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Alexander Oetker

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Beschreibung

Commissaire Luc Verlains erster Fall im Aquitaine! Luc Verlain liebt gutes Essen, Frauen und sein sorgenloses Leben in Paris. Doch als sein Vater schwer erkrankt, lässt Luc sich versetzen. Ausgerechnet nach Bordeaux in die Region Aquitaine, von wo er als junger Polizist geflohen war. Zurück in seiner Heimat muss Luc sich seinen Erinnerungen stellen. Und schon kurz nach seiner Ankunft erschüttert ein Mord die Gegend: Ein Mädchen liegt erschlagen am Strand von Lacanau-Océan. In dem kleinen Dorf kochen schnell die Spekulationen hoch. Das Opfer hat erst vor kurzem die Beziehung zu dem algerischen Nachbarsjungen beendet, der als dringend tatverdächtig gilt. Der Stiefvater des Mädchens will die Sache selbst in die Hand nehmen. Lucs Ermittlungen führen ihn an die Strände und in die Weinberge der Region und zurück nach Paris, immer an seiner Seite seine Kollegin Anouk, deren Charme er nur schwer widerstehen kann. Luc Verlain ermittelt weiter in diesen Bänden: Band 2 - Château Mort Band 3 - Winteraustern

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Alexander Oetker

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Luc Verlains erster Fall

Roman

Hoffmann und Campe

Für Jasmin

Lundi – MontagRetour

Kapitel 1

»Mein Gott, wie öde.«

Luc Verlain schnaubte verächtlich, als er unter der Pont François-Mitterrand die graue Plörre sah. Die träge dahinfließende Garonne bahnte sich ihren Weg in Richtung Bordeaux – und in Richtung Atlantik. Morgens um vier war er in Paris losgefahren, fünfeinhalb Stunden hatte Luc bis hierher gebraucht. Immer wieder war sein Blick auf den Tacho gefallen: 120 km/h. Normalerweise fiel es ihm schwer, sich an das erlaubte Tempo 130 auf Frankreichs Autobahnen zu halten. Doch heute hatte er seinen alten blauen Jaguar XJ6 unbewusst immer wieder abgebremst, gerade so, als wollte er die Fahrt von Paris in die Provinz auf Tage verlängern. Als wollte er nie ankommen.

Nun aber war er da, sein Blick fiel auf das Schild auf der Brücke: Bordeaux Centre. Er setzte den Blinker und fuhr von der Route Nationale auf die kurze Autobahn, die ihn immer am Fluss entlang in die Stadt bringen sollte. Links lagen die Gewerbegebiete, der alte riesige Schlachthof, der schon seit einigen Jahren außer Betrieb war. Auf der anderen Seite am rechten Ufer des Flusses standen kleine Häuser auf Stelzen im Fluss, Hütten für Angler. Die Boote schaukelten angeleint davor und warteten auf ihren nächsten Einsatz auf dem grauen Fluss.

Die Garonne war für Luc schon immer ein Phänomen gewesen. Sie bahnte sich ihren Weg durch Bordeaux und dann weiter durchs Médoc, wo sie sich mit der Dordogne zur Gironde vereinigte, ehe sie sich in der riesigen Mündung nördlich von Soulac in den Atlantik ergoss. Touristen fanden ihre grau-braune Farbe häufig abstoßend, Luc aber wusste, dass sie nichts damit zu tun hatte, dass der Fluss verschmutzt war. Es war vielmehr Natur pur: Durch die Gezeiten wurde das Wasser des Atlantiks weit in die Mündung der Garonne gedrückt, mit dem ganzen Salz, das der Ozean enthielt. Im Fluss traf das Salz auf die Tonpartikel, die die Garonne aus Spanien mit sich führte, und Ton und Salz ergaben die braune Farbe.

Eine halbe Stunde von hier landeinwärts lagen die Weinberge von Saint-Émilion, eine halbe Stunde westlich die Strände des Atlantiks. Wie viel Zeit er hier verbracht hatte … Es war, als sei er wieder sechzehn und verdammt, für immer hierzubleiben. In den letzten fünfzehn Jahren war Luc höchstens mal für ein paar Tage hergekommen. Nachdem seine Mutter die Familie verlassen hatte, plagte Luc sein schlechtes Gewissen: Eigentlich hielt er es hier im Aquitaine nicht mehr aus, aber er wollte für seinen Vater da sein, seinen einsamen Vater, den er immer so bewundert hatte. In der Vergangenheit war meistens nichts daraus geworden. Manchmal war er ein ganzes Jahr lang nicht hier gewesen. Sein alter Herr hatte ihn ab und zu in Paris besucht, aber seit einigen Jahren mochte er nicht mehr Zug fahren und verabscheute die laute hektische Hauptstadt. Und nun, dieses Mal, würde Luc bleiben müssen. Ein halbes oder vielleicht auch ein ganzes Jahr. Er wusste noch nicht, wie lange. Für seinen Geschmack aber auf jeden Fall zu lange.

Er lenkte den Wagen von der Autobahn runter in Richtung Gare Saint-Jean. Hinter dem Bahnhof bog Luc nach links ab in Richtung Stadtzentrum. Er scheute sich davor, schon jetzt am Place de la Bourse vorbeizufahren – diesem hochherrschaftlichen Platz im Zentrum der Stadt mit seinen pompösen Palästen. Dieses Wahrzeichen Bordeaux’ symbolisierte alles, was die Stadt für Luc ausmachte und was er verabscheute: die Bourgeoisie, die überbordende Arroganz des Bürgertums, der zur Schau gestellte Reichtum und die Spießigkeit. Dagegen hatte er sich als Jugendlicher aufgelehnt – und deshalb war er als junger Polizist von hier geflohen. Niemals hätte er länger in Bordeaux leben können. Und er wollte es auch jetzt nicht.

Wenn er den guten Wein aus der Region trinken oder Austern aus Arcachon essen wollte, konnte er auch in Paris in die Galeries Lafayette gehen oder seinem Lieblingsrestaurant Fontaine de Mars, ganz in der Nähe seiner Wohnung im 7. Arrondissement, einen Besuch abstatten. Dort servierten sie die typischen Gerichte aus dem Südwesten des Landes in Perfektion, und Luc konnte sie genießen, ohne die spießigen kleinen Orte an der Küste aufsuchen zu müssen. Doch nun war er zum Hierbleiben verdammt.

