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»JEDER MENSCH IST EIN UNIKAT«
Über sein eigenes Leben, seine Liebe zum Glarnerland, seine Jugend in der Schweiz und die Erlebnisse mit seiner Familie hat der berühmte Kinderarzt und Entwicklungsforscher Remo Largo meist – in aller Bescheidenheit – geschwiegen. Auch über die Nöte und schweren gesundheitlichen Einschränkungen, die sein Leben prägten, hat er erst spät, in wenigen Interviews, unveröffentlichten Schriften und persönlichen Gesprächen mit der Autorin, gesprochen. Er hat es stets verstanden, Schwierigkeiten in Chancen zu verwandeln und so ein beeindruckendes Gesamtwerk aufzubauen.
Diese Biografie erzählt vom Werden des Forschers und Bestsellerautors Remo H. Largo und dem Menschen, der dahintersteckte.
»Dass seine Bücher seit Jahrzehnten geliebt werden, liegt auch daran, dass er nie nur als Mediziner schrieb, sondern immer als Humanist, Suchender, Zweifelnder und der Natur und der Gemeinschaft tief verbundener Familienmensch.«
Süddeutsche Zeitung
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www.piper.de
© Piper Verlag GmbH, München 2023
Fotos im Bildteil: Privat
Kapitel »Remo Largos Faszination an den Menschen«: Remo H. Largo, Das passende Leben. © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2017
Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München
Covermotiv: Erwin Auf der Maur
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Cover & Impressum
Widmung
Motto
Remo Largos Faszination an den Menschen
»Vom Kind her denken«
Fit und Misfit – eine Einleitung
Los Angeles, diese »grausame Stadt« voll Sonne, Toleranz und direkt am Ozean
Schweiz – doch eine Heimat
Kindheit und Jugend – fasziniert vom Wesen des Menschen, schon damals
Studium und Hochzeit – so passend kann das Leben sein
Karriere – mit überdrehendem Motor
Der Autor der Babyjahre
Die Schule – vom Bestsellerautor zum Gesellschaftskritiker
Mit universalgelehrter Konsequenz – ein passendes Leben für alle
Letzte Jahre und Abschied
Epilog
Nachwort von Ursula Eichenberger
Dank
Literatur und Quellen
Bildteil
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Literaturverzeichnis
Dieses Buch soll allen Eltern, Lehrern, Erzieherinnen, allen Menschen, denen Kinder am Herzen liegen, gewidmet sein. All jenen, die das Wissen von Remo Largo noch viele, viele Jahre lang brauchen werden, um Kindern eine bessere Welt zu schaffen.
Jeder ist einzigartig und wird immer mehr zu dem Wesen, das in ihm angelegt ist. Jeder kann nur sein eigenes Leben leben.
Remo Largo
»Ich liebe es, Menschen jeden Alters zu beobachten, beispielsweise im Sommer auf dem Münsterplatz in der Zürcher Altstadt. Da herrscht ein ständiges Gewusel von flanierenden Touristen, eiligen Geschäftsleuten, Einheimischen, die Neuigkeiten austauschen, und spielenden Kindern. Mich fasziniert die Vielfalt der Gesichter und Gestalten, die unterschiedliche Art, wie Kinder, junge und ältere Erwachsene miteinander umgehen. Wie mannigfaltig ist doch ihre Körpersprache, etwa wenn die Großen einander begrüßen und die Kleinen hintereinander herjagen. Und wie verschieden ist das Interesse bei den Touristen an der altehrwürdigen Fraumünster-Kirche und den Auslagen der Geschäfte. Es wird mir nie langweilig zuzuschauen. Ich kann mir sicher sein, dass niemals zwei Menschen über den Platz gehen, die sich in Gestalt und Verhalten vollkommen gleichen. Denn ich weiß, dass jeder der fast acht Milliarden Menschen, die gegenwärtig auf der Erde leben, ein einzigartiges Wesen ist. Und diese Vielfalt ist keinesfalls außergewöhnlich; Pflanzen und Tiere sind innerhalb der eigenen Art genauso vielfältig. Was uns Menschen jedoch besonders und mich erst zum Beobachter macht: Nur wir sind uns – dank unserer hochentwickelten geistigen Fähigkeiten – der eigenen Individualität und der Vielfalt unter den Menschen bewusst. […] Doch ohne Vielfalt gäbe es weder den Menschen noch alle anderen Lebewesen. Vielfalt und Individualität sind Grundvoraussetzungen alles Lebens. Wie vielfältig die Menschen sind und welche Schwierigkeiten uns diese Vielfalt bereitet, war die nachhaltigste Erfahrung, die ich in meiner vierzigjährigen Tätigkeit als Wissenschaftler und klinisch tätiger Entwicklungspädiater gemacht habe.«
Jedes Kind soll seine Individualität leben dürfen! Für Remo Largo war dieser Leitsatz bei jeder seiner Begegnungen mit Kindern und deren Familien spürbar. Er hat uns jeden Tag gezeigt, wie vielfältig Kinder sind und wie wir sie auf ihrem Entwicklungsweg bestmöglich unterstützen können. Vielfalt, Individualität, Variabilität – das war für ihn gleichsam die Schatzkiste der jungen Generation, die wir Erwachsene entdecken und wertschätzen sollten.
Wie haben wir Remo Largo erlebt, was zeichnete ihn als Kinderarzt, als Forscher, als unseren Vorgesetzten, Mentor und Freund aus?
