Riss - Chris Nolde - E-Book

Riss E-Book

Chris Nolde

4,8

Beschreibung

Sie sind jung und zugleich schon ziemlich erwachsen. Jan trifft Flo und die beiden begegnen Maya. Das ungleiche "Dreierpack" findet zu einem existenzialistischen Drei-Tage-Trip zusammen – auf der Suche nach dem, was jede Generation immer wieder aufs Neue sucht: auf dieser Welt mit Sinn zu leben.Jan bezeichnet sich selbst als Burnout-Abiturient, weil er weder für das, was ihm fehlt, noch für das, was er sucht, eine passende Beschreibung finden kann. Maja leidet an einer traumatischen Familiengeschichte, vor der sie immer wieder davon läuft.Und schließlich ist da noch Flo, der mit der geklauten Supermarktkasse erst seinem Bruder hilft, um dann seine letzte Reise zu machen.Gemeinsam stürzen sie sich in ein Leben ohne Regeln, ziehen durch Hamburg und trinken, feiern, lieben – und vor allem reden sie über die Welt, als könnten sie sie in diesen drei Tagen neu erfinden.Während Jan und Maja miteinander ihren Träumen näher kommen, hat Flo anderes vor: er will das Kartenhaus dieser Gesellschaft zum Einstürzen bringen, indem er sein Leben zur Kunst macht. Es braucht einen Riss. Und Jan und Maja sind Teil seines großen Plans.Wir kennen diese Geschichte. Aber Chris Nolde findet für die immer wieder neue Erzählung einer Generation seinen eigenen Ton, drängend und musikalisch: die Kraft seiner Dialoge, die kluge Vitalität seiner Figuren und die Volten seiner Dramaturgie bezeugen ein erstaunliches Können.

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Chris Nolde

Riss

Roman

 

Berlin University Press

 

 

Chris Nolde

Riss

Roman

 

Erste Auflage im August 2013

© Berlin University Press 2013

Alle Rechte vorbehalten

 

Ausstattung und Umschlag

Groothuis/groothuis.de

Satz und Herstellung

Dittebrandt Layout&Satz, Baden-Baden

Schrift

Borgis Joanna MT

Druck

Beltz Druckpartner GmbH Co. KG, Hemsbach

ISBN 978-3-86280-057-5

E-Book: 978-3-86280-062-9

1 Jungerwachsen

‚And they splashed into the deep blue sea.

It was a wonderful Splash.‘

Bright Eyes

Maja

Schon eine Weile läuft das Tier um ihre Beine herum, wie auf der Suche nach irgendetwas, vielleicht nach Nahrung, vielleicht aber auch nach Liebe, Glück, Familie, Heimat, wer weiß das schon, wer kann schon in den Kopf einer Taube hineinsehen. Auf jeden Fall zeigt das Tier großes Interesse an Majas schwarzweißen Chucks.

Es ist kurz nach zehn am Abend, ein Schwall sommerlicher Wärme zieht durch die Hallenluken des Pariser Nordbahnhofs, eine warme, abgestandene Großstadtluft. Zwischen all den Menschen, die irgendwo hin oder etwas hinter sich lassen wollen, läuft die Taube mal hier, mal da hin und lässt sich Zeit dabei.

„Es ist echt nicht normal, wie langsam und planlos du bist.“

Das Tier sieht sie neugierig an.

„Ja, dich meine ich.“

Es legt den Kopf schief.

„Hast du gehört? Du bist nicht normal!“

Sie steht der Taube gegenüber wie bei einem Duell.

„Andererseits, was heißt das schon, normal! Konfektionsgröße: M? Klickt ein normaler Mensch bei Google immer den allerersten Vorschlag an?“

Die Taube wirft Maja einen missbilligenden Blick zu.

„Sag’s ruhig. Drei Mal von zu Hause wegzulaufen ist wohl eher ein Anzeichen dafür, dass man nicht normal ist.“

Die Taube nickt.

In der Tat, gewöhnlich war ihr Leben nie. Wie jedes andere achtzehnjährige Mädchen hat sie geweint, gelacht, geliebt, hat über ihren Körper, über Jungen und zu wenig Taschengeld geklagt, aber all das lag im Schatten einer bedeutenderen Erfahrung, etwas, das wahrscheinlich kein anderer Mensch auf dieser Welt erlebt hat. Vor so vielen Dingen kann man weglaufen, aber Schuld ist ein Gepäck, das man nicht an einer Türschwelle zurücklässt, erst recht nicht eine Schuld, an der die eigene Familie zugrunde gegangen ist.

Die Taube pickt links, dann rechts von ihr den Boden ab.

„Weißt du nicht, wohin? Ich auch nicht. Wir haben wohl beide kein Ziel im Kopf, was?“

Der Vogel beweist das Gegenteil, indem er aufsteigt und zwischen den Deckenpfosten untertaucht.

Ein paar Gestalten sind aufgetaucht, blasse Gesichter, die eigentlich nicht hier sein dürfen. Sind sie ihr gefolgt? Sind sie hergekommen, um ihr bei ihrem Vorhaben zuzusehen? An allen Ecken des Bahnsteigs stehen die Gestalten mit schlaff herabhängenden Armen herum.

Sie warten auf ihre Entscheidung.

Wird sie, oder wird sie nicht?

Eine Dreitonmelodie erklingt und eine Frauenstimme kündigt den Thalys an.

