um die Literaturhinweise kompakt zu halten, wurden für wichtige religionspädagogische Grundlagenwerke, auf die häufiger verwiesen wird, Kürzel verwendet, die im Abkürzungsverzeichnis rasch nachzuschlagen sind.
Die konzentrierte Darstellungsweise hat auch zur Folge, dass kein Raum für breite konkretisierende Beispiele blieb; dieses vermeintliche Defizit sollte aber als Chance begriffen werden, um die inzwischen bei allen Prüfungen geforderte Transferleistung zu unterstützen. Denn was nützt es, wenn bei einer Aufgabenstellung, die auf eine eigene Konkretisierung zentraler Fragen, Konzepte und Prinzipien der Religionsdidaktik auf verschiedene Handlungsfelder hin angelegt ist, nur jene Beispiele reproduziert werden, die in einem Handbuch formuliert sind? Mit der letzten Teilfrage bei den hier jeweils am Ende eines Kapitels angefügten Musteraufgaben kann dieses eigenständige Denken eingespurt werden. Denn es gilt, auf intelligente Weise die verschiedenen religionsdidaktischen Prinzipien und konkreten Ansätze miteinander verschränkt auf eine überzeugende Praxis hinzuwenden. Genau das sollte das Ziel eines Studiums sein: Das Nach-Denken ist nur dann sinnvoll, wenn es zum Selber-Denken anregt.
Insofern nehmen die exemplarischen Prüfungsfragen, die am Ende eines jeden Teilkapitels zu finden sind, eine zentrale Schlüsselposition ein. Sie dienen einerseits zur Überprüfung und Sicherung religionspädagogischen Basiswissens, indem sie eine eigenständige Präsentation und Argumentation erwarten. Sie zielen darüber hinaus aber vor allem auf den Aufweis, dass man Verbindungslinien zwischen Theorie und Praxis, zwischen religionspädagogischer Problemstellung und didaktischer Entfaltung, zwischen einer reflexiven Wiedergabe und einem selbstständigen und kreativen Weiterdenken in die Praxis hinein herzustellen in der Lage ist. Die Aufgaben sind im Rahmen verschiedener universitärer und staatlicher Prüfungsformate erprobt.
Gerade wegen dieses offenen Ansatzes eignet sich das Buch für einen Einsatz in Examenskursen oder bei der Vorbereitung auf eine Prüfung in einer Kleingruppe ebenso wie für das Eigenstudium. Diejenigen, die bereits im Schuldienst sind und sich beispielsweise aufgrund ihrer Tätigkeit als Praktikums- oder Seminarlehrer einen Einblick in die aktuelle Religionsdidaktik verschaffen möchten, können das Buch als reflexive Auffrischung und erneute Systematisierung eines inzwischen prozedural verfügbaren Berufswissens verwenden – und sie werden sich über die Kürze der Darstellung freuen!
Die »Religionsdidaktik kompakt« hat eine erfreuliche Resonanz erfahren und erscheint nun bereits in der sechsten Auflage. Für diese Neuausgabe wurde das Buch gründlich überarbeitet. Neue, inzwischen erschienene Literatur hat ihren Eingang gefunden, einige Kapitel sind neu hinzugekommen und einige haben eine neue Gestalt erhalten. An der grundlegenden Konzeption und dem Bemühen um Präzision und Knappheit hat sich aber nichts geändert.
In die »Religionsdidaktik kompakt« flossen zahlreiche Anregungen meiner Studierenden ein, die bereits in der Entstehungsphase als Experten für Prüfungen und Prüfungsvorbereitung Manuskriptteile kritisch gelesen und kommentiert haben; auch bei den weiteren Auflagen habe ich viele hilfreiche Optimierungshinweise erhalten. Für all diese konstruktiven Rückmeldungen sei ihnen herzlich gedankt! Ebenso konnten auch für die Überarbeitung zahlreiche Hinweise und Anregungen der studentischen und wissenschaftlichen Mitarbeiter an meinem Lehrstuhl eingearbeitet werden – namentlich bedanke ich mich bei Dr. Carolin Grillhösl-Schrenk, Elisabeth Fuchs-Auer, Rebecca Schmid, Dr. Rudolf Sitzberger und Dr. Manuel Stinglhammer sowie bei Ulrike Oerterer für die wie immer kompetenten Korrekturarbeiten, bei Irene Raster für die umfangreichen und umsichtigen redaktionellen Vor- und Korrekturarbeiten und bei meiner Tochter Hannah Mendl für kritische inhaltliche Rückmeldungen. Schließlich trugen auch die Hinweise von Kolleginnen und Kollegen aus der Religionspädagogik zur Verbesserung des Buches bei: Ich danke besonders Prof. Dr. Bernhard Grümme, Prof. Dr. Konstantin Lindner, Prof. Dr. Markus Schiefer, Matthias Werner und Dr. Michael Winklmann.
Hans Mendl
1. Rahmenbedingungen religionsdidaktischer Reflexion
»Als Teildisziplin der Praktischen Theologie befasst sich die Religionspädagogik mit der Theorie religiöser Lern- und Bildungsprozesse in christlich-kirchlicher Verantwortung – im Kontext soziokultureller Bedingungen und pädagogisch-sozialer Wirkungszusammenhänge« (Englert 1995, 157).
Wer religiöse Lernprozesse plant, muss die kontextuellen Rahmenbedingungen erhellen und berücksichtigen. Denn religiöses Lernen vollzieht sich in einer bestimmten gesellschaftlichen Situation (1.1), unter besonderen institutionellen und rechtlichen Bedingungen (1.2) und an und durch konkret lernende Subjekte in ihrer jeweiligen menschlichen und religiösen Entwicklung (1.3). Die Lebenswelt heutiger Kinder und Jugendlicher (1.4) wird somit zum zentralen Ort und Bedingungsfaktor religiöser Bildung und Erziehung.
Theologisch wird ein solches Modell religiösen Lernens begründet durch die anthropologische Wende in der Theologie, die mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil verbunden ist und in eine empirisch gewendete Religionspädagogik mündete. Ein solches kontextuelles Verständnis unterscheidet sich von (früheren) deduktionistischen Konzepten religiösen Lernens (vgl. Kap. 2.1), die in der Annahme einer homogenen christlichen Gesellschaft religiöse Unterweisung als Belehrung im wahren Glauben und die Lernenden als Adressaten einer zeitlos gültigen und unveränderlich feststehenden, in Katechismusformeln gegossenen Wahrheit verstanden. In unserer postmodernen Pluralität wäre aber eine unhinterfragte Belehrung ein unzureichender Ansatz religiöser Bildungsarbeit. Die religionspädagogische Folgerung daraus fasst diesen Paradigmenwechsel in die prägnante Formel, es gehe nicht mehr um einen »Gehorsams-«, sondern um einen »Verstehensglauben«. Das Verstehen von Religion wird somit zum Hauptziel eines schulischen Religionsunterrichts.
Ein solcher Kontext-Ansatz hat zur Folge, dass je nach Gewichtung und Bewertung der einzelnen Rahmenbedingungen auch unterschiedliche Konsequenzen für die Frage eines zeitgemäßen Religionsunterricht gezogen werden können; so wird beispielsweise die Entscheidung, ob man eher der Säkularisierungs- oder der Transformierungsthese zuneigt oder von welchem Religionsbegriff man ausgeht (siehe hier), auch die konzeptionellen Vorstellungen eines guten Religionsunterrichts beeinflussen. Deshalb erscheint eine transparente Begründung der vorgenommenen Prioritäten als unabdingbar, um auf dieser Basis in einen konstruktiven Dialog über vorzunehmende Weichenstellung einzutreten.
1.1 Postmoderne – Pluralisierung und Individualisierung, Globalisierung und Digitalisierung
Religiöses Lernen findet in konkreten gesellschaftlichen Kontexten statt. Die Bedingungen der jeweiligen Gesellschaft haben auch Auswirkungen auf die Ziele und Gestaltungsmöglichkeiten religiöser Lernprozesse. Die Gesellschaftssituation in Westeuropa wird mit den Stichworten »Spätmoderne« bzw. »Postmoderne« gekennzeichnet. Im Folgenden wird geklärt, welche Rolle Religion in einer Gesellschaft hat, die vor allem durch die Prozesse der Pluralisierung, Individualisierung und Globalisierung gekennzeichnet ist.
1.1.1 Die Gleichzeitigkeit von Moderne und Postmoderne, Globalisierung und Digitalisierung
Geht die Religion in unserer Gesellschaft ihrem Ende zu oder erfährt sie eine Renaissance? Diese Frage kann man nicht klären, ohne sich über den gesellschaftlichen Kontext, innerhalb dessen die Frage verhandelt wird, zu verständigen und sich über den verwendeten Religionsbegriff Gedanken zu machen.