Remo Largo war neugierig und wissensdurstig, visionär und umsichtig, liebevoll und warmherzig, beharrlich und provokant. Ein besonders zugewandter Zuhörer, der Ideen und Gedanken aufnehmen, verarbeiten und weiterentwickeln konnte. Ein Pionier, der das Fach der Entwicklungspädiatrie im deutschsprachigen Raum etablierte und als eigentliches Kerngebiet der Kinder- und Jugendmedizin verankerte. Zugleich baute er die damalige Abteilung für Wachstum und Entwicklung am Kinderspital Zürich zu einer der größten entwicklungspädiatrischen Institutionen in Europa aus. In den Zürcher Longitudinalstudien untersuchte er Hunderte Kinder und zeichnete akribisch ihre vielfältige Entwicklung in den ersten 20 Lebensjahren nach. Er beobachtete und analysierte unterschiedliche Entwicklungsbereiche wie beispielsweise das kindliche Spiel, die Sprache, den Schlaf, die Entwicklung der Sauberkeit sowie das Sozialverhalten. Dieser große Wissensfundus war die Grundlage für seine Bücher, das »Fit-Konzept« und für eine optimale Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit Entwicklungs- und Verhaltensstörungen. Dabei beobachtete er die Kinder, fotografierte und filmte sie. Er hatte ein Auge für Schlüsselmomente – die Kamera war sozusagen sein Stethoskop.
Durch seine Forschungsarbeiten erkannte Remo Largo, dass Kinder von sich aus neugierig sind, sich eigenaktiv entwickeln und lernen. Er war fasziniert von dem Gedanken, dass ein Kind seine Entwicklung durch eigene Handlungen selbst steuern kann. Und so wuchs über die Jahre hinweg seine Überzeugung, dass wir Erwachsenen für ein Umfeld sorgen müssen, das zu den Bedürfnissen des einzelnen Kindes passt und in dem es sich akzeptiert fühlt, dass wir jedoch niemals seine Entwicklung beschleunigen können. »Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht« – das war sein viel zitiertes Credo!
Ein Wort, das Remo Largo oft benutzte, war »Geborgenheit«. Er war überzeugt, dass sich ein Kind nur dann geborgen fühlt, wenn seine Bezugspersonen verfügbar, verlässlich, vertraut und liebevoll sind. Er selbst schenkte seinen Freunden, uns Mitarbeitenden, den Eltern und vor allem seinen Patientinnen und Patienten genau diese Geborgenheit. Innerhalb von Minuten war er mit ihnen in ein Spiel verwickelt, lachte und zog sie in seinen Bann. Auch Studierende und Assistierende waren fasziniert von seiner Art, auf Kinder zuzugehen. Er stach unter den Dozierenden heraus, weil es ihm intuitiv gelang, sich auf den individuellen Entwicklungsstand eines Kindes einzustellen. Aufmerksam hörte er sich die Geschichten der Familien an und versuchte, die Situation und das Umfeld des Kindes zu verstehen. Dabei betrachtete er die Welt aus dessen Sicht und versuchte, »vom Kind her zu denken«, wie er oft sagte. Er fokussierte sich auf seine Stärken, akzeptierte die Schwächen oder übersah diese großzügig – nicht nur bei Kindern, sondern auch bei seinen Freunden und Mitarbeitenden. Es gelang ihm, jedem seinen Platz zu geben und ein Team zu formen, das unterschiedliche Menschen vereinte und jedem Einzelnen ermöglichte, sich weiterzuentwickeln und zu wachsen.
Für viele war seine tiefe Überzeugung, dass die Anforderungen der Gesellschaft an die Eigenschaften des Kindes angepasst werden müssen, sehr provokativ. Aber durch seine Hartnäckigkeit öffnete er weitsichtig die Türen für ein besseres Verständnis der kindlichen Bedürfnisse – nicht nur im medizinischen Bereich, sondern auch in Elternhäusern und im Schulsystem. Wie kein anderer verstand er es, das komplexe Wissen über die Entwicklung von der Geburt bis ins Erwachsenenalter in einer klaren und verständlichen Sprache zu vermitteln; seine Bücher sind ohne Zweifel der Beweis dafür. Wir haben diese Begabung im gemeinsamen Alltag oft gespürt. Er machte keine Forschung im Elfenbeinturm, sondern dachte stets daran, welche Bedeutung die wissenschaftlichen Befunde für den Umgang mit den Kindern und Familien haben könnten. Mit diesem Wissenstransfer von Erkenntnissen der Forschung in die Gesellschaft war er seiner Zeit weit voraus.
Niemand war in den letzten 30 Jahren im deutschsprachigen Raum besser in der Lage, den umfangreichen Wissensfundus über die kindliche Entwicklung in unserer Gesellschaft so tief zu verankern wie Remo Largo. Dabei hat er das Verständnis für die große Variabilität von Kindern nachhaltig erweitert und deutlich vor Augen geführt, dass wir uns an das Kind anpassen müssen und nicht das Kind sich an uns. Diese kindorientierte Haltung ist das große Vermächtnis, das Remo Largo uns allen hinterlassen hat.
