Requiem für einen Henker - Jacques Berndorf - E-Book

Requiem für einen Henker E-Book

Jacques Berndorf

4,4

Beschreibung

Es hätten für Siggi Baumeister ruhige Wintertage in der Abgeschiedenheit der Eifel werden können... Der Schnee fällt, die Katze erwartet Junge, und es muss Holz für den Ofen gehackt werden. Doch dann schickt ihn ein Nachrichtenmagazin zur Recherche in das Bonner Regierungsviertel, und mit einem Mal beginnt für ihn ein Albtraum. Er stolpert in das hektische Treiben einer Mordkommission. Ein Landstreicher wurde erschlagen, eigentlich höchstens eine Zehn-Zeilen-Meldung. Doch Baumeisters journalistischer Instinkt schlägt Alarm. Der Tote, soviel steht schnell fest, war nicht der, für den man ihn hielt. Die Ungereimtheiten häufen sich, Recherchen sollen halboffiziell unterbunden werden, er merkt erst fast zu spät, dass der Preis für seine Nachforschungen sein eigenes Leben sein könnte und dass er sich mit Leuten angelegt hat, vor denen er auch in der Eifel keinen Unterschlupf findet.

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Jacques BerndorfRequiem für einen Henker

Vom Autor bisher bei KBV erschienen:

Mords-Eifel (Hg.)

Der letzte Agent

Requiem für einen Henker

Der Bär

Tatort Eifel (Hg.)

Mond über der Eifel

Der Monat vor dem Mord

Tatort Eifel 2 (Hg.)

Die Nürburg-Papiere

Die Eifel-Connection

Eifel-Bullen

Jacques Berndorf ist das Pseudonym des 1936 in Duisburg geborenen Journalisten, Sachbuch- und Romanautors Michael Preute.

Sein erster Eifel-Krimi, Eifel-Blues, erschien 1989. In den Folgejahren entwickelte sich daraus eine deutschlandweit überaus populäre Romanserie mit Berndorfs Hauptfigur, dem Journalisten Siggi Baumeister. Dessen bislang jüngster Fall, Die Eifel-Connection, erschien 2011 als Originalausgabe bei KBV.

Berndorf setzte mit seinen Romanen nicht nur die Eifel auf die bundesweite Krimi-Landkarte, er avancierte auch zum erfolgreichsten deutschen Kriminalschriftsteller mit mehrfacher Millionen-Auflage. Sein Roman Eifel-Schnee wurde im Jahr 2000 für das ZDF verfilmt. Drei Jahre später erhielt er vom »Syndikat«, der Vereinigung deutschsprachiger Krimi-Autoren, den »Ehren-Glauser« für sein Lebenswerk.

Jacques Berndorf

Requiem für einenHenker

1. Auflage Februar 2006

2. Auflage Mai 2006

3. Auflage März 2007

4. Auflage Juli 2007

5. Auflage Februar 2008

6. Auflage September 2009

7. Auflage Juni 2010

8. Auflage Februar 2011

9. Auflage Januar 2013

© KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim

www.kbv-verlag.de

E-Mail: [email protected]

Telefon: 0 65 93 - 998 96-0

Fax: 0 65 93 - 998 96-20

Die Originalausgabe erschien 1990 im Verlag Bastei Lübbe

Umschlagillustration: Ralf Kramp

Satz: Volker Maria Neumann, Köln

Print-ISBN 978-3-937001-72-2

E-Book-ISBN 978-3-95441-007-1

»Ich erinnere mich, vor Jahren, als Howard Hawks den Film The Big Sleep drehte, stritten er und Bogart sich darüber, ob eine der Figuren ermordet worden war oder Selbstmord begangen hatte. Sie schickten mir ein Telegramm und fragten mich, und verdammt, ich wusste es auch nicht.«

Raymond Chandler in einemBrief an Hamish Hamiltonam 21. März 1949

Inhalt

Ein Wort vorab

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

Leseprobe aus: Der letzte Agent (von Jacques Berndorf)

Ein Wort vorab

Als Journalist hat er zwei Drittel der Erdkugel bereist, als Krimiautor hat er sich ganz tief in die Provinz zurückgezogen: Jacques Berndorf alias Michael Preute.

In der stillen Abgeschiedenheit der Eifel hat er eine neue Heimat gefunden, hat sich verabschiedet vom Lärm der Welt und hat in sich hineingehorcht. Und dann entstanden die »Eifel-Krimis« um den Journalisten Siggi Baumeister.

Berndorfs Gesamtauflage geht mittlerweile in Millionenhöhe, seine Fans kommen aus dem gesamten deutschsprachigen Raum. Sie alle dürsten nach immer neuen mörderischen Geschichten aus dem Landstrich, den der Autor selbst einmal ganz liebevoll als den »schönsten Arsch der Welt« bezeichnet hat.

Ein paarmal hat sich Jacques Berndorf einen Ausfallschritt erlaubt und hat sein Alter Ego Baumeister außerhalb der Buchreihe »Eifel-Bindestrich« ermitteln lassen. Nun hat der KBV die ehrenvolle Aufgabe übernommen, diese alten Schätze zu heben. »Der letzte Agent« – lange Jahre vergriffen – erlebte eine fulminante Wiederauferstehung. Dann folgte »Requiem für einen Henker«.

Die Berndorf-Fans in der Eifel und im Rest der Welt freuen sich, denn damit werden nun endlich die letzten Lücken im »Eifelkrimi-Kosmos« des Jacques Berndorf geschlossen.

Wir bedanken uns bei unserem Freund Michael Preute dafür, dass er uns und seinen Fans dieses Geschenk macht, und wir wünschen Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, viel Vergnügen mit Siggi Baumeisters rasanter Agentenjagd in Bonn und der Eifel.

Ihr KBV-Team

1. Kapitel

Leonhard Cohen sang drohend First we take Manhattan, die Katze Krümel raste in einem Anfall von Schwangerschaftsfieber über den Küchentisch und warf den Honigtopf um, das Telefon schrillte, die Türglocke läutete, und ein Mann brüllte: »Briketts!«

Da ich nicht gleichzeitig auf alles reagieren konnte, sah ich dümmlich zu, wie der große Honigtopf gemächlich zum Tischrand rollte, über die Kante verschwand und dann mit einem satten Flatsch auf den Fliesen landete. Es war ein sehr heller, sehr flüssiger Akazienhonig.

Cohen drohte zum zweiten Mal, jetzt auch Berlin zu nehmen, jemand versuchte, die Haustür mit Gewalt zu öffnen, das Telefon schrillte noch immer, Krümel war verschwunden.

Zwei Wochen lang hatte ich mich mit nichts auseinandersetzen müssen als dem Hämmern des Regens, dem klebrigen Nebel und der ermüdenden Hetze der Gedanken in ganz kleinen, tödlichen Kreisen.

Dieser Anfall von hektischer Betriebsamkeit machte mir zu schaffen.

Der Reihe nach also. Ich schlurfte zur Haustür. Draußen war der Fahrer von der Raiffeisenkasse, und ich sagte ihm, er solle die Briketts vor die Garage kippen, aber ein Stück neben das Tor bitte, damit ich mein Auto noch erreichen könne. Er erwiderte beleidigt, das Auto würde er mir schon nicht zuschütten, und verschwand aus meinem Blickfeld. Das Telefon schrillte noch immer, Cohen hatte seine Eroberungspläne aufgegeben, stattdessen röhrte eine Jungmännertruppe begeistert Life is Life, Krümel duckte sich im Flur hinter meine Gummistiefel und sah so aus, als wolle sie mich überfallen. Ich machte als Nächstes das Radio aus.

Den Honig ließ ich fürs Erste Honig sein und ging ans Telefon. Es war Grabert, und er klang wie immer ziemlich verbittert. Er fühlte sich unterbezahlt. »Wie ist das Wetter bei Ihnen in der Eifel? Kriegen wir noch richtigen Schnee? Mein Gott, dieser furchtbare Winter!«

»Wir haben Regen und Nebel und Temperaturen um fünf Grad plus. Die Sicht liegt ständig unter fünfzig Metern. Das ist seit drei Monaten so, und ich bin hochdepressiv.«

»Dann habe ich etwas für Ihre Genesung, ein Stück pralles Leben. Können Sie schnell für mich nach Bonn fahren?«

»O je, ich mag nur die Altstadt, nicht das Regierungsviertel. Da laufen mir zu viele Kolleginnen und Kollegen im Zustande höchster Erleuchtung herum.«

Grabert gluckste. »Diese Sache haben wir aber exklusiv, da kann Ihnen keiner dazwischen. Eine hochfeine Geschichte.«

Immer, wenn Grabert behauptet, er habe eine hochfeine Geschichte, kann man sicher sein, dass es irgendwie mit Geschlechtsverkehr zu tun hat.