Vielleicht schaffe ich es heute, denkt Maja.

Nur ein klitzekleiner Schritt über den Steig, eine winzige, kaum Anstrengung erfordernde Verlagerung des Gewichts, und alle Schuld ist vergessen. Tu es doch einfach!

Der Zug rollt auf sie zu.

Sie rückt mit dem rechten Fuß vor.

Einen ganzen Bahnhof könnte sie aus dem Plan reißen, die Leute aus ihrem Tran wachrütteln, aber vor allem würde die Welt, die sich längst von ihr abgewandt hat und sie keines Blickes mehr würdigt, für einen Moment zu ihr hinschauen

und ihren Namen laut in den Raum sprechen. M A J A.

Der Zug fährt heran. Jetzt, Maja.

Jetzt.

Der Blick des Zugführers, das Quietschen der Bremsen.

Der Thalys hält, und Maja steht unbeweglich da.

Sie atmet schnell und mit geöffnetem Mund. Die Türen öffnen sich, die Ersten steigen ein. Wo sind sie? Sind sie enttäuscht?

Die blassen Gesichter sind nicht mehr da.

Mit weichen Knien tritt Maja auf das Zugtreppchen.

Ich bin eben nicht so stark wie ihr, denkt sie.

Ein Geruch von Öl und verbranntem Gummi steigt auf und es grollt von den Schienen, als der Zug anfährt, Maja ihre lila Kopfhörer aufsetzt und in der Passagiergruppe untertaucht, ganz wie die Taube unter den Deckenpfeilern.

Flo

„Es steht mir bis zum Hals, Herr Teckler! Jeden Monat muss ich Ihren Namen aus dem Mund irgendeines Kunden hören! Ich will in Zukunft keine einzige Klage mehr auf dem Tisch haben, weder über Ihre Ausdrucksweise noch Ihren Alkoholgestank während der Arbeit!“

Love, love me do …You know, I love you.

Er singt im Geiste einen Beatles-Song, um die Ansprache seines Chefs zu übertönen.

„Und rasieren Sie sich mal, Sie arbeiten ja nicht an der Tankstelle!“ Volker Neudorf saugt tief Luft durch seine verstopfte Nase, glättet mit den Fingern die Haare, macht auf dem Absatz kehrt und saust zur Tür hinaus, während er noch lauter Selbstbeschwichtigungen murmelt.

„Nee, ich bin ruhig … Ich bin ruhig …“

Flo rollt auf dem Stuhl wieder an die Kasse.

Alter! Es ist doch nur ein beschissener kleiner Supermarkt. Kein Grund, hier so rumzustressen.

Eine junge Frau packt bereits Gemüse und Milchtüten auf das Fließband, ihr Sohn grinst Flo mit roten Wangen an, einem Blick, als wolle er sagen: Guck mal, das ist meine Mami da an meiner Hand.

Cool, Kleiner. Echt ‚ne scharfe Mutti haste da.

Flo zwinkert ihm zu, woraufhin die Mutter entzückt lächelt. Warum stehen immer die Mütter auf mich? Muss wohl an meinen fünfundzwanzig Jahren liegen. Ist vielleicht das perfekte Alter.

Fünfundzwanzig.

Jemand hat ihn vor einer Weile mal als Jungerwachsenen bezeichnet. Seltsamer Begriff. Ein junges Erwachsensein, das klingt nach Unreife, nach etwas Unfertigem. Oder stehen etwa beide Begriffe für sich? Jung und erwachsen? Das würde ihm schon besser gefallen.

Wie auch immer. Nach dem heutigen Tag würde sich jeder schwer damit tun, ihn so zu nennen, denn das käme einer Entschuldigung gleich, aber für das Ungeheuerliche, das er im Sinn hat, gibt es keine Rechtfertigung. Zumindest nicht in deren Wertesystem.

Bing. Bing. Bing. Flo sieht seine Hände als eine Art mechanisches Greifarmsystem, das Nahrungsprodukte über eine Maschine bewegt, acht Stunden am Tag. Jedes Bing ist kaum einen Cent wert – Fünf Euro Stundenlohn werden ihm gezahlt, dabei behält der Berliner Discounter seine Verkäufer solange, bis sie nach einer Festanstellung fragen. Daraufhin werden sie aussortiert wie altes Gemüse.

„Ah nein!“, nörgelt die Frau. „Ich hab meine EC-Karte nicht dabei, und nur ‚nen Zwanziger.“ Hastig greift die Frau nach einem Schokoriegel und hält ihn Flo, etwas zu dicht, vor die Nase.

„Können Sie den stornieren?“

Flo nickt, während der Junge einen traurigen Laut einwirft.

„Schon gut, geben Sie mir Zwanzig“, sagt Flo.

„Wirklich? Aber dann fehlt Ihnen doch was in der Kasse!“

Was macht schon der eine Euro im Vergleich zu der Enttäuschung des kleinen Jungen. Außerdem ist es in zehn Minuten egal, wie viel Geld in der Kasse fehlt. Weil niemand mehr die Gelegenheit haben wird nachzuzählen.

Flo sieht dem Jungen nach.