Oskar Jenni und Bea Latal
Leitung der Abteilung Entwicklungspädiatrie am Universitäts-Kinderspital Zürich
Zürich, im September 2023
»Ich habe lange gelebt, geliebt und gelitten. So vielfältig wie der Mensch selbst, so ist auch sein Leben voll Schönheit, Liebe, Freuden, Gelingen und Befriedigung. Gleichzeitig ist es voll Unzulänglichkeiten, wie Schmerzen, Trauer, Unfriede, Versagen, Schuld und anderem. Alles hat einmal ein Ende. Ich glaube, dass gerade diese Widersprüchlichkeiten den Reiz des Lebens ausmachen. Man muss das Leben nehmen, wie es ist, und auch mit sich selbst Geduld haben. Mein Blatt am Baume im Walde ist bunt geworden. Bald wird es ›vom Winde verweht‹ werden.«
Marie Meierhofer, 1995
Die letzten Kilometer schlängelt sich die Straße bergauf, dann kommt die Abzweigung nach Uetliburg, einer kleinen Ansiedlung in der Gemeinde Gommiswald – dem letzten Wohnsitz von Remo Largo. Das Haus in der Speerstraße ist in den Abhang des Rickenpasses hineingebaut, es hat Südlage, viel Sonne und eine geradezu einzigartige Aussicht. Heute ist Gommiswald ein Naherholungsgebiet der Zürcher Metropole, wohlgeordnet und von schweizerischem Wohlstand nur so durchflutet. Zur Zeit von Remo Largos Geburt war Gommiswald noch Kleinbauernland. Das war 1943, der Weltkrieg tobte noch, wenn auch die Schweiz von den Verheerungen im restlichen Europa weitgehend verschont geblieben war.
Eine steile Treppe, gesäumt von Blumenrabatten und dazwischen postierten Steinen, ein Alpengarten. Wenn oben nicht Remo Largo warten würde, würde ich bei jedem Schritt verweilen und über die Vielfalt der gezähmten Natur staunen. Dann die Bank vor dem Haus, Gespräche ankündigend. Die Eingangstür mit der Klappe für die zwei stolzen norwegischen Waldkatzen steht offen, und mit offenen Armen werde auch ich sofort empfangen. Ankommen. Immer wieder, 20 Jahre lang. Und dann zwei, manchmal drei Tage im Dialog sein, zusammen an einem Manuskript arbeiten, spazieren gehen über Sommerwiesen und durch duftende Wälder, Remo filmen, beim Blumen Jäten, Reiher Fotografieren, am Computer, am Telefon, beim Interview. Alles wird zum Apropos, zu einem willkommenen Anlass, um zu reflektieren, die gewonnenen Erkenntnisse an der Realität zu messen, sie dann zu verändern, zu präzisieren. Alles ist Begegnung.
Und jetzt? Ich sehe das Haus, den Garten, die Bank vor mir, nur der berühmte Kinderarzt und Entwicklungsforscher ist nicht mehr da. Am 11. November 2020 ist Remo Largo hier in seinem Haus gestorben. Was bedeutet es, dass er nicht mehr unter uns ist? Was für ein Vermächtnis hat er uns hinterlassen? Was für ein Mensch war er, dessen Tod so viele betrauert haben? Haben wir diesen trotz aller Herzlichkeit zurückhaltenden oder auch nur grundbescheidenen Menschen eigentlich gekannt? Was für ein Leben hat er gelebt? Wo geliebt? Wo getrauert? Wohin ist er seinem Herzen gefolgt? Was würde passieren, wenn wir sein Modell des Menschen – er nannte es Fit-Prinzip – auf ihn selbst anwenden? Welches Muster an Bedürfnissen und Fähigkeiten, welche Persönlichkeitsstruktur würde dabei sichtbar werden? Konnte er selbst sein Leben im Einklang mit der ihn umgebenden Welt verbringen? Oder gab es auch in seinem Leben Bereiche, in denen die Übereinstimmung von Bedürfnissen und Umwelt nicht gelang? Nicht anders als bei allen anderen Menschen auch? Kein Leben ist schließlich nur ein Sommerspaziergang. Und würde diese Vorgehensweise, also der Blick auf Fit und Misfit, uns helfen, ihn und vor allem sein Wirken besser zu verstehen? Seine Bücher? Seine Ratschläge für Eltern, Lehrer, Kinderärzte? Seine Kritik an der Gesellschaft und sein großes Anliegen, über ein passendes Leben für alle nachzudenken und mit seinem gleichnamigen Buch der Gesellschaft einen unangenehmen Spiegel vorzuhalten? Das 2017 erschienene vorletzte Buch des Bestsellerautors ist das Werk eines Universalgelehrten und – mehr als alles andere – die Quintessenz des engagierten Humanisten Largo. Nach all dem, was er erlebt, gesehen und für die Kinder bewirkt hat, musste er am Ende seines Lebens und seiner beruflichen Laufbahn diesen Rundumschlag wagen.
Das Leben des berühmten Kinderarztes und Forschers, der am 24. November 1943 in Winterthur geboren wurde, hat die ganze gesellschaftliche Entwicklung seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs durchmessen. Dass er zum Entwicklungsexperten wurde, erscheint darum fast logisch, war es doch eine Zeit der rasanten Veränderungen, eine aufregende, eine herausfordernde Epoche, an deren Ende viele Gewissheiten der letzten 200 Jahre zur Disposition stehen. Und so werden uns Remo Largos Spuren in die Nachkriegszeit und die Wirtschaftswunderjahre der Schweiz führen. Während der Studentenrevolte und in den 1970er-Jahren werden wir ihm nach Amerika folgen, das Ende des Kalten Krieges wird mit dem Höhepunkt seiner wissenschaftlichen Karriere zusammenfallen. Die Auswirkungen der Globalisierung werden seinem Engagement für die Gesellschaft einen erhellenden Kontext verleihen, und schließlich werden wir im digitalen Zeitalter und bei seiner Sorge um die Zukunft landen. Ein historischer Rahmen, in dem sich auch sein junges Fach, die Entwicklungspädiatrie, entwickelte – quasi im Gleichschritt mit seiner eigenen Karriere. Die dadurch in Gang gesetzten Veränderungen in der Haltung Kindern gegenüber könnten größer gar nicht sein. Wir alle, Eltern, Lehrer, Kindergärtnerinnen oder einfach nur mitdenkende Erwachsene, haben diese Veränderungen miterlebt, vielleicht sogar mitgestaltet. Remo Largo hat viel Entwicklung in Gang gesetzt.
