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Als Security im Dienst der Puffmutter Ruby-Jean stellt Nancy sicher, dass die Regeln des Etablissements befolgt werden - notfalls mit ihrem stupsnasigen Revolver, versteckt in ihrem Strumpfband. Unerwartet trifft sie auf Mike, und zwei Welten prallen aufeinander. Zwar verbindet sie eine kurze gemeinsame Kindheit, doch diese unbeschwerte Zeit hatte einst ein gewaltsames Ende für Nancy gefunden. Seitdem ist sie geprägt von Wut und Einsamkeit. Dazu hinterlässt das gefährliche Leben im Rotlicht seine Spuren, die einen tiefen Graben zwischen Nancy und Mike aufreißen. Eine Geschichte über Liebe und Schicksal, Schuld und Vergebung.
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Seitenzahl: 278
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From heart-break some people have suffered, from weariness some people have died. But take it all in all; our troubles are small, till we get like Bonnie and Clyde.
Bonnie Parker, The Trail’s End (1934)
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Epilog
Danksagungen
Soundtrack
Über die Autorin
Scheinwerfer strahlten auf den geschlossenen bordeauxfarbenen Samtvorhang der kleinen Bühne und die eingewebten Goldfäden schimmerten im Licht.
Die Musik wurde leiser. Die Vorhänge wurden gelüftet. Eine schwarzhaarige Frau in einem gelben Regenmantel und mit einem schwarzen Regenschirm trat hervor.
Das Lied Umbrella von The Baseballs lief. Aufreizend tanzte sie dazu und zeigte kurz, dass sie unter dem Mantelnichts trug bis auf einen schwarzen Tanga. Sie öffnete den Schirm, nutzte ihn als Sichtschutz und schälte sich elegant aus dem Mantel. Sie drehte sich mit dem Rücken zum Publikum, schloss den Schirm und legte ihn links von sich auf den Boden.
Jemand kam von der Seite und tauschte ihn gegen einen anderen aus, während die Tänzerin mit den Pobacken rhythmisch zur Musik wackelte. Dann hob sie den Schirm auf, öffnete ihn, drehte sich herum und stellte mit gespielter Scham fest, dass er transparent war. Die Gäste applaudierten und pfiffen.
Die Tänzerin warf den aufgespannten Schirm hinter sich und tanzte an der Stange in der Mitte der Bühne weiter.
Nancy saß an der Bar und ließ den Blick schweifen. Es war Freitagabend und an den runden Tischen vor der kleinen Bühne saßen die Gäste dicht gedrängt.
Die Luft war stickig vom Zigarettenrauch. Bekannte nickten Nancy freundlich zu und andere sahen skeptisch zu ihr. Jemand wie sie fiel hier auf: dunkelgrüne Haare, Nietenhalsband, karierter Faltenrock, zerschlissene Netzstrümpfe und schwere Stiefel.
Nancy drehte sich zum Tresen herum, trank einen Schluck Whiskey Cola und sah auf den schwarzen Lippenstiftabdruck, den sie auf dem Glas hinterlassen hatte. Just in dem Moment, in dem sie sich einen Zigarillo ansteckte, rempelte sie jemand im Vorbeigehen an.
»Hey!« Sie wandte sich zu ihm um, doch der Mann ignorierte sie und hastete weiter zum Ausgang. Nancy kam es verdächtig vor, dass er es so eilig hatte, deshalb sprang sie vom Hocker und folgte ihm.
Die kühle Septemberluft schlug ihr entgegen und wurde von Geschrei durchschnitten. Nancy sah nach oben. Aus einem Fenster im ersten Stock keifte eine Prostituierte: »Der Penner hat nicht bezahlt!«
Der Mann hielt kurz erschrocken inne, drehte sich aber nicht um und eilte weiter zum Parkplatz. Nancy schnippte fluchend ihren Zigarillo weg und folgte ihm.
Er steuerte auf ein Auto zu, welches seine besten Tage hinter sich hatte. Selbst im Dunkeln konnte man sehen, dass der Rost an verschiedenen Stellen blühte und die Schürze vorn nur von zwei Kabelbindern gehalten wurde. Es passte zum Besitzer, der genauso ungepflegt und heruntergeritten aussah.
Er stieg ein und Nancy beobachtete, wie er mehrmals den Schlüssel im Zündschloss drehte. Statt des Motorengeräusches ertönte nach der Drehung nur ein klägliches Leiern. Wütend schlug er mit der flachen Hand auf das Lenkrad und schimpfte: »Verdammter Schrotthaufen!«
Nancy riss die Fahrertür auf. »Aussteigen«, sagte sie knapp. Er lachte auf. Sie hielt ihm ihren stupsnasigen Revolver unters Kinn. Er schluckte schwer. »Aus-«, wiederholte sie und spannte den Hahn, »-steigen.«
Widerwillig stieg er aus. Nancy hielt die Waffe auf ihn gerichtet. In der Zwischenzeit war die keifende Prostituierte auf ihren High Heels angestöckelt gekommen. Sie trug nur einen knappen Morgenmantel aus rosa Satin über ihren Dessous.
»Was war los?«, fragte Nancy, ohne den Revolver zu senken.
»Der Wichser hat nicht bezahlt!«
»Doch, hab ich!«, protestierte er. »Aber ich bezahle nicht den vollen Preis für diese Nullnummer!«
Die Prostituierte stieß einen verächtlichen Lacher aus und zog aus ihrem BH ein benutztes Kondom, welches sie triumphierend hochhielt. Nancy verzog angewidert das Gesicht.
