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Risikogebiet E-Book

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Beschreibung

18 Kurzgeschichten, 18 Perspektiven. Mit jedem Text öffnet sich ein neuer Blick auf die Welt und ihre äußeren wie inneren Risikogebiete. Dieses Buch versammelt die besten Beiträge des SCIVIAS-Literaturpreis 2021. Krisen, Konflikte und Katastrophen werden in den Beiträgen nicht nur individuell erlebt, auch die Versuche, sie zu ertragen oder zu überwinden, könnten unterschiedlicher nicht ausfallen. So öffnen die Geschichten fremde Perspektiven und weiten den Blick auf die Welt. 

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Simone Husemann | Lisa Straßberger (Hg.)

Risikogebiet

Die besten Beiträge zum SCIVIAS-Literaturpreis 2021

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2022

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Verlag Herder

Umschlagmotiv: Grafissimo/iStock

E-Book-Konvertierung: ZeroSoft SRL

ISBN Print 978-3-451-39550-5

ISBN E-Book (EPUB) 978-3-451-82784-6

Inhalt

Vorwort

Laudatio von Christian Lehnert zu „Der Jaguar“

Der JaguarUrsula Seeger

Laudatio von Christian Lehnert zu „Willkommen zuhause“

Willkommen zuhauseAngelika Lichteneber

Corona BirdGabriele Petricek

DalilaYngra Wieland

Der Himmel über Rio de JaneiroAnnegret Mühl

Der langweiligste Untergang der WeltDaniel Baierl

Die Heiligen Drei KönigeGuido Brozek

Die VinothekMoritz Boltz

DingsMarion Zechner

Ein GeräuschHolger Brülls

Goethe, Schiller, FlaschenpfandManuel Zerwas

In FreiheitCleo Nox

Licht essenGisela Hinsberger

MindestabstandSilke Kirch

Ostersonntag 2020Rolf Karl Siegmann

TrümmerblumenSiegfried Straßner

Über das Meer. Über das Haff.Evelyn Langhans

Wer nicht hören willIris Lilja Schmidt

Die Herausgeberinnen

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Vorwort

Zum zweiten Mal verlieh im Sommer 2021 das Bistum Limburg, vertreten durch das Diözesanbildungswerk und die Katholische Akademie Rabanus Maurus, den Literaturpreis SCIVIAS.

Fülle, Varietät wie Qualität der zum Thema „Risikogebiet – Was Krisen aus uns machen“ eingesandten Texte ließen deutlich werden, welch großes und für den Menschen essenziell notwendiges Potenzial in der Erzählung liegt.

Der Literatur kann es gelingen, Zwischentöne, das nicht auf den ersten Blick Erkennbare – gleichsam wie ein sensibel reagierender Seismograph – aufzuspüren, zu orten und zu beschreiben.

Mit jedem Text öffnet sich ein neuer Blick auf die Welt und ihre äußeren wie inneren Risikogebiete. Das Buch, das Sie in Händen halten, ähnelt einer „Emotion Map“, einer Karte, die prekäre Zonen wie riskante Routenverläufe verzeichnet. Krisen, Konflikte und Katastrophen werden in den Beiträgen nicht nur individuell erlebt, auch die Versuche, dieselben zu ertragen oder zu überwinden, könnten unterschiedlicher nicht ausfallen.

Die Erfahrungen der Pandemie haben erneut offenbar werden lassen, dass der Mensch mehr als bloße physische Sicherung seiner Existenz benötigt. Literatur ist eine Lebens-Ressource, die die Lesenden eintauchen lässt in konkrete Situationen und Bilder. Sie öffnet fremde Perspektiven und weitet dadurch den Blick auf die Welt. Zugleich wahrt sie durch die Fiktionalisierung die Distanz und ermöglicht erst so eine Schärfung der Sehweise.

Dies gilt insbesondere für die Arbeiten der Preisträgerinnen, Ursula Seeger und Angelika Lichteneber. Während die erste Autorin den Blick in eine familiäre Krisensituation richtet, stellt die zweite ein weltpolitisches Risikogebiet in den Fokus ihrer Erzählung.

Unser ausdrücklicher Dank gilt der Jury sowie der Schirmherrin des Projektes, Äbtissin Dorothea Flandera der Abtei St. Hildegard in Eibingen. „Sci vias“ – „Wisse die Wege“, der Titel des Preises – bietet den hier versammelten Texten eine vergewissernde Orientierung an, ganz im Sinne der heiligen Hildegard: offen für die Fragen des heute in der Welt stehenden Menschen.

Dr. Simone Husemann

_____________

Jury:

Carolin Callies, Schriftstellerin

Paul Henri Campbell, Schriftsteller

Dr. Jakob Johannes Koch, Kulturreferent der Deutschen Bischofskonferenz

Dr. Christian Lehnert, Schriftsteller

Dr. Lisa Straßberger, Studienleiterin an der Katholischen Akademie Rabanus Maurus

Laudatio von Christian Lehnert zu „Der Jaguar“

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

ein Mann sitzt an einem stillen Fluß und betrachtet sein schwankendes Spiegelbild darin. Er sieht und hört nichts um sich herum, starrt ins Wasser. Da tritt ein Passant zu ihm, der ihn besorgt fragt, was er denn da tue.