Lange Zeit dominierte auf dem Gebiet der Religionssoziologie die sogenannte Säkularisierungsthese: die Auffassung, dass Religion gesellschaftlich im Schwinden begriffen ist und an Bedeutung verliert, letztlich überflüssig werden wird. Die Säkularisierungsthese speist ihre Begründungskraft aus dem Gesellschaftskonstrukt der Moderne, das von Wissenschaftsgläubigkeit, Fortschrittsdenken und dem Glauben an die Stärke des Subjekts geprägt ist. Auf den Nenner gebracht: Die Welt erscheint als beherrschbar, Religion als unnötig. Wir befinden uns heute in einer Übergangsphase von der Moderne in die Postmoderne oder Spätmoderne – letztlich Such- oder Passepartout-Begriffe, um die gesellschaftlichen Wandlungsprozesse auf den Punkt zu bringen. Es zeigen sich vielfache Prozesse der Verunsicherung: eine Skepsis gegenüber dem Machbarkeitsmythos, das Zerbrechen globaler Ideologien, der Zweifel an der Leistungsfähigkeit des selbstverantwortlichen Subjekts, um nur die zentralen Phänomene zu benennen. Dennoch kann man nicht einfach sagen, das Paradigma der Postmoderne habe die Moderne abgelöst. Vielmehr überlappen sich beide und sind gleichzeitig wirksam (vgl. Mendl 2004a, 16–29). Das verwirrt und nötigt zu Differenzierungen:
Moderne
Postmoderne
Wissenschaft
neuzeitliche Entwicklung der Naturwissenschaften; Wissenschaftsgläubigkeit; Zweckrationalität; wertfreie Wissenschaft
Skepsis gegenüber dem Machbarkeits-Mythos; Entzauberung wissenschaftlich globaler Deutungsmuster; diffuse Wertbehaftetheit jedes wissenschaftlichen Forschens
Politik
Sicherheitspolitik: feststehende Blöcke; globale Ideologien; politische Utopien
Krisensymptome: Energiekrise; Tschernobyl; Diffundierung aller Sicherheiten; konkrete Utopien
Wirtschaft
Industriegesellschaft; regionale Märkte
Dienstleistungsgesellschaft; Digitalisierung; Globaisierung
Menschenbild
Glaube an das autonome und selbstidentische Subjekt in der Gemeinschaft von Subjekten
Zweifel am selbstverantwortlichen Subjekt; Individualisierung; Patchwork-Identität
Gesellschaft
Emanzipationsgedanke als Kitt gesellschaftlicher Unterschiede; Pluralität als Chance; Gruppenmilieus; Kleinfamilie
Individualisierung und Pluralisierung von Werten und Lebensformen; Enttraditionalisierung; Auflösung der Gruppenmilieus
Kultur
kultureller Pluralismus; Massenmedien: Angebot für alle
Mediengesellschaft; Erlebnisgesellschaft; Ästhetisierung des Alltags; mediale Differenzierung und Pluralisierung
Religion
Wissenschaft vs. Glaube; Zweckrationalität; Entmythologisierung
Irrationalität; mannigfaltige »Ganzheitskonzepte«; Wiedererwachen des Mythos
Gesamtdynamik
Sicherheit Allmachtsgefühl Beständigkeit
Unsicherheit Grenzerfahrung Beschleunigung
Gleichzeitig verbunden mit und in Spannung zur Moderne und Postmoderne stehen die Prozesse der Globalisierung – die Ausdehnung des Lebens-, Erfahrungs- und Arbeitsraums des Menschen auf den Horizont der globalen Welt hin (vgl. RD, 81–83). Die gesellschaftlich-kulturelle Dynamik der Globalisierung schlägt sich in folgenden fünf Ebenen nieder, die dann auch starken Einfluss auf Religion und Religiosität haben:
Deinstitutionalisierung: Kontrollverlust von Institutionen auf das Verhalten und die Einstellungen von Menschen Detraditionalisierung: Relativierung herkömmlicher Traditionen durch die Entgrenzung von RäumenPluralisierung: Kontakt mit fremden Kulturen und Traditionen Individualisierung: die Herausforderung, die eigene Biografie zu gestalten (siehe dazu unten) Homogenisierung: globale Gleichgestaltungsprozesse auf den Gebieten der Mode, Musik, Nahrung, Ökonomie – und auch der ReligionDie Prozesse und Folgen der Globalisierung werden unterschiedlich bewertet: Einerseits erweitert eine globale Weltsicht den eigenen Horizont und führt zu einem Austausch von Menschen, Waren und Kulturen. Andererseits bestimmt die Angst vor internationalem Terror, Kriegen und dem Aushöhlen demokratischer Systeme in vielen Ländern sowie die Flüchtlingsbewegungen der letzten Jahre die Wahrnehmung der Weltlage. Eine Folge zeigt sich in den aufkeimenden völkischen Nationalismen (siehe unten Kap. 3.9).
Die Digitalisierung des gesamten beruflichen und privaten Lebens korrespondiert mit den Prozessen der Globalisierung: Informationen sind weltweit verfügbar, die Welt ist digital vernetzt. Dies führt zu massiven Veränderungen in Wirtschaft, Politik, Bildung und Kultur. Die Folgen der digitalen Revolution werden als ambivalent beurteilt: Einerseits ermöglicht das Internet die aktive Teilhabe am sozialen und politischen Leben, andererseits ergeben sich neue Abhängigkeiten und Gefahren (Datenmissbrauch, Manipulation, Kontrolle …).
Die Säkularisierungsthese der Moderne ließ sich mit den entsprechenden Beobachtungen untermauern: deutlicher Rückgang von sonntäglichen Gottesdienstbesuchern, Austrittszahlen aus den Kirchen, sinkende Zustimmung zu Glaubenssätzen. Dieser diagnostizierte »Abschied von Gott« (Der Spiegel, Nr. 25/1992) erfuhr in unseren Breiten eine weitere Plausibilitätsstütze, als nach der deutschen Wiedervereinigung drastisch deutlich wurde, wie es in einem Landstrich über entsprechende staatliche Ideologien im Zeitraum von zwei Generationen gelungen war, ein Volk weitgehend zu entchristlichen. Hubert Knoblauch weist allerdings darauf hin, dass unser Bild von einer abnehmenden Religiosität in Deutschland zugleich von der stark anwachsenden Religion nach dem Zweiten Weltkrieg geprägt ist, die Ende der 1950er-Jahre ihren Höhepunkt erreicht hatte (vgl. Knoblauch 2009, 17).
Die aktuellen Fakten: Bundesweit sind derzeit ca. 29% der Einwohner katholisch und 27% evangelisch; der Anteil der Religionsfreien beträgt ca. 34% (vgl. die aktuellen Zahlen jeweils: http://www.remid.de« www.remid.de). Allerdings sagen die absoluten Zahlen (knapp 50 Millionen Christen in Deutschland) zumindest im Westen (in den östlichen Bundesländern gehört weniger als ein Viertel der Bevölkerung überhaupt der der christlichen Religion an) einer formalen Mitgliedschaft wenig über die innere Bindung zur Kirche und die persönliche Einstellung zu Religion aus. Westeuropa und speziell Deutschland werden zunehmend säkularisierter – diese These bekommt auch durch internationale Vergleichsdaten Rückenwind: So antworten in Europa nur 61%, in Nordamerika hingegen 92% mit Ja auf die Frage »Glauben Sie an Gott?«. Nach aktuellen Hochrechnungen könnten in Deutschland im Jahre 2025 die Zahl der Nichtreligiösen höher sein als die der Christen; dies wird auch Folgen für die Gestalt und Gestaltung des Religionsunterrichts haben.
1.1.2 Religion oder Konfession? Vom Wandel der Religion
»Renaissance der Religion. Mode oder Megathema?«, so lautete der Titel eines Hefts der Zeitschrift Herder Korrespondenz Spezial von 2006. Die Frage kann man nur beantworten, wenn man den Religionsbegriff differenzierter betrachtet (siehe Schaubild oben). Die klassische etymologische Deutung bezieht sich auf die Mensch-Gott-Beziehung: Religion wird als eine Rückbindung an Gott bzw. als eine Verehrung Gottes oder der Götter betrachtet. Wenn Fritz Oser (siehe unten, Kap. 1.3.1) in seinem religionspsychologischen Modell vom »Letztgültigen« oder »Ultimaten« spricht, so will er damit der Engführung einer Transzendenzvorstellung auf einen personal-christlichen Gott hin entgehen. Damit kommt er dem nahe, was Paul Tillich in seinem bekannten Satz »Religion ist das, was uns unbedingt angeht« formuliert hat (vgl. Tillich 1956). In affektiver Hinsicht kann Religion gleichzeitig als existenziell stützend und nahe und als befremdlich-distanzierend im Sinne eines Weltabstands verstanden werden; dies zeigt sich in der Beschreibung des Heiligen durch Rudolf Otto, die auf das Diktum zuläuft, Religion sei gleichzeitig faszinierend und furchteinflößend (fascinosum et tremendum). Funktional ausgerichtet ist die Feststellung von Niklas Luhmann, Religion diene der Bewältigung von Kontingenz – der Tatsache, dass unser Leben unbestimmt und bedingt ist (und eben auch ganz anders sein könnte). Religion sorgt hier, so Peter Berger, für Ordnung, Sicherheit und Verlässlichkeit. Die formale Beschreibung von Dimensionen der Religion (Ritual, Glaube, Wissen, Konsequenzen, Erleben) durch Charles Glock ist religionswissenschaftlich geprägt. Beim Begriff des Glaubens unterscheidet man seit Augustinus zwischen dem Beziehungsakt des Glaubens und dem Inhalt des Glaubens. Im Unterschied zur Religion als Glaubenssystem bezieht sich der Begriff der Religiosität auf die subjektive Form des Auslebens einer Religion. Und schließlich wird Religion häufig weit enger als die konfessionelle, also konkret gesellschaftlich verfasste Form von Religion, verstanden.
Es ist wichtig, sich über den eigenen Gebrauch des Begriffs Religion bewusst zu werden und auch analytisch zu erfassen, wie Religion in verschiedenen Studien verstanden wird – im Sinne einer anthropologischen, funktionalen, phänomenologischen oder substantiellen Beschreibung (vgl. Porzelt 2009) oder eines Existenz-, Transzendenz- oder Konfessionsglaubens (vgl. Lechner/Gabriel 2009).
Die Säkularisierungsthese allein vermag nicht ausreichend die gesellschaftlichen Wandlungsprozesse zu beschreiben, da mit dieser Brille, wie auch die oben genannten Beispiele zeigen, im Kern nur konfessionelle Ausprägungen von Religion erfasst werden. Glaube und Religion können aber nicht mit christlicher Konfession gleichgesetzt werden. Von einem weiten Religionsbegriff aus – z.B. in Anlehnung an Paul Tillichs Rede von Religion »als das, was uns unmittelbar angeht« (vgl. Tillich 1956) – kommen Phänomene in den Blick, die verdeutlichen, dass die Religion keineswegs am Ende ist, sondern vielmehr vielfältigen Wandlungsprozessen ausgesetzt ist. Man sollte also präziser von einer Entkonfessionalisierung und einer Marginalisierung (Randstellung) institutionalisierter Religion sprechen. Diese Prozesse sind tatsächlich in der Geschichte der Moderne festzustellen. Seit das Christentum das »Weltdeutungsmonopol« verloren hat, müssen sich die christlichen Kirchen mit anderen, manchen ernsten, zum Teil aber auch skurril anmutenden gesellschaftlichen Einrichtungen messen. Darüber hinaus gibt es vielfältige Formen einer »unsichtbaren Religion« oder einer »frei flottierenden Religion«, die weit stärker individualistisch geprägt ist. Religion zeigt sich also in der Postmoderne in differenzierten Formen.