»Du hast abgespritzt! Nicht mein Problem, wenn du schon nach dreißig Sekunden fertig bist. Ich kassier nach Fick, nicht nach Stunden. Beziehungsweise bei dir nach Sekunden.«
»Du hast die Lady gehört«, sagte Nancy. »Gib ihr das Geld.«
»Und was, wenn nicht? Glaubt ihr verrückten Weiber, ihr könnt mir mit’ner Schreckschuss Angst einjagen?«
Genervt verdrehte Nancy die Augen, sah sich kurz um und schoss daraufhin auf den Seitenspiegel seines Autos. Der Spiegel samt Abdeckung wurde von der Kugel zerfetzt. Übrig blieb ein Stummel, aus dem Kabel ragten.
»Mein Auto!«, brüllte der Mann. »Verdammte Scheiße! Du verrückte Schla…«
Bevor er das Wort aussprechen konnte, zielte Nancy auf ihn und schnalzte mit der Zunge. »Tz,tz,tz. Achte auf deine Wortwahl. Geld. Jetzt.« Sie senkte den Revolver und richtete ihn auf seinen Schritt. »Sonst passiert das Gleiche mit deinem Schwanz.«
Mit zittrigen Händen fummelte er sein Portemonnaie aus seiner Gesäßtasche und gab es der Prostituierten, die sich großzügig bediente und ihm daraufhin die leere Geldbörse vor die Füße warf.
»Ich hab mir deine Hackfresse eingeprägt«, fuhr Nancy fort. »Auf Kunden wie dich können wir verzichten. Also denk nicht mal dran, hier wieder aufzukreuzen. Und jetzt verzieh dich.«
Der Mann hastete zu seinem Auto. Beim Versuch, vom Parkplatz zu fahren, würgte er den Motor zweimal ab, bis er mit quietschenden Reifen davonfuhr.
»Was ein Wichser«, sagte Nancy, drehte sich zur Prostituierten um, die mit breitem Grinsen das Geld zählte, und nahm ihr einen Fünfzig-Euro-Schein ab.
Die Frau setzte zum Protestieren an, doch Nancy schnitt ihr das Wort ab.
»Aufwandsentschädigung. Man kassiert immer im Voraus, verstanden?«
Beleidigt nickte sie und stöckelte zurück zum Bordell. Nancy blieb stehen und atmete die kühle Luft tief ein und wieder aus.
»Nancy, Ruby-Jean will dich sehen«, rief Kalle vom Eingang der Bar aus. Er war einer der Türsteher und einen halben Kopf kleiner als sie. Sein Schädel war kahl rasiert und er hatte einen muskulösen Oberkörper, was ihm ein gedrungenes Aussehen verlieh. Er erinnerte sie an einen Brückentroll.
Seufzend nickte Nancy und trottete zur Bar.
Nancy ging durch eine Tür mit der Aufschrift »Privat« rechts vom Tresen, passierte die Umkleide und blieb vor Ruby-Jeans Büro stehen. Sie klopfte an und es folgte ein schroffes »Herein!«.
Das Büro war kaum größer als eine Abstellkammer. Es gab nur ein kleines, vergittertes Fenster. Auf dem Schreibtisch, der den halben Raum einnahm, stapelten sich Papiere. Dahinter saß Ruby-Jean. Sie erhob sich aus dem mit Leopardenplüsch überzogenen Chefsessel, welcher erleichtert seufzte.
»Was zur Hölle war da draußen los?«, blaffte die Puffmutter und zündete sich eine Zigarette in ihrer schwarzen Zigarettenspitze an. Ihr knallroter Lippenstift hinterließ darauf einen Abdruck.
Müsste man Ruby-Jean mit einem Wort beschreiben, dann wäre es voluminös, und das bezog sich nicht nur auf ihre Körpermaße. Ihre Stimme, ihre blonden Locken, ihre ganze Persönlichkeit dehnten sich räumlich aus.
»So’n Typ hat versucht, eine der Nutten abzuziehen. So wie ich das verstanden habe, hat er ihr zu wenig Geld gegeben, weil er zu schnell gekommen ist.« Nancy ließ sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch plumpsen und zündete sich einen Zigarillo an.
Ruby-Jean massierte sich die Stirn. Ihre perfekt manikürten Nägel waren in demselben Rot gehalten wie ihre Lippen.
Der Chefsessel ächzte unter der erneuten Belastung, als Ruby-Jean sich wieder hineinsetzte. »Musst du immer gleich so …deutlich werden?«
Nancy zuckte mit den Achseln. »Wenn du den Schuss meinst: Der Typ hat mich nicht ernst genommen, da musste ich deutlich werden.«
»Aber geht das nicht unauffälliger? Da kommt dein amerikanisches Blut durch. Wir sind hier nicht im Wilden Westen. Was ist, wenn jemand das gesehen hat?«
»Hat aber keiner.«
»Aber hätte.«
»Hat aber niemand.«
Ruby-Jean massierte jetzt ihre Schläfen. »Was denken diese Wichser eigentlich, wer sie sind? Die kommen in meine Bar, in mein Bordell und wollen ihre eigenen Regeln aufstellen? Das ist hier kein billiger Ostblockpuff mit Herpes inklusive! Gott verdammt!« Sie redete sich immer weiter in Rage. »Das ist ein Edelbordell mit Burlesque-Bar! Das Kultivierteste, was es in diesem beschissenen Kaff gibt! Das ist, als würde man der Mona Lisa im Louvre ins Gesicht rotzen und dann den Eintritt zurückverlangen!«
Sie beendete ihren Satz mit einem kräftigen Schlag mit der flachen Hand auf den Schreibtisch. Die Erschütterung genügte, dass einer der Papierstapel sich zur Seite neigte. Erst glitt ein Blatt langsam herunter, gefolgt von weiteren, bis der gesamte Stapel auf den Boden rutschte.