„Ich weiß nicht“, sagt der Mann sehr langsam, „bin ich das in dem Strom dort, oder das“, indem er auf sich deutet, „was hier in den Strom sieht?“

„Was Sie dort sehen“, antwortet ihm der Passant, „scheinen Sie zu sein; was hier sitzt, sind Sie.“ Darauf der Mann: „Ja wohl, scheinen: Scheinen, das ist’s! Ich scheine mir zu sein. Wer doch wüsste, ob und was er wäre!“

„Sind Sie nicht“, fuhr der Vorübergehende fort, „wenn ich fragen darf, Herr Soundso?“

„Sie nennen mich so, ja, es gab eine Zeit, wo ich das war. Wo ich ganz innig, so wahr, so lebendig mich fühlte. Aber eigentlich“, so endet er, „bin ich nur der Schatten eines Traumes, verloren in der Unendlichkeit, suche mich und finde mich nirgends.“

Diesen Wortwechsel hat der romantische Arzt Christian Reil vor 200 Jahren aufgeschrieben, als Beschreibung einer seelischen Krise. Aber so ein Begriff wie „seelische Krise“ verkleinert eigentlich, worum es geht – denn in einer Krise befindet sich ja immer noch jemand. Hier aber ist niemand mehr – oder eben nur ein unsichererer Rest von Identität.

In solch einen Zustand der völligen Unsicherheit versetzt uns Ursula Seeger bereits mit den ersten Sätzen ihrer Erzählung „Der Jaguar“. Der Anfang lautet so: „Das Haus hatte schon lange am Ende der Straße gestanden und viele Menschen kommen und wieder gehen sehen. Vermutlich war es vor einigen Jahrhunderten aus dem Felsenmeer herausgewachsen …“ Was ist hier passiert? Wer spricht hier? Wer läßt ein Haus wie mit menschlichen Augen sehen und bleibt selbst nicht mehr als ein Schatten, zeitlos, ein unkenntlicher Reflex?

Ursula Seeger führt uns in ihrer Erzählung schnurstracks in ein unsicheres Gelände. Überall gibt der Boden nach, zeigen sich Risse, verschieben sich plötzlich Wirklichkeitssegmente und werden fraglich. Ein „Risikogebiet“ wird betreten, dessen Gefahren noch nicht bekannt sind, vermutlich ein inneres Gelände, ein Flirren wie die unsichere Identität eines Menschen, der sich selbst im Wasser spiegelt.

Dabei sortieren sich in dieser kleinen wundersamen Erzählung die Ebenen auch immer wieder. Eine Familie zieht in das Haus. Kinder sind dabei, und diese spielen mit Vorliebe „arme Kinder“ und das Spiel, das auch meine Kinder und ich selbst und wohl alle Kinder einmal spielten, denn es ist das eigentliche Spiel des Lebens, der Kern aller Spiele, bestand darin, ich zitiere: „… daß sie ganz auf sich gestellt waren und für sich selbst sorgen mußten. Das war im Sommer nicht schwer – sie krochen durch die Wiese, sammelten Blüten und Beeren, verzierten damit Sandkuchen, die sie in einer Bäckerei buken und verkauften. Ihre Wohnhöhlen bauten sie sich unter dichtem Gebüsch …“

Unmerklich braut sich eine Bedrohung zusammen, die noch keinen Namen hat. Eine Krise, wenn sie denn eine ist, hat nie einen Namen. Das Wort Krisis meint im Griechischen eine Gerichtsentscheidung, die offen ist, der Moment kurz vor einer Urteilssprechung. Krisis meint zudem, und mit der ersten Wortbedeutung verwandt, den Zustand eines Kranken, wenn das Leben auf der Kippe steht und niemand mehr sagen kann, was wird.

Eine Krise, der Jaguar taucht auf. Aus den Träumen? Aus der Phantasie? Aus den Erinnerungstiefen eines Gemäuers? Was ist das für ein Tier? Daß wir ihn nicht einordnen können, daß wir als Leser der Perspektive der Kinder folgen, die ihn erleben, aber nicht in die scheinbar zuverlässigen Kategorien der Erfahrung von Erwachsenen bringen können, läßt uns in einen Sog geraten.

Das alles ist wunderbar menschlich und seelisch genau und voller betörender Bilder beschrieben. Immer begegnen sich zwei Möglichkeiten, schweben, halten sich in der Waage, wie bei dem Mann an dem Fluß: Da ist eine Welt, wo er sich „ganz innig, so wahr, so lebendig … fühlte“, und wo wir uns sicher fühlen in unseren Deutungen und in unserer Wirklichkeit, doch gleiten wir mit den Kindern davon, „Schatten eines Traumes, verloren in der Unendlichkeit, suchen uns und finden uns nirgends.“