Also wenn Erwachsenwerden bedeutet, eingepasst zu werden wie ein Tetrapak ins Sortiment, dann will Flo diesen Schritt niemals gehen. Kurz vor acht, kein Kunde mehr da, also setzt er das Nicht-mehr-anstellen-Schild auf das Fließband, das den ganzen Tag über Flos Wunsch zum Ausdruck bringt. Er öffnet die Verriegelung des Kassenautomaten, nimmt die Geldkassette hoch und wiegt den kleinen Schatz in den Händen, über ihm leise Radiomusik von der Decke:

„It’s a loveley day …“

„Willst du nicht nachzählen, Flo?“ Frau Gruber, die kleine Frau von der Infotheke, reißt ihn aus seinen Gedanken. Sie spitzt über den Rand ihrer eckigen Brille und bringt ihren typischen Kurz-vor-Schluss-Satz. „Also ich will schnell hier raus. Nur tote Hose heute, ich hasse dieses ständige Warten.“ Und doch hört das Warten nie auf, stimmt’s, Frau Gruber? Der nächste Urlaub … Der Traummann … Das Gewinnspiel im Radio … Warten, warten, warten.

„Ich komme auch gleich“, sagt Flo.

Sie folgt ihren Kolleginnen, bis die Bürotür ins Schloss fällt.

Das wäre der Moment, denkt Flo.

Gleich da drüben ist die Tür zum Büro, dort könntest du zählen, dich abmelden, deinen gewöhnten Feierabend antreten. Und alles würde seinen gewohnten Gang nehmen – denn der nächste Lottomittwoch kommt bestimmt.

Erst nachdem er abgebogen ist in Richtung Ausgang, kurz bevor er die Tür erreicht, wird er aufgehalten. „Hey!“

Richard steht mit Einkaufskörben beladen neben der Infotheke.

„Was hast du vor, Flo?“

Verdammt.

„Hau ab, Richie.“

Richard legt die Körbe ab und folgt ihm. „Alter, wo willst du hin, was soll das? Ich kann dich damit nicht gehen lassen.“

Wie in Trance fasst Flo mit der Hand in den Rucksack, zieht die Waffe hervor. „Ich hab gesagt, hau ab!“

„Florian!“ Der Azubi spricht seinen Namen fremd aus, wie zum allerersten Mal. „Ich will dir nichts tun, Mann“, sagt Flo so leise, als spräche er zu sich selbst. Richards Pupillen springen von Flos Augen zu dem silbernen Lauf, zu Flo, wieder zur Waffe.

Im Rücken wischt die Drehtür mit ihren Haarborsten über den Boden, eine Werbemelodie tönt aus dem Lautsprecher.

„Alter, ich brauch das Geld, okay? Es ist nicht für mich, es ist …“ Er zögert. „Ich muss jemandem das Leben retten.“

„Flo, bitte, bring’s einfach zurück. Ich sag’s niemandem. Okay? Nur bitte, tu die Waffe weg.“

„Ich kann nicht, Mann!“

„Du bist am Ende. Die kriegen dich doch eh, dann sitzt du im Gefängnis.“ Flo zuckt mit den Schultern. Na und, denkt er. Es existieren weitaus schlimmere Gefängnisse im Leben.

„Bitte, Alter. Du willst doch nicht, dass wir uns vor Gericht wiedersehen.“

„Tun wir nicht, Richie. Wir sehen uns nicht wieder.“

Flo dreht sich um und läuft, so schnell er kann. Er stürmt durch die Drehtür in die kobaltblaue Dämmerung, rast auf den VW zu, der nah am Eingang geparkt ist und schließt mit zitternden Händen die Fahrertür auf. „Jetzt könnt ihr mich alle mal.“

Von diesem Moment an ist er keinem Vorgesetzten mehr an den Arsch getackert. Er muss nicht mehr nach Dienstplan schlafen und vor allem nie wieder lächeln, wenn die Menschen einem keinen Grund dazu geben. Er wird sich maßlos betrinken und die letzte Reise seines Lebens machen, und dieser kleine Rest ist nur eine Idee, eine Geschichte, in der er tun kann, was er will. Er ist der Welt nichts mehr schuldig, er hat lange genug versucht, jung und erwachsen zu sein, heute wurde er gezwungen, sich zu entscheiden.

Der Motor heult auf, und ein Klacken löst die Handbremse, während das Vollgas die Reifen zum Durchdrehen bringt. Der Wagen schießt vor, Flo lenkt ihn vom Parkplatz raus auf die Hauptstraße.

Jan

Und wie hat es bei ihm angefangen? Was war seine Schlüsselszene, wann ist diese seltsame namenlose Krankheit ausgebrochen, die Störung, die sein Leben verändern sollte?

Dies ist der Auftritt Jans in seiner eigenen Geschichte.

Erstes Bild: Die Beerdigung einer Beziehung.

Nein, dies ist keine Metapher, in der Tat veranstalten Jan und Anna eine Abschiedszeremonie ihrer Beziehung. Dabei gibt es alles, was man braucht: Eine Holzplatte, auf der Jan plus Anna eingeritzt ist, eine Wiese außerhalb der Stadt und ein feierlicher Aufzug. Die beiden Trauernden treten Hand in Hand vor den Grabstein, und Jan legt eine weiße Rose auf das Grab.

„Muss ich mich jetzt auch bekreuzigen?“

„Du nimmst das nicht ernst, Jan.“

„Doch, tue ich! Aber weißt du, was ich mich frage? Vielleicht sind wir nur dazu fähig, diese Zeremonie abzuhalten, weil wir nie ein letztes Gespräch hatten. Weißt du, was ich meine? Dieses letzte Gespräch, in dem man flucht und weint und sich Anschuldigungen an den Kopf wirft. So etwas hatten wir nicht.“

„Möchtest du das gerne?“, fragt Anna.