Nancy bückte sich danach, um ihn aufzuheben. »Mona Lisa? Louvre? Jetzt übertreibst du aber, findest du nicht? Hier kommen Männer, um zu vögeln. Der einzige Unterschied zu einem billigen Ostblockpuff ist, dass es hier keine Zuhälter gibt und es deutlich mehr kostet.«
Sie verkniff sich weitere Kommentare zur sogenannten Burlesque-Bar, denn im Grunde war es nur ein Stripclub mit Thema.
Ruby-Jean antwortete mit einem verächtlichen Schnaufen. »Du wirst ganz schön frech, ich sollte dir das Taschengeld streichen.« Nachdem Nancy den Stapel Papiere halbwegs ordentlich auf dem Schreibtisch abgelegt hatte, hob sie ergeben die Hände und setzte sich wieder in den Stuhl. »Sorry, Mutti. War ein stressiger Abend.«
Ruby-Jeans Blick fiel auf die Wanduhr über der Tür. »Es ist schon spät, meinetwegen kannst du Feierabend machen.«
Nancy nickte gähnend. Mittlerweile war es kurz nach drei. Um sechs wurde die Bar geschlossen. Das Bordell blieb rund um die Uhr geöffnet. Sie drückte ihren Zigarillo im gläsernen Aschenbecher aus, stand auf und wünschte Ruby-Jean eine gute Nacht.
Vor der Wohnung angekommen, glitt Nancy der Schlüsselbund zweimal in Folge aus den Fingern. Das Adrenalin war versiegt und ihre Hände zitterten. Fluchend hob sie ihn auf und fummelte weiter nach dem richtigen Schlüssel.
Als sie endlich allein in ihrem Zimmer war, entspannte sie sich. Sie öffnete das Fenster. Die kühle Luft half ungemein und sie ließ sich auf ihr Bett fallen. Für einen Moment schloss sie die Augen und fasste nach ihrem Revolver, der in ihrem Oberschenkelholster steckte.
Es war mit Spitze und einer Schleife verziert und sah so wie ein Strumpfband aus. Sie befühlte den kurzen Lauf. Seufzend stand sie auf und zog sich bis auf den Slip aus.
Sie legte die Waffe auf ihrem Schreibtisch ab und stellte den CD-Player an. Das Album Stranger than Fiction von Bad Religion lief und sie zog ein altes Motörhead-T-Shirt an.
Sie ging in die Küche und nahm aus dem Schrank ein Glas und aus dem Kühlschrank eine Flasche Cola. Zurück in ihrem Zimmer holte sie den Whiskey aus dem Nachtschrank. Dann setzte sie sich an den Schreibtisch, öffnete die Trommel ihres Revolvers und entlud ihn. Sie tränkte einen Wollwischer mit Waffenöl und schob ihn mehrmals in den Lauf und in die Trommelbohrungen.
Mit jeder Bewegung beruhigten sich ihre Hände und sie summte zu dem Lied Tiny Voices. Während das Öl einwirkte, goss sie Whiskey und Cola in das Glas, danach zündete sie sich einen Zigarillo an.
Nach zwei Drinks schob sie eine Bronzebürste mehrmals durch den Lauf und die Trommelbohrungen. Sie nahm ein Tuch mit der Reinigungslösung, rieb ihren Revolver damit ab und polierte ihn zum Schluss.
Müde rieb Nancy sich die Augen und gähnte ausgiebig. Sie räumte auf und kroch ins Bett.
Mit dumpfen Kopfschmerzen und einem verstimmten Magen wachte Nancy am nächsten Tag auf. Zum Glück waren die Vorhänge zugezogen. Sie fühlte sich, als würde sie zu einem Haufen Asche zerfallen, wenn nur der kleinste Sonnenstrahl sie traf. Am liebsten hätte sie ihren Kater komplett verschlafen, aber egal wie sie sich drehte und wendete, sie hielt es nicht mehr im Bett aus. Zu allem Überfluss meldete sich ihre Blase und zwang sie zum Aufstehen.
Wankend verließ sie ihr Zimmer und ging ins Bad, um sich zu erleichtern. Zurück im Flur, hörte sie das Rauschen und Glucksen der Kaffeemaschine. Der Geruch frischen Kaffees hing in der Wohnung und allein die Vorfreude auf eine Tasse milderte ihre Kopfschmerzen.
»Guten Morgen oder sollte ich Mahlzeit sagen?«, begrüßte Ruby-Jean Nancy. Sie hatte ihre morgendliche Routine schon längst vollzogen und saß frisiert und parfümiert am Küchentisch. Nancy stand blinzelnd da und kratzte sich am Kopf. Wie Ruby-Jean es schaffte, so frisch und wach zu sein, obwohl sie später im Bett gewesen war, war ihr ein Rätsel.