»Wer bumst also mit wem?«

»Nicht doch, nicht doch.« Er flötete wie ein Dompfaff, und ich konnte förmlich sehen, wie er fünf Wurstfinger innig auf sein Herz legte. »Tausend auf die Schnelle, wenn Sie die Geschichte hinkriegen.«

»Und wenn ich sie nicht hinkriege?«

»Die Hälfte.«

Ich dachte daran, dass ich die Briketts bezahlen musste und etwas für die Rente tun sollte. Also sagte ich: »Lassen Sie es raus.«

»Also, das Familienministerium ist bekanntlich an der Aidsfront sehr aktiv. Die Ministerin hat einen gewissen hohen Beamten mit einem Bumsbomber nach Thailand geschickt. Wilhelm Blechschmidt heißt der Typ. Er sollte herausfinden, wie die Deutschen da unten in den Puffs mit der Furcht vor Aids umgehen. Das war vor vierzehn Monaten. Er ist auch wirklich hingeflogen, aber er hat sich einen Dreck um Aids gekümmert. Stattdessen hat er eine Thaifrau aufgerissen, ein Superweib. Die hat er mitgenommen nach Bonn und ihr ein Prachtappartement gemietet. Seine Ehe ist natürlich im Eimer, und er hat sich den zweiten Frühling auf Staatskosten finanziert. Nicht schlecht, was?«

»Wenn es stimmt. Und Sie, was wollen Sie?«

»Ich will ein Interview mit dem Mann. Nein, nein, nicht was Sie denken, nicht kaputtmachen den Kerl. Ich will ihn sagen hören, dass die deutschen Ehefrauen langweilig sind und dass die Thaimädchen Feuer im Hintern haben. Und Fotos von der Kleinen will ich auch, möglichst geile.«

Grabert ist eine Speerspitze des deutschen Journalismus, Grabert schreibt wöchentlich eine Kolumne, in der er sich um die politische Moral der Deutschen kümmert und vor dem allgemeinen Verfall warnt. Damit wir alle auch präzise wissen, was er meint, bringt er Schmuddelgeschichten aus Bordellen und titelt sie so: Wie Freudenmädchen Katharina S. (23) die große Liebe fand, oder: Ich war meinem Zuhälter hörig, bis Horst (31) kam!

»So ein Interview kriege ich nie, wenn der Mann nicht krank ist.«

»Sie kriegen es. Wenn es überhaupt einer kriegt, dann Sie.«

Er war lästig, ich wollte ihn loswerden und sagte: »Na gut.« Dann hängte ich ein.

Krümel sprang auf den Schreibtisch und starrte mich vorwurfsvoll an. Mit Hilfe alter Kissen und einer noch älteren Pferdedecke hatte ich ihr sechs Tage lang an den besten Stellen im Haus immer neue Nester für ihre Niederkunft gebaut. Sie hatte an allen gerochen und sich gelangweilt abgewendet.

»Ich baue für dich und die Kleinen ein Nest unter dem Schreibtisch«, erklärte ich ihr jetzt. »Da bist du immer bei mir und kannst deine Jungen auch mal alleine lassen, in Ordnung?«

Sie streckte die rechte Vorderpfote vor und leckte sie genüsslich ab. Sie wollte mehr, und offensichtlich wusste sie, dass ich das wusste.

»Aber auf dem Schreibtisch geht das nicht«, wehrte ich mich. »Das musst du verstehen … Und jetzt scher dich weg, ich muss für dein Fressen etwas tun.«

Aber sie blieb sitzen, starrte mich an und leckte sich schließlich den Bauch. Dann seufzte sie tief und legte den Kopf auf das Telefon. Schwangere Katzen sind nur schwer zu ertragen.

Ich schob sie beiseite und rief im Bonner Familienministerium an. Es war gar nicht schwer, diesen Blechschmidt an den Apparat zu bekommen. Er hatte eine ganz sympathische Stimme.

Ich legte meine Karten sofort auf den Tisch. »Das ist fast peinlich privat. Ich heiße Baumeister, bin Journalist und habe den Auftrag, ein Interview mit Ihnen zu machen. Es geht um Ihre Lebensgefährtin, die Dame aus Thailand.«

Ich hielt es für das Beste, gerade auf das Ziel loszugehen, und hatte dabei die berechtigte Hoffnung, er werde mich auf zivilisierte Weise zum Teufel schicken und den Hörer einhängen.

Stattdessen lachte er und sagte: »Ich habe mich schon gefragt, wie lange es noch dauert. Na gut, besuchen Sie mich zu Hause. Am besten heute Abend, da habe ich Zeit. Sagen wir um acht zum Abendessen, passt Ihnen das?«

»Danke«, sagte ich verblüfft. Ich notierte die Adresse und bedankte mich noch einmal artig. Dann ging ich den Honig in der Küche an. Es dauerte fast eine Stunde, und anschließend gab es dort kein Möbelstück, das nicht klebte. Schließlich zog ich die Ackerkluft an und begann die Briketts zu stapeln, die natürlich doch zum größten Teil vor der Einfahrt lagen. Das war trostlos, bis ich mir fest einbildete, es trainiere die Muskeln und mache meine Bauchdecke wieder jugendlich und fest.

Krümel hatte sich hoch auf einen Stapel Buchenholz gehockt und sah mir zu. Ab und zu leckte sie sich über den Bauch, um ihren ungeborenen Jungen wärmende Mutterliebe zu geben. So brachten wir den Tag hin, bis ich gegen Abend badete und mich landfein machte.

Über Adenau fuhr ich ins Ahrtal ein, dann die endlosen Kurven bis Altenahr und über die Höhen zum Autobahnkreuz Meckenheim. Es hatte keine Minute aufgehört, in feinen, eindeutig grauen Tropfen zu regnen. Inzwischen schwelgte die Landschaft in Düsternis, sie schien aufgehört haben zu atmen, es gab nirgends klare Horizonte. Um nicht von der ganzen Trübsal angesteckt zu werden, schob ich ein Band von Harry Belafonte ein. O Island in the sun …

Blechschmidt wohnte in einem der modernen Blocks auf den Äckern am Südrand der Stadt. Er war ein auffallend schlanker Mann, um die fünfzig, und begrüßte mich mit wachsamer Zuvorkommenheit. Ein bisschen erinnerte er mich an einen freundlichen Habicht, der allerdings genau wusste, was er wollte. Er trug einen teuren dunkelgrünen Samtanzug über einem grauen Rollkragenpullover, und mir kam er vor wie jemand, der kein bisschen Angst vor dem Alter hat.

Er bat mich in einen Wohnraum, der etwa so groß war wie ein halber Tennisplatz, dabei aber durchaus kultiviert wirkte. Bei der Einrichtung war man offenbar nach der Devise vorgegangen: Man muss nicht über Geld reden, man kann es auch in Möbeln anlegen.

»Setzen Sie sich, wohin Sie wollen«, sagte er mit seiner angenehmen Stimme und strich sich eine silberne Haartolle aus der Stirn. »Cognac, Bier, Wein, oder was?«

»Ein Wasser, bitte. Und ich will Ihre Zeit nicht länger beanspruchen. Ich fühle mich sowieso nicht wohl bei diesem Thema.«

»Es scheint auch nicht so recht zu Ihnen zu passen«, meinte er und verschwand irgendwohin, um das Wasser zu holen. Dabei erklärte er: »Ich habe über unsere Pressestelle erfahren, wer Sie sind. Man liebt Sie nicht sonderlich, weil Sie Ihre Ecken und Kanten haben, aber man nimmt Sie ernst.« Er war hinter einer Wand verschwunden, an der ein hervorragender Druck von Chagall aus der Jerusalem-Zeit hing. »Wie kommen Sie überhaupt an dieses platte Thema, Herr Baumeister?«

»Weil ich freischaffend bin, weil ich etwas für meine Rente tun muss. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich einfach rausschmeißen würden, anstatt auf meinem im Augenblick eher schwachen Selbstbewusstsein herumzutreten. Darf ich vorher noch eine Pfeife rauchen?«

»Ja, sicher.« Er tauchte wieder auf und hatte eine Flasche Gerolsteiner Sprudel so in die Armbeuge gelegt, als trüge er etwas Kostbares aus dem Weinkeller. »Es kursieren wilde Gerüchte über mich und mein Privatleben. Alter Wüstling verlässt Frau und Kinder, holt sich eine Schönheit aus Thailand ins Haus, spielt verrückt und trägt hin und wieder sogar im Dienst einen Jeansanzug ohne Krawatte. Ist es das?«

»Nicht ganz. Wenn ich meinen Auftraggeber richtig verstanden habe, soll ich Sie nach Einzelheiten Ihres Sexuallebens fragen und Ihre Lebensgefährtin um ein paar mindestens obszöne Fotos bitten.« Ich stopfte mir die Straight Grain von Jeantet und sah zu, wie er mit vollkommen ruhigen Händen die Wasserflasche öffnete, mir etwas eingoss, sich einen Cognac nahm und dann zufrieden in einen Ledersessel setzte. Er war sichtlich erheitert und nicht die Spur nervös.

