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Riviera di Ponente. In den frühen Morgenstunden wird Commissario Gallo zum Fundort einer Leiche gerufen. Ein Olivenbauer hatte die junge Frau am Ortsrand von Sanremo, oberhalb der malerischen Altstadt mit den bunten Häusern und der sonnigen Küstenpromenade, entdeckt. Die Ermittlungen führen Gallo und sein Team zu einer weit in die Vergangenheit reichenden Familientragödie - und zu einer zweiten Leiche. Als der Commissario eine Verbindung zwischen den Toten enthüllt, tritt er eine Lawine los, die seine Karriere beenden könnte.
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Seitenzahl: 317
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Stephan R. Meier
Riviera Express – Das Vermächtnis der Contessa
Ein Fall für Commissario Gallo
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Satz/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung von: © Illustration Lutz Eberle nach einem Foto von monticelllo / iStock.com
ISBN 978-3-7349-3200-7
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
»Du hattest Glück.«
Gallo versuchte zu lächeln.
Mit einem prüfenden Blick auf sein Krankenblatt fügte Chiara Percivaldi, die ihm gegenüber am Ende des Bettes stand, ernst hinzu:
»Hätte er die Arteria brachialis getroffen, dann …«
»Hat er aber nicht. Wann kann ich gehen?«
Gallo sah ihr jetzt in ihre hypnotisierenden grünen Augen, die sie mit einem grauen Lidschatten und einem weißen Kajal dezent betont hatte. Ihr ebenmäßiges Gesicht sah dadurch noch elfenhafter aus.
Sie strich sich eine Strähne ihres blonden Pagenschnitts aus dem Gesicht.
»Wenn sich die Wunde nicht noch entzündet … morgen. Der Stich hat den Muskel, an dem die Fingersehnen befestigt sind, verletzt. Es wird also noch etwas dauern, bis du die Finger wieder vollständig bewegen kannst.«
»Aber meinen Beinen fehlt nichts. Ich kann laufen!?«
»Nein!«, sagte sie bestimmt, »du bleibst liegen. Wenigstens einen Tag. Die Verletzung ist nicht lebensbedrohlich, aber dennoch schwer. Dein Kreislauf hat einen Schock erlitten. Bleib hier liegen und ruh’ dich aus. Glaub’ mir, das ist besser für dich.«
Gallo sank resigniert auf sein Kopfkissen und sah sie unverwandt an.
Er beobachtete, wie Chiara die Akte wieder an den Bettrahmen hängte, ihm zunickte und sich zum Gehen wandte. Ihre graziöse Gestalt, ihr ganzer Körper hatten das schwebende Gleichgewicht und die Anmut von Wild. Wie schnell ihre Bewegungen auch sein mochten, immer erschienen sie Gallo gleitend und ohne Aufwand an Kraft. Und wie bei einem Wildtier schien auch ihr Kopf niemals unbewegt zu sein, und ihre grünen, feuchten Augen waren nie ganz in Ruhe.
Gallo griff mit der rechten Hand an den Bügel über ihm und richtete sich auf.
»Danke«, sagte er ehrlich.
»Das ist mein Job. Gern geschehen.«
Sie durchquerte das Krankenzimmer und schickte ihm ein Lächeln über ihre Schulter.
Jetzt war Gallo allein. Er blickte aus dem fast bis zum Boden reichenden Fenster hinunter auf das nur wenige 100 Meter entfernt liegende tintenblaue Meer. Das Ospedale Borea di Sanremo in der Via Giovanni Borea lag auf einem der vielen für Sanremo typischen Hügel, die die Gebäude vor Überschwemmungen schützten. Gegründet im späten 19. Jahrhundert war es nach Giovanni Borea benannt worden, einem bedeutenden Wohltäter und Philanthropen. Während des Zweiten Weltkriegs erlitt es einige Schäden durch Bombardierungen, wurde jedoch nach dem Krieg wieder aufgebaut und modernisiert und galt heute als eines der wichtigsten und renommiertesten Krankenhäuser in Ligurien.