»Morgen«, sagte sie gähnend und rieb sich die Augen.
»Kaffee ist fertig. Wie hast du geschlafen?«
Als Antwort grunzte sie nur und schlurfte zur Kaffeemaschine.
»Wieder zu tief in die Flasche geschaut?«, neckte Ruby-Jean sie. Nancy grunzte erneut und schenkte sich Kaffee ein.
»Wirst du heute den ganzen Tag so mit mir kommunizieren?«
Der Kaffee war für Nancy im Moment wichtiger. Genüsslich inhalierte sie den Duft und nahm einen wohltuenden Schluck. Dann tippte sie auf ihren Becher, um auf den Spruch darauf hinzuweisen: Nicht vor dem ersten Kaffee ansprechen! Lebensgefahr!
Lächelnd schüttelte Ruby-Jean den Kopf und zündete sich eine Zigarette an. »Ich hoffe, bis heute Abend bist du wieder fit. Vergiss nicht, dass du heute Schicht hast. Es ist Samstag, da wird es wieder voll.«
Nancy schlürfte den letzten Schluck und füllte sich nach. »Keine Sorge«, sagte sie und steckte sich einen Zigarillo an.
Seufzend stieß Ruby-Jean den Rauch aus und ihre Miene wurde ernst. »Kommst du auch wirklich klar? Ich meine, es ist nicht gesund, sich nach so etwas wie gestern zu betrinken.«
Nancy lachte kurz auf. »Deine Sorgen in allen Ehren, aber so etwas von einer Puffmutter zu hören, ist schon amüsant.«
Ruby-Jean verschränkte die Arme und lehnte sich zurück, dabei schob sie ihre Unterlippe vor, so wie sie es immer tat, wenn sie die Beleidigte spielte.
»Oh, tut mir leid«, sagte Ruby-Jean gedehnt, »aber ich sorge mich nun mal um dich.«
Nancy drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. »Weiß ich doch, Mutti. Alles gut. Außerdem waren es nur ein paar Drinks. Ich geh erst mal duschen.«
Minutenlang ließ Nancy sich das kühle Wasser über den Kopf laufen. Das Pochen in ihren Schläfen wurde schwächer. Sie dachte darüber nach, dass Ruby-Jean sich um sie sorgte. Mittlerweile hatte sie sich daran gewöhnt.
Fünf Jahre war es her, dass die achtzehnjährige Nancy durch die Straßen geirrt war und einen Platz für die Nacht gesucht hatte, wo sie bis zum Morgen bleiben konnte. Dabei hatte sie ein Zuhause gefunden.
»Mäuschen, ich geh einkaufen!«, rief Ruby-Jean durch die Badezimmertür und unterbrach Nancys Erinnerungen. »Brauchst du noch etwas?«
»Cola!«, antwortete Nancy.
Nach der Dusche suchte sie aus dem Kleiderschrank Klamotten heraus. Ihre gestrige Kleidung stank nach Zigarettenrauch. Nancy entschied sich für ein schwarzes T-Shirt mit dem Misfits-Logo und einen hellgrün karierten Faltenrock, dazu Netzstrümpfe, die wie Spinnweben aussahen.
Zufrieden mit ihrem Horrorpunk-Outfit betrachtete sie sich im Spiegel an der Schranktür. Nancy ging zurück ins Badezimmer, um sich zu frisieren und zu schminken.
Nachdem sie fertig war, öffnete sie das Fenster in ihrem Zimmer und setzte sich mit einem Zigarillo in die Fensterbank. Es war nichts los auf der Straße.
Da das Ruby’s Rooms am Rand des Industrie- und Gewerbegebiets lag, gab es wenig Durchgangsverkehr. Man musste von der Hauptstraße mehrmals abbiegen, eine Tankstelle, einen Imbiss und eine Großraumdisco passieren und dann noch ein Stück weiter. Zufällig kam kaum jemand hierher.
Nancy sah hinüber zu einem Feld und der dahinterliegenden Autobahn. Die Sonne schien und wärmte ihr Gesicht. Sie überlegte, was sie bis zum Abend machen sollte. Trotz des Kaffees und der Dusche war sie müde.
»Hallo, Nancy!«, grüßte die Prostituierte von gestern, als sie am Fenster vorbeikam. Sie war in Begleitung zweier anderer Frauen, die vermutlich ebenfalls Mieterinnen des Etablissements waren.
»Hi!«, erwiderte Nancy lächelnd.
»Ihr hättet gestern dabei sein müssen!«, sagte die Frau zu den anderen beiden. »Der Typ hat sich bald in die Hose geschissen! Gut, dass wir jemanden wie Nancy hier haben.« Dann sagte sie zu Nancy: »Noch mal vielen Dank!«
»Kein Problem. Ist schließlich mein Job.«
»Trotzdem, woanders wären wir nicht so gut aufgehoben. Grüß Ruby-Jean ganz lieb von uns!«
»Mach ich.«
Die drei Frauen winkten zum Abschied und gingen weiter Richtung Bordelleingang. Nancy war es ein wenig peinlich, dass sie ihre Namen nicht wusste.
Das lag unter anderem daran, dass die Mieterinnen wechselten und Nancy nur Kontakt mit ihnen hatte, wenn es Ärger gab. Die meiste Zeit jedoch verlief alles friedlich. Manche der Damen waren auch sehr eigenbrötlerisch.