Häuser sind Spiegel ihrer Besitzer, sie legen beredtes Zeugnis des in ihnen gelebten Lebens ab, voller Muster und Spuren, die zum Wesen ihrer Bewohnerinnen und Bewohner führen. Ich vergegenwärtige mir Remos Haus, so wie es all die Jahre unseres Bekanntseins, ja unserer Freundschaft gewesen ist. Schließlich ist es die Aufgabe der Biografin, das Leben desjenigen zu entschlüsseln, der einem in die schreibenden Hände gelegt wird.
Das ist ein großes Wort, wer kann schon von sich behaupten, dass er einen anderen entschlüsseln und folglich verstehen kann, ja ist es nicht vielmehr so, dass die Fragen mit jedem ausgegrabenen Detail, jedem Nähertreten nur größer werden? Trotz unserer jahrelangen Freundschaft begebe ich mich deshalb auf eine Entdeckungsreise voll neuer Erkenntnisse und Aha-Erlebnisse, voll neuer Fragen und Antworten, die sich – so Gott und Remo wollen – zu einer Gesamtschau, einem Lebensmosaik fügen werden. Wir sehen nur mit dem Herzen gut – das soll mein Wegweiser sein.
Nachdem man durch die Haustür ins Innere gelangt, steht man im kleinen Flur mit der Treppe hinauf zu den Zimmern der oberen Stockwerke. Jede der Stufen ist mit einem kleinen Stapel an Büchern belegt, eine Art Stufenbibliothek. Auch im Arbeitszimmer gibt es Bücher, in den zwei langen Bücherwänden, am Boden, auf dem Bett, am Schreibtisch. Überall im Regal stapeln sich Papiere, Manuskripte, Aufsätze. An jedem Stapel klebt ein Zettel mit dem sich darüber befindlichen Themengebiet: Anthropologie, Evolution, Biologie, Philosophie, Genetik, Charles Darwin, Städte, Zusammenleben, Jugendjahre, Kindheit. Ein paar Festmeter mit den eigenen Büchern, in ein Dutzend Sprachen übersetzt. Der Schreibtisch mit dem komfortablen großen Computer und dem augenfreundlichen Bildschirm. Zugeständnisse an die Welt der Technik – Remo war schon früh sehr technikinteressiert – und ein Hinweis darauf, wo sich ein Großteil seines Lebens abspielte. Der Ausblick aus dem Fenster, vor dem manchmal Adler kreisen und ihren Jungen das Fliegen beibringen. Das Bett. Aber wieso ein Bett im Arbeitszimmer?
Im Wohnzimmer dominieren die Bände zur Kunst, zur Fotografie und zur Literatur. Die alte Scheuchzer-Bibel, das kostbarste Werk im Bücheregal, sechsbändig, Anfang des 18. Jahrhunderts vom Mediziner und Naturwissenschaftler Johann Jakob Scheuchzer verfasst und aufwendig illustriert. Für Remo war es nicht nur eine Bibel, sondern ein Schlüsselwerk über das Wesen des Menschen und seine Verfasstheit in der Welt an der Schwelle zur Neuzeit. Woher stammt seine feine Unterscheidungsgabe für Epochen und Gesellschaften, woher die Präzision des Denkens, woher der weite Horizont? Mit vielen Freunden und Kollegen führte er über Jahre andauernde Gespräche, einen intellektuellen Austausch voller Respekt, Freundlichkeit und immer auf Augenhöhe. Lebendiges Denken und dialogische Erkenntnissuche. Nur wenige konnten so zuhören wie er.
Eine halbe Bücherwand ist für die russische Literatur reserviert. Tolstoi und Dostojewski begleiteten Remo durchs Leben, von der Schulzeit angefangen. Diesen Schriftstellern traute er, mehr als allen anderen Nachdenkern über das Wesen des Menschen, großes psychologisches Feingespür zu. Er selbst führte gar sein früh erwachtes Interesse für den Menschen auf die Russen zurück, auf ihre genaue Beobachtungsgabe, ihr Sensorium für die Vielfalt der menschlichen Beziehungen. Die Wechselwirkung zwischen dem Menschen, seinen Bedürfnissen und der ihn umgebenden Welt war ja auch Remos zentrales Thema. Doch einfach das erwachende Interesse an Menschen den Russen zuzuschieben erscheint mir zu eng gefasst. Sich in der Pubertät durch Anna Karenina und Krieg und Frieden zu pflügen zeugt von einer Reihe von Talenten, von Konzentrationsfähigkeit und von einem stets von allen bestaunten guten Gedächtnis, einer geradezu formidablen Informationsverarbeitungsgabe. War Remo eine Ausnahmebegabung? Bestimmt. Wer liest schon mit 14 auch noch die Bibel und den sechsbändigen Brockhaus, staubsaugerhaft, einfach aus Wissbegier, einfach um Fakten in sich hineinzuschaufeln? Unermüdlich und voller Neugier – bis zum Schluss. Ganz klar, von allen Grundbedürfnissen, die Remo beim Menschen ausgemacht und beschrieben hat – Geborgenheit, existenzielle Sicherheit, soziale Anerkennung, Leistung, Selbstentfaltung und körperliche Integrität –, war bei ihm die Selbstentfaltung am stärksten ausgeprägt.
