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Ein verschwundener Historiker und eine unbekannte Frau, die von der Rheinbrohler Ley zu Tode stürzt: Der Bonner Privatdetektiv Fred Bleikamp ist davon überzeugt, dass die beiden Fälle zusammenhängen. Als er die Ermittlungen aufnimmt und sich in einer verstörenden Szenerie aus dem Ersten Weltkrieg wiederfindet, wird ihm klar, dass die Wurzeln der mysteriösen Ereignisse weit in die Vergangenheit zurückreichen.
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Seitenzahl: 333
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Oliver Buslau, 1962 geboren, lebt in Bergisch Gladbach und ist seit 1994 freier Autor, Redakteur und Journalist. Er ist Gründer, Chefredakteur und Mitherausgeber der Zeitschrift »TextArt – Magazin für Kreatives Schreiben«. Im Emons Verlag erschienen sieben Kriminalromane um den Privatdetektiv Remigius Rott: »Die Tote vom Johannisberg«, »Flammentod«, »Rott sieht Rot«, »Bergisch Samba«, »Bei Interview Mord«, »Neandermord« und »Altenberger Requiem«. Außerdem die Rheintal-Krimis »Schängels Schatten« und »Das Gift der Engel«, der Fantasy-Roman »Der Vampir von Melaten« und der historische Kriminalroman »Schatten über Sanssouci«. Darüber hinaus schrieb Oliver Buslau den Thriller »Die fünfte Passion«, der ins Italienische übersetzt wurde.www.oliverbuslau.dewww.remigiusrott.de
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig. Mehr dazu im Nachwort.
© 2013 Hermann-Josef Emons Verlag Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: © mauritius images/Hartmut Röder Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, LeckISBN 978-3-86358-208-1 Originalausgabe
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Prolog
Oh, là, là …
Da regt sich was!
Die knotige, fleckige Hand tastet sich zum bereitliegenden Fernglas. Der Mann stöhnt leise, als er den schwarzen Feldstecher anhebt und an die Augen führt. Seine Finger schmerzen. Die Gicht. Heute ist es mal wieder besonders schlimm.
Langsam gleitet sein fokussierter Blick über die Häuser, die aus den Feldern und Weiden herausragen wie erstarrte Schiffe aus den Wellen in einem grünen Meer.
Ah, dahinten … da arbeitet jemand. Quelle surprise! Normalerweise sieht man den jungen Mann, der erst vor einem halben Jahr in das Haus eingezogen ist, höchstens mal Rasen mähen. Die Woche über ist er in der Stadt. Buchhalter oder so was, heißt es. Ein Bürohengst. Dem macht der Garten sicher wenig Spaß. Wollen nichts dafür tun, die jungen Leute. Sich einfach reinsetzen. Am liebsten hätten sie Gras, das von Natur aus kurz bleibt. Auch die Frau ist selten draußen zu sehen. Quel dommage! Hübsches Ding. Kommt ganz nach der Mutter.
Er bewegt das Fernglas, stellt es schärfer. Vielleicht zeigt sie sich irgendwo?
Er hat die Mutter noch gekannt. Vor sechs Jahren ist sie gestorben. Und der Alte lebt jetzt in einem Pflegeheim. Immerhin hat er der Tochter das Grundstück hinterlassen, damit sie das Fertighaus draufstellen kann.
Er sucht die Fenster des blendend weißen Gebäudes ab. Die Sonne spiegelt sich in den glänzenden Dachziegeln. Sie sehen aus wie frisch gewaschen.
Die Frau ist nicht da. Wahrscheinlich einkaufen. Noch ein Schwenk – diesmal zur Garageneinfahrt. Dort steht der dunkle Renault. Nein, sie muss zu Hause sein. Sicher ist sie mit der Wäsche beschäftigt.
Was macht der Herr Gemahl?
Er kann ihn zuerst nicht finden, doch dann bemerkt er eine Bewegung an dem grünen Geräteschuppen aus Metall, der ganz in der Ecke des Grundstücks, in der Nähe der Garage steht. Der junge Mann kommt heraus. Er hat etwas in der Hand.