Heute lag die Stadt sonnig da, und Luc betrachtete die großen hellen Gebäude mit den bodentiefen Sprossenfenstern, für die die Stadt des Weines berühmt war. Er seufzte und fuhr seinen Schleichweg am Bahnhof vorbei über den Place de la Victoire mit dem Obelisken und dann in Richtung Mériadeck. Der Name des Viertels klang lieblich und passte so gar nicht zu seiner äußeren Erscheinung. Die Stadtoberen hatten in den Sechzigern ausgerechnet hier das Geschäftsviertel der Stadt erbaut, mit gesichtslosen Büroblöcken, grauen Parkhäusern und unförmigen Betonklötzen. Weinliebhaber, die aus aller Welt mit großen Erwartungen in die Stadt kamen, mussten von der Realität bitter enttäuscht sein. Und genau hier lag auch das Hôtel de Police, das Hauptquartier der Police Nationale. Es war nur einen Katzensprung entfernt vom touristischen Zentrum der Stadt hinter dem Rathaus und der Kathedrale, untergebracht in einem dieser scheußlichen modernen Neubauten.

»Bonjour Tristesse«, murmelte Luc und dachte wehmütig an das wunderschöne Commissariat in Paris, die alten Mauern auf der Île de la Cité, den Blick auf die Seine. Und an seine Wohnung hinter dem Musée d’Orsay, umgeben von kleinen Läden und hippen Galerien. Er konnte mit seiner Vespa zur Arbeit rasen, über die Quais und durch die kleinen Pariser Gassen. Nun sollte er hier arbeiten – in diesem grauen Kasten in Bordeaux. Er holperte über die Schienen der Straßenbahn und parkte den alten Jaguar vor dem Commissariat im Halteverbot.

Als er ausstieg, spürte er den Wind des Meeres. Bis hierher drang er, die ganzen fünfzig Kilometer vom Atlantik herüber. Es war windig heute, fast stürmisch. Dieses unbändige Strömen, das durch nichts aufgehalten zu werden schien. Wer einmal eine Nacht im Sturm am Atlantik erlebt hatte, der wusste, wovon Luc sprach. Wenn die Wellen mit großem Getöse gegen den Strand peitschten, schafften es der Wind und die Möwen bis in die Gassen von Bordeaux. Luc Verlain hatte viele von diesen Nächten durchstehen müssen. Auf dem Boot seines Vaters auf dem Bassin d’Arcachon und im Haus am Meer in Carcans Plage. Er fühlte sich als Kind im Auge des Sturmes so klein. Und auch jetzt, als erwachsener Mann, hatte sich dieses Gefühl nicht verändert. Die Gewalten der Natur waren übermächtig und vom Menschen niemals zu beherrschen. Das hatte ihn sein Vater immer gelehrt.

Luc ging zum Haupteingang und blieb vor der spiegelnden Scheibe der Eingangstür stehen. Ihm sah ein gutaussehender Mann entgegen. Ernst, ein wenig schnippisch. Der Bordeaux-Blick eben. Ein Mann in einem schwarzen Hemd, mit halblangen braunen Haaren, einem nicht ganz gepflegten Drei-Tage-Bart. Er war jemand völlig anderes geworden. Den schmächtigen Jungen, Sohn eines Austernzüchters, die Klamotten immer ein wenig zu groß und ein wenig zu zerschlissen, gab es nicht mehr. Und auch die alte Uniform, die er während seiner Anfangszeit bei der Polizei als kleiner Beamter tragen musste, war längst vergessen. Die Jahre in Paris hatten ihn gestählt. Er hatte, erst in den Banlieues und dann in der Innenstadt, ein ziemlich dickes Fell bekommen. Die letzten Monate waren hart gewesen: Nach den islamistischen Anschlägen auf die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo und den jüdischen Supermarkt in Vincennes hatten er und seine Kollegen Sonderschichten gemacht. Nächtelange Observationen. Verhöre von Verdächtigen und Zeugen aus den Vororten. Der Stress war immens, der Druck von ganz oben enorm. Die Politiker brauchten Ermittlungserfolge – und die Polizisten mussten liefern. Ganz tief innendrin hatte sich Luc vielleicht sogar ein wenig gefreut, dass er es jetzt etwas ruhiger angehen könnte, hier draußen in der Provinz – auch wenn er das nie zugegeben hätte.

Der Mann, den er in der Spiegelung kritisch musterte, gefiel ihm deutlich besser als der schüchterne Junge von damals. Es war alles gut. Er fühlte sich wohl. Er hatte etwas aus sich gemacht. Jetzt musste er nur die Zeit hier im Aquitaine durchstehen, und dann würde es schnell zurück nach Paris gehen. Dorthin, wo das Leben tobte, nicht der Sturm. Dort, wo seine Freunde waren, und – vor allem – seine Freundinnen. Derzeit war es nur eine, auch wenn er Delphine nicht als seine Freundin vorstellen würde. Sie würde es auch nicht verlangen. Das hoffte er zumindest.

Luc trat durch die elektrische Schiebetür ins Commissariat. Die Gänge waren lang und breit, sie wirkten penibel gewienert, und es roch nach Krankenhaus. Alles hier war zwar neu, aber wirkte doch schäbig und irgendwie provisorisch. Ganz anders als das historische Ambiente in der Pariser Préfecture de Police, die für die Ewigkeit gebaut zu sein schien – als steinernes Monument der Macht der République. Luc fuhr in die zweite Etage, und ehe er den Fahrstuhl verließ, tönte es vom Ende des Flures: »Verlain. Bienvenue! Ich habe Sie schon aus dem Fenster gesehen.«

Der alte Mann, zu dem die freundliche Stimme gehörte, eilte auf ihn zu, die eine Hand ausgestreckt, in der anderen wedelte er mit einer Zeitung. Luc erkannte ihn erst auf den zweiten Blick. Divisionsleiter Preud’homme war alt geworden. Er sah ein wenig müde aus, war aber immer noch ein attraktiver Mann. Grauer Anzug, gepunktete lilafarbene Fliege, etwas längere graue gewellte Haare.