Doch all die Bücher wirken nicht einschüchternd, sind kein auf Bewunderung zielendes Statement, nicht ausgestelltes Wissen, sondern Einladung zum Dialog. Sie sind Inspirationsquellen, geliebte Lebensbegleiter, die von jedem im Haus zu jeder Zeit zur Hand genommen werden dürfen. In ihnen verbergen sich, so locken sie, Antworten auf die vielen, täglich neu gestellten Fragen des Lebens. Vor den Büchern stehen kleine Keramikfiguren, vielleicht von den Kindern modelliert. Ein langer Tisch, an dem mit den Enkeln gebastelt, mit Kollegen und Gleichgesinnten gearbeitet oder große Familienessen gegeben werden können. Familienfotos sind allgegenwärtig. Auf dem Schreibtisch und im Wohnzimmer, in der Küche, auf dem Kühlschrank, vor Büchern und an Wänden. Immer wieder die drei Töchter Eva, Kathrin und Johanna mit ihren dunklen langen Haaren. Fast wie Drillinge sehen sie aus, und man kann förmlich mit Händen greifen, was für eine lebenslange Freude sie ihrem Vater waren. Und dazugemischt deren Lebenspartner, die Enkelkinder und Brigitt. Familienglück und Geborgenheit strömt aus ihnen in die Räume, nichts war Remo neben seiner Selbstentfaltung wichtiger als die Geborgenheit in einer glücklichen, großen Familie. Dabei war die Familie eine einzigartige, sich stetig erweiternde Patchworkfamilie. 1971 heiratete Remo zum ersten Mal, Silvia Wolfer, die Mutter seiner drei Töchter. Dann, nach dem Scheitern dieser Ehe, kam Brigitt Renz in sein Leben, 1985 heiratete er zum zweiten Mal. Dass alle, selbst die Eltern seiner ersten Frau oder verflossene Lieben seiner Töchter und selbstverständlich Kinder aus ersten oder anderen Ehen, zur Largo-Familie gehören, zeigen die vielen Fotoalben und die Weihnachtsfotos, die von immer mehr Menschen bevölkert werden. Doch sie strahlen weniger ein Bekenntnis zu modernen Familienformen aus als schlichte Herzlichkeit und Vorurteilsfreiheit innerhalb einer Lebensgemeinschaft vertrauter Mitmenschen.
Eine Fotocollage wie Filmstills. Remo und Brigitt, lachend, voller Glück. Die Stiefmutter umarmt ihre drei Beutekinder. Sie lachen zurück. Remo schmunzelt ganz Remo-mäßig. In den Fotoalben finde ich dann einen Strom von Bildern aus der Zeit der ersten Ehe mit Silvia, deren Züge sich so unverwechselbar in denen der Töchter wiederfinden. Auch aus diesen Fotos spricht ein junges Glück, verliebte Verzücktheit, alle Herrlichkeit des Anfangs einer großen Beziehung. Und dann noch die Eltern, die Schwiegereltern, die Großeltern, Geschwister, Onkel und Tanten. Immer wuselt es nur so von Menschen, zu Weihnachten ganz besonders. Als Remos Mutter, »Grosi« genannt, zuletzt ins Krankenhaus musste, wo sie alsbald verstarb – sie war bis dahin mit ihren 90 Jahren stets gesund, wenn auch hypochondrisch gewesen –, scharte sich die ganze Familie um ihr Bett, und die Bettnachbarin aus Ostafrika strahlte. Wo sie herkommt, zöge oftmals die ganze Familie mit ins Spital ein. Remo stammt also aus einer Familie mit starken Banden. Doch wie hat sie ihn beeinflusst? Wie hat sie sich auf sein Interesse am Menschen ausgewirkt? Dass es, um ein Kind zu erziehen, ein ganzes Dorf braucht, wie ein afrikanisches Sprichwort besagt, scheint eine sehr frühe Erfahrung bei ihm gewesen zu sein, später dann wurde der Satz zu einem seiner Leitgedanken und fand in jedem Vortrag Erwähnung. Wohl, so möchte man hinzufügen, braucht es auch ein ganzes Dorf, um ein gutes, ein passendes Leben zu führen.
Remos Haus, so habe ich es vor mir, wirkte stets durchflutet von Sonnenlicht, selbst bei Sturm und Schnee. Es war die Energie, die diesen Ort ausmachte, die Freundlichkeit und die Herzenswärme. Die von Remo und die seiner Frau Brigitt, mit der ihn so vieles verband. Sie war das liebevolle Zentrum, brachte Farbe in sein Leben und hatte eine wunderbare Gabe, mit Kindern, Tieren und Pflanzen fürsorglich umzugehen. Überall gab es deshalb Blumen, Grünpflanzen, denen es hier so gut ging, dass sie sich wuchernd im Haus auszubreiten begannen und schließlich in den Wintergarten verbannt werden mussten. Natur wurde ganz großgeschrieben, als Bedürfnis und Seelenbalsam. Hinterm Haus begannen schon bald die Wiesen und der Wald des Rickenpasses, auf der Terrasse war ein kleiner Teich. Mit plätscherndem Wasserlauf über aufgeschichteten Steinen. Seerosen, ein Frosch, einer aus Keramik und vielleicht lebendige Geschwister im Wasser. Rosen. Remo wusste, wie wichtig für uns Menschen ein Leben in und mit der Natur ist, und auch dies zu vermitteln wurde ihm zum wichtigen Anliegen.