„Nein, nicht wirklich. Aber irgendwann musst du mir doch mal die volle Wahrheit sagen … Warum du wirklich mit mir Schluss gemacht hast, meine ich.“

Sie sieht ihn mit verständnisloser Miene an.

„Du weißt, dass ich nach dem Abi ein Jahr ins Ausland gehe.“

„Und du willst nicht, dass ich mitkomme.“

„Du willst doch gar nicht ins Ausland, Jan.“

„Ich brauche auch keine Reise nach Afrika, um zu verstehen, wie ungerecht es in der Welt zugeht.“

„Siehst du, Jan, das ist es! Genau das ist der Grund.“

Meine Klugheit? – denkt er. Meine Einsicht? Meine Konsequenz?

„Du siehst in allem nur das Schlechte. Du verstehst die Welt als ein Gefängnis, das man überleben muss, bis man tot ist.“

„Das hast du eigentlich ganz passend formuliert.“

Sie sehen sich schräg von der Seite an.

„Ich liebe dich, Jan, keine Frage. Aber ich wäre echt gerne mal wieder verliebt. Weißt du, was ich meine? So ganz neu und aufregend verknallt. Wir sind schon so festgeliebt. Wir kennen uns auswendig.“

Er schweigt. Vielleicht ist dieses trostlose Schweigen der Grund, dass dieser nächste blöde Einfall ihrerseits erfolgt.

„Sollen wir vielleicht noch was trinken gehen? Einen kleinen Absacker bei mir zu Hause?“

„Ja“, sagt Jan.

Bild: Nochmal Schlussmachen.

Jan steht vor Annas Haus, die Tür schließt sich, wie damals.

Eine letzte Nacht mit der Ex ist eine ganz schreckliche Sache. Man gibt sich an einem solchen Abend die Mühe, das beste Pärchen der Welt zu spielen, eines, das der Beziehungsalltag nie hergeben würde, und mit diesem Traumbild geht man in die Trennung. Super, echt.

Gib nie einen letzten Kuss. Und vor allem: Gehe nie ein letztes Mal mit deiner Ex ins Bett, es könnte der beste Sex deines Lebens werden.

„Wir können ja bloß ganz freundschaftlich Filme gucken!“

Ach was! Das Wort Videoabend sollte zwischen Mann und Frau grundsätzlich durch ein ehrlicheres Synonym ersetzt werden.

Jans letzte Erinnerung an seine große Liebe ist ein nach Bier stinkender Kuss auf die Stirn. „Hey, pass auf dich auf.“

Ja, genau. Pass du doch auf dich auf.

Bild: Das betrunkene Straucheln in Halbwirklichkeit durch die Scheinwerferkegel der Nacht. Irgendeine dreckige U-Bahnhaltestelle in Bonn Bad Godesberg, irgendeine Nacht, die nichts verspricht außer einem langen Heimweg.

Hier beginnt die Geschichte erst wirklich.

Jan sitzt mit ausgestreckten Beinen auf einer Wartebank und atmet kalte Luft ein und alkoholisierte Luft aus. Nächtliche Stille herrscht im Untergrund, die nur von der flirrenden Bahngleisbeleuchtung unterbrochen wird. Ich will nicht alleine sein, denkt er. Es ist furchtbar, derjenige zu sein, der sich selbst am besten kennt.

„Guten Abend“, sagt da eine Stimme. Schnell schließt Jan die Augen und stellt sich schlafend. Nee, echt nicht, kein Smalltalk jetzt, keine Lust, fremdhöflich zu sein. Immer wieder wird er von Obdachlosen angesprochen, vermutlich wirkt er anziehend auf Menschen, die einen Zuhörer brauchen. Die Gespräche sind stets die gleichen, hochtrabend verkitschte Ri-se-and-fall-Lebensgeschichten, die immer wieder auf dasselbe hinauslaufen: Das System ist an allem Schuld. Schon sitzt der Mann an seiner rechten Seite. Mit einer hörbuchreifen Stimme fragt der vielleicht Sechzigjährige in Tuchmantel und Filzhut nach Jans Befinden.

„Ja, geht so.“

„Blöde Nacht?“

„Also wissen Sie, mein Reizmagen ist ‚ne blöde Sache, aber diese Nacht ist einfach das Letzte.“

Der Alte lacht, beugt sich dann vornüber und spricht leise ein paar Worte. „Kennst du das, wenn dein Leben einfach an dir vorüber zieht, ohne dass du es spürst?“

Irgendwo grollt und quietscht es in den U-Bahntunneln. Der Mann nimmt seinen Hut ab und entblößt sein brüchiges, langes Haar.

„Deshalb sitze ich oft hier. Ich steige nie ein, weißt du?“ Er zeigt in Richtung der Gleise. „Ich sitze einfach hier herum und lass sie ziehen. Da oben läuft alles hektisch, schnell und laut.“ Er kreist mit dem Zeigefinger.

„Ich hab ziemlich viel Mist erlebt, weißt du? Du ahnst gar nicht, was ich in meinem Leben alles … Also, das lässt sich gar nicht so in drei Sätzen erzählen …“

Jan sieht stumm geradeaus. Nicht schon wieder, denkt er.