Trotz aller Modernisierungen, Renovierungen und Erweiterungen und den daraus folgenden übereinander geschachtelten architektonischen Stilen, hatte es seinen ursprünglichen historischen Charakter bewahrt. Gallo musste an Lena Dallobosco denken, die Frau, die in Triora seinen Tod wollte. Auch sie hatte die Vergangenheit bewahrt, jedoch eine weitaus düstere, misanthrope, nämlich die seiner eigenen Blutlinie, mit der er längst gebrochen zu haben glaubte. Er senkte den Blick und sah auf seinen dick bandagierten Arm, der wie ein Fremdkörper an ihm hing. Sein Kopf war leicht benebelt von den Schmerzmitteln. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich die nächsten Stunden ganz in sich selbst zurückzuziehen. Und in seinem schmucklosen, zweckmäßig eingerichteten Krankenzimmer liegend, begann er mit merkwürdiger Intensität nachzuspüren, warum die Geschichte, seine Geschichte, ihn so vehement eingeholt hatte, und er versuchte, seine nächsten Schritte zu planen, mit denen er verhindern könnte, dass die Verwicklungen seiner eigenen Vergangenheit ihn und vor allem sein Team nicht wieder in tödliche Gefahr brachten.
18. November
nahe Apricale, später Nachmittag
Die Regenwolken zogen, von Norden kommend, immer näher über das spektakulär auf einem Felssporn liegende Bergdorf Apricale, das sich wie eine Eidechse um den Gipfel des Hügels schmiegte und als eines der schönsten mittelalterlichen Städtchen Italiens galt. Ein undurchdringliches Mosaik, ein konzentrisches Labyrinth aus dicht aneinandergebauten Häusern und engen Gassen, den sogenannten »Caruggi«, die vielen ligurischen Dörfern ihr einzigartiges architektonisches Flair verliehen.
Valentina Torre saß auf der Terrasse ihres Agriturismo und blickte sorgenvoll in den düster grauen Himmel. Ein sintflutartiger Regen, so kurz vor der Olivenernte, wäre das Letzte, was sie gebrauchen könnte. Der Klimawandel hatte auch Ligurien nicht verschont. Die Temperaturen stiegen kontinuierlich, was zu heißeren Sommern und milderen Wintern führte. Dadurch veränderten sich auch die Niederschlagsmuster in der Region. Katastrophale Hagelstürme waren nicht selten die Folge, aber Gott sei Dank nicht an der Blumenriviera. Erst vor wenigen Wochen zog ein Unwetter über Savona, viel weiter östlich und in der Nähe von Genua. Dort hatte das Massiv des Monte Saccarello, das die Blumenriviera schützte, keine Auswirkung. Im östlichen Ligurien pfiffen die Winde durch die Täler vom Piemont herunter, und brachten Böen mit über 100 Stundenkilometern mit sich, die alles aus dem Weg fegten. Boote wurden auf dem Wasser wie Papierschiffchen herumgewirbelt. Autofenster zerbarsten. Sogar Menschen wurden von herumfliegenden Gegenständen verletzt.
Valentina war allein. Die letzten Gäste der Saison, eine Gruppe Mountainbiker aus Dänemark, waren am Morgen abgereist und ihre beiden Angestellten, das Mädchen für alles und ihr Mann, der Gärtner, schon nach Hause gegangen. Sie nahm ihr Handy, wählte eine Nummer, wartete ungeduldig und legte dann kopfschüttelnd und enttäuscht wieder auf. Sie tippte eine Nachricht ins Handy: »Bitte, ruf mich zurück!«
Dann stand sie auf, ließ ihren Blick über den abschüssigen Olivenhain gleiten, von dem man bis weit hinunter ins Tal sehen konnte, kontrollierte mit geübtem Blick, dass die Fenster am Haus geschlossen waren, und ging auf die Haustür zu.
Vom gegenüberliegenden Feld aus, geschützt durch dichtes Gestrüpp, beobachtete ein Mann jeden ihrer Schritte durch ein Fernglas mit integriertem Fadenkreuz und Entfernungsmesser. Die ersten schweren Regentropfen fielen wie gläsernes Blei vor die leistungsstarke 56 Millimeter Objektivlinse. Valentina war im Bogen unter der Tür stehen geblieben und sah konzentriert in den Himmel. Dann schloss sie die schwere Holztür mit den Bogenfenstern von innen und zog die Vorhänge zurecht. Der Mann steckte das Fernglas ins Etui, kroch aus dem Gestrüpp hervor und ging zügig auf zwei weitere Männer zu, die auf einem kurvigen Feldweg, Zigaretten rauchend an einen Wagen gelehnt, auf ihn warteten. Der Mann mit dem Fernglas nickte wortlos, worauf einer der Männer seine Zigarette auf den Schotterweg fallen ließ, sie mit dem Absatz seiner Springerstiefel austrat und den Kofferraum öffnete.
19. November
Riva Ligure, Wohnung Gallo, Morgengrauen
Der Hagel blieb gottlob aus, aber es hatte über Nacht tatsächlich stark geregnet. Ein heftiger Herbststurm nördlich von Korsika trieb die Wellen mit meterhoch in die Luft spritzender Gischt über die Hafenmole.