Nancy drückte ihren Zigarillo aus und ging in die Küche, um etwas zu essen. Sie machte sich eine Portion Lasagne vom Vortag in der Mikrowelle warm.
Nach dem Essen legte sie sich auf ihr Bett und döste ein.
»Shit!«, rief Nancy aus. Es war kurz nach achtzehn Uhr und sie sollte bereits unten in der Bar sein. Es war ein Fehler gewesen, ohne Wecker einzuschlafen. Sie eilte ins Badezimmer, pinkelte, kontrollierte ihr Aussehen und lief aus der Wohnung.
Vor der Tür zur Bar hielt sie inne, atmete tief ein und aus und grüßte Kalle lässig.
Rockabilly-Musik lief im Hintergrund und das Licht der kleinen Schirmlampen auf den Tischen kam kaum durch den Zigarettenrauch, der permanent in der Bar hing. Sie sah sich um, viele Gäste waren nicht da. Eine Vierergruppe saß an einem Tisch, ansonsten waren vereinzelt Männer über die Bar verteilt.
Nancy setzte sich an die Theke und zündete sich einen Zigarillo an. Seufzend schloss sie die Augen und massierte sich die Schläfen. Das plötzliche Aufwachen und die Hetze äußerten sich als leichter Schwindel.
Sie öffnete ihre Augen wieder. Vor ihr stand ein Becher Kaffee.
»Du bist ein Gedanken lesender Engel«, sagte Nancy und trank einen Schluck. Rosie lächelte und ihre fülligen Wangen schoben sich hoch, sodass ihre Augen nur noch kleine, glänzende Schlitze waren.
»Eine gute Barkeeperin erkennt schon beim Reinkommen, welchen Drink der Gast braucht«, sagte Rosie zwinkernd.
»Und ansonsten alles ruhig hier?«
»So weit alles in Ordnung.«
Ruby-Jean betrat von der Seite die Bühne und kündigte mit ihrer kraftvollen Stimme die erste Nummer des Abends an. Eine eigene Interpretation des Elvis-Klassikers Jailhouse Rock . Nancy hätte mittlerweile selbst mittanzen können, so oft, wie sie sie schon gesehen hatte.
Zwei knapp bekleidete Polizistinnen führten eine Frau in einem ebenso knappen Häftlingskostüm auf die Bühne und zogen sie dann nach und nach aus, bis zwei weitere Häftlinge kamen und die Polizistinnen auszogen.
Gelangweilt stützte Nancy ihren Kopf mit der Hand und blies den Rauch durch die Nase. Jeden Samstagabend das Gleiche zur Eröffnung. Angestrengt überschlug sie in Gedanken, wie viele Samstage es in den letzten fünf Jahren gewesen waren.
Rosie riss sie aus ihrem Gedankenexperiment mit der Frage, ob sie einen weiteren Kaffee wolle. Gähnend nickte Nancy. Trotz des vielen Schlafs war sie nach wie vor müde.
Sie erwischte sich dabei, dass sie sich wünschte, jemand würde Ärger machen. Denn dann hätte sie wenigstens etwas zu tun. Alles, was ihr zur Ermunterung blieb, war die stetige Versorgung mit Kaffee durch Rosie.
»Öhm, Entschuldigung«, hörte Nancy links von sich. Sie trank ihren Kaffee und sah aus dem Augenwinkel hinüber. Ein langer, dürrer Mann, anscheinend knapp alt genug, um überhaupt in die Nähe des Ruby’s Rooms zu kommen.
»Was gibt’s?«, fragte Nancy und zündete sich einen Zigarillo an.
»Wie viel?«, erwiderte er so leise, dass es in der Musik fast unterging.
»Wie viel was?«
»Öhm, ich weiß nicht, so stundenweise?«
Nancy verdrehte die Augen und stieß seufzend den Rauch aus ihrer Lunge. »Für was?«, fragte sie daraufhin.
»Na ja …« Er knetete nervös seine Finger. »So Sachen halt. Nichts Extravagantes. Standard halt.«
Nancy bemerkte, wie er wiederholt kurz hilfesuchend zu einer Gruppe an einem der Tische sah. Die Männer machten ermutigende Gesten. Sie erkannte ein paar der Gesichter, und als sich ihre Blicke trafen, schauten die Männer weg.
»Geh wieder zu deinen Kumpels«, sagte sie genervt.
»Aber die haben gesagt …«
»Ist mir scheißegal, was die gesagt haben. Du kannst ihnen ausrichten, noch einmal so was und sie bekommen Hausverbot.«
»Aber …«
»Jetzt verpiss dich schon!«
Er lief rot an und kehrte mit gesenktem Kopf zu den anderen zurück, die in Gelächter ausbrachen, welches abrupt verstummte, als Nancy sie böse über die Schulter anfunkelte.
»Ich fasse es einfach nicht«, sagte sie. »Guck dir diese Halbaffen an. Machen sich einen Spaß daraus, ihren Kumpel zu verarschen, indem sie behaupten, dass ich eine Nutte wäre. Machste mir mal was Stärkeres als Kaffee?«
Die Barfrau nickte, gab zwei Eiswürfel in ein Glas und übergoss sie mit Whiskey und Cola. »Mach dir doch nichts draus«, sagte Rosie beschwichtigend und stellte ihr den Drink hin. »Der arme Junge hat sich doch fast in die Hosen gemacht, und der Spott gilt ihm, nicht dir.«
Nancy nahm einen großen Schluck und beobachtete daraufhin die Eiswürfel. »Ja, aber trotzdem«, erwiderte Nancy, ohne den Blick von ihrem Drink zu nehmen. »Die glauben, alles, was hier ein Paar Titten hat, wäre käuflich.«
»Süße, diese Bar hier gehört zu einem Bordell«, sagte Rosie mit einem mütterlichen Unterton.