Mon Dieu, das ist ja eine Spitzhacke.
Was will der Buchhalter, der sich sonst nur den Hintern über seinen Zahlen platt sitzt, damit?
Die Hacke ist sichtlich schwer. Der Mann trägt sie zuerst seitlich, dann bleibt er stehen und legt sie sich über die Schulter. Nach ein paar Schritten wird ihm aber auch das zu unbequem, und er fällt wieder ins Tragen zurück. Das kann man nicht lange machen. Dabei hält man sich schief und riskiert einen Hexenschuss. Oder einen Bandscheibenvorfall.
Fast tut ihm der junge Mann leid, wie er da so linkisch mit der Hacke hantiert. Aber die Schadenfreude überwiegt. Ein leises Lachen entringt sich ihm, als er ihm mit dem Fernglas bis zur Mauer folgt.
Und da wird ihm klar, was der Mann vorhat.
Die Mauer stützt den hinteren Teil des Grundstücks ab, das gut zwei Meter höher liegt. Dort oben wuchert es gewaltig. Es ist ein wahrer Urwald aus Büschen, Brombeerranken, allerlei Unkraut und vielleicht sogar irgendwelchen Resten von Sperrmüll, längst überwachsen, rostend und vergessen. Von der Fläche her gesehen macht dieses terrassenähnliche Gelände mehr als ein Drittel des gesamten Grundstücks aus. Früher, als es noch zu einem viel größeren Anwesen gehörte, war der Bereich so eine Art Rumpelkammer – für ausgediente Metallteile, Autoreifen, Baumschnitt und sonstigen Kram. Damals stand dort oben ein kleines Gebäude, das man über eine Treppe an der Seite erreichen konnte. Ein Schuppen oder ein Hühnerstall. Irgendwann hat es reingeregnet. Die Steine waren für was anderes gebraucht worden. Vielleicht sogar für die Mauer, die den nun völlig unbrauchbaren Teil des Grundstücks abstützte.
Er hat den jungen Mann genau im Blick, als der die Hacke hochhebt und mit aller Kraft zuschlägt. Kaum hat er den ersten Streich getan, sieht er sich das Ergebnis an. Man braucht kein Fernglas, um zu erkennen, dass die Spitzhacke nicht viel angerichtet hat.
Um so eine Mauer einzureißen, brauchst du mehr als dieses Kinderspielzeug, mit dem du noch nicht mal umgehen kannst, denkt er. Und du brauchst mehr auf den Armen.
Der junge Mann holt wieder aus und macht dabei den typischen Anfängerfehler, sich vom Schwung der Hacke mitreißen zu lassen, anstatt ihr Gewicht sinnvoll einzusetzen. Er lässt sich davon aber nicht abhalten.
Durchhaltevermögen hat er ja. Das muss man ihm lassen.
Nach und nach findet er sich in seine Arbeit hinein, obwohl das Ganze wie die Aufgabe des berühmten Sisyphos wirkt. Die Mauer ist mindestens zwanzig Meter lang. Für einen einzigen Meter wird er einen halben Tag brauchen. Das sind zehn Tage Arbeit, um das Ding einzureißen. Und dann geht es erst richtig los. Die Steine müssen abtransportiert werden. Damit das funktioniert, muss man sie Stück für Stück auf einen Anhänger schaffen. Und woanders wieder ausladen.
Der junge Mann schuftet verbissen weiter. Irgendwann zieht er sein Hemd aus und steht jetzt in knielangen Shorts und festen Schuhen da. Immerhin hat er daran gedacht, sich dicke Arbeitshandschuhe anzuziehen. Sonst hat man nach einer solchen Arbeit ruck, zuck Blasen an den Händen. Es ist ja sicher nicht so, dass der Junge gute Hornhaut hat. Die kriegt man nicht, wenn man den lieben langen Tag im Büro sitzt.