Commissario Gallo war fast die ganze Nacht wach gelegen. Schuld daran aber waren weniger der Wind, der die Regentropfen gegen die Fensterscheiben schleuderte, sondern die quälenden Gedanken über all die Ereignisse, die sich vor knapp drei Wochen in Triora abgespielt hatten. Sie raubten ihm immer noch den Schlaf. Er hätte bis zu diesem Vorfall nie damit gerechnet, dass die Geschichte seiner eigenen Familie ihn bis in die Gegenwart hinein verfolgen und sogar sein Leben und das seines Teams bedrohen könnte. Die Galimberti della Casa – seine Familie – war historisch gesehen kein Leichtgewicht, das war ihm bewusst: Verstrickt in jahrhundertelange Intrigen und Machenschaften rund um den Vatikan, um die mächtigen Genueser Kaufmannsgilden, gespickt mit geheimen – und lukrativen – Abkommen mit »fremden« Mächten. Er hätte nur zu gerne geglaubt, dass im Zeitalter der forcierten Globalisierung, in der Ära des Internets und der galoppierenden Digitalisierung des Alltags die Vergangenheit endlich ruhen würde. Verstört wurde sich Gallo bewusst, wie sehr er auch seine Wurzeln zu verleugnen suchte, sie ihn doch immer wieder fesselten. Was gäbe er dafür, sich endlich und endgültig von dieser wohlhabenden, aber auch dämonischen Adelslinie losreißen zu können. Und einfach nur sein Leben leben zu können. Seinem durchaus ansehnlichen Erbe hatte er sich bis zum heutigen Tag hartnäckig verweigert und auch gegenüber seiner dominanten Mutter, Gräfin Letizia Galimberti della Casa, seinen Job als Commissario bei der Polizia di Stato in Sanremo vehement verteidigt. Dieser Job war es, der ihn erfüllte, ihn jeden Tag, wenn er entlang der Riviera dei Fiori, der Blumenriviera, von seinem kleinen Fischerdorf Riva Ligure aus nach Sanremo auf die Polizeiwache an der Piazza Colombo fuhr, zufrieden machte. Vertrauen, Respekt und vor allem Gerechtigkeit waren immer seine größten Wertvorstellungen und – wie er lernen musste – in seiner eigenen Blutlinie nicht ausreichend vorhanden.
Als er, nur mit einem T-Shirt und Boxershorts bekleidet, ans Fenster trat, hatte sich der Himmel schon aufgehellt, und die schwarzen Regenwolken ballten sich jetzt weit draußen über dem Meer. In seine dunklen Gedanken aber schlugen Querschläger ein: Sonia! Die er nach dem Mordfall in der Villa Nobel völlig unerwartet in Triora wiedergetroffen hatte. Erinnerungsfetzen durchströmten seine Sinne. Lust und Begehren für diese verletzliche, zierliche Frau auf der einen Seite, Unsicherheit und Zweifel vor dem, was jetzt mit ihnen beiden geschehen könnte, auf der anderen.
Gallo blickte hinaus auf das sich langsam beruhigende Meer, auf dem sich jetzt mehr und mehr die ersten Sonnenstrahlen spiegelten und wie kleine Diamanten funkelten. Er atmete tief durch. Sein Arm, der mit einem Verband umwickelt war, zog etwas. Er versuchte, die Finger zu bewegen, was ihm nicht wirklich gelang. Er fluchte innerlich. Sein Körper sollte, musste funktionieren. Jede noch so geringfügige Einschränkung seiner physischen Leistungsfähigkeit stresste Gallo unsäglich. Der Unterarmmuskel seines linken Arms war zum Glück nicht komplett durchgetrennt, wie Chiara es am Anfang vermutet hatte. Dennoch würde die vollständige Heilung bis zu sechs Monate dauern. Gallo war ungeduldig. Die Übungen zur Wiederherstellung der Beweglichkeit und Kräftigung des Muskels, die er eigentlich erst ab der sechsten Woche ausführen sollte, begann er schon wenige Tage nach der OP. Nach zwei Wochen meldete er sich wieder diensttauglich, trotz aller Bedenken von Bevilacqua, Gallos unmittelbarem Vorgesetzten und Vize-Staatsanwalt der Justizbehörde in Imperia, der Provinzhauptstadt. »Das Verbrechen schläft nicht«, war Gallos treffendes Argument.