»Weshalb haben Sie mich eingeladen?«

Er lächelte und öffnete die Hände zu einer friedvollen Indianergeste. »Um vorzubeugen. Ich weiß, dass irgendwelche Leute aus dem eigenen Ministerium an meinem Stuhl sägen. Die sicherste Methode, einen missliebigen Mann aufs Kreuz zu legen, ist immer noch die, ihn gewissermaßen nebenbei auf der privaten Ebene zur Strecke zu bringen. Als Sie anriefen, kam mir der Gedanke, es könnte wichtig sein, Ihnen zu sagen, was wirklich mit meinem Privatleben ist.«

»Und was ist wirklich damit?«

»Es ist normal, denke ich. Ich bin aus Bremen, wie Sie sicher wissen, ein normal sturer Norddeutscher. Die Ministerin bat mich, hier in Bonn für sie zu arbeiten. Bereits damals, vor vier Jahren, habe ich mich von meiner Familie getrennt. Ich kannte die Dame aus Thailand noch gar nicht. Es ist richtig, dass sie meine Lebensgefährtin ist. Es ist nicht richtig, dass ich sie auf einer Reise nach Thailand kennen lernte. Das war in Rom, genauer gesagt in einem Krankenhaus. Sie ist nämlich eine auf Herzfehler spezialisierte Kinderärztin. Sie ist zweiundvierzig Jahre alt und arbeitet hier an der Uni-Klinik. Im Moment macht sie für uns das Abendessen.« Er lächelte, er war zufrieden mit sich und der Welt.

»Wollen Sie sie heiraten?« Das war eine dümmliche Frage, ich setzte schnell hinzu: »Ich suche nach Munition, um die Story zu killen.«

Er beugte sich vor, griff nach einer Schachtel mit Mentholzigaretten, zündete sich eine an und murmelte: »Das ist der Knackpunkt der Geschichte, und da werden die Gerüchte auch so ekelhaft. Wir sind längst verheiratet, seit einem guten Jahr.« Dann paffte er den Rauch weit über den Tisch und lachte. »Ich habe Sie eingeladen, um Ihnen das zu sagen. Und damit ist die Geschichte eigentlich keine Geschichte mehr.«

»Das war sie wohl nie«, sagte ich.

»Wer wollte das denn drucken?«

Ich war in Versuchung, eine detaillierte Schilderung des Meinungsmachers Grabert zu geben. Mit einem Seufzer entschied ich mich anders. »Das sage ich nicht. Täte ich es, wäre ich ein Nestbeschmutzer. Sind Sie glücklich?«

»Ja. Ihr Tabak riecht gut.«

Seine Frau hieß Anabelle, war auf eine sehr knabenhafte Art schlank und hübsch, dazu heiter und klug. Sie sagte, sie sei in einer Upperclass-Familie streng katholisch erzogen worden und habe von so etwas wie Sexualität erst durch einen gewissen Blechschmidt in Bonn erfahren. Wir schwätzten bis weit nach Mitternacht, ehe ich erleichtert und widerwillig ging.

Es regnete noch immer, es war noch immer neblig, und Bonn-Süd war trostlos.

Irgendwer hat einmal formuliert, Bonn sei halb so groß wie der Zentralfriedhof von Chicago, aber doppelt so tot. Der Mann hat sicherlich noch untertrieben, was das Regierungsviertel angeht, aber ebenso sicher war er nie in der Innenstadt. Ich wusste ein paar nette Gaststätten, die mir anheimelnder erschienen als die Aussicht auf eine Fahrt durch die Eifel. Es war zwei Uhr morgens, als ich in einer Gaststätte im gutbürgerlichen und meist gut gelaunten Poppelsdorf den letzten Kaffee trank und in meinen Wagen stieg.

Ich weiß heute nicht mehr, warum ich unbedingt in das Regierungsviertel wollte. Mit Sicherheit nicht aus irgendeiner Vorahnung heraus. Am wahrscheinlichsten ist, dass ich einfach durch die Stadt fahren wollte – nur schauen, was los ist, um mit vager Befriedigung festzustellen, dass nichts los ist.

Ich erinnere mich, dass ich die Adenauerallee in Richtung Bad Godesberg fuhr und mir selbst vorhielt, was für ein Idiot ich sei, nachts durch das grauschwarze Bonn zu kurven. Ich weiß auch noch, dass ich am Palais Schaumburg vorbeikam, dann am Bundeskanzleramt. Danach muss ich nach links in die Welckerstraße eingebogen sein; in der Dahlmannstraße in Höhe des Presse- und Informationsamtes parkte ich den Wagen. Wie so oft fragte ich mich, wieso dieses Amt ausgerechnet Informationsamt genannt werden möchte. Ich muss den Trenchcoat übergezogen haben, weil ich später einen großen Blutfleck am rechten Ärmel entdeckte. Den Weg, den ich ging, kann ich rekonstruieren.

Ich ging in Richtung Stresemannufer, bog nach rechts auf die Uferstraße ab, kam also am Haus des Bundesrats vorbei. Der Fluss lag dunkel und trist im Nebel wie ein betonierter Wurm. Nichts regte sich.

Zwei Männer vom Bundesgrenzschutz kamen mir entgegen, ich sagte gut gelaunt: »Selbst, wenn Sie es nicht glauben: ich gehe spazieren.«

Sie lachten und gingen weiter, und ich blieb am Ufer stehen – ungefähr in Höhe der Schiffsanlegestelle, mit dem Rücken zum Wasserwerk, in dem der Bundestag seine Notunterkunft hat. Mit dem Rücken auch zur Baustelle des neuen Bundestages, die uns noch jahrelang erhalten bleiben wird. Ich stopfte mir die gebogene Redwood, die so gut unter meinen Schnurrbart passt, und schmauchte vor mich hin. Ich fragte mich erneut, was ich denn hier wollte, als mir die Autos auffielen. Sie hatten allesamt die Scheinwerfer eingeschaltet, auf zweien von ihnen kreiste das blaue Licht. Sie standen auf dem Parkplatz des Abgeordnetenhochhauses, des Langen Eugen, wie die Bonner in Anspielung auf den geistigen Vater dieser architektonischen Scheußlichkeit sagen.

Endlich war etwas los.

Also machte ich mich gemächlich auf, um zu sehen, was denn da Furchtbares geschehen war. Vermutlich hatten sie eine alte Keksdose gefunden und wussten nicht, ob es eine Bombe war oder eine Keksdose.

Ich hatte es überhaupt nicht eilig, nichts vom Fieber brennender Neugier, nichts von jenen idiotisch hektischen Erwartungen, die angeblich den guten Journalisten ausmachen.

Im Sommer ist es grün hier, Kastanien geben Schatten, müde Touristen stehen Schlange an zwei trostlosen Kiosken und kauen vertrocknete Frikadellen.

Man hatte die Wagen so in einen Kreis gefahren, dass ihre Scheinwerfer sich gegenseitig anschielten. Es war ein kleiner Kreis, etwa zwanzig Meter im Durchmesser. In seiner Mitte lag sehr unordentlich ein Mensch auf dem Bauch, ein Mann.

Es waren ein paar Uniformierte da, aber die meisten der hektischen Akteure waren in Zivil. Sie rannten hin und her, sie fotografierten, sie maßen aus, sie sprachen miteinander, sie gebärdeten sich ungeheuer wichtig. Sie waren alle schlecht gelaunt. Alles in allem zählte ich zwölf Männer.