Vielleicht will er ja gar nicht die ganze Mauer einreißen, sondern nur einen Durchgang schaffen. Damit ein Bagger oder irgendwas anderes auf die Terrasse hinaufkommt, um dort alles mal so richtig frei zu schneiden.
Während er beobachtet, wie der junge Mann Stein um Stein aus der Mauer löst, wie Stücke abbröckeln und rohe Erde herabrieselt, fragt er sich, wer ihm sagen könnte, was der Kerl da drüben genau vorhat. Er beschließt, Ariane zu fragen, wenn sie mittags nach ihm sieht. Sie wird es nicht wissen, aber sie kann es beim Einkaufen in Erfahrung bringen, in der Fleischerei. Die Schwester der Verkäuferin wohnt doch nur zwei Häuser weiter. Sie hat sich auch so ein weißes Fertigding dahin gesetzt.
Eine Zeit lang ist es langweilig dort drüben.
Der junge Mann macht eine Pause, nachdem er immerhin sechs Steine aus der Mauer gezerrt hat. Er hat sie mit der Spitzhacke nicht nur herausgelöst, sondern einige mit seinen behandschuhten Händen praktisch ausgraben müssen.
Und nun kann er nicht mehr.
Hat er eigentlich was zu trinken dabei? Natürlich nicht. Hat er vergessen. Und seine Frau kommt gar nicht auf die Idee, ihm etwas zu bringen.
Aber Moment mal, der Mann macht nicht den Eindruck, wirklich Pause zu machen. Oder durstig zu sein. Er hat die Hacke auf den Rasen gelegt und beugt sich über die Mauer, als wolle er sich wieder einem besonders hartnäckigen Stein widmen. Aber er tut nichts weiter. Schaut sich nur das Loch zwischen den geschichteten Natursteinen an.
Jetzt dreht er sich um und hebt die Hacke auf. Sieht aus, als hätte er schon ein bisschen Routine. Er hat gelernt, seine Kräfte richtig einzusetzen.
Er legt die Metallspitze in das Loch und …
Er schlägt nicht, sondern gräbt.
Eine ganze Weile gräbt er, aber es ist aus dieser Perspektive nicht zu erkennen, wonach. Da kann man das Fernglas noch so scharf stellen. Da ist was zwischen den Steinen, aber was?
Das Türschloss unten knirscht. Schritte sind auf den Steinfliesen im Flur zu hören. Ariane kommt.
Er sieht zur Uhr. Schon Mittag. Wie die Zeit vergeht.
Sie soll nicht sehen, dass er hier mit dem Fernglas sitzt. Er behauptet immer, dass er nur Vögel beobachtet, aber sie weiß genau, dass das nicht stimmt. So schwer es ihm fällt, er legt den Feldstecher zur Seite und tut so, als würde er schlafen. Alte Männer nicken hin und wieder ein, das ist ganz normal.
Mit geschlossenen Augen hört er, wie sie die Zimmertür öffnet. Einen Moment ist es still. Er spürt ihren Blick auf sich ruhen. Dann verlässt sie den Raum wieder.
Er wartet noch ein paar Sekunden, bevor er wieder zum Fernglas greift. Er beißt die Zähne zusammen, als ihm der Schmerz durch die Finger fährt.
Der junge Mann hat seine Frau geholt und deutet auf die Stelle, an der er gearbeitet hat. Er gestikuliert wild. Seine Frau wirkt ruhiger, sie nimmt die Sache genau in Augenschein. Schüttelt den Kopf. Fährt sich durch das dunkle Haar.
Der Mann geht auf die Mauer zu. Seine Frau will ihn zurückhalten. Sie packt ihn am Arm, aber er wehrt sie kopfschüttelnd ab. Vor der mannshohen Wand aus Natursteinen duckt er sich.
Und verschwindet.
1
Es war ein Brüllen, ein Scheppern, ein Prasseln. Ohrenbetäubend und von schweren Vibrationen begleitet – wie bei einem Erdbeben.