„Ziemlich übles Zeug. Lange lange Geschichte … Glaubste nicht.“

Jan sagt immer noch nichts, starrt an die Wand. Der Mann spinxt immer wieder aus dem Augenwinkel herüber.

„Glaubste gar nicht, was ich da alles …“

„Ja also, was ist denn passiert?“

„Ich weiß gar nicht, ob dich das wirklich interessiert …“

„Doch. Ich muss es hören!“ Er verdreht die Augen.

„Wie du meinst“, sagt der Alte, tut so, als hätte er nicht darauf gewartet, und erzählt seine Geschichte.

„… Und dann bin ich abgehauen. Nur mit Rucksack und ein paar Mark. Ich weiß gar nicht, warum gerade an diesem Morgen! Es war ein stinknormaler Mittwoch. Tja … Es passiert wohl einfach. Eines Morgens wachst du auf, liegst in deinem Bett und plötzlich weißt du, dass es soweit ist. Ich hab mich auf den Bahnsteig gestellt, den nächsten Zug genommen, und bin umgestiegen, ziellos, von einem Zug in den nächsten. Aber ich hab wohl nie den richtigen erwischt.“ Er hustet mehrmals. „Scheiße, Mann. Hast du ein paar Euro?“

Jan gibt ihm fünfzig Cent.

Der Mann wischt mit der Hand durch die Luft und geht.

Jan atmet die kalte Tunnelluft. Der ganze Bahnsteig ist nun wieder so verlassen und einsam, wie er ihn vorgefunden hat. Da kreischt es hell in der Dunkelheit, Lichter rücken aus dem Bahnhofstunnel heran, die Bahn Richtung Hauptbahnhof hält und die Türhälften fahren vor Jans Nase auseinander.

Jan regt sich nicht, er bleibt einfach sitzen.

Wieso hat er das Gefühl, das die Story des Obdachlosen die ehrlichste Geschichte war, die er seit langem gehört hat?

Er hat in diesem Moment etwas entdeckt, das seinen Blick gefangen hält: Zwischen den Bahngleisen auf einer Säule thront das Bild eines alten Mannes mit weißem Vollbart, darunter steht in großen Buchstaben: Homer. Der große griechische Dichter. Seltsam, denkt Jan. Hier, im Untergrund der Zivilisation findet er seine letzte Zuflucht zum Erzählen. Sie stehen in seinen finsteren Zügen geschrieben, all die weltumfassenden Heldengeschichten und Abenteuer, die Zyklen einer göttergelenkten Weltgeschichte. Jan hat sowohl die Ilias als auch die Odyssee verschlungen, dabei hat sich ein Film vor seinem Auge zusammengesetzt, und in diesem Moment überkommt ihn das Gefühl, das er auch beim Lesen hatte: Die eine Filmspur passt nicht auf die andere.

Irgendwas stimmt nicht mit dieser Welt.

Die Bahn ruckelt, als würde sie mit den Schultern zucken, dann fährt sie ohne ihn ab, und schon bald folgt die nächste.

Ein Zug nach dem nächsten pendelt durch den unterirdischen Bahnhof, aber Jan sitzt bloß da, den Kopf an die Wand gelehnt und den Blick auf das zornige Gesicht mit den wirren weißen Haaren gerichtet, während die Züge an ihm vorbeirauschen.

Maja

Natürlich hat sie einen Umweg gefunden, um nicht bei ihrer Mutter in Hamburg stranden zu müssen wie ein gescheiterter Tom Sawyer, der es da draußen in der großen Welt nicht geschafft hat.

Sie läuft neben Manuel die Straßen entlang, vom Bahnhof Rotenburg bis zu seiner Wohnung. In der Hand hat sie den Strauß Kornblumen, Manuels Begrüßungsgeschenk. Sie bedeuten in der Blumensprache so etwas wie: Ich will dich zurück. Blöd, denkt sie, dass es nicht eine Blumenart gibt, die auf nette Weise ausdrückt: Du, wird aber nichts.

„Danke, dass du mich aufnimmst“, sagt Maja. „Nach Paris wusste ich nicht mehr, wo ich hinsollte.“

„Ja. Dachte ich mir.“ Er lächelt, ohne sie anzuschauen.

Er gibt ihr ein weites T-Shirt zum Umziehen, macht Musik an, Miles Davis, die Platte, die bereits auf dem Spieler liegt, und schaltet das Licht aus. Dann legt er sich ruhig neben sie ins Bett und wartet, dass sie ihn anfasst. Maja zögert für einen Moment, dann beginnt sie, ihm einen runterzuholen.

Es ist ein Vertrag, den sie im Stillen geschlossen haben, bereits bei ihrer Begrüßung, als sie sagte: „Ich weiß nicht, was ich tun soll“, und er ihr ihren Koffer abnahm.

Stunden vergehen, ohne dass sie ein Auge zutut. Und da liegt sie nun, in dieser seltsamen stillen Stunde nach Mitternacht, und schaut aus dem Fenster. Er weiß, dass sie wach ist, wie zum Beweis streicht seine Hand über ihre Beckenknochen.

„Du hast also immer noch Probleme einzuschlafen.“

Sie zuckt mit den Schultern, daraufhin fixiert er ihr Gesicht.

„Maja, weißt du was? Du siehst gerade wahnsinnig schön

aus.“

Maja blickt ihn regungslos an. Weißt du was? Das ist mir gerade wahnsinnig egal.