Jemand brüllte gereizt: »Das Licht reicht mir nicht. Fahr den Mast aus und gib mir Saft von oben!« Ein anderer rief hektisch: »Dass mir keiner an den Knaben geht, bevor wir alles fotografiert haben!« Ein Dritter dicht neben mir seufzte bitter: »Es war so eine schöne, ruhige Nacht, verdammt.«

Jemand gegenüber im Dunkeln zwischen den Scheinwerfern meinte ungerührt: »Regt euch nicht auf, Jungens, das ist ein Penner, das sieht man doch. Und ein anderer Penner hat den kaltgemacht, ganz einfach.«

Ein Uniformierter fasste mich ganz behutsam an der Schulter. Er grinste mich freundlich an.

»Wer sind Sie denn?«

»Spaziergänger«, sagte ich. »Ich komme zufällig vorbei.«

»Könnten Sie dann auch zufällig weitergehen?«

»Das glaube ich nicht, denn zufällig bin ich auch von der Presse.«

Eine Männerstimme wie aus dem Kino der Fünfziger sagte zwischen Anfällen von Raucherhusten: »Sag mal, riecht ihr Pressefritzen jetzt schon unsere Leichen?« Er stand plötzlich im Licht. Er hatte ein sehr rotes Gesicht, eine von der Grippe fast violette Nase und trug eine Art Pepitahut. Er war ein kleiner, kugeliger Mann. Er kam durch den Kreis auf mich zu und starrte mich aus irritierenden Augen an. Es waren Echsenaugen, schmal und gelb gesprenkelt. Die Lider senkten sich unendlich langsam und hoben sich genauso langsam wieder.

»Ich gehe wirklich spazieren, und hier ist mein Presseausweis«, sagte ich.

Er nahm den Ausweis, sah uninteressiert hinein, gab ihn mir zurück und schniefte: »Guttmann. Ich mache die Mordkommission. Ich brauche wohl nicht erst zu fragen, ob Sie vorher schon hier waren oder vorbeigekommen sind und Ihnen irgendetwas aufgefallen ist?«

»Nein.«

»Hm. Diese Geschichte hier ist eine kleine, miese, brutale Sache, und Sie werden sie nicht einmal lokal auswerten können. Zehn-Zeilen-Meldung, mehr nicht.«

»Ich will sie ja gar nicht auswerten, ich mag Arbeit eigentlich nicht. Aber wer ist der Tote überhaupt?«

»Weiß ich noch nicht.« Er machte eine Pause, und ich dachte, er könnte hervorragend die deutsche Stimme des John Wayne sein.

»Er sieht jedenfalls aus wie ein Penner. So wie er da auf dem Bauch liegt, haben wir ihn auch gefunden. Jemand hat ihm den Schädel eingeschlagen, vermutlich mit dem Stein, der daneben liegt. Die Flasche, aus der sie gesoffen haben müssen, liegt auch noch daneben.«

Hoffentlich war er wenigstens richtig weggetreten, als es passierte, dachte ich. Der arme Kerl, der hier in einer derart ungemütlichen Nacht wie ein deplatziertes Häufchen Lumpen geendet war, tat mir für einen Moment unendlich leid. Nicht einmal jetzt interessierte sich jemand wirklich für ihn; er war nur die unwillkommene Unterbrechung eines ungeliebten Bereitschaftsdienstes. Aber ich würde mich für ihn interessieren, nahm ich mir vor, ganz privat, auch wenn hier ganz bestimmt keine Story zu holen war.

»Ich lasse die Spurenfritzen erst zu Ende werkeln«, murmelte Guttmann. »Dann drehen wir ihn um.«

Das dauerte noch gute zwanzig Minuten, und ich erfuhr inzwischen von Guttmann, dass er böse sechsundfünfzig Jahre alt war, seit vierzehn Tagen eine schwere Grippe hatte und seit eben diesen vierzehn Tagen seine Frau kaum gesehen hatte.

»Na, kommen Sie«, sagte er gutmütiger, als ich ihm bei seinen kalten Augen zugetraut hätte, »Sie sollen auch nicht leben wie ein Hund.« Dann ging er vor mir her zu der Leiche hin und fragte laut in die Runde: »Alles okay, kann ich ihn umdrehen?«

Irgendwelche Männer brummten aus dem Dunkel ein verdrießliches »Ja«, und Guttmann beugte sich nieder und griff den Toten an der Schulter und am Oberschenkel. Dann wuchtete er ihn mit einer einzigen, überraschend geschickten Bewegung herum.

»Du lieber Himmel, der stinkt wie eine Fuselfabrik.« Er drehte sich zu mir um. »Sehen Sie? Ein Penner! Sagte ich doch.«

Der tote Mann hatte einen Dreitagebart und sah ungeheuer friedvoll aus. Er mochte fünfundvierzig oder fünfzig Jahre alt geworden sein.

»Ihr könnt jetzt fotografieren«, sagte Guttmann.

Ich nahm die Nikon AF aus der Tasche, die ich immer mit mir herumtrage, und fotografierte das Gesicht des Toten.

»Wie kommt eigentlich um diese Zeit ein Penner ausgerechnet hierher?«

»Das ist nichts Besonderes«, erklärte Guttmann. »Ein paar von denen ziehen ständig am Rhein entlang. Das sind wahrscheinlich die einzigen Bundesbürger, mit denen unsere Abgeordneten in direkten Kontakt kommen. In Bonn gehen sie in die Tiefgarage, weil es draußen zu kalt ist. Der hier hat es eben nicht mehr bis dahin geschafft. Nach dem kräht garantiert kein Hahn mehr. Sind die eigentlich praktisch, diese kleinen Kameras?«

»Sehr. Alles automatisch. Werden diese Penner registriert?«

»Die sind alle registriert. Wenn nicht bei uns, dann in den Nachbarcomputern. Die Brüder kennen wir, die machen erkennungsdienstlich keine Schwierigkeiten. Kann ich dem jetzt an die Figur, Jungs?«

Einer der Fotografen nickte, und Guttmann klappte vorsichtig das uralte, braune Jackett des Toten auf.

»Sieh mal an, sogar eine Brieftasche. Noch dazu eine gute aus Leder. Und wer sagt’s denn, der Junge hatte sogar einen Ausweis.« Er blätterte in den Papieren. »Wollen Sie mitschreiben?«

Ich wollte ihn nicht enttäuschen und wenigstens irgendwie wie ein Pressefritze agieren. Also holte ich einen Block aus der Tasche, zückte den Kugelschreiber und murmelte: »Dann diktieren Sie mal!«

»Also: Der Ausweis scheint in Ordnung. Ausgestellt vor acht Jahren hier in Bonn, einmal verlängert. Name: Lewandowski. Vorname: Alfred. Alter: jetzt siebenundvierzig. Wohnhaft … wohnhaft ist er nicht, ohne ständigen Wohnsitz. Na ja, was Wunder. Sonst ist nichts in der Brieftasche, absolut nichts. Mal sehen, was er noch bei sich hat. Hier in der Hosentasche ist ein Schlüssel, ein einzelner Schlüssel für ein Sicherheitsschloss. DOM-Schloss, also Hersteller DOM in Köln. Warte … hier in der linken Hosentasche ist Geld – Moment noch … ja, Scheine und Münzen. Mann, der Junge war ja reich, richtig reich! Das sind … dreihundertsechzig Mark und zwanzig Pfennig. Hm.« Er blickte mich nachdenklich aus seinen Echsenaugen an, aber er sah mich nicht. Er dachte konzentriert über etwas nach.

Ich fotografierte den Stein, mit dem irgendein Mensch dem Alfred Lewandowski den Schädel eingeschlagen hatte. Dann noch ein paarmal sein Gesicht, seine Hände, die Figur total, die Schnapsflasche. Es war Korn, er hatte bei ALDI 6,20 Mark gekostet.