»Guten Tag, Monsieur«, sagte Luc. »Es ist schön, wieder hier zu sein. Und es ist schön, dass gerade wir beide uns wiedersehen.«

»Ich freue mich auch, meinen besten Schüler wieder an meiner Seite zu haben. Auch wenn die Umstände …« Der alte Mann schluckte. »Wie geht es Ihrem Vater?«

Verlain hielt dem fragenden Blick stand. »Nicht gut. Es ist schwer für ihn, ans Bett gefesselt zu sein. Ausgerechnet er, der sein ganzes Leben draußen verbracht hat. Im Krankenhaus versucht man alles, um ihm zu helfen. Aber die Schmerzen sind schier unerträglich, wenn er wieder einen Schub hat. Ich will einfach bei ihm sein. Danke, dass Sie so schnell eine Stelle für mich freigemacht haben.«

Preud’homme nickte. »Dann hoffe ich sehr, dass Sie lange bei uns bleiben. Die Regionalzeitung weiß jedenfalls schon Bescheid«, sagte er und reichte Luc eine Ausgabe der Sud Ouest. In breiten Lettern prangte auf der Titelseite »Erfolgsbulle aus Paris – ab sofort in Bordeaux«, darunter ein Foto und eine Auflistung seiner größten Erfolge bei der Pariser Mordkommission.

»Oh, mein Gott«, stöhnte Luc. »Das hatte ich nicht erwartet.« Jetzt wusste wirklich jeder, dass er wieder hier war – und dieses öffentliche Aufheben um seine Person war ihm furchtbar unangenehm. Er ermittelte lieber unter dem Radar der Presse.

Doch Preud’homme war voller Freude. »Lorbeeren, die Sie sich verdient haben. Ich erinnere mich noch, als wir zusammen ermittelt haben, wissen Sie noch? Ich war damals …«

Preud’homme stockte, Luc half ihm auf die Sprünge: »Sie waren Commissaire divisionnaire, wie ich jetzt.«

Der alte Mann unterbrach ihn sofort wieder: »Genau, und Sie kamen gerade frisch von der Polizeischule. Was hatten wir damals? War das nicht dieses Eifersuchtsdrama draußen in Margaux? Wir dachten alle, dass irgendwelche Diebe in die Villa eingebrochen sind, aber Sie hatten sofort die richtige Spur. Der raffinierte Familienvater hatte eine falsche Fährte gelegt. Als Sie das erkannt hatten, Verlain, da wusste ich, dass ich Sie hier nicht lange würde halten können. Und so kam es auch, anderthalb Jahre später verlor ich meinen besten Schüler.«

Luc war das Lob seines alten und neuen Chefs unangenehm, er senkte den Kopf und hob ihn erst wieder, als Preud’homme ihn an der Schulter fasste und sagte: »Es hat sich übrigens nicht viel verändert hier, seit damals. Bei uns gibt es Erbschleicher in den Weinbergen, ein paar Schlägereien am Surfstrand und Taschendiebstähle im Centre Ville. Aber mit Mord und Totschlag werden wir Ihnen nicht oft dienen können, Commissaire.« Preud’homme musste kurz lachen. »Hier geht es ein bisschen provinzieller zu als in Paris. Sie werden also auch mal zu einem Einbruch rausmüssen. Aber Sie haben ein tolles Team. Kommen Sie. Ich stelle es Ihnen vor.«

Preud’homme nahm Verlain an seine Seite und ging langsam den Flur entlang bis zu einer großen weißen Tür. Brigade criminelle Aquitaine stand auf dem Schild. Hier also saß die Sondereinheit für alle Kapitalverbrechen in der Region Aquitaine. Das Ermittlungsgebiet war riesig: Neben den Städten Bordeaux und Arcachon gehörten auch die schönsten Weinregionen der Welt dazu – das Médoc, das Pomerol, Saint-Émilion. Und dann lagen hier rund um Arcachon auch noch die größten Austernbänke und in den Départements Gironde und Landes die längsten Sandstrände Frankreichs. Bei schwierigen Fällen wurden sie auch von der Polizei von La Rochelle im Norden hinzugezogen, oder von den Kollegen in Biarritz oder Bayonne ganz unten im Baskenland an der spanischen Grenze. Strände, Weinberge, Gemüsefelder, entspannte Landbewohner – verbrechensmäßig war es hier nicht gerade Detroit, sondern eher Malibu. Ruhig und beschaulich.

Preud’homme öffnete die Tür. Die Möbel in dem großen Raum waren aus billigem braunen Holz, an der Decke hingen Neonlampen, und die riesigen Fenster hätten durchaus mal wieder geputzt werden können. Aber Luc wusste: Das Budget der Polizei war knapp, und die Zeit war es ebenso, in diesen unruhigen Tagen in Frankreich. Erleichtert stellte er fest, dass wenigstens die Computer neu waren. Er hoffte, dass sie eine Verbindung zum französischen Netzwerk hatten. So konnte er mit den Pariser Kollegen über Videotelefonie kommunizieren und ab und an vertraute Gesichter sehen.

»Liebe Kollegin, liebe Kollegen«, begann Preud’homme feierlich, »das ist Commissaire Luc Verlain aus Paris. Ich muss ihn Ihnen ja nicht vorstellen. Er ist einer meiner ältesten Schüler. Commissaire, das ist Commandante Anouk Filipetti.«

Luc Verlain wendete sich ihr zu, und sofort trafen sich ihre Blicke. Anouk hatte lange dunkelbraune Haare und funkelnde braune Augen – sie hatte etwas unglaublich Edles an sich, das gar nicht in dieses verstaubte Büro passte. Sie war wohlgebräunt von der atlantischen Sonne, trug eine Jeans, Lederstiefel und eine schwarze Steppweste über einem weißen Shirt. Sportlich und trotzdem schick. Sie hätte durchaus auch ein Gast in seiner Lieblingsweinbar Le Rubis in Paris sein können, einer der hübscheren Gäste, versteht sich.

Anouk reichte ihm die Hand. »Willkommen am Ende der Welt.«

Sie lachten sich an.

Preud’homme unterbrach sie. »Das ist Brigadier Hugo Pannetier.«

»Bonjour Monsieur le Commissaire«, sagte der junge Mann.

Er war stämmig gebaut, hatte kurze blonde Haare, die aussahen wie weicher Flaum, war blass und hatte gerötete Wangen. Er hatte ein gutmütiges Gesicht, doch Luc hatte sich über seine neue Abteilung informiert und wusste, dass er sehr lange in einer Sondereinheit der CRS gedient hatte, der Spezialpolizei. Und diese Jungs waren harte Kerle mit Muskeln an den richtigen Stellen. Der gutmütige Eindruck konnte also durchaus täuschen.

Preud’homme wollte noch den dritten im Bunde vorstellen, dessen großer Schreibtisch ganz hinten am Fenster stand. Bis eben hatte er dort gesessen, aber nun stand der Mann auf und marschierte schnurstracks und erhobenen Hauptes auf Luc zu, um selber das Wort zu ergreifen.