Ja, es geschieht eine Tragödie, eine Familientragödie wohl – aber worin sie besteht, bleibt offen. Es muß auch offenbleiben, denn es ist für die Kinder offen und nicht einzuhegen in Worte. Genauer kann man eine Krise kaum ins Erzählen holen. Die Literatur leistet hier etwas, was nur sie kann: Sie läßt uns mit der Sprache verschwimmen. Indem wir in dem Strom der Erzählung treiben, gefangen von seiner stilistischen Klarheit, seiner Einfachheit und auch Spannung, sehen wir ein Spiegelbild. Das ist der Urmoment der Literatur: Wir erkennen uns selbst in der fremden Geschichte. Wir erkennen uns als Krisengeschöpfe, durch deren Leben permanent ein Panther brüllt – aber was ist er? Wir verlassen das Haus, werfen „ein paar Kleider, Tücher, Kissen, Stofftiere und eine Dose Pfeffer zur Verteidigung in eine Sporttasche.“ Wir suchen „einen Unterschlupf unter einem Busch“, bauen uns „eine Schlafhöhle.“ Mit den Kindern gehen wir hinaus – in ein Spiel? In einen Traum? In eine Wirklichkeit harter Umstände, deren Namen wir aber noch kennen, und so sind sie noch nicht zu Tatsachen geronnen?

„Der Jaguar“ hätte der Autorin der Scivias womöglich gefallen – denn das, was ich eben als eine literarische Erfahrung benannte, kennzeichnet auch die religiöse, so wie sie jedenfalls bei Hildegard von Bingen erscheint. Ihr Ausgangsort ist die höchste Unsicherheit, die Verstörung, die mit dem Wort „Gott“ erscheint, die Infragestellung aller Weltanschauung und aller Beheimatung, auch aller religiösen Dogmen. Die Gläubige, die Mystikerin bewegt sich in einem Risikogebiet. Alles steht zur Disposition. Sie sitzt mit den Kindern im Gebüsch und fragt: „Glaubst du, die Insel der Kirschbäume ist heile geblieben?“ Oder wie Hildegard zu Beginn ihres Buches Scivias, in der fundamentalsten Krise, die das Wort Offenbarung meint, schreibt: „Siehe! Als ich in meinem dreiundvierzigsten Lebensjahr mit zitternder Aufmerksamkeit in großer Furcht einer himmlischen Vision hingegeben war, schaute ich einen gewaltigen Lichtglanz, aus dem eine Stimme vom Himmel her mir also entgegenscholl: Du gebrechlicher Mensch, Asche von der Asche und Staub vom Staube, sage und schreibe, was du siehst und hörst …“ Aber sie kann nicht sprechen, nicht schreiben – denn sie hat hier keine Worte. So hebt das Suchen nach Worten an, das wir Glauben nennen oder auch Poesie. Uns Heutige an die Grenze des Sagbaren, in ein Risikogebiet jenseits der Sprache geführt zu haben, ist es, was die Jury besonders faszinierte an der Erzählung „Der Jaguar“ von Ursula Seeger. Ihr sei der diesjährige Scivias-Literaturpreis zuerkannt.

Der Jaguar

Ursula Seeger

AUSGEZEICHNET MIT DEM SCIVIAS- LITERATURPREIS 2021

Das Haus hatte schon lange am Ende der Straße gestanden und viele Menschen kommen und wieder gehen gesehen. Vermutlich war es vor einigen Jahrhunderten aus dem Felsenmeer herausgewachsen, das am Ende der Eiszeit mit dem Tauwasser die Täler hinabgeglitten war – doch es konnte sich nicht erinnern. Sein Garten wandte sich dem Wald zu – hinter seinem Rücken fielen wellig die Hänge zum Fluss hinab, dort, wo das Dorf wie hineingegossen in das gewundene Tal dem Flusslauf folgte. Bis hier oben hatten es nur wenige Häuser geschafft.

Das Haus stand gerade leer, als die Familie ankam. Es spürte ein Kribbeln, als sie ihre Träume auf seine Wände projizierten. Es spürte, wie ihre Wünsche ausschwärmten und die Räume mit Erwartungen füllten. Es ahnte schon, wie bald emsige Hände Spinnweben und Tapeten herunterreißen, neue Schichten von Papier und Farbe auftragen, seine Böden schrubben, neue Fliesen verlegen würden. Das alles kannte es schon. Die Anfänge ähnelten sich immer.

Die Familie zog also ein, sie trug Schränke, Sessel, Betten, Bilder und tausenderlei andere Dinge in die Räume des Hauses, und stellte zuletzt etwas Gerümpel auf den Dachboden zu dem anderen Gerümpel. Das Haus war groß, und ihm war kalt. Lange war es nicht geheizt worden. Es freute sich, als die Familie einen neuen Ofen hineinbaute und sein Gemäuer wieder mit Leben füllte und den modrigen Geruch vertrieb. Das Dach des Hauses war lange nicht erneuert worden, deshalb regnete es hinein – die Familie stellte dort zunächst einmal Eimer unter. Darum würden sie sich später kümmern. Sofort jedoch legten sie den Garten an, sie legten Blumenzwiebeln in die Erde, pflanzten Stauden, Obstbäume und Büsche – als Vorbereitung für ihre rosige Zukunft. Der Wald weiter hinten schaute ihnen dunkel und schweigsam zu. Bald würden die Johannisbeerbüsche und Kirschbäume heranwachsen mit ihrem helleren Grün, den Blüten im Frühjahr, den saftigen Früchten.