»Wie lange werden Sie brauchen, um den Mörder zu finden?«

»Das wird gar kein Mord sein«, sagte Guttmann abwesend. Man sah, wie wenig Spaß ihm diese Fledderei machte, aber er durchsuchte die Leiche mit akribischer Sorgfalt weiter, während er mit mir redete. »Sehen Sie, diese Leute saufen immer bis zur Bewusstlosigkeit. Und dann passiert so etwas eben. Wahrscheinlich weiß der Täter gar nicht, dass er seinen Kumpel erschlagen hat. Wahrscheinlich liegt er irgendwo, schläft seinen Rausch aus und wundert sich dann, dass der alte Berber Lewandowski nicht mehr da ist. So was ist Routine, reine Routine. Schreiben Sie was drüber?«

»Nein, wahrscheinlich nicht. Es ist höchstens ein Thema, weil er auf dem Parkplatz der Mächtigen erschlagen wurde.« Ich gab ihm meine Karte. »Nein, ich werde wohl nichts schreiben. Rufen Sie mich an, wenn doch irgendetwas außergewöhnlich ist? Ich wohne in der Eifel. Da gibt es keine Penner.«

»Ich rufe Sie an, wenn noch etwas Merkwürdiges kommt, aber rechnen Sie nicht damit. Na, da laust mich doch der Affe!« Guttmann zog mit zwei Fingern ein Stück Papier aus der Brusttasche des Toten und hielt es ins Licht. »Eine Bahnkarte. Und das gleich vom Feinsten: Rückfahrt erster Klasse nach Basel. Nach Basel! Das soll einer verstehen. Nicht benutzt, völlig jungfräulich sozusagen.«

»Ein komischer Penner, nicht wahr?«, murmelte ich und sah Guttmann an. Er antwortete nicht, sondern hockte bloß da und starrte die Fahrkarte an. Für einen Moment sah er so aus, als hätte er keinen Hals mehr, als habe er gerade schlimme Prügel bezogen.

Ich ging zurück – nicht den Weg am Rheinufer entlang, sondern durch die Görresstraße und die Saemischstraße direkt zu meinem Wagen. Ich hatte keine Lust mehr, durch das nächtliche Bonn zu flanieren. Am Nordverteiler bog ich auf die Autobahn Richtung Koblenz, in Wehr fuhr ich wieder ab. Ich nahm den Weg über den Nürburgring und drehte mächtig auf, als könne das helfen.

Auf der langen Geraden, die zu den Haupttribünen führt, kam der Wagen ins Schleudern, als ich stur durch eine riesige Pfütze rauschen wollte. Ich brachte ihn zum Stehen, nicht mit Geschick, sondern mit Glück. Ich stieg aus und hielt mein Gesicht in den Regen. Ich zitterte.

Im Licht der Scheinwerfer sah ich den großen Blutfleck an meinem Trenchcoat. Als ich das Gesicht des Toten fotografiert hatte, war ich ihm wohl zu nahe gekommen. Irgendwann stieg ich wieder ein und fuhr im Schritttempo nach Hause. Krümel lag auf meinem Kopfkissen und beklagte sich mauzend, und ich sagte: »Halt die Schnauze!«

Schlafen konnte ich nicht. Nach einer halben Stunde stand ich wieder auf und machte mir einen starken Kaffee. Ich hockte an meinem Schreibtisch, starrte durch das Fenster in den Regen und fragte mich, ob der Kriminalbeamte Guttmann schon wusste, dass Lewandowski gar nicht Lewandowski war. Aber vielleicht irrte ich mich auch, vielleicht war das alles nur eine Folge von Schlafmangel und übersteigerter Phantasie.

Ich ging hinauf ins Badezimmer und entwickelte den Film. Auf den nassen Abzügen sah Lewandowski aus wie ein Penner, und vielleicht war er auch einer. Doch ich zweifelte stark daran, auch wenn ich noch nicht genau bestimmen konnte warum.

Er hatte ein schmales Gesicht, von dunkelblonden, strähnigen Haaren umrahmt, die an den Schläfen grau wurden. Der Mund wirkte überraschend empfindsam, die Nase war klein und gerade. Seine Augen mussten, als sie noch funktioniert hatten, grau gewesen sein, so grau wie Eiswasser auf einer zugefrorenen Pfütze. Ein fast asketisches Gesicht, schmal in den Wangen, eingefallen wie das Gesicht eines Mannes, der viel im Freien ist, der das Joggen übertreibt, vielleicht magenkrank ist. Aber das mochte natürlich am Tod liegen. Ich vergrößerte ein Stück des Gesichtes heraus, die linke Hälfte vom Kinnbogen bis unter das Auge. Der Bart schien tatsächlich drei bis vier Tage alt zu sein. Aber die Haut war, trotz der Bartstoppeln, sehr glatt, sehr gepflegt, kleinporig. Ich vergrößerte die Stirn heraus. Da war es noch deutlicher zu sehen: Das war nicht die Haut eines Mannes, der wie ein Penner lebt. Viel zu glatt, viel zu sanft.

Krümel saß auf dem Badewannenrand und sah mir zu. Im Rotlicht schimmerten ihre Augen wie kostbare Jadestücke.

»Vielleicht war er ein ganz neuer Penner«, überlegte ich. »Es kann ja vorkommen im Leben, dass jemand abrutscht, abstürzt, keine Lust mehr hat, plötzlich zum Penner wird. Vielleicht war Lewandowski einer von dieser Sorte? Was meinst du, Katze?«

Sie antwortete mir nicht direkt, sondern leckte sich bedeutungsvoll die Pfote.

»Okay, ich werde mir die Haare ansehen, ob er sie selbst geschnitten hat oder vielleicht ein Kumpel dran herumsäbeln durfte.«

Ich vergrößerte also die Haaransätze heraus, an den Schläfen, wo kein Blut und keine Hirnmasse alles verklebt hatten. Trotz Regen und Dreck wurde eines klar: Da war ein Friseur dran gewesen, kein Amateur. Die feinen Abstufungen waren deutlich zu erkennen; das musste einmal ein teurer Messerschnitt gewesen sein.

Endlich die Hände: feinnervig, mit langen Fingern und zwar schmutzigen, aber völlig intakten Nägeln. Keine rauen Hautstellen im Winkel zwischen Haut und Nägeln, nicht einmal Schmutz.

»Dieser Lewandowski war nie im Leben ein Penner«, erklärte ich Krümel. »Oder er war erst seit gestern in der Branche.«

Dieser Guttmann von der Mordkommission hatte einen intelligenten Eindruck gemacht, er musste das alles gesehen haben. Er hatte den Mund gehalten. Soviel zum Vertrauen zu Männern mit Echsenaugen.

»Du könntest mir helfen, Katze, und mir sagen, wer Lewandowski wirklich war, als er noch lebte. Du und deinesgleichen, ihr wart in Ägypten heilig, weil eure Augen aussehen, als leuchte aus ihnen die Weisheit. Also sag’s mir, denn Guttmann wird es uns nicht sagen wollen. Oder er darf nicht.«

Aber Krümel half mir nicht, sie streifte hinter mir her in das Arbeitszimmer und sah mir zu, wie ich in meinen Karteikästen wühlte. Das brachte nichts. Dann nahm ich mein Tagebuch vom vergangenen Jahr, was aber auch nichts half, da ich nicht den geringsten Anhaltspunkt hatte, wonach ich eigentlich suchen sollte. Schließlich legte ich mich auf das Sofa und dachte nach. Ich war schon fast eingeschlafen, als Krümel auf meinen Bauch sprang, sich etliche Male drehte, ehe sie sich zusammenrollte, ausgiebig gähnte und zufrieden schnurrend die Augen schloss.

Um elf Uhr wurde ich wach, weil das Telefon läutete, und ich wusste augenblicklich, dass es Guttmann war.

»Guten Morgen«, sagte er aufgeräumt. »Ich wollte Ihnen nur schnell mitteilen, dass Sie in der Sache Lewandowski nichts mehr zu erwarten haben. Wir haben den Mörder, oder richtiger den Totschläger. Die Fahndung hat ihn heute Morgen in der Tiefgarage am Bonner Markt erwischt. Der Penner hat zugegeben, dass Lewandowski sein bester Kumpel war und gestern mit ihm gesoffen hat. Sie wollten in der Tiefgarage schlafen und heute Morgen zu den Barmherzigen Schwestern gehen und sich eine Suppe geben lassen. Der Mann sagt, er kann sich an nichts erinnern. Er weiß aber noch, dass Lewandowski zwei oder drei Flaschen Schnaps spendiert hat. Die haben dermaßen gesoffen, dass ihnen der Faden gerissen ist.« Kurzes Zögern. »Ich glaube das sogar, denn er ist eigentlich nicht der Typ, der einem anderen den Schädel einschlägt.« Er räusperte sich. »Tja, das war’s eigentlich schon.«

»Eine Frage: Wie viel Alkohol hatte das Opfer im Blut?«

Wieder so ein Stocken. »Genug, genug. Ich wollte Ihnen nur Bescheid geben, dass an der Sache nichts dran ist.«

»Das ist nett von Ihnen«, sagte ich. »Wenn Sie mal in die Eifel kommen, schauen Sie einfach rein. Hier gibt es noch luftgetrockneten Schinken, der so schmeckt, wie er aussieht, und andere altmodische Dinge.«

Er sagte: »Das mache ich«, und es klang merkwürdig kleinlaut. Zumindest in meinen Ohren. Obwohl ich die Antwort schon kannte, versuchte ich es mit einer letzten Frage: »Was ist mit der Bundesbahnfahrkarte nach Basel?«

Die Antwort kam viel zu schnell: »Die hat er entweder gefunden oder geklaut.«

»Na, sicher doch«, sagte ich und hängte ein.