„Fragst du dich manchmal, ob du in deinem Leben noch einmal ganz von vorne anfangen kannst? Als wenn es dich für einen Moment lang nicht mehr gäbe, dann wieder, aber ganz anders?“

„Die Leute kennen dich. Du kannst ihnen nichts vormachen.“

„Ich will aber. Ich will noch einmal von vorne anfangen.“

Manuel dreht sie seitwärts, löffelt sich an ihren Rücken, und was als zärtliche Geste begann, endet in einer stupiden Anmache, seine Hand drückt sich unter ihrem Arm durch. An ihrem Rücken versteift sich etwas. Schon wieder. Sie muss hier raus, aber wohin? Da ist bloß Manuel, der immerzu geile Manuel, der ihre kleinen Brüste toll findet, dem sie nicht mehr in die Augen schauen kann, weil sein fordernder Blick sie wütend macht, und der doch, trotz allem, ihre Verlorenheit polstert mit seinem klar umrissenen Willen.

Einen Moment lang überlegt sie, ob sie ihm nicht von ihrer Familienschuld erzählen könnte, gerade weil er ihr so fremd ist, dass jedes Geständnis vor seinem Gericht ehrlicher und unverkrampfter ausfallen müsste als vor jedem anderen Menschen.

Dann aber entscheidet sie, dass er ihr auf andere Weise helfen kann.

Er tut ihr weh, fügt ihr echte Schmerzen zu, und zwar ohne jede Scham, als wenn sie danach verlangt hätte.

All ihre Muskeln spannen sich an, als Manuel mit seiner Hand tiefer wandert, auf der Suche nach dem einfachsten und schnellsten Weg durch ein vertracktes, weitverzweigtes Labyrinth.

„Ja?“, fragt er.

Jan

O nein, denkt Jan.

Bild: Familienbegutachtung. Eine blöde Tradition. Sobald sich nämlich ein Mitglied der Familie mehr als vier Stunden lang alleine einschließt, tritt man im feierlichen Aufzug gemeinsam ins Zimmer und setzt sich aufs Bett, nur um denjenigen mit gutmütigen Blicken anzustarren.

„Es ist alles in Ordnung!“, brüllt Jan in sein Kissen. „WIRKLICH!“

„Du siehst aus wie eine Meerjungfrau“, kichert seine kleine Schwester. Sein ganzer Körper ist eng in die Bettdecke eingerollt. Mutter, Vater und Christine sitzen auf dem Rand des Bettgestells und schauen allesamt auf ihn herunter.

„Wie geht’s dir, mein Schatz?“

„Hervorragend.“

„Wirklich?“

Nein, ich wollte nur mal neuen Text probieren.

„Ja.“

„Und wie war die Schule?“

„Toll.“

„Nee, Jan hat geschwänzt!“

„Och Christine! Wenn das so ist, wird er uns selbst davon erzählen.“ Ja, ganz bestimmt, denkt Jan. „Wir haben uns Sorgen gemacht, weil du schon seit Stunden hier drin liegst und diese Umbringmusik hörst.“ Danke. Nette Beschreibung für meinen Musikgeschmack. Jan hört fast ausschließlich Gruppen wie die Kings of Convenience – langsame, gefühlvolle Singer/Songwriter-Musik, meist akkustisch, minimalistisch. Jan empfindet sie nicht als depressiv, eher als ästhetischen Einbruch in die monotone Geräuschkulisse WELT.

„Was hast du heute vor, mein Sohn?“

„Beim Ascheplatz abhängen.“ Sein Vater nickt entschlossen, wie bei einem guten Konferenzbeschluss. „Ja, klingt vernünftig. Ein wenig Sport für die Fitness.“

Jan seufzt. „Vielleicht bleibe ich auch hier und höre Musik.“

Vater stimmt auch diesem Vorschlag mit kräftigem Nicken zu.

„Mh-hm. Ein wenig Musik zur Regeneration, das ist auch gut.“

Jan presst seine Zehen ineinander. „Nein, ich regeneriere mich nicht! Ich liege einfach nur dumm rum und starre an die Decke! Das war’s!“

Sein Vater zuckt mit den Schulten – eine scheinheilige Geste, denn es ist ihm nicht egal, dass Jan sich so aufführt. Jan muss unwillkürlich an ein Familienfahrrad mit vier Sitzen denken, bei dem nur einer nicht mitstrampelt. „Was machst du wieder für ein Nullgesicht, Peter. Interessiere dich gefälligst!“ „Ich hab dir immer gesagt, dieses Laissez-faire-Prinzip wird nicht aufgehen.“ „Was soll denn das jetzt? Mit Autorität erzieht man ja wohl keinen mündigen Menschen!“ „Ja, sehen wir ja, wo deine Selbstmündigkeit hinführt!“

Christine räuspert sich. „Ich geh mal hoch, fernsehen“ sagt sie.

„Ich bleib mal hier und schneide mir die Kehle durch“, sagt Jan.

Ihre Eltern, ins Gespräch vertieft, nicken ihnen bloß zu.

„Ja, macht, was ihr wollt, Kinder.“

Schon sind sie verschwunden.

Christines Hand verweilt noch an der Türklinge. „Bist du down wegen Anna?“ Die beiden Geschwister schauen sich an – nicht richtig in die Augen, man guckt irgendwie durch eine Schwester hindurch, weil man das Gesicht ja eh auswendig kennt.