Vier Grundtypen der Religionsdefinition (Porzelt 2009, 50–107)
Anthropologische Definitionen: Religion als grundmenschliches Potenzial
Funktionale Definitionen: Religion als Mittel zum Zweck
Phänomenologische Definitionen: Religion als beobachtbares Geschehen
Substantielle Definitionen: Religion als Wirklichkeitsdeutung im Kontext des Gottesglaubens
Ein dreistufiger Religionsbegriff (Lechner/Gabriel 2009, 70–73)
Religion I: Existenz- oder Lebensglaube
Religion II: Transzendenz- oder Gottesglaube
Religion III: Konfessions- oder Gemeinschaftsglaube
1.1.3 (Religiöse) Individualisierung und Pluralisierung in einer globalisierten und digitalisierten Welt
Die zentralen Kennzeichen der Postmoderne werden mit den Hauptbegriffen der Pluralisierung und Individualisierung zutreffend beschrieben. Karl Gabriel (1996, 43) bündelt die gesellschaftlichen Veränderungsprozesse folgendermaßen: Das Individuum ist nicht mehr durch die herkömmlichen Bindungen (der Familie, des Herkunftsmilieus, der Religion etc.) determiniert, sondern davon freigesetzt und hat somit die Wahl zwischen verschiedenen Lebens- und Wertoptionen. Übergreifende und allgemeingültige Welt- und Lebensdeutungsmuster gelten als entzaubert; den Einzelnen stehen ganz unterschiedliche Wege der Lebensgestaltung offen. Diese Subjektivierungsprozesse sind gleichermaßen ein Zwang wie eine Chance zur Realisierung eines stärker biografisch bestimmten Lebenslaufes. Gleichzeitig ergeben sich aber auch neue Abhängigkeiten des individualisierten Einzelnen von Institutionen (des Arbeitsmarktes, des Wohlfahrtsstaates).
Kennzeichen der Postmoderne
Kennzeichen von Religion in derPostmoderne
Individualisierung
Religiöse Individualisierung
Pluralisierung
Religiöse Pluralisierung
Wertepluralisierung
»Zwang zur Häresie« (Berger)
Pluralisierung der Lebensformen
Auswahlchristentum
Patchwork-Identität (Bricolage)
Entkirchlichung
Meinungen statt Überzeugungen
Enttraditionalisierung
Wahlzwang
Marginalisierung institutionalisierter Religion
Bindungsängste
kirchendistanzierte Religiosität
Erlebnisgesellschaft
Funktionalisierung von Religion
Ästhetisierung des Alltags
Pragmatischer Synkretismus, Religions-Produktivität des Alltags, Religions-Äquivalente
Digitalisierung
Auf dem Marktplatz der Post- oder Spätmoderne präsentieren sich vielfältige Weltanschauungen, Wertesysteme und Orientierungsmuster. Die »Kinder der Freiheit« (so ein Buchtitel von Ulrich Beck) haben auf diesem Forum der Sinndeutungen nicht nur die freie Möglichkeit der Auswahl, sie sind vielmehr gezwungen, sich aus den vielfältigen Angeboten ihren eigenen Sinn-Cocktail zusammenzustellen (»Zwang zur Wahl«). Der Mensch ist in diesem pluralen Gefüge von Deutungsmustern ein zur Suche und Selbstbestimmung Verdammter! Es klingt wie eine Wiederauferstehung des existenzialistischen Paradigmas: »Du bist, was du aus dir machst!« Gleichzeitig gilt, dass das brüchige Subjekt auf der permanenten Suche nach Selbstvergewisserung nach sozialer Übereinstimmung zielt: »Ich weiß, wer ich bin, wenn ich im Trend bin.« Das anspruchsvolle Ziel besteht also in einer grundlegenden und flexiblen Alphabetisierung des eigenen Lebens.
Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, wenn Menschen sich nicht mehr auf Dauer binden wollen – sei es an eine Partei, einen Partner oder eine Kirche – und man statt beständigen Überzeugungen eher wechselnde Meinungen vertritt: Denn jede Entscheidung mit längerfristigen Folgen bedeutet die Absage an beliebig viele andere Möglichkeiten. Und so ist es kein Wunder, dass bei kirchlichen Jugendverbänden wie auch bei Kirchengemeinden Mitgliederrückgänge festzustellen sind – ähnlich wie bei Parteien und Vereinen. Schließlich lässt sich die Entwicklung hin zu einer Erlebnisgesellschaft auf vielfältige Weise belegen: Waren und Dienstleistungen haben nicht nur einen Nutzwert, sondern vor allem einen Erlebniswert (z.B. Erlebniskaufhäuser, Erlebnisbäder); dies schlägt sich auch in einer Ästhetisierung des Alltags nieder: Man definiert sich und die Gruppenzugehörigkeit der eigenen Person und Familie über die äußere Gestaltung des Lebens (Markenkleidung bereits bei Kindern, Statussymbole, Wohnraumästhetik etc.). Die Digitalisierung durchdringt alle Lebensbereiche des Menschen: Internet und soziale Medien sind omnipräsent.
Wenn Religion ein Teilbereich der Gesellschaft und mit ihr untrennbar verwoben ist, so versteht sich von selbst, dass sich die Prozesse der Individualisierung und Pluralisierung ebenso im Bereich der Religion in einer »religiösen Pluralisierung« und einer »religiösen Individualisierung« niederschlagen (vgl. NHRPG 270–274). Peter Berger beschrieb diese Dynamik schon vor Jahren in seinem Buch »Der Zwang zur Häresie« (1980; Häresie ist eigentlich ein neutraler Begriff – das griechische Wort bedeutet »Auswahl«; im kirchlichen Milieu hat das Wort »Häresie« allerdings eine negative Konnotation: eine Abweichung vom rechten Glauben). Auch im Sektor der Religion müssen Menschen ihre eigene religiöse Patchwork-Identität basteln; das sollte nicht abwertend verstanden werden, sondern einfach als nüchterne Beschreibung für die Notwendigkeit und insgesamt betrachtet sogar als Chance, im Bereich des Religiösen aus verschiedenen verfügbaren Stilen auszuwählen und einen selbstverantworteten individuierend-reflektierenden Glauben (vgl. Fowler, siehe Kap. 1.3.1) zu entwickeln, der eventuell in verschiedenen Bezugssystemen und Segmenten der Gesellschaft (Familie, Peergroup, Beruf) nochmals eigen nuanciert ist. Auswahlmaterial gibt es genügend; man überprüfe dies nur einmal in einer Buchhandlung und vergleiche die Breite der Theologie- und Esoterik-Regale! Religion wird für das Individuum zunehmend zur Privatsache, wie alle neueren Studien ergeben.
Auch diese Vielfalt, die als problemlos miteinander kombinierbar erscheint (Synkretismus) ist ein Beleg für die These, dass Religion nicht am Ende ist, sondern in vielfach gewandelter Form wiedererscheint, und dass Funktionen, Aufgabenfelder und Riten der klassischen konfessionellen Religion heute von religionsanalogen Erscheinungsformen und Einrichtungen übernommen werden (Religionsäquivalente). Im Alltag und in der Medienwelt lassen sich zahlreiche funktionale Bezüge zu Elementen der traditionellen Religion wahrnehmen; Religion ist auch in der Öffentlichkeit und in einer religionsproduktiven populären Kultur ein Thema (z.B. in der Werbung, in Kinowelten, in der Pop- und Rockmusik; vgl. Kap. 6.3). Für den innerkirchlichen Bereich benannte Paul Zulehner schon vor zwanzig Jahren das Phänomen des Auswahlchristentums, das inzwischen über zahlreiche Studien bestätigt wurde: Auch Christen stimmen nicht allen Glaubensaussagen ihrer Religionsgemeinschaft zu und kombinieren christliche Elemente mit alltagstauglichen Segmenten anderer religiöser und esoterischer Strömungen. Die Pfarrgemeinderatsvorsitzende pflegt den Garten nach dem Mondkalender und kauft Demeter-Produkte (die der Philosophie Rudolf Steiners verpflichtet sind) ein, Geistliche und Ordensfrauen üben sich in der fernöstlichen Zen-Meditation und Lehrer verwenden Mandalas im Unterricht.
Fazit: Die Frage nach dem Wiedererstarken oder dem Ende der Religion kann man nicht klären, ohne sich über den jeweils verwendeten Religionsbegriff Gedanken zu machen und diesen auf differenzierte und reflektierte Weise argumentativ in die Diskussion der Fragestellung einzubringen.