Und dann eine Fahne, ein Windspiel, das die Richtung der Luftströme anzeigt und den Blick dorthin lenkt. Auf den Zürichsee, der in seinen vielfältigen Erscheinungen zum Fotosujet für den Fotografen Remo Largo wurde. Wann nur hat diese Passion des Vielbegabten angefangen? Und wie hat sie ihn begleitet? Wie seine Arbeit geprägt? Manchmal weht der Wind auch aus dem Glarnerland hier herauf, ein steiles Bergtal mit so klingenden Ortschaften wie »Glarus«, »Schwanden«, »Haslen«. Was hat es damit auf sich? Mit Remos Herkunft aus einer italienischen Einwandererfamilie, die sich mitten im Ersten Weltkrieg im Glarnerland angesiedelt hat? Wie wichtig war ihm seine Herkunft? Und wie ergänzt sie das Bild?
Ein Ruhe spendendes Universum ist dieses Haus. Ein Ort, an dem so viel zusammenfließt, die Quintessenz eines erfüllten Lebens. Auch ein Ort des Rückzugs, weg vom temporeichen Takt der Zürcher Stadt, vom Kinderspital und der Abteilung für Wachstum und Entwicklung, die Remo seit Ende der 1970er-Jahre aufgebaut und groß gemacht hat. Ein Ort des Rückzugs, nachdem er 2005 in Frühpension ging – gesundheitsbedingt. Doch dann waren die Jahre seither alles andere als ein Ruhestand. Im Gegenteil, es war die Fortsetzung seines zunehmend öffentlichen Lebens, des Lebens als Bestsellerautor, als Erforscher des Menschen, Mentor der Eltern, als Fürsprecher der Kinder und Kritiker des Schul- und Gesellschaftssystems. Aus dem Schöpfer der Babyjahre, ein Buch, das bald in jedem Haushalt junger Eltern im Regal stand, wurde der Serienautor. Es folgten Kinderjahre, Schülerjahre, Glückliche Scheidungskinder, Jugendjahre und schließlich Das passende Leben sowie Zusammen leben. Was hat ihn bewogen, aus der rein wissenschaftlichen Arbeit an den Zürcher Longitudinalstudien etwas Neues zu machen, die Forschung in eine allgemein verständliche Form zu gießen? Nun prasselten die Interviewanfragen nur so ins Haus, fast täglich. Einladungen zu Vorträgen und Diskussionsveranstaltungen im ganzen deutschsprachigen Raum, Buchvorstellungen, Lesungen. Und währenddessen – von ihm völlig gleichwertig wahrgenommen – wuchs die Anzahl der Anrufer, die seinen Rat in ihrer ganz persönlichen Not suchten. Niemand wurde abgewiesen, immer klingelte das Telefon, stundenlang führte er Gespräche, so sieht es seine Ehefrau Brigitt und versucht, auch ihren Frieden damit zu machen, dass sie ihn von Beginn an teilen musste, mit so vielen.
Dass die Longitudinalstudien ein unerschöpflicher Schatz sind, war Remo schon sehr früh klar; was er alles daraus machen würde – nämlich eine der umfangreichsten Langzeitstudien über die Entwicklung von Kindern weltweit –, wahrscheinlich viel weniger. Diese, wie einige andere Langzeitstudien, die nach dem Zweiten Weltkrieg an verschiedenen Orten Europas und zuvor schon in Amerika initiiert wurden, waren fast so etwas wie der Startschuss zu einer neuen Disziplin. Die Entwicklungswissenschaften sind so alt wie Remos aktives berufliches Leben, sieht man von den Vorläufern einmal ab. Das ist aufregend und nicht gerade alltäglich. In einem Forscherleben entfaltet sich eine ganze Disziplin, die heute aus keiner Kinderarztpraxis mehr wegzudenken ist. Sein Leben ist also vom Takt seines jungen Fachs durchzogen. Fast alles, was heute in der Entwicklungspädiatrie als Standard gilt, wurde in seiner Lebens- und Berufszeit entworfen, entwickelt, vieles davon federführend von ihm selbst. Und bei alldem hat der Forscher Remo Largo sein Wissen stets in griffige, anwendbare Formeln gegossen und uns Sätze an die Hand gegeben, mit denen wir fortan leben: Das oft zitierte afrikanische Sprichwort »Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht« erlangte mit Remo Largo und seinen damit verbundenen Erklärungen zur kindlichen Entwicklung neue Berühmtheit.
Eine Schublade. Wieder Fotos. Remo als junger Mann, strahlend und gut aussehend. Remo beim Skifahren, elegant, versiert. Ein guter Sportler. Remo beim Segeln, Wandern. So habe ich ihn nicht gekannt. Bei unserem ersten Kennenlernen 1999 war er 56 Jahre alt, und schon damals hatte er eine angeschlagene Gesundheit. Was für ein junger Mann verbirgt sich also dahinter? Und wo saß Remos Schmerz? So will ich all die Misfits nennen, die aus dem Weg zu räumen bei allem Wissen und aller Erfahrung nie ganz möglich ist. Vielleicht ist es auch das, was man gemeinhin als Schicksal bezeichnet. Und doch gelingt es nicht vielen, ihr Schicksal derart in die Hand zu nehmen, die Beeinträchtigungen des Lebens nicht nur anzunehmen, sondern immer wieder in Chancen zu verwandeln und dadurch der eigenen Berufung auf den Grund zu gehen.