In einem Zug trank Nancy ihr Glas leer und zerbiss krachend einen Eiswürfel. »Machste mir noch einen?«
Rosie schenkte ihr nach und sagte seufzend: »Bei mir ist es schon eine Weile her, dass mir ein Mann schöne Augen gemacht hat, selbst hier. Ach, ich werde alt. Hier, bitte.« Sie schob Nancy das Glas hin. »Du hättest mich vor dreißig Jahren sehen sollen, als ich etwa in deinem Alter war. Damals hätte ich sämtliche Herzen der Männer hier gebrochen.«
Nancys Blick fiel auf Rosies Ehering, den sie an einer dünnen Goldkette um den Hals trug. »Wie lange bist du eigentlich verheiratet?«, fragte Nancy und nippte an ihrem Whiskey.
»Seit Mai sind es volle dreißig Jahre.«
»Und deinen Mann stört es nicht, dass du hier arbeitest?«
Rosie lachte laut auf und ihr großer Busen wippte dabei auf und ab. »Rate mal, wo ich ihn kennengelernt habe. Sag mal, hast du eigentlich mittlerweile jemanden?«
Nancy schüttelte den Kopf und steckte sich einen Zigarillo an, dann roch sie ein allzu vertrautes Parfum. Ruby-Jean stand hinter ihr.
»Na, alles so weit gut?«, fragte sie. Ihre Hand ruhte auf Nancys Schulter.
»Jepp, bis auf die Bengel dahinten. Die meinten, sich einen Spaß daraus zu machen, ihrem dürren Kumpel zu erzählen, ich wäre käuflich. Hättest das lange Elend sehen sollen, wie er zitternd vor mir stand.«
Ruby-Jean kicherte und zog an ihrer schwarzen Zigarettenspitze. »Dann bin ich ja beruhigt. Da morgen Sonntag ist und du gestern eine – nennen wir es mal –, Sonderschicht einlegen musstest, kannst du um zwölf gehen.«
»Geht klar, danke.«
»Ach, und Rosie? Versorge mein Mäuschen mit ausreichend Kaffee. Wir wollen ja nicht, dass sie bei der Arbeit einpennt.«
Nancy zuckte leicht zusammen, denn sie war erwischt worden.
»Guck nicht so.« Ruby-Jean grinste. »So wie du zehn nach sechs die Treppe heruntergepoltert bist, war es nicht zu überhören. Ich ziehe mich in mein Büro zurück, tüdelü!«
Selbst Minuten später, als Nancy bei ihrem dritten Kaffee war, stand neben ihr eine Wolke von Ruby-Jeans Parfum.
Je später es wurde, desto voller wurde die Bar. Einige Männer pfiffen erfreut über die Vorstellungen, benahmen sich ansonsten aber. Nicht eine einzige Beschwerde seitens der Bedienungen, obwohl es eine Zeit lang zu einem regelrechten Volkssport unter den Gästen ausgeartet war, den freizügig gekleideten Damen einen Klaps auf den Po zu geben, wenn sie sich vorbeugten, um die Getränke auf den Tisch zu stellen.
Vor einem Jahr hatte es einen Vorfall gegeben, bei dem eine Tänzerin auf der Toilette bedrängt worden war. Nancy erinnerte sich genau, dass sie damals aus dem Augenwinkel gesehen hatte, wie ein Mann auf die Damentoilette getorkelt war.
Sie hatte ein ungutes Gefühl gehabt. Im besten Fall wäre es ein Betrunkener gewesen, der die Türen verwechselt hatte. Aber Nancys Bauchgefühl hatte sie nicht getäuscht.
Durch die verschlossene Kabine hatte sie die gedämpften Rufe der Frau gehört und durch den Spalt die Beine des Kerls gesehen. Nancy hatte sich auf den Boden gehockt, ihn an den Fesseln gepackt und ruckartig gezogen.
Bevor er wieder aufstehen konnte, war sie auf die Toilette nebenan und über die Trennwand gestiegen. Dann hatte sie sich mit ihrem ganzen Gewicht auf ihn fallen lassen. Das war damals zu viel für die Scharniere der Tür gewesen. Er und Nancy waren hindurchgekracht.
Der Lärm hatte die Aufmerksamkeit der anderen auf sich gezogen und kurz darauf war der Mann hinausgeworfen worden. Wortwörtlich. Kalle und Nancy hatten ihn gepackt und mit vereinten Kräften durch die Tür nach draußen geschleudert.
Die Tänzerin, die mit Künstlernamen Coco hieß, hatte Wochen gebraucht, bis sie wieder bereit für die Arbeit gewesen war. Der Schock hatte so tief gesessen, dass Nancy sie wochenlang nach Feierabend nach Hause begleiten musste.
Vor Kurzem hatte Coco geheiratet und gekündigt. Sie kam nur hin und wieder vorbei, um mit den Ultraschallbildern ihres Ungeborenen zu prahlen.