1.1.4 Pluralität als religionspädagogische Herausforderung
Pluralität kann als Gefährdung oder als Chance empfunden werden, sie ist auf jeden Fall eine religionspädagogische Herausforderung. Hans-Georg Ziebertz (RD, 85) empfiehlt als angemessenen Umgang mit Pluralität, diese pluralistisch zu bearbeiten, d.h. Pluralität wahrzunehmen und nicht auszublenden und Schülerinnen und Schüler im Umgang mit Pluralität zu unterstützen, die ja bereits in der Unterschiedlichkeit der Subjekte im Klassenzimmer Realität ist. Diese können mithilfe der folgenden Verfahren Pluralität bewältigen und im gewaltfreien Diskurs Einigung erzielen:
Sie müssen mehrdeutige Situationen aushalten können (Ambiguitäts-Toleranz).Sie müssen grundlegende Argumentationsstile und -verfahren kennenlernen.Sie müssen die Fähigkeit erwerben, die Perspektive anderer zu verstehen und darauf einzugehen, evtl. sogar davon zu lernen.Sie müssen in der Lage sein, Traditionen, die kulturell präsent sind, bei der Lösung heranzuziehen.Sie müssen kompetent werden, Übereinkunft zu erzielen, aber auch mit Ergebnissen ohne Übereinstimmung leben zu können.Das formale Ziel eines »Fit-werdens für den Umgang mit Pluralität« im Zusammenhang einer »pluralitätsfähigen Religionspädagogik« bedarf jedoch einer inhaltlichen Weiterführung: Ziel heutigen Religionsunterrichts in Pluralität ist es, dass Schülerinnen und Schüler religiös kompetent und Subjekte ihres eigenen Glaubens werden. Rudolf Englert umschreibt »religiöse Kompetenz« folgendermaßen:
»die Bereitschaft, sich auf die Frage nach dem Geheimnis von Leben und Welt einzulassen und die Fähigkeit, auf dieses Geheimnis verweisende (religiöse) Erfahrungen sensibel und verständig auszulegen;die Fähigkeit, religiöse Traditionen als Lesarten religiöser Erfahrungen zu interpretieren, mit anderen möglichen Lesarten zu vergleichen und sowohl die jeweilige Tradition als auch den eigenen Lebensglauben von daher kritisch zu befragen;die Fähigkeit, sich bei aller bleibender Offenheit religiöser Suchprozesse persönlich zu positionieren und allmählich so etwas auszubilden wie eine eigene religiöse Identität« (Englert 1998, 9).Es geht also darum, in der Auseinandersetzung mit religiösen Traditionen sowohl diese zu verstehen als auch eine eigene Positionierung in Fragen von Religion und Glauben vorzunehmen, um auf einer solchen Grundlage dialogfähig im Austausch mit anderen religiösen Einstellungen und Haltungen zu werden. Lernende werden demnach »in Sachen Religion« kompetent, wenn sie in Auseinandersetzung mit den religiösen Konstruktionen anderer und unterstützt durch das Deutungs- und Praxisangebot christlicher Tradition ein selbstständiges und vor der Vernunft verantwortbares Urteil in Fragen der Religion sowie eigene religiöse Spuren entwickeln (Deutungs- und Partizipationskompetenz – vgl. RE, 85; vgl. auch Kap 2.4: Aufgaben und Ziele eines Religionsunterrichts in Pluralität).
Für die Lehrenden stellen sich folgende Aufgaben:
Sie müssen die Herausforderungen der Pluralisierung und Individualisierung auch als Tatsache im Klassenzimmer wahrnehmen und akzeptieren. Im Religionsunterricht begegnen sich Schülerinnen und Schüler mit gänzlich unterschiedlicher religiö-ser Herkunft und Einstellung (Heterogenität).Sie müssen von einem weiten Religionsbegriff aus religionsproduktive Phänomene des Alltags im Leben ihrer Schülerinnen und Schüler aufspüren (Religion als das, »was uns unmittelbar angeht«; Tillich 1956), gleichzeitig aber zur Differenzierung von Religion beitragen (»es ist nicht alles Religion, was sich so fühlt«, Kroeger 1996).Sie müssen von einem selbstreflexiv verwendeten Religionsbegriff aus sowohl Elemente einer christlichen Tradition didaktisch einspielen (objektive, konfigurierte Religion) als auch die Entwicklung einer eigenständig verantworteten Religion fördern (subjektive, individuierte Religion; vgl. Kap. 2.4.2).Die konkrete Einlösung dieser allgemeinen didaktischen Postulate im Umgang mit einer postmodernen Pluralität kann mit Bezug auf die weiter unten dargestellten religionspädagogischen Prinzipien (Kap. 4) erfolgen und muss sich dann auch bei der unterrichtlichen Aufbereitung von Inhaltsbereichen (Kap. 3) des Religionsunterrichts bewähren.
Literatur
LexRP Pluralität, Pluralismus, 1520–1525; Religion, 1672–1677; NHRPG Religion, Glaube und Aufwachsen heute, 20–25; Gesellschaftliche Lebenswelten, 138–174; Pluralismus und Individualisierung, 269–291; RD I.4 Gesellschaftliche und jugendsoziologische Herausforderungen, 76–105; RD GS I.2 Religion und Kindheit im Wandel – Pluralisierung, Individualisierung, Globalisierung, 25–38; RP 14–15, Herausforderungen, 243–278; WR Pluralismus; Säkularisierung.
Weiterführende Literatur
Knoblauch, Hubert, Populäre Religion. Auf dem Weg in eine spirituelle Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2009; Mendl, Hans, Im Mittelpunkt der Mensch. Prinzipien, Möglichkeiten und Grenzen eines schülerorientierten Religionsunterrichts, Winzer 2004, 16–29; Porzelt, Burkard, Grundlegung religiösen Lernens, Bad Heilbrunn 2009, 45–107; Simojoki, Henrik, Globalisierte Religion. Ausgangspunkte, Maßstäbe und Perspektiven religiöser Bildung in der Weltgesellschaft, Tübingen 2012.
Zusammenfassung in Stichworten
Prozesse der Säkularisierung im Sinne einer abnehmenden Konfessionalisierung und Prozesse des Wandels von Religion überlagern einander.Die Frage nach der Zukunft von Religion ist nur klärbar, wenn man sich über den jeweils verwendeten Religionsbegriff verständigt.(Religiöse) Individualisierung, Pluralisierung und Globalisierung müssen als Tendenzen der Postmoderne ernst genommen werden.Die Postmoderne erscheint als gesamtgesellschaftliche Herausforderung, bei der es um die Alphabetisierung des Lebens insgesamt geht.Die religionspädagogische Aufgabe besteht in der Bewältigung von Pluralität und der Förderung von religiöser Kompetenz.Prüfungsaufgaben
»Religion ist out« – »Wir erleben eine Renaissance von Religion«
1. Diskutieren Sie die beiden kontroversen Ansichten unter Einbezug des Religionsbegriffs, führen Sie Beispiele für die Thesen an und beziehen Sie selbst Position!
2. Wie muss religiöse Bildung heute konzipiert sein, die die Ausdifferenzierung und Vielgestaltigkeit von Religion konstruktiv aufgreift?
3. Konkretisieren Sie Ihre Überlegungen an Unterrichtsbeispielen der Schulart, in der Sie einmal unterrichten werden!
Pluralität als religionspädagogische Herausforderung
1. Beschreiben Sie den gesellschaftlichen Kontext (historische Entwicklung, aktuelle Kennzeichen) der sogenannten Postmoderne!
2. Skizzieren Sie zentrale Ziele eines religionspädagogischen Umgangs mit Pluralität und erläutern Sie wichtige Kompetenzen, die die Lehrenden benötigen, um die Heterogenität im Klassenzimmer zu bewältigen!
3. Konzipieren Sie vor dem Hintergrund des bisher Erarbeiteten eine Unterrichtssequenz, mit der Sie aufzeigen, wie Pluralität in der Gesellschaft und im Klassenzimmer verantwortlich bearbeitet werden kann!
1.2 Rechtliche und historische Grundlagen des Religionsunterrichts
Ein paradoxer Befund: Kein schulisches Unterrichtsfach ist grundgesetzlich so gut abgesichert wie der Religionsunterricht, keines steht aber in der Öffentlichkeit auch immer wieder so prinzipiell auf dem Prüfstand seiner Berechtigung im öffentlichen Schulwesen. Wer die eigenartige gesellschaftspolitische Situierung des konfessionellen Religionsunterrichts verstehen will, muss sowohl einen Blick in die deutsche Nachkriegsgeschichte (1.2.1) als auch umfassender in die geschichtliche Verhältnisbestimmung von Kirche und Staat (1.2.2) werfen. Vor diesem Hintergrund erfolgt dann eine Darstellung von unterschiedlichen alternativen Formen eines schulischen Unterrichtsfaches (1.2.3) und ein knapper Blick über den Zaun – auf die Konzeption des Religionsunterrichts in anderen europäischen Ländern (1.2.4).
1.2.1 Gesetzliche und gesellschaftspolitische Grundlage des Religionsunterrichts
Die Erfahrungen mit dem totalitären nationalsozialistischen Regime, das allen Staatsbürgern eine verbindliche Weltanschauung vorschrieb, führten die Väter und Mütter des deutschen Grundgesetzes einerseits zur Konstruktion eines Staates, der zur weltanschaulichen Neutralität verpflichtet ist. Anderseits erlaubt der wertneutrale Staat den gesellschaftlichen Gruppierungen aber nicht nur, ihre Werte öffentlich einzubringen und garantiert den Einzelnen die freie Ausübung ihrer Religion, sondern ist bei der Konstituierung einer Wertegemeinschaft sogar auf gesellschaftliche Gruppierungen angewiesen, die ihre Wertorientierungen artikulieren. »Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann«, formulierte der frühere Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde (Böckenförde 1991, 112). Im Unterschied zu anderen Staaten wurden deshalb in der Bundesrepublik Deutschland Staat und Kirche nach dem Grundgesetz nicht völlig getrennt; auf manchen Gebieten benötigt der Staat die Unterstützung durch gesellschaftliche Einrichtungen. So ist der Religionsunterricht eine res mixta, ein gemischter Bereich, an dem die Kirchen als Körperschaften öffentlichen Rechts zur Mitwirkung nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet sind. Im Grundgesetz Artikel 7 ist der konfessionelle Religionsunterricht gesetzlich verankert:
Artikel 7 Grundgesetz
(1) Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates.
(2) Die Erziehungsberechtigten haben das Recht, über die Teilnahme des Kindes am Religionsunterricht zu bestimmen.
(3) Der Religionsunterricht ist an öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach. Unbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechtes wird der Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt. Kein Lehrer darf gegen seinen Willen verpflichtet werden, Religionsunterricht zu erteilen.
Ausgenommen von der Regelung waren nach der sogenannten Bremer Klausel (Art. 141 GG: »Artikel 7 Absatz 3 Satz 1 findet keine Anwendung in einem Lande, in dem am 1. Januar 1949 eine andere landesrechtliche Regelung bestand«) das Land Bremen und das unter Vier-Mächte-Status stehende Land Berlin.