Es gab drei Kinder: die Große, ihr jüngerer Bruder und die Kleine. Ihr Lieblingsort war der Garten. Dort verbrachten sie oft den ganzen Tag. Manchmal spielten sie ein Spiel, das sie arme Kinder ohne Eltern nannten. Es bestand darin, dass sie ganz auf sich gestellt waren und selbst für sich sorgen mussten. Das war im Sommer nicht schwer – sie krochen durch die Wiese, sammelten Blüten und Beeren, verzierten damit Sandkuchen, die sie in ihrer Bäckerei buken und verkauften. Ihre Wohnhöhlen bauten sie sich unter dichtem Gebüsch, zwischen zwei Ameisenstraßen, in direkter Nachbarschaft zu dem sandigen Gebiet, wo die Ameisenlöwen ihre winzigen Trichter angelegt hatten.

Die Sonne schien meistens. Gab es einmal einen großen Regen, staksten sie wie Störche im Flussdelta des abfließenden Wassers herum, um danach klatschnass in die warme Küche zurückzukehren. Wenn es schneite, bauten sie sich Iglus und lebten darin für einen strahlend weißen, grenzenlosen Tag. Die Eltern verbrachten währenddessen ihre Zeit mit Arbeiten am Haus, die kein Ende nehmen wollten. Auf dem Dachboden standen noch immer die Eimer unter den undichten Ziegeln und wurden von Zeit zu Zeit ausgeleert. So lebte die Familie vor sich hin.

Eines Tages jedoch zog der Jaguar in das Haus ein. Wenn die Kinder nachts im Bett lagen, hörten sie ihn fauchen und an den Wänden kratzen, sie sahen ihn aber nie. Woher er wohl gekommen war? War er aus dem finsteren Keller mit dem gestampften Lehmboden hinaufgeklettert? Hatte er schon vor ihrer Ankunft hinter den uralten Obstkonserven gehaust? Oder kam er aus dem dunklen Wald? Wenn der Jaguar hinten in der Wohnung umherwanderte und grollte, dann kletterten die drei Kinder zueinander ins Bett und bauten sich ein Nest. Sie rückten eng aneinander und erzählten sich von der Insel der Kirschbäume. Über den Jaguar redeten sie nicht. Es gab keine Jaguare in dieser Gegend, hatte ihre Mutter gesagt. Sie versuchten also, den Jaguar zu ignorieren, und hofften, dass er bald wieder ausziehen würde.

Sie erreichten die Insel der Kirschbäume jeden Abend per Ruderboot. Manchmal ruderten sie auch weiter und umrundeten ihre Insel, um zu begutachten, wie sehr sie inzwischen gewachsen war. Sanft schaukelte das Boot am Schilf-Labyrinth entlang, von Bucht zu Bucht, am Steg vorbei und an den Kletterfelsen, bis sie wieder zum Strand gelangten. Hin und wieder konnte das Meer jedoch auch wild und ungestüm sein – doch tat es das nur, um Seeräuber und wilde Tiere fernzuhalten. Niemand hatte Zutritt zum Land der Kirschbäume, den sie nicht eingeladen hatten.

Meist begann die Große zu erzählen. Nach ihrer Ankunft auf der Insel ließ sie die Bäume rauschen und die Vögel singen. Dann hörten sie den Jaguar in der Ferne nicht mehr. Hinter dem Strand mussten die Kinder einen sandigen Kiefernwald durchwandern, der licht und freundlich war, anders als der Wald hinter ihrem Haus. Traten sie heraus, lag vor ihnen eine offene Landschaft. Sie ähnelte ihrem Garten, war jedoch viel ausgedehnter. Auch die kleineren Geschwister fügten hin und wieder etwas zu der Insel hinzu. So wurde die Insel der Kirschbäume von Nacht zu Nacht größer.

Irgendwann begann der Jaguar, auch tagsüber aufzutauchen. In die Küche, die behaglich und warm war, kam er geschlendert, warf der Familie einen Blick aus seinen Augenschlitzen zu, ließ sich geschmeidig nieder, rollte sich unter der Küchenbank zusammen und war nicht mehr zu sehen. Alle saßen gerade um den Tisch beim Abendbrot, die Eltern und die drei Kinder. Niemand sprach über den Jaguar. Alle blickten sehr konzentriert auf ihre Teller. Die Kleine fing an zu singen. Sie sang ganz falsch, und mitten in der Strophe hörte sie auf. Die Messer klapperten. Sie hörten den Jaguar atmen. „Sing doch weiter!“, sagte die Große, aber die Kleine schüttelte den Kopf. Sie begann zu weinen, und die Mutter streichelte ihren Arm. „Ist doch gut“, sagte sie, „es ist gut.“

Da sonst niemand etwas unternahm, fasste die Große den Entschluss, eine Falle für den Jaguar zu bauen. Sie musste es allein angehen, ihre beiden Geschwister waren noch zu klein dafür. Sie zeichnete heimlich Pläne von Fallen, welche den Jaguar geschickt mit Ködern hineinlockten, um ihn dann mit einer Falltür zu fangen, und versteckte die Zeichnungen in einem Buch. Dann sammelte sie Material und begann, in der hintersten Ecke des Dachbodens an der Falle zu tüfteln. Sie erzählte niemandem davon.