Obwohl die Damentoiletten seitdem verschlossen waren und man sich einen Schlüssel beim Barkeeper holen musste, sah Nancy immer wieder zur Tür und vergewisserte sich, dass so etwas nicht noch einmal passierte.
Kurz nach zwölf meldete sich Nancy bei Ruby-Jean ab. Sie musste früh aufstehen, denn es war Besuchstag in der Justizvollzugsanstalt.
Es war ein kühler, nebelverhangener Morgen. Nancy saß an der Bushaltestelle und vermisste ihr Bett. Sie besuchte ihre Mutter ungern und tat es nur Ruby-Jean zuliebe, die sie ermutigt hatte, Kontakt aufzunehmen. Damit sie Vergangenes aufarbeiten konnte.
Doch Nancy wechselte kaum ein Wort mit ihrer Mutter. Sie war es leid, sich die dauernden Entschuldigungen anhören zu müssen, und ließ den Redeschwall über sich ergehen. Manchmal ließ Nancy die Besuche sogar ausfallen, verschwand für ein paar Stunden und log Ruby-Jean an.
Der Bus hielt an, und wie erwartet war er an einem Sonntag um diese Zeit leer. Nancy setzte sich wie gewohnt in die hinterste Reihe und lehnte ihren Kopf müde an die Scheibe.
Aus ihrer Jackentasche kramte sie ihren alten MP3-Player und hörte Musik. Das Lied Know your enemy von Green Day dröhnte in ihre Ohren und Nancy sinnierte darüber, ob es nicht den leisesten Hauch einer Chance gab, dass sie mit dem Sänger verwandt sein könnte. Doch Armstrong war ein geläufiger Nachname. Außerdem stammte er von der West- und Nancys Mutter von der Ostküste der USA.
Sie war sich bewusst, dass dieser Gedankengang völliger Schwachsinn war. Aber besser darüber nachdenken als über den bevorstehenden Besuch.
Nach einer fast dreiviertelstündigen Fahrt war sie angekommen. Mit Besucherschein und Personalausweis in der Hand meldete sie sich am Besucherschalter. Die uniformierte Frau las sich das Schreiben durch und stockte kurz.
»Oh, hat Sie der Anruf nicht erreicht, Frau Armstrong?«, fragte sie mit schwerer Stimme.
Irritiert erwiderte Nancy: »Nein, was ist denn los?«
»Einen Moment, bitte«, sagte die Beamtin und drehte sich dann weg, um zu telefonieren.
Nancy verstand kein Wort von dem, was sie in den Hörer flüsterte. Ihr ungutes Gefühl wurde stärker und ihr Hirn versuchte, alle möglichen Erklärungen für diese Situation zu finden. War Gloria ausgebrochen? Hatte sie jemanden ermordet? War sie ermordet worden?
»Warten Sie kurz«, sagte die Frau und zeigte auf die Stühle hinter Nancy. Sie setzte sich und wartete.
Kurz darauf kam ein Mann im Anzug auf sie zu. »Frau Armstrong? Mein Name ist Schneider, ich bin der Direktor. Bitte folgen Sie mir.«
Nancy folgte ihm wortlos. Nach einigen Korridoren und Sicherheitstüren erreichten sie sein Büro. Durch das vergitterte Fenster fiel Nancys Blick auf den Hof, in dem sich einige der Insassinnen aufhielten. Direktor Schneider setzte sich an seinen Tisch und bedeutete Nancy mit einer Handbewegung, dass sie sich in einen der Sessel davor setzen sollte.
»Was ist hier los?«, fragte sie zögerlich. »Was hat Gloria angestellt?«
Er faltete die Hände und seufzte schwer. »Frau Armstrong, es tut mir wirklich leid, aber ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Ihre Mutter, Gloria Armstrong, letzte Nacht verstorben ist.«
Nancys Herz setzte einen Schlag aus. Alles Weitere, was der Direktor sagte, erreichte sie nicht mehr. Als hätte sie Watte in den Ohren. Sie sah, wie sein Mund sich bewegte, und konnte seine Worte hören, aber nicht verarbeiten. Als würde er eine fremde Sprache sprechen.
»Alles in Ordnung?«, fragte er schließlich.
Nancy starrte ihn an. »Ja«, antwortete sie knapp.
»Möchten Sie zu ihr?«
»Nein«, erwiderte sie und stand auf.
»Warten Sie bitte! Hier ist der Karton, von dem ich geredet habe. Den können Sie mitnehmen. Alles Weitere besprechen wir am besten telefonisch. Ich verstehe, dass Sie es erst einmal verarbeiten müssen. Mein aufrichtiges Beileid.«
»Danke«, erwiderte sie tonlos.
Nancy rauchte einen Zigarillo nach dem anderen, während sie auf den Bus wartete. Ihr Kopf war leer. Sie konnte nicht begreifen, was passiert war.
Gloria war tot. Die Frau, die ihr das Leben geschenkt und es zerstört hatte, lebte nicht mehr. Die Tatsache erreichte sie allmählich, aber Gefühle regten sich nicht in ihr. Alles war taub. Sie wollte nur nach Hause.
Während der Busfahrt starrte sie hinab auf die Schachtel in ihrem Schoß. Sie hatte etwa die Größe eines Schuhkartons und war das gesamte Vermächtnis von Gloria Armstrong. Nancy fand, dass es eine Menge über sie aussagte. Fast zwanzig Jahre war sie im Gefängnis gewesen, und das war alles, was von ihr blieb. Ein Schuhkarton.