Der grundgesetzlich verankerte Religionsunterricht ist kein Vorrecht der beiden großen christlichen Kirchen; er kann auch von anderen organisierten Religionsgemeinschaften in Anspruch genommen werden und wird dies auch – so gibt es beispielsweise in verschiedenen Bundesländern auch syrisch-orthodoxen, jüdischen, neuapostolischen oder altkatholischen Religionsunterricht.
Die gesellschaftliche Herausforderung verschärfte sich nach der deutschen Wiedervereinigung, da nunmehr neue Länder dem Geltungsbereich des Grundgesetzes beitraten, in denen Christen die Minderheit waren und bis heute sind. Die Fragen nach der Umsetzbarkeit von Artikel 7 GG in einer Minderheitensituation und nach der durchgängig als notwendig erachteten Einführung eines Faches, das eine ethisch-philosophische Grundbildung gewährleistet, bestimmen die Diskussion in den neuen Bundesländern bis heute und wirken sich auch auf die gesamtdeutsche Diskussion um die Konzeptionierung des Religionsunterrichts aus.
1.2.2 Das Verhältnis von Kirche und Schule – historisch betrachtet
Im gesamten Mittelalter war das Weltdeutungsmonopol des Christentums unumstritten; das Christentum durchdrang alle Lebensbereiche, sodass die Bezeichnung »mittelalterliche Christianitas« durchaus zutreffend ist. Auf eine explizite religiöse Unterweisung für die Mehrheit der Bevölkerung konnte in einem solchen umfassend christlichen Milieu weitgehend verzichtet werden – man erlebte in der Familie und in allen Facetten des Alltags Religion. Auch das Schulwesen war selbstverständlich kirchlich geprägt und in Form von Kloster-, Stifts- und Domschulen organisiert. Breite Bevölkerungsschichten jenseits zukünftiger Kleriker und Gewerbetreibender kamen allerdings nicht in den Genuss einer schulischen Bildung (vgl. zum geschichtlichen Aufriss: Mendl 2007f).
Seit der Reformationszeit lässt sich ein schrittweiser Bedeutungs- und Einflussverlust der Kirche im Bildungsbereich feststellen, der mit der modernen Ausdifferenzierung der Gesellschaft zusammenhängt. Zur Zeit der Konfessionsstreitigkeiten wollte man sich des eigenen Glaubens auch kognitiv vergewissern; die damals entstandenen ersten Formen eines schulischen Religionsunterrichts begründeten den Prozess einer »Pädagogisierung von Katechese«. Das entstehende breitere Schulwesen war zunächst stark konfessionell geprägt – es gab entweder katholische oder evangelische »Bekenntnisschulen«.
Im Aufklärungszeitalter wurde der Ruf nach einer »Schule für alle« immer stärker vernehmbar. Dies führte zu einer Einführung der allgemeinen Schulpflicht (z.B. in Bayern im Jahre 1802), die zunächst als Postulat formuliert und nur mühsam bis Ende des 19. Jahrhunderts flächendeckend umgesetzt wurde. Seit 1799 trägt der Staat die Verantwortung über das Schulwesen (staatliche Schulaufsicht), wobei aus pragmatischen Gründen die Ortspfarrer auf der Distrikts- und Lokalschulebene bis ins 20. Jahrhundert hinein die sogenannte geistliche Schulaufsicht innehatten. Erst mit der Weimarer Verfassung wurde die geistliche Schulaufsicht gänzlich abgeschafft. Gleichzeitig wurde angesichts des zunehmenden Prozesses der Modernisierung und der Säkularisierung das nach wie vor dominante Modell einer Bekenntnisschule als Regelschule gesellschaftlich auf breiter Ebene kritisch angefragt.
Dass die Nationalsozialisten beim Bemühen, ihre Weltanschauung der gesamten Bevölkerung aufzuzwingen und den Einfluss der Kirchen auf allen Ebenen zurückzudrängen, auch die Bekenntnisschulen eliminierten und stattdessen eine »Deutsche Gemeinschaftsschule« errichteten, führte nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst zu einer Wiedererrichtung des konfessionellen Schulwesens. Doch eine solche konfessionelle Prägung des allgemeinen Schulwesens wurde angesichts einer sich rapide verändernden Gesellschaft und eines Rückgangs der volkskirchlichen Prägung sowie einer Abnahme der konfessionellen Homogenität der Gesellschaft als nicht mehr tragfähig betrachtet. Ende der 1960er-Jahre wurden die Bekenntnisschulen zum Teil über Volksentscheide abgeschafft. In Bayern beispielsweise sind seit 1968 die Grund- und Hauptschulen »christliche Gemeinschaftsschulen« (Art. 135 Bayerische Verfassung); was das inhaltlich bedeutet, haben die evangelische und katholische Kirche mit den mehrmals überarbeiteten »Leitsätzen für den Unterricht und die Erziehung nach gemeinsamen Grundsätzen der christlichen Bekenntnisse an Grund-, Haupt- und Sondervolksschulen« (1988) formuliert. Die Abschaffung der Bekenntnisschulen war ein wichtiges Moment im Prozess der Säkularisierung und Entkirchlichung der deutschen Schulen.
Heute gibt es drei erkennbare institutionelle Kontaktzonen zwischen der öffentlichen Schule und den christlichen Kirchen:
den Religionsunterricht als ordentliches Unterrichtsfach;die christliche Gemeinschaftsschule im Grund- und Hauptschulbereich, wobei das Bewusstsein für diese Verfasstheit in der Öffentlichkeit zunehmend schwindet;Aktivitäten im Rahmen der Schulpastoral und im Ganztagsschulbereich (vgl. Kap. 6.1), wobei diese Felder kein Sonderrecht der Kirche sind, sondern im Konzept einer gesellschaftlichen »Öffnung von Schule« betrachtet werden müssen; ähnlich wie andere kulturelle, wirtschaftliche oder sportliche Anbieter im Handlungsfeld Schule mitwirken, beteiligen sich auch die Kirchen mit ihren Angeboten in der öffentlichen Schule – als Beitrag zur Identitätsfindung junger Menschen und zur Humanisierung des Schulwesens.Darüber hinaus haben die Kirchen nach Auflösung der Konfessionsschulen das Recht eingeräumt bekommen, eigene Schulen zu begründen und in der Folge ein breites und anerkanntes Parallelangebot an kirchlichen Schulen für alle Schularten entwickelt.
Historischer Überblick über das Verhältnis von Schule und Kirche
Mittelalter
Schule für Klerus und Gewerbetreibende
Reformationszeit
Konfessionsschulen
Aufklärung
allgemeine Schulpflicht; Sonn- und Feiertagsschulpflicht; staatliche Schulaufsicht; Volksschulbereich: geistliche Schulaufsicht, Konfessionsschulen
Kulturkampf
aus »Pfarrschulen« werden »Gemeindeschulen«; Forderung nach Simultanschulen (Lehrer wie Schüler konfessionell gemischt) statt Konfessionsschulen
Weimarer Republik
christliche Simultanschule/Gemeinschaftsschule mit Religion als Pflichtfach als Regelschule; daneben bekenntnisfreie (weltliche) Schulen (Art. 149 der Weimarer Reichsverfassung 1919); endgültige Aufhebung der geistlichen Schulaufsicht
Drittes Reich
Schließung von Klosterschulen, Entlassung kirchlicher Lehrer, Verbot des Schulgebets, Entfernung von Kreuzen aus dem Klassenzimmer; aus »Bekenntnisschulen« werden »Deutsche Gemeinschaftsschulen«
Bundesrepublik
GG Art. 7: Religionsunterricht ordentliches Lehrfach, in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften; Bekenntnisschule als Regelschule, Gemeinschaftsschule als regionale Möglichkeit
Ende der 1960er-Jahre
Volksentscheid 1968: Ende der Konfessionsschulen; Volksschulen als christliche Gemeinschaftsschulen: »nach den Grundsätzen der christlichen Bekenntnisse« (BayVerf Art. 135); kirchliche Privatschulen
Würzburger Synode (1974)
diakonischer Ansatz: Religionsunterricht als Dienst der Kirche in der pluralen Schule; Unterscheidung Religionsunterricht – Gemeindekatechese
1.2.3 Alternative Formen des Religionsunterrichts
Das ordentliche Unterrichtsfach Religionsunterricht wird nach dem Grundgesetz (Art. 7,3) »in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften« unterrichtet; über die Teilnahme an diesem Fach entscheiden die Erziehungsberechtigten, die Ausgestaltung des Faches erfolgt in Absprache mit den jeweiligen Religionsgemeinschaften. Im Folgenden sollen zentrale konkrete Formen, die in der öffentlichen Diskussion immer wieder thematisiert werden, mit ihren Chancen und Grenzen knapp vorgestellt werden.
Konfessioneller Religionsunterricht
Die Kirchen interpretieren die grundgesetzlichen Vorgaben im Sinne eines konfessionell gebundenen Religionsunterrichts. Er begründet sich als Recht der Schülerinnen und Schüler auf Bildung und Erziehung in der eigenen Religion, unabhängig von der inneren Beziehung zu dieser Religion (vgl. zum Konzept und zur Schülerdifferenzierung: Kap. 2.2.1). Die Religionsgemeinschaften sind in Absprache mit dem Staat für die Inhalte des Religionsunterrichts verantwortlich; die beiden großen christlichen Kirchen bevollmächtigen die Lehrenden mit der »Missio canonica« (katholisch) oder »Vocatio« (evangelisch) dazu, den Unterricht in der jeweiligen Konfession durchzuführen. Begründet wird das Konzept eines konfessionellen Religionsunterrichts mit der Tatsache, dass es Religion und Christentum nicht an sich gibt, sondern nur in konfessionell konkretisierter Form. Im Unterschied zu einem religionskundlichen Konzept sind die Lehrenden in ihrer konfessionellen Positionalität (bei aller notwendigen individuellen Ausprägung!) und auch die Schülerinnen und Schüler in der Auseinandersetzung mit der eigenen Konfession gefordert.