Fred Bleikamp hob verschlafen den Kopf. Ein Kreischen zuckte durch seinen Schädel, bis hinunter ins Rückenmark. Der Traum, in dem er aus der Ferne irgendwelche undefinierbaren Rufe wahrgenommen hatte, glitt von ihm ab. Mühsam setzte er sich auf, öffnete die Augen und registrierte, dass der Wecker acht Uhr sechsundvierzig zeigte.
Auf einmal herrschte Stille. Dann ging das Brüllen und Scheppern wieder los.
An der gegenüberliegenden Wand starrte ihm von einem Poster der Eiffelturm entgegen. Das Bild schien sich noch einen Moment dagegen aufzubäumen, dann lösten sich die oberen Reißzwecken, mit denen Fred es an der Raufasertapete befestigt hatte, und es segelte zu Boden wie ein erlegter Vogel.
Fred sprang auf und riss den Vorhang zur Seite. Draußen sollte es um diese Zeit hell sein, aber im Zimmer blieb es milchig und grau. Eine dreckige Plastikwand hielt das Tageslicht draußen und versperrte die Sicht auf die gegenüberliegende Häuserzeile der Bonner Dorotheenstraße. Die ockerfarbenen Fassaden wirkten wie mit unscharfer Kamera aufgenommen, mit einer Linse, die in den Dreck gefallen war. Eine schwarze Gestalt trat von rechts in Freds Blickfeld. Es war ein Bauarbeiter, der ihn kurz musterte, die Hand an den gelben Helm hielt, freundlich nickte und weiterging.
Freds Wohnung befand sich im dritten Stock. Er drehte den Griff zur Seite, um das Fenster zu öffnen. Als die Scheibe aufschwang, wurde der Baulärm schlagartig viel lauter. Unter dem Sims verlief das Brett eines Baugerüsts. Oben waren die Arbeiter dabei, weitere Etagen aufzubauen. Gleichzeitig knatterte unten immer noch der Presslufthammer.
Fred schloss das Fenster und warf einen Blick in sein Zimmer. Der kleine Schreibtisch mit der altertümlichen Olympia mit eingespanntem Papier. Stapel von Taschenbüchern. Ein aufgeschlagener Collegeblock mit eng geschriebenen Notizen. Stifte. Ein halb geleertes Whiskyglas. Die Gitarre an der Wand. CDs im Regal.
Sein Reich. Bedroht von Presslufthämmern. Umhüllt von einer Plastikwand.
Er flüchtete in das kleine Bad, wobei er fast auf dem herabgefallenen Poster ausgerutscht wäre, und zog die Tür hinter sich zu. Aus dem Prasseln wurde ein fernes, aber immer noch vibrierendes Knattern. Immerhin. Ein paar Sekunden stand er nur da. Betrachtete sein Bild im Spiegel über dem Waschbecken. Seine schmächtige Figur in Feinrippunterwäsche.
Fetzen seines Traumes kamen ihm wieder in den Sinn. Die Gespräche der Männer, ohne Zweifel waren es die Stimmen der Arbeiter da draußen, hatten sich erst am Ende eingeschlichen. Davor war Fred durch menschenleere Landschaften gefahren. Durch Wüsten, weite Grasebenen und einsame Gebirge. Hinein in einen blauen, endlosen Himmel.
Er drehte die Dusche auf, während er weiter seinen Gedanken nachhing. Irgendwann stellte er fest, dass es eisig wie ein Gebirgsbach aus dem Duschkopf sprühte. Er öffnete das Warmwasserventil bis zum Anschlag. Der Strahl wurde dünn und dünner, versiegte schließlich ganz. In den Tiefen der Leitung schien es zu röcheln.
Fred fluchte, setzte sich mit einem Griff zur Türklinke der brutal hereinbrechenden Lärmwolke aus, schnappte sich wie ein Soldat, der im Feuergefecht das rettende Verbandszeug aus der Schusslinie holt, das Telefon von der Ladestation und zog sich in den Bunker des Bades zurück.
Um zehn nach neun gab es immer noch kein Wasser.