»Ich bin Commissaire Etxeberria. Das schreibt man mit ›x‹, spricht es aber mit ›sch‹.«

Vielen Dank für die Transkription, dachte Luc. Er hatte auf der Polizeischule genug mit baskischen Terroristen zu tun gehabt und ihre komische Sprache ein wenig gelernt. Doch der Kommissar fuhr in schneidendem Ton fort: »Wir sind gleichberechtigte Leiter dieser Abteilung. Ich habe erst letzte Woche erfahren, dass Sie kommen.«

Verlain bemerkte, wie Anouk sich genervt abwandte. Offenbar hatte es im Vorfeld hitzige Diskussionen gegeben. Auch über seinen gleichgestellten Kollegen hatte Luc schon einiges gelesen, sich aber lieber erst mal selbst ein Bild machen wollen, statt vorschnell ein Urteil zu fällen. Er musterte den anderen Commissaire, der – wie neben seinem Namen auch sein Äußeres verriet – ganz klar ein Baske war. Etxeberria hatte einen ungepflegten Sechs-Tage-Bart, trug eine abgewetzte braune Lederjacke und Cowboystiefel, seine schwarzen Haare hingen strähnig herab. Der Oberlippenbart war braun vom Tabak, die roten Risse auf seinen Wangen wiesen auf nicht wenig Rotwein hin. Der Commissaire hatte einen nervösen Tick. Sein linkes Auge zuckte, alle paar Sekunden krampfte sich das Lid zusammen und öffnete sich wieder. Luc bemühte sich, nicht die ganze Zeit dort hinzuschauen. Man konnte erahnen, dass der Baske mal gut ausgesehen haben musste. Aber jetzt wirkte es eher, als habe er in einem schlechten Buch nachgelesen, wie der Prototyp des Bad Cops aussieht, und sich dann entsprechend verkleidet. Augenscheinlich war Etxeberria gar nicht wohl dabei, einen hochdekorierten Commissaire vor die Nase gesetzt zu bekommen. Viel Ruhm war hier im Aquitaine ohnehin nicht zu ernten, mit Luc im Büro wohl in Zukunft noch weniger.

Etxeberria fuhr fort: »Ich erwarte eine gute Zusammenarbeit und bitte Sie, alles mit mir abzusprechen. Wir sind ein Team, und das wollen wir auch bleiben.«

Mit diesen Worten drehte er sich um und ging zurück zu seinem Schreibtisch. Preud’homme sah Etxeberria erstaunt nach, dann nahm er Verlain zur Seite und führte ihn aus dem Büro.

»Ich sehe Sie alle nachher«, rief Luc im Weggehen.

Gemeinsam gingen sie ins Büro von Inspecteur Général Preud’homme im unteren Stockwerk. Die ältere Frau im Vorzimmer grüßte freundlich. Sie war schon ewig an der Seite von Preud’homme und gehörte quasi zum Inventar der Polizei von Bordeaux. Er hatte sie wohl schon in den Achtzigern aus seiner Heimat in Lille mit hierhergebracht. Im Büro des Inspecteurs war es sehr ordentlich, und hier waren auch die Fenster sauber. Luc wartete, bis Preud’homme in seinem imposanten Ledersessel Platz genommen hatte, und setzte sich dann selber.

»Tut mir leid, aber Etxeberria ist nicht zu bremsen. Er nimmt es persönlich, dass wir für Sie keine neue Abteilung aufgemacht haben. Aber ich brauche nur ein Team für Kapitalverbrechen. So viel passiert hier nicht. Und als der Anruf aus Paris kam, dass Sie auf Zeit hierher versetzt werden müssen, dachte ich, dass Sie zusammenarbeiten könnten. Er ist damit nicht einverstanden, aber nehmen Sie es ihm nicht übel, er ist wirklich ein guter Polizist.«

Verlain nickte. »Wir kriegen das hin, Inspecteur.«

»Das werden Sie. Und Ihr Team ist eine klasse Einheit: Pannetier kommt aus einer alteingesessenen Familie und ist hier in der Gegend tief verwurzelt. Ein fähiger junger Beamter, ein guter Schütze und sehr sportlich – auch, wenn man das nicht auf den ersten Blick sieht.«

Luc verkniff sich ein Grinsen, doch sogar der alte Preud’homme lachte schelmisch. Er hatte einen wunderbaren jugendlichen Charme.

»Pannetier wird nie von hier weggehen, glaube ich. Er ist verheiratet, hat zwei Kinder und draußen in Bègles ein kleines Häuschen gebaut.«

Verlain nickte und schaute aus dem Fenster. Bègles war eine Vorstadt von Bordeaux, im Süden an der Garonne gelegen.

Preud’homme fuhr fort: »Mademoiselle Filipetti hat die Akademie mit Auszeichnung bestanden und wartet auf ihre Beförderung. Dann wird sie wohl weggehen, weil hier zu wenig Herausforderungen auf sie warten.«

»Sie ist eine bemerkenswerte Frau, oder?«

Preud’homme lächelte, aber es wurde fast ein jungenhaftes Grinsen daraus. »Ja Luc, das ist sie. Wir wissen auch nicht, warum sie uns als Wunschort angegeben hat. Und ich habe mich noch nicht getraut, sie zu fragen. Sie wirkt immer so …«

»… unnahbar?«, half Luc.

»Unnahbar, genau, das trifft es. Aber gut, wahrscheinlich wollte sie mal raus, sie war erst in Paris, dann irgendwo im Süden, ich glaube in Nizza. Und wenn sie befördert wird, dann wohl wieder in eine große Stadt. Vielleicht wollte sie etwas Ruhigeres machen, bevor ihre Karriere so richtig beginnt.«

Luc nickte, und Preud’homme beugte sich vor: »Wissen Sie, Verlain, die meiste Zeit wird nicht so viel zu tun sein, und Sie können sich in Ruhe um Ihren Vater kümmern. Mit Etxeberria wird es sich schon finden. Er ist eben ein typischer Baske. Störrisch, stur und sehr eigen.«

Preud’homme zwinkerte komplizenhaft, und Verlain lächelte zurück. Er dankte dem Chef und ging zurück in sein neues Büro. Sein Schreibtisch stand mit dem Rücken zum Fenster. Luc setzte sich. Sein Blick fiel auf die eingestaubte Zimmerpflanze, irgendeine Palme, die vertrocknet in der Ecke stand, und er nahm sich vor, sie zu entsorgen.