Weiterhin erwähnte niemand je den Jaguar, obwohl er doch immer unverschämter wurde. Manchmal lag er den ganzen Tag über mitten im Flur, und wenn eins der Kinder hindurchgehen wollte, knurrte er es warnend an. An einem Abend, als die Familie zusammen im Wohnzimmer saß, der Ofen knisterte behaglich, schlenderte der Jaguar hinein, blieb zwischen den Sofas stehen und starrte sie an. Da brachte die Mutter die Kinder früh ins Bett. Die Kinder hätten sie gern gefragt, warum sie den Jaguar nicht wegschicken konnten – aber sie befürchteten, dass die Mutter es auch nicht wusste. Sie sah müde aus.

Also bauten sie sich wieder ihr Nest und erzählten sich von der Insel der Kirschbäume. „Das Gewitter ist hinten über dem Meer zurückgeblieben“, begann die Große. „Hier am Strand der Insel scheint die Sonne.“ Die drei Kinder brachten das Boot an Land und liefen in Richtung Wald. Diesmal konnten sie den Jaguar aber nicht überhören – er tobte und brüllte. Die Wände begannen zu zittern. Die Große ließ einen stärkeren Wind aufkommen, der brausend durch die Bäume fuhr und das Meer aufwühlte, sodass seine Wellen sich krachend am Strand brachen. „Gehen wir in den Wald!“, schlug der Bruder vor. Sie liefen den schmalen Weg die Böschung hinauf, der Geruch nach Harz umfing sie. Doch all das nützte an diesem Tag nichts. Irgendwann wurde das Brüllen so laut, dass sie sich die Ohren zuhielten.

Die Große sagte sich, dass sie sich beeilen musste mit der Falle. Sie arbeitete in jeder freien Minute daran, oft bis spät am Abend. Endlich war sie fertig. Das Mädchen fragte sich, wie sie die Falle unbemerkt aufbauen sollte, denn nachts traute sie sich nicht aus dem Zimmer. Schließlich nahm sie zur Gelegenheit, die Falle tagsüber aufzubauen, als gerade alle anderen im Garten waren, und installierte sie im Wohnzimmer, versteckt hinter dem Fernsehsessel. Sie wusste, dass der Jaguar sich hier oft niederließ. Ob die Falle im Ernstfall funktionieren würde? Sie wusste es nicht. Doch sie musste es versuchen.

Am Abend entdeckte die Mutter die Falle beim Aufräumen. Sie verstand nicht, worum es sich dabei handelte. Und weil sie sie für eine unnütze Bastelei hielt, verstaute sie die Falle in der Abstellkammer.

In der darauf folgenden Nacht war der Jaguar besonders wütend. Die drei Kinder lagen in ihrem Nest und hielten sich die Ohren zu, später hielten sie sich aneinander fest. Das Haus begann zu beben. Die Betten wackelten immer stärker, und schließlich fielen die drei Kinder nacheinander aus ihrem Nest. „Gehen wir“, rief die Große, die als Erste wieder auf den Beinen war, „los, in den Garten!“ Ihre beiden Geschwister stimmten zu, schnell warfen sie ein paar Kleider, Tücher, Kissen, Stofftiere und eine Dose Pfeffer zur Verteidigung in eine Sporttasche. Dann liefen sie hinaus. Der Mond schien, die Blumen und die blühenden Büsche dufteten, alle waren sie aus den Zwiebeln und Wurzelstöcken gekrochen. „Ihr wisst ja, wie es geht“, sagte die Große, „wir haben es schon oft genug geübt!“ Die drei Kinder suchten sich einen Unterschlupf unter einem Busch und bauten sich eine Schlafhöhle. Auf die Erde legten sie Tücher und Kissen, und ein Tuch hängten sie über den Eingang. Den Pfeffer hielt die Große in der Hand bereit. Sogar von hier aus hörten sie, leiser zwar, noch den Jaguar im Haus toben.

Die Kinder spürten das Beben, wenn sie die Hände auf die Erde legten. Das Haus bebte immer stärker, als wäre ihm furchtbar kalt. Fenster klirrten, Dachpfannen klapperten, Türen schlugen. Als die Kinder vorsichtig unter dem Vorhang hindurchlugten, sahen sie ihre Eltern aus dem Haus hinauslaufen. Bösartig hörten sie den Jaguar aus dem Fenster brüllen, und sie ließen den Vorhang fallen und verbargen schnell ihre Gesichter in den Kissen. Bald darauf knirschte und krachte es ohrenbetäubend.

„Glaubt ihr, das Haus hat ihn erwischt?“, fragte der Bruder. Es war das erste Mal, dass jemand über den Jaguar sprach. Die Große wollte nicht zugeben, dass sie nicht sicher war. „Klar, hast du nicht gesehen, wie es über ihm zusammengekracht ist?“, antwortete sie.

„Glaubst du, die Insel der Kirschbäume ist heile geblieben?“, fragte die Kleine. Daraufhin drehte die Große ihren Geschwistern den Rücken zu, damit sie nicht sahen, wie sie weinte.