„Sag nicht down, du Emo. Mann, deine Generation ist echt verkommen.“ „Du bist drei Jahre älter als ich, wir sind dieselbe Generation.“

„Ja, ich weiß.“

Christine lächelt. „Hab dich lieb, Jan.“ „Jaja. Hau ab.“

Sie verschließt die Tür.

Jan überlegt, seinen Kumpel Tim anzurufen, aber er ahnt bereits, wie das aussähe: Hey, Jan, heute hat mich Susi angesehen, als ich aus der Sporthalle kam. – Wow, Tim. Du hattest Blickkontakt. Mit einem Mädchen. Willst du jetzt eine Urkunde? Oder können wir vielleicht darüber sprechen, dass ich mich am liebsten aus dem Fenster werfen würde, während meine Familie so kerzenscheinglücklich ist?

Jeder Freund hat ein bestimmtes Kontingent an Mitleid, und Tims hat er bereits vor Jahren ausgeschöpft.

Es ist jetzt kurz nach Mitternacht und die schwüle Luft der Sommernacht drückt gegen die Fenster. Jan drückt seinen Kopf ins Kissen. Was ist bloß los mit ihm? Woher kommt diese unnatürliche Trägheit? Die Übelkeit? Und wieso will er am liebsten den ganzen Tag im Bett liegen bleiben und an die Decke starren?

Es dauert Stunden, bis er einschläft, und die ganze Zeit über spielt der eine ‚Bright Eyes‘-Song auf Repeat.

„This is the first day of my life …“

Von einer Art Schüttelfrost begleitet wacht er zu jeder vollen Stunde einmal auf.

Bild: Diagnose.

Sein erster Gedanke beim Aufwachen scheint nicht von ihm selbst zu stammen, er hat ihn mitgebracht, aus einem Traum vielleicht.

Jan hat etwas verloren, dafür fehlt ihm das Wort, er sehnt sich nach etwas, auch das kann er nicht benennen, aber er entscheidet sich, diesen Zustand vorerst Burnout zu taufen, weil der Begriff a) in aller Munde ist und Jan sich b) die Vorstellung gefallen lässt, dass man sich zur Ausheilung einmal ganz und gar ausbrennen lassen muss.

Das schwache Licht eines Sonnenaufgangs zwängt sich durch die Ritzen der Jalousien, im Nebenzimmer ertönt schiefer Gesang, da Christine sich an einem Whitney-Houston-Hit erprobt.

Es ist nicht schlimm, dass sie keine Singstimme besitzt, nur dass sie gleichzeitig versucht, die Zähne zu putzen, macht das Ganze unerträglich.

„And I will allways love youuuuu!“

„Aber dich nie irgendweeeer!“, singt Jan dagegen an.

Er schiebt sich über die Bettkante und forscht bei Wikipedia nach, ob Burnout auch auf Abiturienten und nicht nur auf Berufstätige zutrifft.

Nun ja.

Die Forschung steht ja noch am Anfang.

Jetzt, da er Burnout hat, braucht er diese Abitursgeschichte nicht mehr so ernst zu nehmen. Bevor er noch an seiner Krankheit zugrunde geht, nimmt er diesen Wink doch lieber als einen dringenden Inspizientenruf ins Leben.

Eines Morgens wachst du auf, liegst in deinem Bett und plötzlich weißt du, dass es soweit ist.

 

„Gehst du weg?“, schallt es aus der Küche. Jemand scheint bemerkt zu haben, dass er sich die Schuhe angezogen hat. Es ist sechs Uhr morgens, viel zu früh, um zur Schule zu gehen.

„Nur spazieren. Ich will meine Hausaufgaben reflektieren.“

„Machst du Witze?“

„Niemals! Ich will doch im Leben was erreichen.“

„Jan?“

„Wählt mich zum Sohn des Jahres.“

Seine Hand fühlt an der Raufasertapete entlang bis zum Türrahmen nach draußen, als ob seine Hand dort etwas fassen könnte, und er lässt die Tür hinter sich ins Schloss fallen, schließt seine Familie in ihrem Gemälde ein, sich selbst in der Welt aus. Einen Moment lang ist er traurig. Man ist nie nur derjenige, der verlässt, denkt er.

Flo

Er kramt den Türschlüssel aus der Tasche, als hinter ihm jemand laut hustet. „Ach, Herr Teckler?“

Es ist sein Vermieter, er steht neben dem Fahrradständer und späht unter seinem gelben Fahrradhelm hervor.

„Es wurde sich wiederholt über Sie beschwert. Man hat mir gesagt, es war die ganze Nacht unerträglich laut bei Ihnen. Sie haben diese Rock’n‘Roll-Musik wieder aufgedreht und äußerst frechen Besuch empfangen. Ach ja, und man hat mir gesagt, es hat im Flur nach…ähm… Drogen gerochen!“ Der Kerl nickt bei seiner Ansprache selbstgefällig. Flo vergisst für einen Moment den Ernst seiner Lage und bekämpft die Lust, dem Kerl auf die Fresse zu hauen.

„Ja, tut mir echt leid, Herr Helbig. Kommt nicht wieder vor.“

„Sie wissen, dass Sie keine Zigaretten aus dem Fenster schmeißen dürfen? Schauen sie mal her.“ Er stampft mit seinen Sandalen ins Gras und pickt einen Stummel auf. „Aha! Aha! Was denken Sie, ist das, Herr Teckler?“ Flo senkt den Kopf, seufzt.