Wieder wagte er sich in die Lärmhölle und suchte in der kleinen Kommode nach seinem Mietvertrag. Er fand ihn in einem verstaubten Schnellhefter mit verbogener Metallzunge, blätterte ihn durch und entdeckte die Telefonnummer der Hausverwaltung. Im Bad wählte er. Nebenan wummerte es. Fred hielt sich das freie Ohr zu.
Piep. Piep. Piiiep. Kein Anschluss unter dieser Nummer. Piep. Piep. Piiiep. Kein Anschluss unter dieser Nummer.
Fred drückte Rot und wählte erneut. Die Auskunft meldete sich. Er las aus dem Ordner ab: »Die CNF Hausverwaltungs-GmbH in Reutlingen bitte.«
Die Stimme der Frau war unpersönlich, aber freundlich. »Da habe ich drei Einträge. Eine für Industriebauten, eine für Parkhäuser und eine für Flughafenmanagement.«
»Geben Sie mir alle drei.« Nichts zum Aufschreiben. »Moment.«
Der Baulärm hatte wieder den Atem angehalten. In völliger Stille konnte er einen Stift vom Schreibtisch holen.
Um neun Uhr achtundfünfzig war es ihm gelungen, jemanden ans Telefon zu bekommen, der sich zuständig fühlte. Die Frau hätte dieselbe sein können wie die von der Auskunft. Freundlich. Geduldig. Unpersönlich. Wasser gab es immer noch nicht.
»Sagen Sie mir bitte noch mal Ihre Adresse.«
Fred sagte sie. Die Dame tippte.
»Fassadenrenovierung. Hier hab ich’s. Wir führen eine Fassadenrenovierung durch.«
»Das merke ich. Aber wann habe ich wieder Wasser?«
»Die Renovierung geschieht im Zuge energiesparender Maßnahmen. Allen Mietern wurden vor drei Monaten Informationen zugestellt.«
»Das habe ich nicht gefragt. Und ich habe keine Information erhalten.«
»Über die Dauer der Maßnahme steht hier leider nichts. Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen aber das Schreiben noch einmal zustellen. Auch per Mail, wenn Sie möchten. Wie ist Ihre Adresse?«
»Die habe ich Ihnen jetzt schon dreimal gesagt.«
»Ich meine die Mailadresse, Herr Bleikamp.«
»Hören Sie …«
Draußen ratterte es wieder los. Fred dachte erst, es käme von dem Krach, dass er auf einmal das Gefühl hatte, hinter dem Telefonhörer würde ein schwarzes Loch gähnen. Als sei da niemand mehr. »Hallo?«, rief er. »Hören Sie mich? Sind Sie noch da?«
Keine Antwort.
Fred sah sich das Telefon an. Das Display war nicht beleuchtet. Er nahm das kleine Radio, das vor dem Lüftungsfensterchen stand, drehte es an und stellte es ganz laut. Eigentlich sollten jetzt klassische Klänge der Sendung »Mosaik« auf WDR 3 mit dem Lärm da draußen wetteifern. Aber es kam nichts. Das Radio war tot. Genauso wie das Telefon.
Der Strom war weg.
2
»Was willst du haben? Urlaub? Mensch, bist du noch ganz dicht? Jetzt, wo wir Hochsaison haben?« Karl Spalowsky, den nur Freunde und manche Untergebene Charly nennen durften, schüttelte den Kopf, als hätte Fred einen dummen Witz gemacht. Er legte demonstrativ die Füße auf den Tisch, was angesichts seiner immensen, an Reiner Calmund erinnernden Leibesfülle eine größere Aktion war.
Fred hatte es kommen sehen. Für Charly war immer Hochsaison. Den lieben langen Tag konnte man mutmaßliche Ehebrecher verfolgen, Sozialschmarotzer aufspüren oder Zeugen suchen. Die Detektei lief gut.
»Ich brauche jeden Einzelnen«, sagte Charly.