Einige Zeit später begann der Bruder zu flüstern: „Wir sitzen im Ruderboot auf der Überfahrt. Das Meer ist ganz aufgeregt, wir schaukeln auf und ab, Wellen schwappen über den Rand. Es ist neblig. Aber da kommt sie, die Insel! Wir landen. Weit können wir nicht gucken, aber dort hinten ist der Wald. Wir laufen hoch. Im Wald halten wir uns an den Händen, damit wir uns nicht verlieren. Alles sieht wie immer aus, nur nebliger. Als wir auf der anderen Seite des Waldes herauskommen, ist der Nebel fast verschwunden. Die Insel sieht aus, wie wir sie kennen, aber irgendwas hat sich doch verändert. Sie dampft, Tautropfen glitzern, sie sieht aus wie neu. Und da vorne – ein Wegweiser!“ „Zum Haus“, rief die Kleine, „das steht darauf!“ „Genau“, nahm der Bruder den Faden auf, „und jetzt laufen wir schnell hin.“ „Aber wo sind eigentlich Mama und Papa?“, fragte die Kleine, „sollen wir sie nicht suchen?“ „Nein. Die müssen jetzt erst mal aufräumen“, sagte die Große erbost.

Das Haus war durcheinander. Es fühlte sich zerschlagen. Verwirrende Gefühle überkamen es, es spürte jeden seiner Steine, den Wind und den leichten Regen. Das Haus wusste nicht mehr, wo innen war und wo außen. Es versuchte, sich zu sammeln. Was würde nun kommen?

Laudatio von Christian Lehnert zu „Willkommen zuhause“

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

Lavabrocken, so weit das Auge reicht, bis hinunter an den schwarzen Strand. In dem wogend-starren Schotterfeld pfeift der Passat, summt an Graten und Klüften, in Hohlgängen, über hauchdünnen Blasen, in Adergeflechten aus Stein. Die bizarren Formen machen hellwach, sie dürsten nach Namen: Dort ein kobaltblaues Ei … ein grünes Rippenmuster von weißen Flechtenflecken überzogen … ein Überhang schwappt ins stille Wundrot … kraterdurchsetzter Fels wie ein Mond. Dort eine versteinerte Larve … dieses silbrig schimmernde Flöz ist der Flügel einer riesigen Libelle in ihrer Metamorphose … gläsern schwarze Gefäße … und immer Abbruchkanten, Skalpellschärfe und dazwischen wohlige Höhlen wie Herzkammern der Vulkaninsel. Ich streife durch eine Handschrift, erkaltetes Magma wie Majuskeln in Zeilen, die ein verstummtes Geräusch bergen – Bewegung, überlebt vom Stoff. Dieses mar de lava, „Meer aus Lava“ rauscht nicht, seine Wellen liegen still, seine Strömung ist erstarrt. Erstaunlich schnell fließende Gesteinsschmelze schoß vor zweihundert Jahren an dieser Stelle aus mehreren kleinen Kratern, selbst die grasenden Ziegen konnten nicht mehr fliehen und verkohlten zischend. Nun ist alles Spur. Die zersplitterten Flächen bezeugen, was war, geronnene Steine, die Flut, und wie sie blieb.

Warum führe ich Ihnen diese ferne Landschaft in Lanzarote vor Augen am Anfang einer Laudatio? Diese Erinnerung an eine Landschaft beschreibt präzise einen Leseeindruck. Bild um Bild werde ich vorwärtsgeschoben auf einer Straße hinein nach Mazar-e-Sharif. Bizarre, fremdartige Bilder gleiten vorbei, und man spürt in ihrer Tiefe Lebensgeschichten, Elend und Kraft und Hoffnung von Menschen brodeln. Aber die Bilder sind doch merkwürdig starr und still: Dort ein Junge mit verkrüppelten Beinen und Pantoffeln an den Händen, dort ein dicker junger Mann auf einen Holzstuhl gebunden, der den Kopf hin und her wirft und mit sich selbst spricht, billige Burkas aus synthetischem blauen Stoff, „ein Stück Gitternetz in der Mitte, zehn Zentimeter breit und sechs Zentimeter hoch …“ Die Oberfläche der klaren Sätze ist dünn, darunter ist alles unsicher, bedrohlich.

Warum mußte ich unwillkürlich an Lanzarote denken? Wegen der Stille der Bilder und der darin verborgenen, nahen, bedrohlichen Kraft. Die Vulkaninsel Lanzarote besteht aus einer Kette von Kratern, ist entstanden in einer Verschiebung. Eine Platte der Erdkruste bewegt sich hier über einen wunden Punkt, einen Glutpunkt, einen Hotspot – und immer wieder schlägt er durch, läßt Magma aufschießen, und so reihen sich wie an einer Naht die Krater aneinander.

Genauso scheibt sich die Straße in der Erzählung „Willkommen zu Hause“ von Angelika Lichteneber über ein unsicheres Terrain. Genauer müßte man sagen: Die Sprache schiebt sich vorwärts. Denn die Bilder sind verstörend gebrochen in sprachlicher Distanz. Reglos sitzen wir mit dem erzählenden Ich in einer Kapsel, eingeschlossen und stumm, aber draußen zieht eine Wirklichkeit vorbei, die gar nicht still ist. Sie entlädt sich in Sätzen, die präzise erfassen, genau aufnehmen, abbilden, dabei ein glühendes Brodeln erinnern, es ahnen lassen. Die Wörter schieben sich über einen Hotspot, eine Tiefenirritation. Sie erscheinen klar, abgekühlt, sachlich, wie ein sicherer Panzer – aber der Schein trügt, ihr Fundament ist in Bewegung, unsicher wie flüssige heiße Lava.