Wenig später schellte es, und Opa Fahsen stand in der Tür. Er ist fünfundachtzig und zieht nur noch von Tür zu Tür, um Guten Morgen zu sagen und das Leben aufregend zu finden.

»Junge«, schniefte er asthmatisch, »ich komme hier vorbei und denke, der Baumeister Siggi macht doch immer so ’nen prima Aufgesetzten aus Schlehen. Und den trinkt er nicht mal selber!« Er grinste mit einem verfaulten Zahn und sah aus wie ein Ungeheuer aus mittelalterlichen Alpträumen.

»Komm rein«, sagte ich. »Ich bin nicht rasiert, nicht gewaschen und nicht angezogen. Aber ich denke, mein schöner Geist ist auch genug.«

»Bestimmt«, sagte er etwas verständnislos und schlurfte mit seinem Haselnussstock durch den Flur. »Es ist so gemütlich bei dir, wenn das Feuer brennt. Haste genug Holz und Kohlen?«

»Hab’ ich. Willst du den Aufgesetzten kalt oder stubenwarm?«

»Stubenwarm ist besser für ’nen alten Magen. Junge, wenn ich dran denke, wie wir mal im Krieg mit zehn Mann nichts zu fressen hatten, aber hundert Pullen Korn.« Er kicherte in sich hinein. »Da kam der Kommandeur und wunderte sich, dass wir alle besoffen waren. Eine Stunde später war er selber hackevoll und tönte rum, Hitler hätte den Krieg längst verloren. Solche Bemerkungen gingen damals nur besoffen. Das war vierundvierzig, als die Amis uns jeden Tag Feuer unterm Hintern machten.«

»Hast du eigentlich irgendwelche Orden mit nach Hause gebracht?«

Er sah mich kurz und scharf an, starrte aus dem Fenster und nickte bedächtig. »Klar, wer hat das nicht? Ich habe meine Metallsammlung neunundvierzig gegen zwei Zentner Kartoffeln getauscht. Bei einem Mann, der später bei uns Landrat wurde. War ein gutes Geschäft damals. Kennst du eigentlich die Methode mit den Tannentrieben?«

»Nein, kenne ich nicht.«

»Also, du nimmst soliden Achtunddreißigprozentigen und tust so im März, April frische Tannentriebe rein. Drei, vier Stück, nicht mehr. Und weißen Kandis dazu, aber nicht zu viel. Drei Monate später hast du eine feine Sache. Ach so, du trinkst ja gar nicht.«

»Ich kann das aber für dich machen«, sagte ich. »Du, dein Orden hat mich auf was gebracht. Weißt du noch, wann dieser Nikolaus Bremen in Bonn sein Bundesverdienstkreuz gekriegt hat?«

»Tja. Ihr seid ja damals alle mitgefahren, du hast fotografiert. Muss August gewesen sein, August siebenundachtzig. Wieso meine Orden?«

»Nicht wichtig«, murmelte ich, »war nur so eine Idee.« Dann wurde ich unruhig, aber ich konnte ihn nicht hinauswerfen. Er hätte auch gar nicht begriffen, dass ich zu arbeiten hatte. Eine halbe Stunde später schlurfte er genauso selbstverständlich, wie er gekommen war, wieder davon, und ich stürzte mich erneut auf mein Tagebuch. Diesmal fand ich sofort, was ich suchte.

Am 3. August 1987 waren wir mit sechs Autos aus unserem Dorf nach Bonn gefahren, um dabei zu sein, wie Nikolaus Bremen sein Verdienstkreuz bekam. Der Landwirtschaftsminister wollte es ihm persönlich überreichen. Natürlich, das war es.

Acht oder zehn Bauern waren dort gewesen, mit all ihren Verwandten und Freunden. Insgesamt zwanzig Frauen und Männer waren ausgezeichnet worden. Es war feierlich und zugleich familiär zugegangen, eine jener Ordensverleihungen, wie sie in Bonn jede Woche vorkommen und von denen in der Regel außer den Beteiligten niemand Notiz nimmt.

Nikolaus hatte mich gebeten zu fotografieren, und Wilhelm, sein Sohn, hatte die ganze Sache auf Band genommen. Ich rief ihn an. Langsam erwachte in mir das Jagdfieber. »Wilhelm, Siggi hier. Du hast doch damals, als wir wegen des Verdienstkreuzes in Bonn waren, die Rede aufgenommen und alles, was der Minister sonst noch gesagt hat. Hast du das Band noch?«

»Das hat mein Vater. Wenn er was getrunken hat, lässt er es laufen und brüllt, dass er dem Scheißminister den Scheißorden zurückbringt. Wieso?«

»Ich würde mir das Band gerne überspielen. Ich will nur hören, wie so ein Minister redet.«

»Ich bringe es vorbei«, sagte er und hängte ein.

Die Filme, die ich damals aufgenommen hatte, lagen noch in meinem Archiv. Die farbigen waren damals entwickelt worden, die schwarzweißen nicht. Nach einer Stunde hatte ich die wichtigsten Negative entwickelt und kopiert.

Als Wilhelm mit dem Tonband kam, sagte ich ganz beiläufig: »Ich brauche das Ding nur als Hintergrund für ein etwas dünnes Manuskript.« Ihm war das offensichtlich völlig egal, und nach einem schnellen Aufgesetzten verschwand er wieder.

Ich erinnerte mich jetzt, dass sehr viele Fotografen da gewesen waren oder jedenfalls viele Menschen mit Fotoapparaten. Und immer hatte dieser Mann krampfhaft versucht, all den Linsen auszuweichen. Das war mir aufgefallen, weil es mir ziemlich theatralisch vorgekommen war, und ich hatte mir die Mühe gemacht, ihn ein paarmal sehr schön zu treffen.

Es war nicht schwierig, auf dem Band die betreffende Stelle zu finden. Der Minister sagte pathetisch leise: »Und nun zu Ihnen, Herr Doktor Steiner.« Pause, Husten, Räuspern. »Ich darf Ihnen stellvertretend diese hohe Ehrung seitens der Bundesregierung zuteil werden lassen.« Wieder Stille, wieder Räuspern, ein einzelner klatschte höflich. Dann erneut der Minister: »Und nun komme ich zu meinem Jugendfreund Franz Xaver Rallinger aus dem Berchtesgadener Land. Dir, lieber Franzel …«

Ich war wütend. Ich rief in Bonn an, und es dauerte eine Weile, ehe er ans Telefon kommen konnte.

»Baumeister hier. Sie haben auf mich eigentlich nicht den Eindruck eines berufsmäßigen Lügners gemacht, aber ich möchte schon wissen, wieso Sie mich beschissen …«

»Ich habe es fast erwartet«, unterbrach er meine Beschimpfung. »Aber ich wüsste trotzdem gern, wie Sie darauf gekommen sind. Es sei denn …«

»Es sei denn, was?«

»Na ja, es sei denn, dass Sie heute Nacht doch nicht so zufällig am Langen Eugen aufgekreuzt sind.«

»Es war Zufall. Mein Ehrenwort gebe ich in diesem unserem Lande allerdings nicht mehr.«

»Und haben Sie auch schon einen Namen für Herrn Lewandowski?«

»Steiner, Doktor Steiner. Und was machen wir jetzt?«

»Ich weiß es nicht«, murmelte er undeutlich, »ich weiß nicht was Sie machen. Ich mache nichts, ich kann nichts mehr machen.«

»Auf jeden Fall will ich mit Ihnen sprechen.«

»Ja, ja«, knurrte er, und es war deutlich, dass er das alles zum Kotzen fand. »Das Beste ist, Sie vergessen den Vorfall schleunigst.«

»Sie vergessen gerade etwas. Meinen Beruf nämlich. Wann kann ich also zu Ihnen kommen?«

»Sie zu mir? Überhaupt nicht! Das Ding ist zu heiß.«

»Dann treffen wir uns auf neutralem Boden. Ich habe nämlich eine ganze Menge Fragen.«

»Aber ich weiß kaum etwas. So gut wie nichts. Vergessen Sie es doch einfach.«

»Guttmann, Sie machen mich krank. Wo treffen wir uns?.«

»Kann ich heute zu Ihnen rauskommen?«

»Sie zu mir? Dann muss es wirklich stinken. Gut, heute Abend um neun. Und bringen Sie Ihre Unterlagen mit.«

»Es gibt keine Unterlagen«, sagte er kühl.