Wer sich vom konfessionellen Religionsunterricht abmeldet, muss an einem alternativen Fach teilnehmen, das in den verschiedenen Bundesländern unterschiedlich benannt und ausgestaltet wird (vgl. Mendl 2004b). Derzeit werden auch für muslimische Schülerinnen und Schüler Konzepte eines islamischen Religionsunterrichts entwickelt und erprobt, die die religiöse Bildung muslimischer Kinder und Jugendlicher im Kontext eines anerkannten Unterrichtsfachs an öffentlichen Schulen garantieren. In der juristischen Grundform eines konfessionellen Religionsunterrichts sind drei Größen konfessionell geprägt: Lehrer, Schüler und Fachinhalt (sogenannte Trias).
Gegen das Konzept eines konfessionellen Religionsunterrichts wird eingewendet, dass die Mehrzahl der Schülerinnen und Schüler heute keine konfessionelle Identität besitzt und deshalb ein konfessionsgebundener Unterricht ein unrealisierbares Modell für die konfessionsferne Schülerschaft darstellt. Außerdem birgt die Trennung in verschiedene konfessionelle Lerngruppen neben den schulorganisatorischen und schulpädagogischen Problemen (Trennung einer homogenen Lerngruppe in einem Fach) die Gefahr in sich, dass konfessionelle Unterschiede verfestigt werden und die Verständigung mit anderen Gläubigen und Ungläubigen zu kurz kommt, sodass die geforderte Kompetenz im Umgang mit religiöser Pluralität gerade nicht gefördert wird.
Konfessionell-kooperativer Religionsunterricht (vgl. Kap. 3.7)
»Identität und Verständigung« lautete der Titel einer evangelischen Denkschrift zum Religionsunterricht. Auf dem Weg zur »kleinen« Ökumene zwischen den christlichen Kirchen erscheint eine konfessionelle Kooperation als Möglichkeit, um im wechselseitigen Austausch sowohl die jeweils andere christliche Konfession besser kennenzulernen als auch in der Auseinandersetzung mit anderen Positionen den eigenen, oftmals sehr fremden konfessionellen Glauben besser zu verstehen und eine flexible christliche Identität zu entwickeln (zur Auswertung eines Modellprojekts: vgl. Kuld u.a. 2009). Die aktuellen Lehrpläne aller Bundesländer und Schularten sind meist so aufeinander abgestimmt, dass in allen Jahrgangsstufen eine thematische Kooperation zwischen den verschiedenen konfessionellen Lerngruppen möglich ist. Dort, wo es besondere Umstände (kleine Lerngruppen in der Oberstufe, Bundesländer mit konfessionellen Minderheiten) erfordern, wird im Religionsunterricht bereits in größerem Umfang ökumenische Gastfreundschaft gewährt. Die katholischen Bischöfe haben angesichts der demographischen Wandlungsprozesse und der Probleme in vielen Regionen, einen ordnungsgemäßen konfessionellen Religionsunterricht durchzuführen, Rahmenbedingungen formuliert, auf deren Basis dort, wo es als sinnvoll erscheint, ein konfessionell-kooperativer Religionsunterricht durchgeführt werden kann (Die Zukunft des konfessionellen Religionsunterrichts 2016).
Gegen eine konfessionelle Kooperation spricht die konfessionelle Standortlosigkeit vieler Schülerinnen und Schüler, von der aus auch kein besonderes Interesse an ökumenischen Fragestellungen zu erwarten ist. Die institutionellen Rahmenbedingungen erschweren zudem die Durchführung kooperativer Projekte, die einen erhöhten organisatorischen Aufwand für Lehrende, Lernende und die Institutionen mit sich bringen – besonders dort, wo es keine halbwegs homogene Präsenz beider christlicher Kirchen gibt. Die Kirchenleitungen befürchten bei einer Ausweitung ökumenisch-kooperativer Projekte, dass die Plausibilität eines konfessionell getrennten Religionsunterrichts besonders bei den Stundenplangestaltern noch mehr schwindet, als dies bereits der Fall ist.
Ökumenischer Religionsunterricht
Ein ökumenischer Religionsunterricht, der von den großen christlichen Kirchen gemeinsam durchgeführt wird, könnte den Einstieg in einen von den Kirchen verantworteten Religionsunterricht für alle im Sinne einer Religionskunde sein. Nachdem das Ziel der Schaffung oder Stärkung einer konfessionellen Identität der Schülerinnen und Schüler angesichts eines oft nur noch marginal verankerten konfessionellen Bewusstseins sehr hoch gegriffen sein dürfte, erscheint es als realistisch, dass eine Auseinandersetzung mit der christlichen Prägung der abendländischen Kultur und Gesellschaft im Zentrum eines gemeinsamen Unterrichts steht. Dadurch kann auch die pädagogisch und schulorganisatorisch ungünstige Auflösung des Klassenverbands in verschiedene Konfessionsgruppen vermieden werden. Auch sind Mischformen zwischen konfessionellem, ökumenischem und interreligiösem Religionsunterricht denkbar. So könnte man beispielsweise in den ersten beiden Jahrgangsstufen der Grundschule einen ökumenischen und dann in den dritten (Erstkommunion!) und vierten einen konfessionellen bzw. konfessionell-kooperativen Religionsunterricht anbieten oder im Rahmen einer Fächergruppe Religion Elemente des eigenständigen und kooperativen Unterrichts integrieren.
Die Kirchen befürchten, ähnlich wie bei »nur« konfessionell-kooperativen Projekten, ökumenische Modellprojekte könnten dazu führen, dass von staatlicher Seite zunehmend die Notwendigkeit eines kirchlich verantworteten Religionsunterrichts überhaupt hinterfragt werde. Kritisch diskutiert wird auch die Ortlosigkeit eines ökumenischen Konzepts, da es Religion nur in konfessionell konkretisierter Form, nicht aber im Sinne einer allgemeinen Christlichkeit gibt.
Religionskunde
Das religionskundliche Konzept soll Fragen nach Sinn und Religion in den Unterricht in der Klassengemeinschaft integrieren. Die anzunehmende Unterschiedlichkeit der Schülerschaft wird als Chance für die Einübung eines Umgangs mit Pluralität betrachtet. Als Beleg für das Funktionieren religionskundlicher Modelle werden die angelsächsischen Länder herangezogen, die diesbezüglich einen jahrzehntelangen Erfahrungsvorsprung aufweisen und inzwischen weit differenziertere Formen als eine rein sachorientierte Religionskunde entwickelt haben. Vor allem dort, wo Christen in der Minderheit sind, also beispielsweise in den östlichen Bundesländern, werden religionskundliche Modelle als angemessene Konzepte für den Umgang mit einer sich auch religiös weiter ausdifferenzierenden Gesellschaft betrachtet. Mit diesen Argumenten wurde in Brandenburg in den 1990er-Jahren das Fach LER (Lebensgestaltung – Ethik – Religionskunde) eingeführt, um das bald ein heftiger Streit entbrannte (vgl. Edelstein u.a. 2001).
Religionskundliche Modelle stehen in mehrfacher Hinsicht unter dem Verdacht, dass man sich mit einem solchen Fach dem Gegenstand Religion nicht auf angemessene Weise nähern kann. Wird von Lehrenden wie von Lernenden auf eine konfessionelle Positionalität verzichtet, so führt das lediglich zu einer distanzierten Betrachtung von Religion und Religionen und zu einem funktionalen, nützlichkeitsorientierten Umgang mit Elementen der Religionen. Institutionell wird angefragt, ob der Staat überhaupt berechtigt sei, Lehrpläne für Religion und Religionen zu erstellen. Die nötigen diskursiven Konsensmodelle bei der Absprache verschiedener Interessensgruppen könnten sich bald angesichts faktischer Machtprozesse als Illusion erweisen.
Vergleich der verschiedenen Modelle von Religionsunterrricht
+ Religion ist Konfession
+ Ökumene als Ziel
+ Einstieg in eine von den Kirchen verantwortete Religionskunde
+ Religionsunterricht in der Klassengemeinschaft
+ Schülerrecht
+ flexible christliche Identität
+ entspricht dem geringen konfessionellen Bewusstsein der Schülerschaft
+ Pluralität bewältigen
Konfessioneller RU
konfessionell-kooperativer RU
ökumenischer RU
Religionskunde
– Konfessionsferne der Schüler
– kein Interesse an Ökumene
– Aufgabe einer konfessionellen Identität
– Unterricht »über« statt »in« Religion
– pluralitätsblinder Konfessionalismus
– organisatorisch problembehaftet
– Einstieg in eine nur staatlich verantwortete Religionskunde
– Beliebigkeit und Funktionalität von Religion
1.2.4 Religionsunterricht in anderen Ländern – Ein Blick über den Zaun
Die institutionelle Gestalt des Religionsunterrichts ist eng mit der Geschichte und Kultur des jeweiligen Landes verbunden. Tendenziell dominieren in traditionell protestantisch geprägten Ländern konfessionsübergreifende Formen und in katholisch geprägten ein konfessionell ausgerichteter Unterricht. In den meisten Ländern ist der Religionsunterricht ein Wahlpflichtfach bzw. Wahlfach. Fast überall gibt es die verfassungsrechtlich verankerte Möglichkeit, sich vom Religionsunterricht abzumelden. Alle Länder stehen vor den Herausforderungen einer postmodernen Ausdifferenzierung und Pluralisierung der Gesellschaft, auch in religiöser Hinsicht. Exemplarisch werden einige markant unterschiedliche europäische Nachbarländer vorgestellt (vgl. Übersichten: Schreiner 2005; Heimbrock 2004; LD, 361–397; RD, 70–75; Jäggle/Rothgangel/Schlag 2013):
In Frankreich bedingt die radikale Trennung von Kirche und Staat (keine Kirchensteuer und keine offiziellen Daten zur Religionszugehörigkeit, Religion ist Privatsache, religiöse Symbole und Kleidung an der Schule sind verboten), dass es keinen staatlichen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen gibt. An Sekundarschulen kann auf Antrag der Eltern ein Katechet in der Schule, aber außerhalb der regulären Unterrichtseinheiten, Religionsunterricht erteilen. Etwa 30% der Kinder und Jugendlichen besuchen einen solchen Unterricht. Über Religion erfahren die Schülerinnen und Schüler etwas im Geschichts-, Geografie- und Philosophie-Unterricht.