Er geht schnurstracks auf den Kerl zu, packt einen Hunderter aus und stopft ihn in seine Jackenbrusttasche. „Hier, lassen Sie den Rasen neu pflanzen, oder was weiß ich. Und halten Sie endlich das Maul, ich kann’s nicht mehr hören! Kümmern Sie sich um diese dummen Sprüche an den Wänden oder um die Kids, die hier rumpöbeln, aber lassen Sie mich in Ruhe mit diesen scheiß Zigarettenkippen! Klar?“ Der Vermieter wirkt wie versteinert, Flo kehrt ab Richtung Eingang. Hinter ihm hustet es laut in die Tür. „Ungeheuerlich! So eine Frechheit! Herr Teckler! Das wird, äh, juristisch konsequente, äh, Folgen haben!“

Konsequenzen lassen ohnehin nie lange auf sich warten.

Wenige Minuten später halten zwei Polizeiwagen vor dem Wohngebäude. „Verdammt!“, zischt Flo und schnellt mit dem Kopf hinter die Vorhänge. Die Autotüren knallen, als zwei Uniformierte aussteigen und zum Hauseingang stürmen, während sich die anderen zwei draußen positionieren. Sie tragen Schutzwesten, die Waffen im Anschlag. Wie haben die ihn gefunden? Hat der Vermieter etwas geahnt? Beim Amt ist seine Wohnung nicht gemeldet, der Supermarkt kennt allein das Elternhaus in Potsdam, ein leer stehendes Gebäude. Flo zieht die Baseballkappe auf den Kopf, darüber schlägt er die Kapuze. Die Wohnung ist ein einziges Chaos, klein, miefig und zugestellt. Flo steht vor einem Haufen von Pornomagazinen, Bierflaschen und Essensresten, rundherum stapeln sich Lexika, Lehrbücher in Physik und Biologie, die Wand mit den vielen feinen Haarrissen ist mit dem Wort Silencio beschrieben, und auf dem Tisch liegt die Pistole. Er hat sich dafür entschieden, sie nicht mitzunehmen, denn er weiß, dass er sich damit nur in Schwierigkeiten bringen würde, also wird er sich in Hamburg eine neue Waffe besorgen. Aber das braucht ihn jetzt nicht zu kümmern, genauso wenig wie die Unordnung. Es macht keinen Sinn, das ganze Leben auf dem Rücken zu schleppen, ihm reicht das, was in einen kleinen Rucksack passt: Klamotten für das Wochenende, das Geld aus der Supermarktkassette, Kondome, Whisky, Taschenmesser.

Im selben Moment klingelt es.

Er eilt an die Balkontür, doch der Hebel klemmt.

Es klingelt erneut, diesmal länger. Auch in den Nachbarwohnungen vernimmt Flo das schrille Geräusch.

Endlich gibt das Schloss nach, ab nach draußen! Die Wohnung liegt im ersten Stock. Vom Balkon aus sieht Flo, wie die Eingangstür ins Schloss fällt. Also nimmt er Anlauf, hechtet mit einem Bein auf die Brüstung und springt im scharfen Bogen hinunter. Nur ein dumpfer Ton im Gras, dann bellt der Nachbarhund wie ein Alarmmelder. Sofort fahren die Köpfe der Beamten am Auto zur Seite und suchen die Straße ab, aber Flo duckt sich hinter einem schwarzen Sprinter. Jetzt erst bemerkt er die Nachbarin im Bademantel, die ihn vom Balkon aus mit offenem Mund anstarrt.

Er bemüht sich zu lächeln, als sei das Ganze nur ein übler Scherz oder ein Dreh für Tatort, und legt den Finger auf die Lippen. Dann sprintet er an einer Reihe Pkws vorbei. Bald verschwindet der Plattenbau in weiter Ferne. Flo wischt sich den Schweiß von der Stirn und geht nun langsamer durch die Stadt im Halbschlaf, holt den Whisky raus und setzt die Flasche an den Mund. Alle Haare auf seinem Körper richten sich auf, und er freut sich, so wie man sich auf ein Abenteuer freuen kann, bei dem ein Leben gerettet, und ein Leben enden wird.

Einen Moment lang kommt es ihm so vor, als seien die Haarrisse in den Wänden größer geworden, und er wäre mit seinem Sprung gerade noch rechtzeitig über Bord gegangen.

Jan

Und da taucht sie in seiner Vorstellung auf, die ganze Welt der Irrfahrer – Odysseus im Kampf gegen die Skylla, während Athene wachsam seinen Weg verfolgt, Ishmael bei dem ersten Schritt auf die Pequot, Wilhelm Meister, der grüne Heinrich, die Künstler und Magier der Morgenlandfahrt, und für einen Moment sieht er das Festgelage auf dem Olymp vor seinen Augen, bei dem die Wiederentdeckung der Erfahrung gefeiert wird, und Homer im Untergrund lächelt.

„Junger Mann, ist alles in Ordnung?“

Als er die Augen öffnet, spuckt eine sehr alte Frau Tröpfchen in sein Gesicht.

„Sie sehen so blass aus.“

Sie kommt immer näher mit ihrem Gesicht.

„Junger Mann?“

„Ich versuch hier grad was.“

„Geht’s Ihnen nicht gut?“

„Doch!“