Das Haus in der Speerstraße war ein Ort, an dem alles austariert war, irgendwie im Gleichgewicht und Gleichgewicht spendend. Wohltemperiert und kühl im Inneren, wenn im Sommer draußen die Hitze tobte. Mit Liegen überall, nicht nur im Arbeitszimmer, nicht etwa, um überall schlafen zu können, sondern vielmehr, weil es die Gesundheit verlangte. Schon im Kinderspital musste es für Remo immer Möglichkeiten zum Hinlegen geben, sodass er in der Horizontale weiterarbeiten konnte. Dem angeschlagenen Gleichgewichtsorgan zuliebe. Es waren Einschränkungen, die kaum jemand bemerkte und die Remo, fast so, als würden sie nicht zu ihm gehören, rationalisierte und – sonst wäre es nicht Remo gewesen – das Beste daraus machte, ja sogar einen Vorteil daraus zu ziehen verstand. Nur in den letzten Jahren nahmen die Einschränkungen zu, musste er eisern Diät halten mit Eglifilet (dem Barsch aus den heimischen Gewässern), Reis und Salat. Schonkost, weil der Körper immer weniger vertrug. So wurde er zusehends zarter und schwächer – nur im Kopf blieb er bis zum Schluss ganz stark. Doch was hatte es mit dieser seltsamen Krankheit auf sich, die ihm drei Hirnschläge, jeweils im Abstand von etwa 20 Jahren, einbrachte? Wie hat sie Remos Leben beeinflusst? Wie ist er mit ihr umgegangen, und wie hat er sie viele, viele Jahre überlistet? Hat sie ihn sensibel gemacht? Hellhörig dafür, dass eben nicht alles möglich ist? Dass jedes Kind, ja jeder Mensch nur sein jeweils eigenes Leben leben kann?
Dieses Buch wird den Remo-Largo-Kosmos vermessen, Freunde und Weggefährten, Kollegen und Mitstreiter zu Wort kommen lassen, in unveröffentlichten Quellen und den vielen veröffentlichten Werken des Bestsellerautors nach neuen Antworten auf sein Leben und Wirken suchen und so noch einmal mit ihm und durch sein Leben alle uns hinterlassenen Lehren rekapitulieren. Über Kinder und ihr Aufwachsen, ihr Bindungsverhalten, die Schule und das Fit-Prinzip, Biologie, Evolution, Anthropologie, Religion. Über alles, was das Menschsein betrifft, und darüber, was es bedeutet, als Mensch für die Welt Verantwortung zu übernehmen, menschlich zu handeln, in jedem Augenblick Humanist zu bleiben, mit jedem Atemzug das Ganze im Blick zu haben und Sorge zu tragen für eine vielfach unsichere Zukunft. Der Entwicklungsforscher und Kinderarzt hat wie kaum ein anderer durch seinen Blick auf die Kindheit die Entwicklung der letzten 70 Jahre geprägt. Auch deshalb konnte, ja musste er ganz große Fragen stellen: Was treibt Entwicklung an? Beim Kind, in der Gesellschaft, in den einzelnen historischen Epochen? Was ist das Wesen des Menschen? Was macht ihn aus? Warum sind wir so und nicht anders? Wie anpassungsfähig sind wir als Menschheit, die doch fast ihre ganze Entwicklungsgeschichte hindurch in enger Verbundenheit mit der Natur und in kleinen, vertrauten Lebensgemeinschaften verbracht hat? Was bedeutet das für unsere Zukunft? Für unser Überleben auf dem Planeten Erde?
Ich bin wieder in seinem Arbeitszimmer. Öffne eine Schublade. Alte Briefe. »Lieber Herr Professor Prader«, heißt es in einem Brief vom 22. September 1976. »Wir sind mit der ganzen Familie gut in Kalifornien angekommen. Die Kinder haben die Reise besser überstanden, als wir es eigentlich erwartet haben – trotz Flugstreik und ca. 24-stündiger Reise.« Warum nicht hier anfangen? In Kalifornien. In den 1970er-Jahren. Mitten im Leben. Es gibt kaum einen besseren Ort, um diese Zeit und ihre Verlockungen zu verstehen, als die amerikanische Westküste. Und hier – so bin ich überzeugt – findet sich auch der Ausgangspunkt für unsere Geschichte, nämlich der Augenblick, in dem aus dem jungen Kinderarzt der Forscher und Entwicklungspädiater wurde, als der er später berühmt werden sollte. Also nichts wie hin. Alles steht auf Neuanfang.
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Faszination Entwicklung. Remo Largo. Ein Leben für unsere Kinder, Dokumentarfilm, von Monika Czernin und Aldo Gugolz, 2015
Am 20. September 1976 landet die Maschine der amerikanischen Trans World Airlines nach einem Zwischenaufenthalt in Boston und mit einer gehörigen Verspätung endlich am Los Angeles International Airport. Remo Largo, seine Frau Silvia und die beiden Kleinkinder, Eva und Kathrin, schälen sich müde aus den Sitzen, schnappen ihr Handgepäck und klettern die Treppe hinunter auf das Flugfeld und in den Flughafenbus. Als Fünfte im Bunde folgt ihnen Marlies Erni, das Schweizer Kindermädchen. Sie hat schnell noch die Kuscheltiere der Kinder von den Sitzen aufgelesen und die Pixibücher eingepackt. Es war eine lange Reise. Draußen erwarten die Familie die blendende Sonne Kaliforniens, der blaue Himmel und fast schon tropische Temperaturen.