»Und der Penner, der Lewandowski erschlagen hat?

»Den gibt es auch nicht.« Und er legte auf.

2. Kapitel

Als ich nach dem Gespräch nachdenklich aus dem Fenster sah, überkam mich eine fast euphorische Stimmung: Kein Nebel mehr, kein Regen, stattdessen fiel sanft und nachdrücklich der erste richtige Schnee dieses Winters. Es war wie ein Wunder.

»Krümel, hör zu, wir können endlich das Vogelfutter raustragen. Alle werden sie kommen, die Meisen und Buchfinken und Spatzen und Dompfaffen und Hänflinge und Amseln und Stare. Stare? Sind das nicht Zugvögel? Ist ja egal, hörst du, es fällt Schnee!«

Krümel war nicht da. Ich fand sie auf dem Küchentisch andächtig vor dem Milchtopf mit dem engen Hals sitzend, den ich eigens angeschafft hatte, um ihrer Gier einen Riegel vorzuschieben. Sie hatte endlich den Weg gefunden. Mit der Pfote langte sie tief in die Milch und leckte sie dann genüsslich ab. Auf mein lautstarkes Schimpfen ging sie gar nicht ein, also ließ ich sie weiterklauen. Werdende Mütter sind sensibel.

Später dann spaltete ich zwei Stunden Anmachholz, ging mit Krümel durch den Schnee im Garten und beschloss, im Frühjahr eine Birke an die östliche Begrenzungsmauer zu setzen. Es wurde rasch dunkel, aus Nordwest kam ein scharfer, kalter Wind, das Feuer im Kamin ließ die Schatten tanzen.

Der Mann mit den Echsenaugen war pünktlich und ersparte mir jeden Small Talk. Er kam aus der Nacht, hockte sich vor den Kamin, rieb sich die Hände und murmelte anerkennend: »Schön haben Sie es hier.« Dann eröffnete er mit dem erstaunlichen Satz: »Tja, ich bin schnell vorbeigekommen, um mir Ihr Versprechen zu holen, dass Sie sich nicht mehr um diesen toten Lewandowski kümmern.« Wieder dieser unendlich langsame Lidschlag, wieder diese hellgelben, gesprenkelten Augen, die mich so ansahen, als hätten sie ihr Eigenleben, als wüssten sie viel mehr, als dieser Mensch, zu dem sie zufällig gehörten, je begreifen würde.

»Wollen Sie etwas trinken?«

»Haben Sie einen Schnaps im Haus? Ich friere.«

»Selbst gemachten.«

Ich holte die Flasche aus dem Eisschrank und goss ihm ein.

»Weshalb soll ich mich nicht mehr darum kümmern?«

»Weil die Bundesanwaltschaft Sie herzlich darum bittet. Es geht gar nicht um diesen Toten, es geht nicht um mich oder um Belange der Mordkommission, es geht um Sie. Sie sollen zu Ihrer eigenen Sicherheit die Hände davonlassen.« Er wedelte mit Händen und Armen, als könne er es so dringlicher machen. »Ich ermittle auch nicht mehr. Ich darf nicht mehr ermitteln.« Er grinste schief wie ein Schuljunge und schüttelte langsam den Kopf, als fände er sich in dieser Situation überhaupt nicht zurecht.

»Langsam, langsam«, sagte ich. »Können wir uns zunächst auf eine Sprachregelung einigen? Wie nennen wir ihn? Lewandowski? Dr. Steiner?«

»Ist mir wurscht«, sagte er heftig. »Wenn ich an ihn denke, nenne ich ihn Lewandowski, obwohl er im Computer plötzlich Breuer hieß.«

»Also auch noch Breuer. Wie heißt er wirklich? Hat also die Bundesanwaltschaft Sie zu mir geschickt?«

»Ja, so ähnlich. Sie sollen die Hände rausnehmen. Sofort und ganz und basta.«

»Was geschieht denn Ihrer Meinung nach, wenn ich trotzdem recherchiere?«

Wieder dieses langsame Heben und Senken der Lider. »Ich weiß nicht genug, um Prophet zu sein. Ich vermute, dass Sie dann echte Schwierigkeiten bekommen. Es wird Ihnen sowieso niemand Auskunft geben, und wer kann, wird auf Ihnen herumtrampeln.«

»Das klingt ganz wie eine Sache nach meinem Herzen.«

»Lassen Sie doch die Arie mit dem Heldentenor. Gut, Ihr Schnaps. Steigen Sie aus und Schluss.«

»Wer war Lewandowski wirklich?«

»Ich weiß es nicht. Und wenn ich es wüsste, dürfte ich es Ihnen nicht sagen. Wieso Dr. Steiner?«

Ich gab ihm die Fotos und berichtete ausführlich von der Ordensverleihung und wie sehr dieser Tote sich bemüht hatte, nicht fotografiert zu werden.

Er saß da, bewegte keinen Muskel, starrte auf die Fotos, schloss die Augen, räusperte sich und murmelte dann kaum hörbar: »Scheiße! Scheiße! Sie haben alle Fehler, und meistens ist es die Eitelkeit.«

» Was heißt das?«

»Vergessen Sie es.«

»Erzählen Sie mir erst mal den Teil, den Sie erzählen dürfen.«

»Deshalb bin ich ja hier«, sagte er trocken. »Der Generalbundesanwalt rechnet fest mit Ihrer Hilfe. Die soll darin bestehen, dass Sie vergessen und schweigen. Er geht davon aus, wenn Sie darum gebeten werden, dann werden Sie vermutlich nicht weiter recherchieren. So denken sich das jedenfalls die Herren von der Bundesanwaltschaft.« Er lächelte freudlos. »Ich denke allerdings, dass die hohen Herren sich die Dinge so zurechtlegen, wie sie sie gerne hätten. Und wie ich Sie einschätze, werden Sie nicht nur loslegen, sondern jetzt erst richtig Dampf machen.« Er machte eine lange Pause und schlürfte genießerisch an dem Kräuterschnaps. »Also, wir finden den toten Lewandowski, und Sie stoßen dazu. Gewöhnlich gehen wir dann bei unseren Computern hausieren, um zu sehen, was die anzubieten haben. Bei Lewandowski spuckt der Computer die kürzeste Auskunft aus, die Sie sich vorstellen können: C-16, nur ein C-16. Das heißt, ich muss augenblicklich die Bundesanwaltschaft verständigen, kriege den Fall mit sofortiger Wirkung abgenommen, muss auf der Stelle die Akte abliefern und kann alles vergessen, was ich bis zu diesem Zeitpunkt weiß oder ermitteln konnte.«

»Was bedeutet der Code C-16 genau?«

Er fuchtelte wieder mit den Händen. »Das ist doch wurscht, was er bedeutet, das spielt doch gar keine Rolle. Ich muss einen Aktenvermerk machen, einen peinlich genauen Aktenvermerk. In diesem Fall muss ich also schildern, wer der Polizei den Toten gemeldet hat, wie er entdeckt wurde, wo er lag, wie er vermutlich zu Tode kam, wie die ersten Ermittlungen verlaufen sind, wer von meinen Leuten zugegen war. Ich musste natürlich auch erwähnen, dass Sie zufällig des Weges kamen, dass wir miteinander gesprochen haben und genau, was wir sprachen. Ich habe auch vermerkt, dass ich Sie bitten werde, zu schweigen und nicht zu recherchieren.«

Krümel sprang im Flur an der Tür hoch, krallte sich an die Klinke, die Tür ging auf, Krümel kam hereinspaziert und schnupperte desinteressiert an Guttmanns Hosenbeinen. Plötzlich sprang sie auf seinen Schoß, leckte über seinen linken Handrücken, biss einmal kräftig hinein und verschwand dann wie der Blitz unter dem Schreibtisch.

»Sie mag Sie. Das war ein Testbiss, ein Liebesbiss. Sie heißt Krümel, und sie ist schwanger.«

»Hallo, junge Frau«, murmelte er matt. Dann brachte er ein Päckchen Gitanes zum Vorschein und zündete sich eine an.