Da war er also wieder. In Bordeaux. Als Commissaire. Von hier war er vor fünfzehn Jahren weggegangen. Und jetzt war er zurück und traf auf lauter neue Gesichter: Pannetier war noch zur Schule gegangen, als Luc die Akademie abgeschlossen hatte. Anouk kam nicht von hier, war dafür aber umso interessanter. Und über Etxeberria würde Luc nachdenken müssen, schließlich würden sie einen Weg finden müssen, zusammenzuarbeiten. Preud’homme war einer der alten Hasen, schon jahrzehntelang der Chef hier. Davor hatte er im Norden gelernt und viele aufsehenerregende Fälle gelöst. Der Liebe wegen hatte es ihn ins Aquitaine verschlagen, sonst säße er jetzt als irgendein höherer Beamter im Innenministerium. Er hatte Verlain zum Polizisten gemacht und ihn nach Paris ziehen lassen. Nun war Verlain zurück, um seinen Vater zu pflegen. Bauchspeicheldrüsenkrebs. Das war der Grund für seine Versetzung. So musste er nur wenig arbeiten und konnte sich um seinen Vater kümmern. Gleich nachher wollte er ihn im Krankenhaus besuchen, wollte endlich ein guter Sohn sein. Er war zu wenig da gewesen. Auch, weil die Flucht nach Paris von Dauer sein sollte. Bis heute war sie ihm gut gelungen.

Kapitel 2

Gaston brachte die dampfende Platte zusammen mit einem vor Kälte beschlagenen Glas Muscadet. Die Touristen, die neben Luc saßen, schauten neugierig auf seinen Teller: Waren das etwa heiße Austern, die dort serviert wurden? Die aß man doch eigentlich kalt. Doch der Commissaire kannte das Geheimnis des Restaurants, das schlicht La Plage hieß und direkt hinter dem Strandübergang in Carcans Plage lag. Ganz in der Nähe von dem kleinen Holzhaus, in dem Luc aufgewachsen war. Es waren die gratinierten Austern aus dem Bassin d’Arcachon. Ein Geheimrezept. Natürlich konnte man sie hier auch roh und kalt essen, nur mit Zitrone und Schalottenessig. Aber es gab eben auch dieses Gericht, das Luc seit Kindertagen kannte: Die Austern wurden ganz vorsichtig geöffnet, sodass das Meerwasser drinnen blieb. Dann kam mit geheimen Kräutern gewürztes Eigelb und Lauch dazu, einige Frühlingszwiebeln und darüber Gruyère aus Savoyen. Ab in den Ofen – und nach fünf Minuten wurden die Austern serviert: eine kulinarische Sensation. Tief in der Schale waren sie noch fast roh, ganz oben am Käse verliefen sie zartschmelzend. Und der kalte Muscadet aus der Loire-Region, nördlich von hier, war an diesem warmen Tag eine Offenbarung, sogar schon jetzt zur Mittagsstunde.

Luc ging nicht davon aus, heute noch mal arbeiten zu müssen. Nachher würde er nach Arcachon ins Hôpital fahren und dann früh ins Bett gehen, nach der langen Fahrt am Morgen. Sein Blick fiel auf die hohe Düne, hinter der der weiße Sandstrand lag. Die kilometerlangen Strände waren wie eine Landmarke für das Aquitaine, die gesamte Küste bis hinunter ins Baskenland, breit und ausladend. Und an der Küste brachen sich die heftigen Wellen, ein Paradies für Surfer und Wellenreiter.

Der Ort am Fuße der Düne war klein, vielleicht fünfzig alte Häuser, dahinter im Pinienwald der riesige Zeltplatz Camping de l’Océan neben den Holzhäusern der reichen Pariser, die im Sand der Wälder auf Stelzen standen. Im Winter war Carcans Plage wie ausgestorben. Dann lebten hier nur wenige Familien, Fischer, Seeleute und ein paar hängengebliebene Wellenreiter, die alt geworden waren. Sie rückten eng zusammen, liehen sich gegenseitig Lebensmittel, wenn etwas knapp wurde, denn Bäcker, Fleischer und Supermarkt waren nur jetzt im Sommer geöffnet. Es konnte ganz schön einsam werden, wenn draußen der Dezembersturm tobte, wenn die Gischt des Atlantiks es an manchen Tagen über die Düne schaffte. Luc hatte auch diese Tage immer geliebt. Die langen Winter. Die Alteingesessenen bevorzugten diese Zeit, bevor es dann im April wieder voller wurde, bis sich im Juli die Einwohnerzahl von Carcans Plage mal eben verhundertfachte. Wenn in den kleinen Surferbars jede Nacht gefeiert wurde, im Mascotte de l’Océan morgens die Crêpes vorgebacken wurden, um sie den Touristen den ganzen Tag über als frisch zu verkaufen, und sich bei der Gaststätte Chez Heidi, die einer deutschen Auswanderin gehörte, der Jambonneau im Grill drehte, der riesige Schweineschinken nach deutschem Vorbild. Dann war es hier wie im Nachbarort, dem Surfermekka Lacanau-Océan. Nicht ganz so groß, aber ebenso voll.

Hier wollte Luc nun wohnen, in dem Holzhaus seines Vaters in der Avenue des Dunes. Seitdem sein alter Herr im Krankenhaus war, stand die Cabane ohnehin leer, also konnte der Kommissar genauso gut hier schlafen statt in einer kleinen Wohnung in Bordeaux. Die vierzig Minuten Fahrzeit ins Commissariat waren mit dem alten Jaguar kein Problem. Hier würde er viel besser zur Ruhe kommen als in einer Stadtwohnung. Sich erholen vom Stress der letzten Monate. Nachdenken über sich und seine Beziehungen – über Delphine und die anderen Frauen der letzten Jahre. Und er freute sich auf lange einsame Strandspaziergänge im Regen. Auch wenn es bis zum nächsten Regen noch etwas dauern konnte.

Bevor er ins Restaurant gegangen war, hatte er seine zwei kleinen Koffer ausgeladen, dazu die Einkäufe, die er aus Paris mitgebracht hatte: einige Flaschen Bier, zwei Flaschen Chablis. Rotwein, Käse und frisches Baguette hatte er vorhin im kleinen Dorfladen gekauft. Er hatte Glück, noch kurz vor halb eins im Laden gewesen zu sein. Danach war nämlich Mittagspause – bis halb fünf. Unglaublich. Luc bevorzugte es, einkaufen gehen zu können, wann es ihm passte. So wie er es aus Paris gewohnt war, und wenn es sein musste, auch erst kurz vor Mitternacht.