Denn was obenauf identifizierbar ist und in großen Namen wie „Hilfseinsatz“ oder „Humanitäre Hilfe“ sortiert wird, zerfällt bei näherem Hinsehen wie Schlacke. Da ist eine Differenz, eine Verschiebung: Die Sprache der Europäerin, in dem Auto hinter Glas gedacht, ist höchst gefährdet. Sie hat nicht im mindesten Hoheit über die Wirklichkeit hier in Afghanistan. Die Gefahr ist allüberall, sie ist ubiquitär, sie ist die Konstante einer fremden Welt. Während ich als Leser von Bild zu Bild, von Krater zu Krater geschoben werde, erscheint etwas, das wir so schwer, fast gar nicht ausdrücken: Fremde. Denn wie kann ich auch Fremdes in meine Sprache holen, ohne es seiner Fremdheit zu berauben oder ohne unverständlich zu werden in dem, was ich sage? Die Erzählung arbeitet angesichts dieser Aufgabe mit einem alten und zugleich modernen Verfahren: Sie inszeniert Lücken, Risse. In den Zwischenräumen der Bilder, wenn die Erzählung weiterspringt, erscheint der eigentliche Stoff, zwischen den Satzgebilden.

Und Heimat? Zuhause? Sie gibt es nur dort, wo die Erzählung abbricht. Konsequent wird eine Kulturdifferenz inszeniert. „Willkommen zu Hause“ – dies ist das Ende eines Sprachflusses, der an einer fremden Wirklichkeit abperlt. Eine Krise leuchtet auf, die unsere Zeit bestimmt. Die beiden Worte „Heimat“ und „Fremde“ markieren sie. Gibt es Heimat nur im Rückzug, in einer Fahrzeugkapsel, in der räumlichen Trennung? Ist das Konzept der Begegnung mit dem Fremden, der Öffnung für den anderen eine Konstruktion, die nur dort funktioniert, wo man sich wirkliche Fremde vom Leib hält? Kein Wort überspringt in der Erzählung die Verglasung. Beklemmend ist diese Isolation in einer gefährlichen Umgebung, als schwebte eine Seifenblase im Wind.

Erkaltetes Magma wie Majuskeln in Zeilen, die ein verstummtes Geräusch bergen – Bewegung, überlebt vom Stoff. Die Wellen liegen still, die Strömung ist erstarrt: „Willkommen zuhause“.

Diese Erzählung, an der Grenze der Sprachlosigkeit gegenüber dem Fremden, betritt im Grunde zwei „Risikogebiete“, die miteinander zusammenhängen: eine bedrohliche Fremde und ein brüchiges Inneres, dem die Kategorien verschwimmen und das schlicht Angst hat. Hier nicht zu verstummen und zugleich nicht die Verstörung und Bedrohung zu entschärfen ist die Leistung einer Erzählung, der das Schweigen eingeschrieben ist. Sie führt punktgenau auf eine Krisenerfahrung unserer Zeit, auf eine Verunsicherung, der die Worte „Heimat“ und „Fremde“ kaum mehr beikommen. Das hat uns als Jury überzeugt. Wir gratulieren zum zweiten Preis des Scivias-Literaturpreises.

Willkommen zuhause

Angelika Lichteneber

AUSGEZEICHNET MIT DEM SCIVIAS-LITERATURPREIS 2021 – 2. PLATZ

Mein Arbeitstag ist zu Ende. Zu Fuß kann ich nicht nach Hause. Es ist zu weit. Und zu gefährlich. Eine Entführung ist jederzeit denkbar, wenn ich mich auf die Straße traue. Ich warte auf meinen Fahrer. Er holt mich jeden Tag ab, auch, wenn Start und Ziel nur wenige hundert Meter entfernt voneinander sind. Die Liste der Ziele, zu denen ich gefahren werde, ist kurz. Nur wenige zählen für eine Europäerin in Afghanistan zu den sicheren Aufenthaltsorten. Zwei oder drei Läden, in denen ich Lebensmittel kaufe, zwei oder drei Lokale, in denen ich mich mit Kollegen oder Freunden treffe, außerdem die Wohnungen der Kollegen und ihre Büros, in denen auch ich zu tun habe.

Der Fahrer kommt. Ich setze mich auf den Rücksitz, das Tuch fest um den Kopf gebunden. Es verhindert nicht, dass ich als Europäerin erkannt werde, aber immerhin sieht man das erst auf den zweiten Blick. Auch ist das Auto kein gepanzertes Spezialfahrzeug wie diejenigen, in denen die wichtigeren Kollegen durch die Stadt fahren. Es ist ein ganz normales Auto, wie es die Afghanen selber fahren, und am Steuer sitzt ein Einheimischer. Auch das soll bewirken, dass man mich nicht als eine Ausländerin erkennt, mit der ein hohes Lösegeld zu erzielen wäre.