»Jeden Einzelnen? Wen außer uns beiden gibt es denn noch?«
Wenn Fred an Charly etwas hasste, dann diese Art, ständig große Töne zu spucken. Kunden gegenüber konnte er das ja machen. Aber Fred war sein Mitarbeiter. Eigentlich Mädchen für alles. Laufbursche. Manchmal sogar Sekretärin. Auf freier Basis natürlich.
»Ich habe es endlich geschafft«, erklärte Charly. »Wir kriegen den Auftrag von der Warenhauskette.«
Fred schnaubte. Das erzählte Charly schon seit mindestens einem Jahr.
»Und dann, mein Lieber, kann ich dich fest anstellen. Drei Mille brutto im Monat. Was sagst du dazu?«
Auch das kam in regelmäßigen Abständen.
»Kriege ich dann auch Urlaub?«, fragte Fred. Er hatte seit einem Jahr fast keinen freien Tag mehr gehabt. Sogar mitten im Karneval hatte er für Charly eine Überwachung gemacht und den Rosenmontag in irgendeinem westfälischen Kaff im Auto verbracht.
Charly grinste. »Na klar, mein Junge. Du darfst dich freuen.«
»Dann nehme ich den Urlaub eben jetzt. Als Vorschuss.« Der Dicke wollte etwas sagen, aber Fred redete einfach weiter. »Das Haus, in dem ich wohne, wird renoviert. Da herrscht ein Höllenlärm. Heute Morgen gab’s kein Wasser und keinen Strom. Keiner weiß, wie lange das geht. Ich habe keinen Bock mehr, Charly. Gib mir zwei Wochen frei. Ich will auch mal was anderes machen, als in der Gegend rumzustehen und Leute zu überwachen.«
Charly nahm die Hände, die er hinter dem Kopf gefaltet hatte, nach vorn und befreite Fred so von dem Anblick der Schweißflecken unter den Achseln seines hellblauen Hemdes.
»Ich weiß schon, was du willst. Du willst den Möchtegern-Hemingway spielen. Schuster, bleib bei deinem Leisten, sag ich da nur. Damit wird es eh nichts. Die Schriftstellerei bringt kein Geld.«
Jedes Mal, wenn das zur Sprache kam, ärgerte sich Fred darüber, dass er Charly jemals davon erzählt hatte.
»Wo wir gerade von Geld reden«, sagte er. »Du schuldest mir noch zwei Honorare.«
Charly winkte ab. »Kriegst du, wenn das mit den Kaufhäusern klar ist. Wenn ich dich fest anstelle. Sozusagen als erstes Urlaubsgeld.«
»Die Kohle steht mir zu. Und ich will sie jetzt.«
Charly schüttelte den Kopf. »Ich warte selbst auf ein paar säumige Kunden, die nicht bezahlen wollen. Wenn ich die Kaufhäuser unter Dach und Fach habe, läuft der Laden wieder.« Er stand ächzend auf und ging in Richtung Tür. »Also mach halblang. Und pass mal eben fünf Minuten auf das Telefon auf.« Im Vorbeigehen nahm er den heutigen Generalanzeiger vom Tisch und verließ den Raum. Auf dem Flur ging die Klotür. Der Schlüssel drehte sich krachend. Dumpf war zu hören, wie Charly vor sich hin pfiff. Fred erkannte »La Paloma«.
Er ließ sich in das abgewetzte Besuchersofa fallen und dachte nach. Er hätte nicht gezögert, sich das Geld, das ihm Charly schuldete, einfach zu nehmen, wenn es irgendwo hier im Büro gewesen wäre. Aber so dumm, die Kohle einfach rumliegen zu lassen, war Charly nicht.
Eine Melodie tönte durch den Raum. Eine kleine Fanfare, elektronisch steril. Ein gebrochener Dreiklang. Charlys Telefon.
Fred stand reflexartig auf. Das Mobilteil lag auf dem Schreibtisch. Klingelte und blinkte.
Ob das der große Kaufhauskunde war, von dem Charly erzählt hatte?