Vor der Cabane hatte der alte Landrover Defender seines Vaters geparkt. Immer noch nutzte der Austernfischer den Wagen für alle Besorgungen und auch, um im Austernhafen von Gujan-Mestras, seiner alten Wirkungsstätte, nach dem Rechten zu sehen. Luc hatte lächeln müssen, als er an dem alten Jeep vorbeigegangen war. Als er die abgeblätterte Tür der Cabane aufgeschlossen hatte, war ihm der Geruch seiner Kindheit entgegengeschlagen: von Holz, Fisch und Zigarettenrauch. Drinnen war es dunkel, und Luc hatte die Gardinen aufgerissen. Sofort war grelles Sonnenlicht hereingedrungen. Die Hütte war einfach eingerichtet, wenige Möbel aus Holz, ein altes Bett, der fast altertümliche Gasherd, den Luc so liebte. Es war spartanisch, aber fast penibel sauber. Darauf hatte sein Vater immer viel Wert gelegt, auch nachdem ihn seine Frau, Lucs Mutter, verlassen hatte.

Sein Vater und er hatten zusammen in dieser Cabane gewohnt, doch viel hier gewesen waren sie nicht. Eigentlich waren sie nur zum Schlafen hergekommen, und zum Grillen im kleinen Vorgarten, wenn es frischen Fisch gab, Doraden aus dem Atlantik oder Langusten aus der Vendée. Die meiste Zeit waren sie draußen gewesen, auf dem Bassin d’Arcachon, wo die Austernbänke seines Vaters lagen.

Luc hatte aus dem Fenster gesehen und sich an die endlosen Tage am Strand erinnert: Wie er als braungebrannter Jugendlicher mit seinem Surfbrett die Sanddüne vor dem Haus emporgeklettert war, um an den Strand zu gelangen. Ein einsamer Junge mit nur einem Ziel: dem Meer und allem, was dort auf ihn wartete. Ein anderes Bild überlagerte die Erinnerungen an seine Jugend, doch Luc verdrängte es.

 

Er saß wieder im Restaurant und aß die Austern. Jede einzelne war ein Genuss. Und jede einzelne erinnerte ihn an seine Kindheit. Irgendwann um seinen vierten Geburtstag herum probierte er sie zum ersten Mal, roh natürlich. Damals fand er sie noch glibberig und eklig. Aber nur wenig später war er mit rausgefahren, auf dem kleinen roten Fischerboot seines Vaters. Hinaus auf den Bassin der Stadt Arcachon, zu den Austernbänken. Dort hatte Luc gesehen, wie viel Arbeit es machte, die Säcke voller Austern einzuholen, bei Wind und Wetter und auch im Winter. An diesem Tag auf dem Boot hatte er die Kost des Meeres schätzen gelernt und am Abend seinen Teller voller Austern aufgegessen. Seitdem waren sie sein Leibgericht. Und als er heute die erste Auster in den Mund steckte, war alles wieder da.

Jetzt war er wieder in der alten Heimat und konnte Austern essen, bis sie ihm zu den Pariser Ohren herauskamen. Er würde die Menschen seiner Kindheit wiedertreffen. Bei Jacques, über dessen Tür immer noch dasselbe abgeblätterte Schild Boulangerie hing, würde er das krosse Baguette à la tradi essen, wie sie in ganz Frankreich das viel leckere tradition nannten. Kaum ein Franzose würde ein klassisches flûte bestellen, dieses weiche labberige Baguette ließen sie für die Touristen übrig. Bei Jacques hatte er schon als kleiner Junge das tradi fürs Familienfrühstück gekauft, und der damals schon alte Mann hatte ihm – wenn er einen guten Tag hatte – noch ein kleines Pain au Chocolat zugesteckt, das nach Butter und Schokolade schmeckte.

Als Erstes hatte Luc aber sein Lieblingsrestaurant aufgesucht. Gaston bewirtschaftete es mit seiner Frau Eveline, einer Deutschen, die in den Siebzigern als Urlauberin hergekommen war, sich in Gaston verliebt hatte und geblieben war. Lucs Vater hatte bei Gaston und seiner Frau nach langen Tagen auf dem Austernboot immer noch einen Absacker getrunken, und Luc war oft dabei gewesen.

Und dann gab es da noch Rod, den Surfbrett-Bauer, mit seinem kleinen Laden in der Ortsmitte, der Luc die ersten Wellen gezeigt hatte. Ein Mann mit wettergegerbtem Gesicht, schon Mitte April braungebrannt. Vom Arbeiten mit den Surfbrettern war seine Haut ganz rissig, aber selbst jetzt mit Ende sechzig war er noch jeden Tag in seiner Werkstatt und verkaufte seine berühmten Boards.

Luc nahm einen Schluck Wein und brach sich noch ein Stück Brot ab, um es in den Sud zu tunken, als sein Handy klingelte. Warum immer beim Essen? Luc sah auf das Display. Der Anruf kam aus dem Commissariat.

»Verlain?«

»Ja, Commissaire, hier ist Anouk, äh, Commandante Filipetti. Könnten Sie kommen? Am Strand wurde eine Leiche gefunden.«

»Wie bitte?«, Verlain zögerte. An seinem ersten Tag eine Leiche? »Hatte Preud’homme nicht gesagt, bei Ihnen ist es ruhig? Hier gibt’s keine Morde?«

»Ja, Sie haben offenbar Arbeit mitgebracht, Commissaire. Es ist am Strand von Lacanau-Océan, einen Kilometer südlich vom Hauptübergang, am Plage Lion. Soll ich Sie abholen?«

»Nein, vielen Dank. Ich bin mit dem Auto in Carcans, ich komme direkt.«

»Dann bis gleich.«

»Merci, Anouk, äh, Mademoiselle Filipetti.« Verlain biss sich auf die Lippe. »Bis gleich.«

 

»Gaston, kann ich zahlen?«

Der alte Wirt eilte zu ihm auf die Terrasse. Er hatte schon von Lucs Vater gehört, dass der verlorene Sohn wiederkommen würde, aber dass er jetzt wirklich hier saß, war für den Restaurantbesitzer trotzdem etwas Besonderes. Nicht nur, weil Luc nun der Pariser Commissaire war – das galt hier in Carcans Plage gar nicht so viel –, sondern weil er Alains Sohn war, der Sohn des langjährigen Austernlieferanten.