Wir fahren vom Büro außerhalb von Mazar-e Sharif zu dem Haus, in dem ich wohne. Es ist kalt, knapp über 0 Grad Celsius. Der Schnee ist geschmolzen und der Boden aufgeweicht. Die Straßen sind nicht alle geteert, in den Nebenstraßen hat das Auto Mühe, in dem knöcheltiefen Schlamm vorwärts zu kommen und gleichzeitig die Spur zu halten. Bevor wir die geteerte Hauptstraße erreichen, hält der Fahrer plötzlich an. Ich recke den Kopf, um zwischen den Vordersitzen hindurchzusehen.

Ein Junge überquert die Straße. Seiner Körpergröße nach könnte er fünf oder sechs Jahre alt sein. Sein Gesicht sehe ich nur von der Seite. Der Junge hat verkrüppelte Beine und Füße, das ist deutlich zu erkennen, als er ungefähr vier Meter vor unserem Auto auf allen vieren durch den tiefen, nassen Schlamm robbt. Er trägt keine Schuhe, sie würden auch keinen Halt finden an den nackten Füßen, die seltsam verdreht sind, an viel zu kurzen Beinen. Schuhe trägt er dafür an den Händen. Sie stecken in durchweichten Pantoffeln. Der Junge hat die Hälfte der Straße überquert. Einige Autos haben angehalten, andere haben es eilig und fahren schon wieder los, es hupt. Zwei Männer laufen zwischen den Autos hindurch und mir fällt auf, dass sie aufrecht auf zwei gesunden Beinen laufen. Sie scheinen den Jungen nicht zu bemerken, der jetzt die andere Straßenseite erreicht hat und dort seinen Weg fortsetzt. Ich folge ihm noch mit den Augen, während sich unser Auto wieder in Bewegung setzt. Ich darf nicht aussteigen und ihn befragen, ich darf nicht nachsehen, wo er wohnt und wie es ihm dort geht.

Wir biegen auf die breite geteerte Hauptstraße ein, müssen aber noch einmal anhalten, um den Mann vorbeizulassen, der drei Kamele an einem Strick hinter sich herführt. Die Hauptstraße ist dicht befahren. Autos, Lastwägen, motorisierte Rikschas, vereinzelte Fahrradfahrer und Wägen, die von mageren und schmutzigen Pferden oder Eseln gezogen werden. Links und rechts der Straße sind Geschäfte, über ihnen farbenfrohe Schilder und davor ein breiter Gehweg, der ebenso rege belebt ist wie die Straße.

Vor einem der Geschäfte steht ein einfacher Holzstuhl. Darauf sitzt ein korpulenter, junger Mann, der seinem Gesicht nach geistig behindert sein könnte. Aber genau kann ich das nicht erkennen, wie denn auch, wir halten nicht an. Ich kann nicht aussteigen und nachsehen, was mit ihm los ist. Er wirft den Kopf hin und her und spricht mit sich selbst. Die Menschen, die vorbeilaufen, beachten ihn nicht. Der junge Mann bewegt nur den Kopf. Vielleicht würde er seine Rede an sich selbst gerne mit passenden Gesten begleiten, aber er ist mit einem Seil an den Stuhl gebunden. Jemand hat das Seil fest um seinen Oberkörper und die Stuhllehne gewickelt, so dass er gerade noch die Beine bewegen könnte. Vielleicht könnte er sogar aufstehen und in gebückter Haltung mit dem Stuhl auf dem Rücken wie mit einem Schildkrötenpanzer ein paar Schritte gehen. Das wäre gefährlich, die Straße ist nahe und dicht befahren. Er macht aber keine Anstalten, sich zu bewegen. Er wirkt mit der Situation vertraut, als wäre es normal, an einen Stuhl gebunden an einer befahrenen Straße zu sitzen, und ebenso normal erscheint es den Passanten auch.

Wir kommen an einen großen Kreisverkehr, einen der zentralen Verkehrsknotenpunkte der Stadt. Mitten in dem Gewühl der Autos sitzt ein blaues Häufchen auf der Fahrbahn. Die billigste Burka, die es auf dem Basar zu kaufen gibt, ist aus synthetischem blauem Stoff. Viele Frauen, die sich die teureren Stoffe nicht leisten können, tragen diese Burka, die nur ein kleines Sichtfenster vor den Augen freilässt. Im Winter schützt die Verhüllung nur wenig vor der Kälte und im Sommer, wenn die Temperaturen nahe an die 50-Grad-Grenze steigen, ist es darunter unerträglich heiß. Den einzigen Blick auf die Umgebung haben die Frauen durch ein Stück Gitternetz in der Mitte, zehn Zentimeter breit und sechs Zentimeter hoch.

Die blauen Häufchen sind ein alltäglicher Anblick im Straßenbild. Sie sitzen an den Straßenecken, auf Gehwegen und mitten in den Kreuzungen im Dreck. Die Autos fahren routiniert um sie herum, auch die Fußgänger beachten sie nicht. Manchmal wirft ihnen jemand eine Münze hin. Ihr einziger Wert, so scheint es, besteht darin, morgens das Haus zu verlassen und den ganzen Tag über als blaues, fast unsichtbares Häufchen Münzen zu sammeln. Ihr Wert bemisst sich an der Summe, die sie am Ende des Tages zuhause abliefern.