»Ich rauche zu viel. Hören Sie, ich bin wirklich hierhergekommen, um Sie im Namen der Bundesanwaltschaft darum zu bitten, die Sache nicht zu verfolgen. Ich weiß nichts über Lewandowski, außer natürlich, dass er ein C-16 ist, was einfach besagt, dass er alles andere als ein Penner war. Aber das wissen Sie ja ohnehin, nachdem Sie ihn als Dr. Steiner bei einer Ordensverleihung fotografiert haben.«

»Wieso taucht der Name Breuer im Computer auf?«

»Breuer ist ein Schlüsselwort und rein technisch zu verstehen. Irgendwelche Leute haben sich darauf geeinigt, dass alles, was zu den Namen Lewandowski oder Dr. Steiner an Fakten auftaucht, unter der Bezeichnung Breuer im Computer archiviert wird. Breuer kann also sein tatsächlicher Name sein, der Name eines Vorgesetzten, eines Amtes oder auch bloß der Name eines Falles, in dem dieser Mann eine Rolle spielte. Ich weiß es nicht.«

»Nur, dass Sie nicht die ganze Wahrheit sagen«, stellte ich ohne jeden Vorwurf fest. »Was bedeutet C-16 wirklich? Ich mag zwar auf dem Land leben, aber wie solche Computer funktionieren, weiß ich ziemlich genau. Dieses C-16 muss in Ihrem Computer einen Wert haben, entweder plus oder minus. Irgendwie muss Ihnen der Computer doch verraten, was C-16 bedeutet, soweit zumindest, ob dieser tote Lewandowski ein Gegner der Bundesanwaltschaft war oder nicht. War er ein Gegner, hat das C-16 ein Minuszeichen, stand er auf der Seite der Bundesanwaltschaft, ein Pluszeichen. An diesem Punkt versuchen Sie zu mogeln.«

»Wertester Baumeister«, sagte er mit einem Lächeln, das seine Augen Lügen straften, »ich streife die Wahrheit nur, weil dieser verdammte Staatsapparat es so befiehlt und weil ich in Ruhe meine Rente erleben will.« Er warf den Zigarettenstummel in das Feuer. »Richtig, es war nicht die ganze Wahrheit. Im Computer erschien der Name Breuer, dann das C-16 und dahinter ein ZAB. Das heißt zunächst, dass alles sofort an die Bundesanwaltschaft abzugeben ist. Und die haben andere Computer mit Programmen, zu denen ich keinen Zugang habe.«

Weiter, dachte ich, erzähl weiter. »Essen Sie etwas mit mir? Rauchschinken vom Bauern?«

»Wäre nicht schlecht«, murmelte er abwesend.

»Kommen Sie, wir gehen in die Küche. Haben Sie dieses C-16 eigentlich oft?«

Er schüttelte den Kopf. »Das war eine Premiere für mich. O wie schön, ein richtiger alter Küchenherd.«

»Schwarzbrot mit Butter dazu?«

»Margarine wäre besser. Meine Frau hat mein Cholesterin fest unter Kontrolle. Ich sag’ ja, ich will die Rente erleben.«

»Sie haben auf die Geschichte mit dem Plus oder Minus nicht geantwortet. Warum weichen Sie aus?«

Er schnaubte und starrte aus dem Fenster. Es hatte wieder zu schneien begonnen. »Vielleicht untermauert das die Tragweite des Falles. C-16 bedeutet, dass Lewandowski ein Mann ist, der für diesen Staat im Einsatz war, als er starb.«

»So etwas wie ein Staatsschützer?«

»Kann man sagen.«

»Ein Spion vielleicht, ein Agent?«

Das erheiterte ihn, er drehte sich grinsend zu mir um. Diesmal lachten auch die Augen mit. »Das käme Ihnen entgegen, was? Das gefällt dem Journalisten! Ein Agent! Na prima! Lewandowski kann alles Mögliche gewesen sein: BND, Verfassungsschutz, Bundeskriminalamt, Zollfahnder, Finanzfahnder, was weiß ich. Das weiß nur die Bundesanwaltschaft, und die wird kein Wort sagen, kein Sterbenswort. Aber das erklärt wenigstens die Bundesbahnfahrkarte nach Basel.«

»Ist das nicht ungewöhnlich: ein Staatsagent als Penner?«

Er seufzte. »Diese Geheimdienstjungs lassen nichts aus. Angeblich hat im Sommer ein Verfassungsschützer eine Demonstration in Bonn als wandelnde Lokusbude unterlaufen. Aber das ist wohl üble Nachrede.«

»Was geschieht, wenn ich trotz allem recherchiere?«

»Dann wird es unerfreulich«, murmelte er. »Vorzüglich, der Schinken.« Sein Gesicht wirkte auf einmal wieder ganz verschlossen, so als habe er plötzlich erschreckt erkannt, dass er zu viel gesagt hatte.

»Haben Sie wirklich noch nie von einem anderen C-16-Fall gehört? Und noch nie von diesem Lewandowski?«

Er hob den Kopf, streifte mich mit einem Blick und brach sich ein Stück Brot ab. Mehr würde ich wohl nicht aus ihm herausbekommen. Zumindest jetzt nicht.

»Es muss gut sein, hier zu leben, draußen so den Wind heulen zu hören …«

»Ja, sicher«, meinte ich, obwohl ich eigentlich über etwas ganz anderes reden wollte.

Dann aßen wir gemächlich eine Stunde lang wie zwei Leute, die kaum Gemeinsames haben, die in zwei Welten leben und nur zufällig in einem Wirtshaus zusammenhocken. Zu allem Überfluss sprachen wir hauptsächlich über Ehefrauen und Fußball im Fernsehen, zwei Themen, von denen ich nichts verstehe.

Als wollte er unsere Hilflosigkeit noch deutlicher sichtbar machen, seufzte er: »Hübsch gemütlich hier«, und wischte sich den Mund mit einer Serviette ab. »Kennen Sie eigentlich Metzger, Willi Metzger?«

»Nein. Müsste ich?«

Er zuckte die Schultern. »Ein Kollege von Ihnen.«

»Kenne ich nicht. Wo arbeitet er?«

»Im Wesentlichen für dpa. Na ja, ist auch egal. Ich muss wohl los.« Er stand auf und ging zögernd zum Fenster.

Ich hatte den Eindruck, als wollte er noch etwas fragen, das verbotene Bereiche berührte. Stattdessen sagte er: »Ich muss noch einmal wiederholen, dass ich nicht aufgrund eines einsamen Entschlusses hier bin.« Und nach einer Pause: »Dass Sie Willi Metzger nicht kennen, ist wirklich erstaunlich.«

»Ich bin zerknirscht«, brummte ich. »Dieser Lewandowski-Fall hat Sie ganz schön meschugge gemacht, was?«

Er nickte knapp, schlurfte hinaus auf den Flur und stapfte dann vor mir her aus dem Haus. Ohne zurückzuschauen hob er grüßend die Hand und fuhr mit seinem kleinen schwarzen Wagen los. Es schneite noch immer, und es roch nach Weihnachten, obwohl das Fest der Liebe längst vorbei war.

Es wird unerfreulich, hatte er gesagt.

Lassen Sie die Finger davon, hatte er gesagt.

Ich habe den Auftrag der Bundesanwaltschaft, hatte er gesagt.

Kennen Sie eigentlich Metzger, Willi Metzger?

Ich hockte an meinem Schreibtisch und fühlte mich unwohl. »Er kann nicht ernsthaft glauben, dass ich mich da raushalte. So dumm kann er nicht sein. Nein, so dumm ist er ja auch nicht. Wahrscheinlich erwartet er geradezu, dass ich recherchiere.«

Krümel hatte sich auf die Fensterbank zum Hof gelegt und beobachtete, wie im Schein der großen Lampe draußen der Schnee rieselte. Offensichtlich beruhigte sie das, denn sie schloss genüsslich die Augen, gähnte und blinzelte träge.

»Was glaubst du, wann wirst du gebären?«

Sie drehte mir den Kopf zu und sah sehr gelangweilt aus.

Dann sah ich die Eintragung in meinem Kalendarium. Die Baronin kommt, stand da. »O nein!«, brüllte ich, und Krümel schoss von der Fensterbank hinunter und war unter dem Tisch verschwunden.

Ich hatte es völlig vergessen, verdrängt, in irgendeinen Gehirnwinkel abgeschoben. Das passte mir jetzt vielleicht. Andererseits würde sie mich nicht groß stören, sie würde ihrer Arbeit nachgehen, womöglich auch hin und wieder etwas mit mir plaudern, hauptsächlich aber ihre Arbeit tun und dann wieder in die Redaktion nach Hamburg entschwinden.