In England ist die anglikanische Kirche Staatskirche. Andere Kirchen werden wie Vereine behandelt. An allen staatlichen Schulen ist der Religionsunterricht ein nicht konfessionelles Pflichtfach für alle Schülerinnen und Schüler. Es gibt Noten, das Fach ist versetzungsrelevant, man kann sich aber davon abmelden. Die Lehrpläne für dieses gemeinsame Fach werden auf regionaler Ebene unter Mitwirkung von verschiedenen Religionen, der Lehrergewerkschaft und der Erziehungsbehörde erstellt. Schulgottesdienste finden in Form von multireligiösen Feiern statt. Es dürfen religiöse Symbole getragen werden, von der Schülerschaft ebenso wie von den Lehrenden.
In der Schweiz führt der Pluralismus und Bildungsföderalismus dazu, dass es zahlreiche verschiedene Verhältnisformen von Kirche und Staat gibt. Bei aller Unterschiedlichkeit lassen sich vier Grundmodelle eines Religionsunterrichts feststellen:
ein christlicher Religionsunterricht an der Schule, aber außerhalb des Lehrplans, dessen Inhalte von den Religionsgemeinschaften bestimmt werden;ein konfessioneller Religionsunterricht, im Lehrplan ausgewiesen, in alleiniger Verantwortung der Kirchen;ein konfessionell-kooperativer bzw. religionenübergreifender Religionsunterricht im Rahmen des schulischen Lehrplans, gemeinsam verantwortet von den Konfessionen bzw. Religionsgemeinschaften und dem Staat;eine Religionskunde im Rahmen des Lehrplans in alleiniger Verantwortung der Schule, z.B. »Ethik und Religionen« in Aarau, »Natur, Mensch, Mitwelt« in Bern oder »Religion und Kultur« in Zürich. Neben diesem verpflichtenden religionskundlichen Unterricht gibt es – nicht überall – die Möglichkeit, einen konfessionellen Religionsunterricht zu besuchen.In Italien ist katholischer Religionsunterricht seit dem Konkordat von 1984 nicht mehr obligatorisches Pflichtfach, sondern frei (ab-)wählbares ordentliches Unterrichtsfach. Alternativunterricht wird selten angeboten; ein Religionsunterricht anderer Konfessionen oder Religionen ist bislang an öffentlichen Schulen nicht vorgesehen. Die Lehrpläne werden von den Bischöfen erstellt und vom Bildungsministerium genehmigt. In der Grundschule wird gewünscht, dass die Klassenlehrer das Fach unterrichten, auch wenn sie es nicht studiert haben.
In Österreich ist der Religionsunterricht wie in Deutschland ein ordentliches Unterrichtsfach, und zwar für derzeit 14 anerkannte Religionsgemeinschaften. Man kann sich vom Unterricht abmelden, allerdings gibt es dort nur selten einen verbindlichen Alternativunterricht, sodass die Alternative häufig heißt: »Reli oder Kaffeehaus« (Ritzer 2003).
Im internationalen Vergleich wird die Eigenart des deutschen Modells deutlich, dessen Besonderheit die Ausgestaltung als ordentliches konfessionelles Unterrichtsfach ist, das sich von der kirchlichen Katechese unterscheidet und zu dem es alternative Formen eines Ethikunterrichts gibt.
Literatur
DdRU Begründung des RU, 73–85; Konfessionalität des RU, 86–99; LD 3.4 Dimension Ökumenisches Lernen, 256–273; 4. Religionsunterricht in Europa, 361–397; LexRP RU in Deutschland, 1775–1833; RD Exkurs: Weitere Formen des Religionsunterrichts in Europa, 70–75; II.13 Unter welchen Rahmenbedingungen findet Religionsunterricht statt?, 302–320; RD GS I.8 Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach – Rechtliches, Vocatio, Missio, 102–113; RU II. 6 Religiöse Bildung im öffentlichen Bildungswesen, 163-173; SR F6 Religionskunde, 255-260; WR Religionsunterricht, Recht; Religionsunterricht, international.
Weiterführende Literatur
Edelstein, Wolfgang u.a., Lebensgestaltung – Ethik – Religionskunde. Zur Grundlegung eines neuen Schulfachs. Analysen und Empfehlungen, Weinheim/Basel 2001; Heimbrock, Hans-Günter, Religionsunterricht im Kontext Europa. Einführung in die kontextuelle Religionsdidaktik in Deutschland, Stuttgart 2004, bes. 26–33 (RU in europäischen Nachbarländern); Jäggle, Martin / Rothgangel, Martin / Schlag, Thomas, Religiöse Bildung an Schulen in Europa, Göttingen 2013; Mendl, Hans, Katholischer Religionsunterricht – ein Längsschnitt, in: Lachmann, Rainer / Schröder, Bernd (Hg.), Geschichte des evangelischen Religionsunterrichts in Deutschland. Ein Studienbuch, Neukirchen-Vluyn 2007, 331–364.
Zusammenfassung in Stichworten
Das deutsche Modell eines konfessionellen Religionsunterrichts wird verständlich vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen und geschichtlichen Entwicklung.Die Kirche hat als die einstmals zentrale Bildungsinstitution beim Weg in die Moderne mit dem Weltdeutungsmonopol auch die ursprünglich dominante Rolle im Bildungsbereich verloren.Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland wurde nach der Ernüchterung über ein staatsideologisches Bildungsverständnis in der Zeit des Nationalsozialismus der Religionsunterricht als ordentliches Schulfach (GG Art. 7,3) mit Abmeldemöglichkeit verankert.In einer sich weiterhin auch religiös ausdifferenzierenden Gesellschaft werden auch andere Modelle als Alternativen zum konfessionellen Religionsunterricht diskutiert, die ein gemeinsames Lernen in Pluralität anstreben.Prüfungsaufgaben
Die Diskussion über die Einführung eines ordentlichen Unterrichtsfachs Religion in Berlin vor einigen Jahren verdeutlicht, dass der Religionsunterricht zu allen Zeiten begründet werden muss.
1. Erläutern Sie, wie sich der Einfluss der Kirche auf die schulische Bildung verändert hat und auf welche Weise Kirche heute in der Schule präsent ist und ihren Beitrag für das Bildungs- und Erziehungswesen begründet!
2. Beschreiben Sie gesellschaftliche Veränderungsprozesse, die zu einer verschärften Anfrage bezüglich eines flächendeckenden staatlichen Religionsunterrichts führen!
3. Diskutieren Sie kritisch mögliche alternative Formen zur derzeit gültigen Regelung bezüglich eines konfessionellen Religionsunterrichts und seiner Stellung im Fächerkanon!
Die Konzeption des schulischen Religionsunterrichts in Deutschland
1. Erläutern Sie die spezifische rechtliche Konstruktion des schulischen Religionsunterrichts in Deutschland und vergleichen Sie diese mit ausgewählten Konzepten in anderen Ländern!
2. Begründen Sie die Notwendigkeit eines schulischen Unterrichtsfachs auf dem Gebiet der Ethik, Religion und Philosophie!
3. Diskutieren Sie Chancen und Grenzen eines konfessionellen Religionsunterrichts im Vergleich mit anderen Konzepten!
1.3 Religiöse Entwicklung, Moralentwicklung, Lebenszyklus
Ausgangs- und Zielpunkt religiösen Lernens ist das lernende Subjekt. Von einer solchen Zielformulierung aus ergeben sich hermeneutische und didaktische Folgerungen: Wenn der Religionsunterricht »pünktlich« (kairologisch) sein will, müssen die Lehrenden in der Lage sein, die jeweiligen Lernvoraussetzungen der Schülerinnen und Schüler zu verstehen. Die didaktische Folgerung, die weiter unten (Kap. 4.1: Subjektorientiert lernen) konkretisiert wird, lautet: Alle Schülerinnen und Schüler müssen in ihrer je eigenen religiösen Kompetenz gefördert werden; das hat auch lerntheoretische Implikationen und didaktisch-methodische Folgen.
Zunächst aber geht es um ein Verständnis für die lebensweltliche und lebensgeschichtliche Herkunft und Situierung der Schülerinnen und Schüler. Verschiedene Dimensionen können herangezogen werden, um so die Wahrnehmungskompetenz für die Lebens- und Entwicklungsbedingungen der Schülerinnen und Schüler zu fördern: das Denk- und Sprachvermögen von Kindern und Jugendlichen, ihr Weltbild, ihre moralische und ethische Kompetenz, die Art zu glauben, die Lebenswelten und schließlich die anstehenden Entwicklungsaufgaben im Kindes- und Jugendalter. Deutlich wird, dass die lebensweltlichen und -geschichtlichen Bedingungen einen unhintergehbaren Ausgangspunkt für die Konzipierung religiösen Lernens darstellen. Bereits Thomas von Aquin formulierte dies so: »Alles, was erkannt wird, wird nach den Bedingungen des Erkennenden erkannt« (quidquid recipitur, ad modum recipientis recipitur).
Zu diesen Wahrnehmungsfeldern gibt es unterschiedliche wissenschaftliche Untersuchungen, die dazu dienen können, die Eigenart kindlichen und jugendlichen Denkens, Fühlens und Lebens besser zu verstehen. Diese Theorien werden dann problematisch, wenn deren Einzelelemente dazu verwendet werden, Individuen vorschnell in Kategorien zu pressen, ohne sich auf die unterschiedlichen individuellen Lebensformen und Entwicklungsausprägungen einzulassen.