Victor und Faye hatten versprochen, die Largos abzuholen und nach Pacific Palisades zu bringen, eine gute Autostunde vom Flughafen Richtung Nordwesten, hinter Santa Monica, dort, wo die langen Strände von Malibu und Santa Barbara beginnen. In den Hügeln hatten die Schumachers den Largos eine Wohnung organisiert, in der Kagawa Street, ein erstes kleines Home-away-from-Home, »nicht elegant, aber ausreichend geräumig«, wie Faye den wohl schon fast auf ihren Koffern Sitzenden in die Schweiz geschrieben hatte. Sie hat sogar einen kleinen Grundriss der Wohnung beigefügt, auch wenn sie nicht der Architekt der Familie war. Das war eindeutig Victor, ein gebürtiger Schweizer, der schon nach seinem Studium an der ETH in Zürich mit einem Stipendium an die Westküste gekommen und geblieben war. Das südkalifornische Leben – hier hatte er schließlich auch seine Frau Faye kennengelernt und geheiratet – war ihm zur Wahlheimat geworden. Der American Way of Life, wo jeder seines Glückes Schmied ist, und das helle Licht Kaliforniens – wie konnte all das einen nicht für diesen Teil der Welt einnehmen? Wie würde es den Largos ergehen? Würden sie auch hier für immer Fuß fassen? Würden sie all das Gute, den Optimismus, die vielen Chancen und Möglichkeiten sowie den Pragmatismus und die Herzlichkeit der Menschen hier erkennen können? All diese Fragen und Hoffnungen lese ich zwischen den Zeilen von Victor und Faye heraus, so umfassend ist das Rundum-Wohlfühl-Paket, das die Schumachers, sie waren Freunde von Silvias Bruder Beat Wolfer, den Neuankömmlingen geschnürt hatten.
Die Wohnung, in die Victor und Faye die fünf übernächtigten Europäer nun bringen, gehört Musikern, die sich für drei Monate auf Tournee an der Ostküste befinden. Es sei schwierig gewesen, hatte Victor im Vorfeld geschrieben, eine Mietwohnung zu finden, in Amerika kaufe schließlich jeder ein Haus, egal wie kurz die Zeit bemessen ist, in der man an dem Ort wohnt. Amerikanische Häuser sind für den schnellen Wechsel wie gemacht, meist voll möbliert, mit der immer gleich ausgestatteten Küche samt Riesenwaschmaschine, Geschirrspüler und Mikrowelle, von denen in Amerika, dem Land ihres Erfinders Percy LeBaron Spencer, damals schon eine Million im Jahr verkauft wurden. Und natürlich fehlt eine geräumige Garage für mindestens einen Ford oder Chevrolet nicht. Damals zog jeder fünfte Amerikaner einmal im Jahr um (ein Trend, der erst in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen ist). Die Wirtschaftswunderjahre versprachen, dass man schon allein durch den Hauswechsel zu Reichtum kommen würde, schließlich wurde alles beständig mehr wert. Wenn man seine Häuser also geschickt auswählte und immer in Gegenden zog, die gerade upcoming waren, konnte das äußerst lukrativ sein. In den 1970er-Jahren war vom Wirtschaftswachstum der 1950er-Jahre nicht mehr viel übrig, aber einen Gewinn beim Wiederverkauf des Hauses würde man trotzdem erzielen, wie Victor schreibt, der Gewinn wäre »so oder so sicher bei der heutigen Inflation«.
Die Wirtschaftskrise, ausgelöst durch das Ölembargo 1973, bei dem die OPEC-Staaten ihre Fördermengen drosselten, um die westlichen Länder wegen ihrer Unterstützung Israels im Jom-Kippur-Krieg unter Druck zu setzen, hält an. Die hohe Inflation sowie der massive Verlust von Arbeitsplätzen drücken nicht nur in Europa, sondern auch in Amerika auf die allgemeine Stimmung. Zum ersten Mal spüren die Menschen in den Industriestaaten, wie abhängig sie von fossiler Energie und den Ländern, die diese liefern, sind. Der Schock sorgt für hektische Maßnahmen – autofreie Sonntage in Deutschland, Energieferien in Österreich (diese höchst fragwürdige Maßnahme hält sich dort bis heute als Skiferien ohne positiven Einfluss auf die Energiebilanz). In Amerika kommt es zu einem politischen Erdbeben. Der Republikaner Gerald Ford wird bei den Präsidentschaftswahlen durch den Demokraten Jimmy Carter abgelöst. Remo Largo erinnerte sich zeit seines Lebens an diese für Amerika spannungsgeladene Zeit. »Die USA befanden sich in einer tiefen Depression. In der Medizin jedoch herrschte Aufbruchstimmung.« Und deshalb, wegen der Medizin, ist er hier. Doch zuerst muss die Familie in Los Angeles Fuß fassen, und dazu gehört der Kauf eines Autos.
»Wir leihen euch Fayes Camaro, denn man braucht in L. A. sogar ein Auto, um ein Auto kaufen zu können«, klären die Schumachers die Largos über die hiesigen Verhältnisse auf. Die Wirtschaftskrise tut dem amerikanischen Traum von der totalen Mobilität anscheinend keinen Abbruch. In Europa setzt ein erstes Umdenken in der Gesellschaft ein, und die Leute fangen an, sich zu fragen, ob an den Vorhersagen des Clubs of Rome, die Grenzen des Wachstums seien erreicht, etwas dran ist, ob das Wirtschaftssystem nachhaltig, die Glaubenssätze und Werte der 1950er-Jahre noch gültig sind. In der Folge entstehen in Europa die ersten grünen Parteien. In Amerika hingegen bleibt ein breiter Bewusstseinswandel trotz der Erfolge der Umweltbewegung aus, und der Kult um das Auto und das darum herum geschaffene Lebensmodell ist allgegenwärtig. Amerika ist bis heute das Land der Interstate-Highways, dieses auf Präsident Eisenhower zurückgehende Netz aus Schnellstraßen, der achtspurigen Autobahnen, die die Zentren der Großstädte mit den weit ins Land ausfransenden Schlafstädten verbinden, der schlechten öffentlichen Verkehrsverbindungen. Ein Lebensmodell, das wohl noch sehr lange irreversibel sein wird.