»Was ist los?«, fragte der Mann mit der Stirnglatze und der unvermeidlichen filterlosen Gitanes im Mundwinkel und sah auf den Teller, der noch halbvoll war. »Hat es dir nicht geschmeckt? Seitdem nicht mehr dein alter Herr die Austern liefert, isst du nicht mehr auf?« Das war zwar scherzhaft gemeint, aber die Sorge, Luc könnte vielleicht wirklich etwas zu beanstanden haben, schwang in Gastons Frage mit.

»Gaston«, sagte Luc entrüstet, »wie sollte es mir bei dir nicht schmecken? Ich muss leider zu einem Einsatz, tut mir leid. Ich komme morgen Mittag wieder, und dann erzählst du mir die neuen geheimen Liebschaften des Ortes, ja?«

Gaston lachte. »Gerne, Luc. Und zahlen kannst du auch morgen, aber nur deinen Wein. Für halbvolle Teller kassiere ich nichts.«

Luc lachte, umarmte Gaston und eilte davon. Den Besuch bei seinem Vater würde er heute wohl vergessen können.

 

Er fuhr den Jaguar vom vollen Parkplatz und beschleunigte in Richtung Ortsausgang. Und dann kam das Bild von vorhin wieder. Jetzt würde er es nicht verdrängen können. Ein blondes Mädchen. Hélène. Jahrelang hatte er versucht, sie aus seinen Gedanken zu verbannen. Und jahrelang hatte er jeden Tag an sie gedacht. Hélène und der Atlantik. Nun würde er sich all dem stellen müssen.

An jedem anderen Tag hätte er für den Weg nach Lacanau die Strecke über die breite Route Nationale gewählt. Aber das hätte zwanzig Minuten länger gedauert. Heute musste es schnell gehen. Kurz hinter dem Ortsausgang von Carcans Plage zog er das Steuer nach rechts und fuhr auf die enge kleine Landstraße nach Lacanau-Océan. Kurvenreich führte sie durch den riesigen Wald aus Seekiefern. Die Sonnenflecken tanzten über die Windschutzscheibe, dazwischen immer wieder die Schatten der hohen Bäume. Draußen schwirrten und zurrten die Zikaden. Luc fuhr das Fenster hoch, er wollte sie nicht hören. Zehn Minuten raste er durch die Kurven, die Augen starr geradeaus. Die Bilder dieses frühen Morgens von vor über zwanzig Jahren drängten sich immer wieder vor sein inneres Auge. Kurz vor Le Huga, bevor der Wald endete, versuchte er krampfhaft, nach links zu gucken. Aber natürlich sah er es. Ein schlichtes Holzkreuz am rechten Fahrbahnrand. Er beschleunigte, und als er endlich auf die Departementstraße 6 bog, atmete er tief durch, ließ das Fenster wieder herunter und sog hektisch die Luft ein. Er fuhr hinein nach Lacanau-Océan. Der Hauptort Lacanau lag einige Kilometer landeinwärts, die Strandorte an der Küste besaßen immer diese Namenszusätze, in Carcans war es »Plage«, hier in Lacanau »Océan«.

Hier war alles sehr viel belebter als in Lucs beschaulichem Heimatdorf. Nachdem in den siebziger Jahren die ersten Surfer Lacanau entdeckt hatten, sprachen sich die guten Wellen und der lange Sandstrand rasch herum, und immer mehr Wellenreiter kamen hierher. Obwohl die Verantwortlichen immer darauf geachtet hatten, dass nicht zu viele hässliche Hotels gebaut wurden, konnten sie die lange Strandpromenade mit viel Beton und Souvenirläden nicht vermeiden. Carcans gefiel Luc besser, aber auch Lacanau hatte seine schönen Seiten. Seit Jahren fanden hier weltweit beachtete Surfwettbewerbe statt, doch auch die alternative Wellenreiterszene war dem Ort treu geblieben. Immer noch kamen in der Vor- und Nachsaison die rostigen Surfbusse aus ganz Europa.

Im Zentrum hatte Luc diesmal keinen Blick für die wunderschöne Bäderarchitektur, die Türmchen und Balkone, die Balken und verschiedenfarbigen Giebel. Er flog am Office de Tourisme vorbei und wurde erst langsamer, als er durch die Fußgängerzone fuhr. Hier setzte er auch sein Blaulicht aufs Dach, um die flanierenden Touristen zu warnen, und klappte die Sonnenblende mit der Aufschrift »Police« herunter. Er parkte das Auto am zentralen Strandübergang, wo schon zwei Gendarmeriefahrzeuge mit blinkenden blauen Lichtern standen. Daneben parkte ein Citroën, offensichtlich ein ziviles Fahrzeug der Police Nationale. Vielleicht war es Anouks Wagen.

Luc ging zur Mauer an der Promenade und sah zum ersten Mal den Strand wieder: den goldenen Sand, das Sonnenlicht, das sich in den kleinen Sandkörnern spiegelte, die ebene Fläche links und rechts, die bis zum Horizont reichte. Und dann das Meer. Die Wellen. In Richtung Norden saßen drei oder vier Surfer draußen im Line-Up und warteten auf ihre perfekte Welle. Sie ahnten nichts von dem Unheil an Land, hatten dort draußen nichts mitbekommen von den Polizeiwagen und der Leiche nur einen Kilometer weiter südlich.

Luc stieg die Treppe hinunter und zog seine braunen Lederschuhe und seine Socken aus. Barfuß war er einfach schneller. Vorsichtig machte er die ersten Schritte im heißen Sand und ging dann rasch hinunter zum Wasser, wo er auf dem festeren Sand besser laufen konnte. Immer wieder trafen kleine Wasserzungen seine Füße. Luc lief schneller, doch es dauerte weitere fünf Minuten, bis er das Absperrband erreicht hatte. Es war eine abgelegene Stelle, weit entfernt vom Trubel. Auch die Häuser des Ortes hatten hier schon aufgehört. Hier auf dem Land hatte die kommunale Polizei die erste Absicherung eines Tatorts vorzunehmen. Luc fiel auf, dass die Gendarmen der Police Municipale, die am Flatterband standen und den Strand bewachten, kugelsichere Westen trugen. Dass seit den Terroranschlägen in Paris offensichtlich auch hier verstärkte Sicherheitsvorkehrungen herrschten, bedrückte den Commissaire. Nur ein einziger Polizist trug ausschließlich sein Uniformhemd. Er war dick und klein und lief behände hin und her. Luc erkannte ihn sofort.

»Stopp, Monsieur, das hier ist ein Tatort. Sie dürfen nicht weiter.« Ein Beamter der Gendarmerie hielt seinen Arm vor das Flatterband, damit Luc es nicht hochnehmen konnte.