1.3.1 Entwicklungsmodelle
Strukturgenetische Modelle der Entwicklung stehen in der Tradition des Schweizer Entwicklungspsychologen Jean Piaget (vgl. Piaget 1988). Entgegen reinen Reifungs- und Prägungstheorien nimmt bei der Theorie der Stufenmodelle das entscheidungsfähige Subjekt einen hohen Stellenwert ein. Die Art und Weise einer Auseinandersetzung mit der umgebenden Wirklichkeit erfolgt im Rahmen der jeweils zugrunde liegenden Denkoperationen; Ereignisse des Alltags und unerwartete Phänomene werden entweder so gedeutet, dass sie zur eigenen Theorie passen (Assimilation), oder es erfolgt eine Änderung der Denkstrukturen (Akkomodation) und somit ein Übergang zur nächsten Stufe. Piaget widmete sich vor allem der Denkentwicklung bei Kindern. Während Säuglinge die Wirklichkeit sensomotorisch erfassen und Kleinkinder über präoperational-anschauliche Denkweisen verfügen, besteht die Aufgabe im Grundschulalter in der Förderung eines konkret-operationalen Denkens: Ausgehend von konkreten Phänomenen können Kinder nun schrittweise abstraktere Operationen anstellen. Die Fähigkeit zum Vollzug formaler Operationen stellt dann die Leistungsaufgabe im Jugendalter dar.
Der Wert von strukturgenetisch orientierten Ansätzen besteht darin, dass man mit dem respektvollen Blick auf die jeweilige Denkmöglichkeit der Eigenart eines kindlichen oder jugendlichen Weltzugangs gerecht wird, ohne diese als defizitär gegenüber erwachsenen Ausprägungen abzuwerten; eine Gefahr bestünde darin, wenn man den missverständlichen Begriff der »höheren« Stufe wertend betrachten würde.
Im Folgenden werden einige zentrale Theorien vorgestellt (Überblick siehe Schweitzer 1999; Büttner/Dieterich 2000 u. 2016; Kuld 2001); ein besonderes Augenmerk wird auf diejenigen Entwicklungsphasen gelegt, die für die Kindheit und das Jugendalter bedeutsam sind.
Erik Erikson: Psychosoziale Stufen im Lebenslauf (Erikson 1973)
I.
Ur-Vertrauen gegen Misstrauen: Ich bin, was man mir gibt. (Säuglingsalter)
II.
Autonomie gegen Scham und Zweifel: Ich bin, was ich will. (Kleinkindalter)
III.
Initiative gegen Schuldgefühl: Ich bin, was ich mir zu werden vorstellen kann. (Spielalter)
IV.
Werksinn gegen Minderwertigkeitsgefühl: Ich bin, was ich lerne. (Schulalter)
V.
Identität gegen Identitätsdiffusion: Wer bin ich? (Adoleszenz)
VI.
Intimität gegen Isolierung: Ich setze mich ein und verschenke mich. (Frühes Erwachsenenalter)
VII.
Generativität gegen Selbstabsorption: Ich zweifle an mir. (Erwachsenenalter)
VIII.
Integrität gegen Lebens-Ekel: Ich ringe um den Sinn des Ganzen. (Reifes Erwachsenenalter)
Nach Erik Erikson fordert jede Lebensphase das Individuum auf spezifische Weise heraus; bestimmte krisenhafte Situationen müssen bewältigt werden, und die Art der Krisenbewältigung prägt den Menschen. Dabei gilt es, ein Gleichgewicht zwischen zwei Extremen zu finden. Für die Schule erscheinen besonders die dritte Stufe (Initiative gegen Schuldgefühl), die vierte Stufe (Werksinn gegen Minderwertigkeitsgefühl), die fünfte Stufe (Identität gegen Identitätsdiffusion) und in Ansätzen auch die sechste Stufe (Intimität/Solidarität gegen Isolierung) als Herausforderungen, die bei Bildungs- und Erziehungsprozessen beachtet werden sollten. Erikson selbst hat zwar keine eigene religiöse Entwicklungstheorie verfasst; die Beschreibung der psychosozialen Krisen steht jedoch für eine religiöse Bedeutungszuweisung offen und kann jeweils mit zentralen religiösen Themen, Symbolen und Texten in Beziehung gebracht werden. (Zur Kritik an Eriksons Identitäts-Begriff: siehe unten, Kap. 2.4.3.)
Lawrence Kohlberg: Stufen der Moralentwicklung (Kohlberg 1995; vgl. auch Oser/Althof 1997)
Sieben Gebote des Dekalogs sind auf die Beziehung der Menschen untereinander bezogen, drei auf das Verhältnis zwischen Mensch und Gott. Religion hat also auch mit der horizontalen Dimension des menschlichen Miteinanders zu tun und ist damit auf das Feld der Moral und der Ethik verwiesen (zur didaktischen Entfaltung: siehe Kap. 3.5). Auch moralisches Argumentieren und Handeln ist einer Entwicklung unterworfen. Lawrence Kohlberg hat seine Theorie von den Stufen der Moralentwicklung ähnlich ermittelt wie Fritz Oser (siehe unten): Er wertete die Antworten auf Dilemma-Erzählungen wie das berühmte »Heinz-Dilemma« (Darf Heinz für seine todkranke Frau ein Heilmittel stehlen?) aus und erstellte so seine Theorie.
Kohlberg unterscheidet drei Stadien, die jeweils in zwei Stufen unterteilt sind.
Präkonventionelle Moral: Hetero-Nomie
Auf der Ebene der präkonventionellen Moral ist die Reflexion über das, was richtig oder falsch ist, noch nicht von der Einsicht in die Gültigkeit übergreifender Normen für Gruppen und Gesellschaften geprägt.
Stufe 1: Gehorsam-Strafe-Orientierung: Auf der ersten Stufe erfolgt die Orientierung in moralischen Fragen nach dem Prinzip Gehorsam und Strafe: Verantwortlich für Moral ist also eine externe Autorität; ein anderer ist für die Bestimmung des »Richtigen« zuständig; diese Autorität wird unbedingt geachtet (heteronome Moral). Die Beurteilung, ob ein Verhalten gut oder böse ist, wird bestimmt von der physischen Form (z.B. die Größe der Lüge) oder den eingetretenen Konsequenzen (z.B. die Höhe des Schadens oder das Maß der zu erwartenden Strafe).
Stufe 2: Naiv-hedonistische Orientierung: Auf der zweiten Stufe wird das Handeln als »gut« bezeichnet, das den eigenen Bedürfnissen entgegenkommt und anderen nicht schadet. Grundzüge einer Fairness sind vorhanden, aber auf der Ebene des wechselseitigen Austausches.
Konventionelle Moral: Sozio-Nomie
Zunehmend wächst die Einsicht, dass für das Funktionieren menschlichen Zusammenlebens im Kleinen und Großen das Einhalten von festgesetzten Regeln sinnvoll ist.
Stufe 3: Prima-Kerl-Orientierung: Mehrheitsvorstellungen und Rollenerwartungen des Umfelds, besonders der Peergroup, werden übernommen. »Gut sein« bedeutet, ehrenwerte Absichten zu haben und sich um andere im Nahbereich zu kümmern.
Stufe 4: Ordnungs- und Pflicht-Orientierung: Vorgegebene Ordnungen und Regeln werden geachtet, weil sie das Zusammenleben in einer größeren Gemeinschaft (Schule, Staat) unterstützen. Richtig ist die Handlung, die die Autorität respektiert und für die soziale Ordnung eintritt. Gesetze müssen befolgt werden. Im Unterschied zur Stufe 1 wird die Autorität nicht an sich, sondern wegen ihrer gemeinschaftssichernden Aufgabe wertgeschätzt.
Postkonventionelle Moral: Auto-Nomie
Mit dem Stadium der postkonventionellen Moral wird auch eine rechtlich fixierte konventionelle Moral relativiert. Nun kommen globalere ethische Blickwinkel zum Tragen.
Stufe 5: Sozialvertragliche Orientierung: Was sozial nützlich ist, gilt als »gut«; auch Gesetze sind daran zu messen. Absolute Werte wie »Würde«, »Leben« und »Freiheit« müssen in jeder Gesellschaft unabhängig von der Mehrheitsmeinung respektiert werden.
Stufe 6: Gewissens- und Prinzipienorientierung: Man orientiert sich nun an universellen ethischen Prinzipien, denen man sich verpflichtet fühlt (z.B. Gerechtigkeit, Achtung der Würde und des Lebens). Gesetze und soziale Übereinkünfte besitzen gewöhnlich Gültigkeit, da sie auf solchen Prinzipien beruhen, reichen aber häufig nicht aus.
Kohlbergs Stufen der Moralentwicklung wurden insgesamt oder in Teilelementen kritisiert und weiterentwickelt, auch bereits von ihm selbst durch eine verfeinerte Ausdifferenzierung der einzelnen Stufen.
Die Kohlberg-Schülerin Carol Gilligan bemängelte, die Stufentheorie beschreibe gerade im Zielpunkt einer »Prinzipienorientierung« einseitig eine männliche Moral; das vernachlässige die »andere Stimme« der Frauen (so der Titel ihrer Entgegnung: In a Different Voice, Gilligan 1977), die vor allem von einer Beziehungsmoral geprägt seien (vgl. Oser/Althoff 1997, 293–335). Ein weiterer Kritikpunkt ist der kognitive Zuschnitt der Studie, die dem Feld des Emotionalen und der Handlungsorientierung zu wenig Bedeutung zumisst. Außerdem wird kritisch angefragt, ob die strenge Linearität in der Entwicklung von einer Stufe zur nächsten stimmig ist. Bestritten wird auch, dass Kinder prinzipiell nicht zur moralischen Einsicht in der Lage sind; sie kennen universelle moralische Regeln, verfügen aber noch nicht über genügend intrinsische moralische Motivation, auch danach zu handeln (vgl. Nunner-Winkler 1992).
Insgesamt kann aber die Kenntnis der Stufen der Moralentwicklung die Lehrenden für die besondere Denk- und Argumentationsweise von Kindern und Jugendlichen sensibilisieren; die Frage nach angemessenen Wegen und Strategien einer ethischen Erziehung reicht aber weit über die Kohlberg-Stufen hinaus (siehe Kap. 3.5).
Fritz Oser: Stufen des religiösen Urteils (Oser/Gmünder 1996)