»Ich bin wieder da!«, rief Nancy und schloss die Wohnungstür hinter sich. »Hallo? Mutti?«
Keine Antwort.
Auf der Kommode im Flur lag eine Notiz, dass Ruby-Jean ein Vorstellungsgespräch mit einer neuen Tänzerin hatte und an Choreografien arbeitete. Es kam Nancy gelegen, dass sie allein war, denn so konnte sie in Ruhe über alles nachdenken und musste mit niemandem darüber reden.
Sie ging in ihr Zimmer, stellte die Schachtel auf ihren Schreibtisch und ließ sich bäuchlings aufs Bett fallen. Die Erschöpfung machte sich bemerkbar, und es wäre für sie ein Leichtes gewesen, jetzt einzuschlafen, doch sie wehrte sich dagegen. Seufzend legte sie sich auf den Rücken und starrte an die Decke.
Gloria war tot.
Ihre Mutter war tot.
Und es war ihr egal. Es legte sich kein Schalter in ihrem Kopf um, kein böser Fluch war gebrochen, kein Ding Dong, die Hex ist tot.
Ihr Blick fiel auf den Karton. Schwerfällig stand sie auf und ging zu ihm. Vorsichtig hob sie den Deckel, als wäre es die Büchse der Pandora.
Eine angefangene Schachtel Zigaretten, ein Anhänger mit dem Yin-Yang-Symbol am Lederband und ein Umschlag. Als Erstes sah Nancy sich den Anhänger an. Er kam ihr bekannt vor, aber sie konnte sich nicht erinnern, woher. Ihr fiel auf, dass das Band relativ kurz war. Sie legte die Kette zurück in den Karton, dann nahm sie den Umschlag.
Er enthielt einen Stapel Fotos, die sie durchsah. Es waren alles Kinderfotos von Nancy. Ihr Opa musste sie Gloria geschickt haben. Er war auch der Grund gewesen, warum Nancy auf den Fotos lächelte. Bei jedem stand auf der Rückseite das Jahr und ein kleiner Satz geschrieben. Nancys Einschulung, Nancys 10. Geburtstag, Nancy an der Nordsee und so weiter.
Sie betrachtete eine Weile ihr Foto von der Einschulung. Da stand die sechsjährige Nancy stolz mit ihrer Schultüte, die langen Haare zu zwei Zöpfen geflochten. Sie erinnerte sich daran, dass ihr Opa ihr die Haare gemacht hatte und sie damals schon beeindruckt gewesen war, dass er so etwas konnte.
Als dieses Foto geschossen worden war, war Nancy noch optimistisch gewesen und hatte nicht geahnt, dass die Schulzeit sich zu einem Martyrium der Isolation entwickeln sollte. Wenn ihre Mitschüler sie nicht gemieden hatten, dann hatten sie Nancy gehänselt.
Weil sich Glorias Tat wie ein Lauffeuer herumgesprochen hatte. Wenn es doch jemand gewagt hatte, Freundschaft mit ihr schließen zu wollen, dann unterbanden die Eltern den Kontakt. Als hätte Nancy Lepra gehabt.
Dass ihre Großmutter sie zu Hause genauso behandelte, verschlimmerte es umso mehr. Einzig ihr Opa war immer für Nancy dagewesen und hatte ihr genug Selbstvertrauen gegeben, das alles durchzustehen.
Der Gedanke an ihren Opa machte Nancy wehmütig – ihre erste greifbare emotionale Reaktion, seitdem sie erfahren hatte, dass Gloria gestorben war. Sie wollte nicht weiter daran erinnert werden und legte das Foto beiseite. Dann fiel ihr ein anderes ins Auge.
Es zeigte Gloria mit Nancy auf dem Arm vor einem Pub namens Rose in the Heather. Neben ihnen standen eine Frau mit dunkelroten Locken und ein Junge mit ähnlichem Haar. Auf der Rückseite stand: Zur Eröffnung ’88, Gloria mit Nancy, Molly mit Mike.
Damals war Nancy ein Jahr alt gewesen und der Junge sah aus wie circa vier oder fünf. Sie kannte den Pub, denn sie hatte ihn gelegentlich in der Stadt passiert, und der Name Molly sagte ihr ebenfalls etwas. Sie erinnerte sich, dass Gloria von ihr erzählt hatte und dass sie befreundet gewesen waren.
Nancy ging ans Fenster, zündete sich einen Zigarillo an und überlegte, ob sie zu dem Pub fahren sollte. Normalerweise hatte sie ihr Leben lang versucht, alles, was mit ihrer Mutter zu tun hatte, so weit wie möglich von sich fernzuhalten.
Aber jetzt war ihre Mutter nicht mehr, und mit dem Wissen allein zu sein, wurde zur Last. Nancy beschloss, zu dem Pub zu fahren, in der Hoffnung, dass Molly dort war.
Das Rose in the Heather befand sich in einer Seitenstraße unweit vom Stadtkern. Es war ein Irish Pub mit typischer Holzfassade. Das große Schild war dunkelgrün und die hineingeschnitzten Buchstaben waren goldgelb. Nancy verglich es mit dem Foto und es sah genauso aus, nur dass etwas Farbe abgeblättert war.