Er ging ran. »Detektei Spalowsky, was kann ich für Sie tun?« Nichts werde ich für dich tun, dachte er. Ich werde den Leuten erzählen, dass sie sich einen anderen Detektiv suchen sollen. Spalowsky nimmt nichts mehr an. Wegen Auftragsüberlastung.
Eine Frauenstimme meldete sich. Fred vermutete, dass die Dame schon etwas älter war. Sie sprach leise und vorsichtig. Offenbar hatte sie Freds hingeworfenen Spruch nicht verstanden.
»Bin ich da richtig? Bei der Detektei?«
»Sind Sie.«
»Ich habe eine Bitte.«
»Ja?«
»Das heißt … einen Auftrag. So sagt man doch wohl.«
Tut mir leid, ausgebucht. Suchen Sie sich einen anderen. Oder rufen Sie wieder an, wenn Fred Bleikamp in dieser Klitsche fest angestellt ist. Fred sagte das nicht. Er dachte es nur.
Denn plötzlich kam ihm eine Idee.
Er sah zur Tür. Charly pfiff dahinten wieder »La Paloma«. Wahrscheinlich hatte er erledigt, was er erledigen wollte, und würde in höchstens einer Minute zurück sein.
»Ich würde Sie gern persönlich besuchen«, sagte Fred. »Dann können wir uns besser unterhalten. Wäre das möglich?«
»Ja, das wäre sehr gut.«
»Wie war doch bitte Ihr Name?«
»Friesdorf.« Sie nannte eine Adresse in Bad Godesberg. Offenbachstraße.
Nebenan knirschte die Klotür. Charly pfiff immer noch, war aber jetzt auf das Filmthema von Doktor Schiwago umgeschwenkt. Offenbar war er erfolgreich gewesen. Fred notierte schnell die Nummer auf einem Blatt von Charlys Schreibtisch. Es trug das Logo eines Investmentfonds. Er verabschiedete sich höflich, legte auf und hatte das Telefon gerade wieder hingelegt, als der Dicke hereinkam.
»War was?«, fragte er.
»Nein. Einmal hat’s geklingelt, war aber falsch verbunden.« Fred zerknüllte den Zettel und steckte ihn unauffällig in die Tasche.
»Ich hab mir das noch mal überlegt«, sagte Charly. »Ich kann dir entgegenkommen.«
»Tatsächlich?«
»Klar. Pass auf.« Er holte ein speckiges Portemonnaie hervor und entnahm ihm dreißig Euro. »Du gehst jetzt rüber zum Opera und holst uns ein schönes zweites Frühstück.« Er lächelte. »Wir machen den halben Tag frei.«
Opera. Nobel, dachte Fred.
»Aber beeil dich. Wir reden dann über die Zukunft. Die goldene Zukunft der Detektei Spalowsky.«
»Du meinst, mit Großaufträgen und so?«
Charly grinste. »Genau.«
Fred nahm die Scheine, ging hinaus und lenkte seine Schritte zu dem Lokal. Dort warf er einen langen Blick durch die Scheibe ins Innere, löste sich schließlich von dem Anblick und spazierte weiter.
Am Bertha-von-Suttner-Platz stieg er in eine Bahn.
3
Es dauerte überraschend lange, bis Charly merkte, dass etwas nicht stimmte. Erst als Fred vom Godesberger Bahnhof aus durch die Alleen lief, haute sein Handy den Anfang von Beethovens Fünfter in die stille Karl-Finkelnburg-Straße. Er überlegte einen Moment, ob er überhaupt rangehen sollte, entschied sich dann aber, es einfach zu tun. Er musste sich endlich gegen Charly immunisieren.
»Sorry«, sagte er. »Hat etwas gedauert. Bin gleich da.«
»Ich hab schon gedacht, du wärst mit dem Geld durchgebrannt.« Charly lachte gekünstelt.
»Quatsch. Was soll ich mit dreißig Euro, wenn du mir anderthalb Riesen schuldest?«
»Geld ist Geld. Du, hier war inzwischen am Telefon wirklich die Hölle los.«
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