Verlain lächelte und zeigte dem beflissenen Kollegen seinen Dienstausweis. »Commissaire Luc Verlain.«

Der Gendarm schaute ihn erstaunt an. »Ist das was für die Pariser Mordkommission?«

»Nein, keine Sorge. Ich habe mich versetzen lassen und bin noch nicht dazu gekommen, meinen Ausweis ändern zu lassen.«

»Verzeihen Sie, Commissaire. Willkommen.«

Der Mann in dem Uniformhemd kam Luc entgegen und rief seinen Namen.

»Lou, Wahnsinn, wie lange ist das her?«

Sie fielen sich in die Arme. Die Wiedersehensfreude war groß, auch wenn sie sich an einem Tatort befanden.

»Zu lange, alter Junge. Hier herrscht schon fast die Prohibition, seitdem du weg bist. Wird Zeit, dass wir mal wieder was trinken gehen.« Luc musste grinsen. Sein Freund Lou sah nicht aus, als wäre er seit seinem Weggang von hier zum Kostverächter geworden. »Ich habe schon gehört, dass du zurückkommst. Der dienstbeflissenste Polizist Frankreichs wurde uns angekündigt. Richard und ich wollten eine Willkommensparty schmeißen.«

»Eine gute Idee. Wir müssen unbedingt bald mal was trinken gehen, mein Lieber. Aber jetzt erzähl mal, was ist hier los?«

»Warte noch kurz, da hinten kommen Etxeberria und sein Team. Mit dieser heißen Filipetti.« Lou lächelte.

Verlain kannte ihn noch aus seinen Anfangszeiten bei der Police Nationale. Sie hatten sich sofort gut verstanden und waren die ganze Zeit über in Kontakt geblieben. Lou wollte damals nichts wissen von den höheren Weihen der Polizei und war ein einfacher Beamter geblieben. Inzwischen war er Chef der Police Municipale in Lacanau und Umgebung. Er verdiente gutes Geld, trug ein wenig Verantwortung und konnte jeden Abend pünktlich zum Essen zu Hause sein. Und seine Frau kochte sehr gut, das sah man ihm an. In Lacanau passierte nichts, ohne dass Lou davon wusste. Er war de facto der Bürgermeister der Gegend und kannte sämtlichen Klatsch und Tratsch. Luc wusste, wie sehr Lou diese Lebensweise schätzte, auch wenn er selbst sich zu Tode gelangweilt hätte, dauerhaft an diesen kleinen Ort gebunden.

»Commissaire Verlain, Sie sind schon hier?« Etxeberria war erstaunt. Seine Stirn lag in Falten, eine heruntergebrannte Kippe klemmte im Mundwinkel. Sein neuer Kollege sah wirklich aus wie eine Karikatur des bösen Polizisten, erst recht hier am Tatort, dachte Luc.

»Ich habe ihn angerufen«, sagte Anouk an Etxeberria gewandt und lächelte Luc zu. Es klang kein bisschen entschuldigend.

»Danke, Anouk, dass Sie unseren Pariser Freund informiert haben.« Jetzt war aus den Falten ein Runzeln geworden, er war miesester Stimmung. »Lou, zeigen Sie uns den Fundort, bitte!« Etxeberrias Aufforderung klang wie ein Befehl.

 

Sie folgten Lou zu den Männern in den weißen Anzügen, den Gerichtsmedizinern und Kollegen von der Spurensicherung. Die Sonne brannte erbarmungslos auf den Strand. Die Wellen schlugen heftig aufs Land. Der Lärm und das Getöse übertönten die Gespräche der Beamten.

Lou schrie gegen die Wellen an. »Es ist ein Mädchen, 17 Jahre. Ihr Name ist Caroline Derval. Sie kommt aus Brach, Sie wissen schon, dieses Kaff hinter Lacanau. Sie hatte ihren Ausweis dabei. Keine Ahnung, was sie hier hinten am Strand wollte. Es gab ja ein Strandfest gestern Abend, aber das war vorne an der Promenade.«

Luc hörte Lous Erklärungen zu, schaute seine Kollegen an und dachte darüber nach, wie diese Situation auf Außenstehende wirken musste: Da standen sie in ihrer Professionalität und sprachen über einen toten Menschen. Und dann erst fiel der Blick auf den Boden: Dort lag das blonde Mädchen, das Gesicht abgewandt, Blut war auf dem Hinterkopf geronnen. Sie hatte strohblonde, von der Sonne gebleichte Haare. Luc hätte gerne ihr Gesicht gesehen. Dieses große schlanke Mädchen musste eine Schönheit gewesen sein. 17 Jahre … Wie viele Mädchenleichen hatte er im Laufe seiner Karriere schon sehen müssen. In den Pariser Vororten war er an so manchem Tatort gewesen, an dem ihm die Grausamkeit und Banalität des Todes das Blut in den Adern gefrieren ließen. Die Opfer wurden immer jünger. Drogen, Prostitution, häusliche Gewalt. Oder alles zusammen. Und jedes Mal wieder war er aufs Neue geschockt, abgestoßen, voller Mitgefühl.

In Situationen wie hier am Strand von Lacanau krampfte sich immer noch alles zusammen, und er war sich sicher: Wenn das eines Tages aufhören sollte, würde er den Job hinwerfen. Er wollte nicht so sehr abstumpfen, dass er nur noch das Opfer und nicht den Menschen, nur noch den Fall und nicht das tragische Schicksal sah. Auch wenn er versuchte, immer eine professionelle Distanz zu wahren, verfolgten ihn viele seiner Fälle bis in den Schlaf.

 

Das Mädchen war mit einer schwarzen Lederjacke und einer Jeans bekleidet. Auch an der Jacke waren Spuren geronnenen Blutes zu sehen. Der Anblick war gespenstisch. Immer wieder beugte sich einer der Männer in den weißen Anzügen zu ihr herunter. Und dann drehte einer die Leiche um. In diesem Moment bekam sie ein Gesicht. Ein menschliches. Ein schönes. Sie hatte helle Haut, die Augen waren geöffnet und dunkel. Es lag ein sanfter Zug darauf, keine Wut, kein Entsetzen. Ihre Lippen waren leicht geöffnet, so als wollte sie eben noch etwas sagen, vielleicht hatte sie auch schreien wollen. Sie war ohne Zweifel eine junge Frau gewesen, die die Blicke auf sich gezogen hatte, ohne dass sie etwas dagegen hätte tun können.

Etxeberria rief den Gerichtsmediziner heran. Verlain kannte ihn nicht. »Was wissen Sie schon?«