Er nahm die Schiene ab, die er auch nachts trug, um den Arm möglichst ruhigzustellen und schmerzhafte Bewegungen im Schlaf zu vermeiden. Vorsichtig streifte er mit dem Finger über die Narbe. Es war das erste Mal, dass er in Ausübung seiner Tätigkeit verletzt wurde. Eine Erfahrung, die er in Zukunft tunlichst vermeiden wollte. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, als er daran dachte, wie Benzina ihm das Leben gerettet hatte, wie besorgt sein Team um ihn war, und wie rührend sich die anmutige und fähige Chiara Percivaldi um ihn gekümmert hatte. Ihr Engagement als unnahbare und kühl agierende Pathologin und Rechtsmedizinerin bewunderte er – und hoffte, sie würde bald die erhofften Gelder für den Aufbau einer richtigen Forensik in Sanremo bekommen.
Gallo blickte auf die tanzenden Lichtreflexe auf dem Meer, das jetzt in einer langen Dünung gegen die Brandungsfelsen anlief. Ob Pasquale bei dem Wetter heute Nacht fischen war? Pasquale oder Paschqualino, wie Gallo seinen Freund nannte, war ein hart gesottener Seebär, den kein Sturm, kein Regen und keine Wellen aufhielten. Pasquale war einer der Wenigen, der eine der begehrten Lizenzen zur Jagd auf Schwertfische besaß. Das war seine große Leidenschaft. Und Gallo durfte ihn, wenn die Wetterlage es zuließ, begleiten. Um 1 Uhr nachts brachen sie dann auf und fuhren mit Pasquales zehn Meter langem Kahn, der Saturno, angetrieben von einem tuckerndem uralten Fiat-Diesel-Motor, sechs Stunden bis zum Fanggebiet mitten auf dem Meer, am Grenzgebiet zu Korsika. Dann legte Pasquale die Köder aus und fing an, die mächtigen, pfeilschnellen Raubfische, die nicht selten zwei Meter lang waren – ohne Schwert, wie Pasquale nach erfolgreichem Fang immer stolz betonte – zu jagen. Pasquale erinnerte Gallo an Hemingways Santiago, und er bewunderte seinen Freund für dessen Entschlossenheit, Ausdauer und sein Wissen über das Meer und die Natur. Gallo kam es so vor, als würde Pasquale mit jeder Meile, die er auf seiner treuen Saturno hinausfuhr, zu einem Wasserwesen, das genau spürte, was unter der Oberfläche vor sich ging, das Wind, Wellen, Planktonfelder und Strömungen wie eine Landkarte lesen konnte.
Wie oft schon holte er sich am improvisierten Verkaufsstand von Pasquale in dem kleinen Hafen von Riva Ligure fangfrischen Frisch: Langusten, Scampi, Palamitas, Gold- oder Zahnbrassen, Sankt Petersfische oder Doraden und Gallos Lieblingsfisch, Zackenbarsch. Dann stellte er sich hausgemachte Tortellini gefüllt mit einer Paste aus frischem Fisch und Scampi und garniert mit rohen Tomatenstücken und Kapern vor. Dazu ein Glas gut temperierter Vermentino oder Pigato. Was wäre das Leben ohne die ligurische Küche? Aber dafür war es definitiv zu früh.
Sein Handy, das in der Küche am Ladekabel hing, klingelte.
»Commissario?«
Gallo erkannte sofort Laura Zendonis Stimme.
»Wen hast du erwartet«, antwortete er süffisant, »dimmi tutto!«
»Hm … es gibt einen Leichenfund.«
»Und weiter?«
»Ein Bauer hat sie unterhalb einer Autobahnbrücke an einem steilen Felsabhang in der Nähe von Camporosso heute früh gegen 7 Uhr gefunden.
»Lag sie schon lange dort?«
»Nein, der Notarzt meinte, sie sei irgendwann in der Nacht gestorben.«
»Was hat er noch gesagt?«
»Sie sähe fürchterlich zugerichtet aus. Ihr Gesicht sei so zerschmettert, dass man keine Gesichtszüge mehr erkennen kann.«
»Ein gewaltsamer Tod? Gibt es Hinweise darauf?«
»Das kann ich nicht sagen. Der Notarzt hat nur den Tod festgestellt und dann die Leiche nicht mehr angerührt. Die Carabinieri haben gesagt, sie hätten einen komischen Geruch an der Leiche ausgemacht.«
»Was für ein Geruch?«
»Benzin oder Petroleum.«
Gallo schwieg. Einen Suizid konnten die Carabinieri alleine aufnehmen. Aber wenn die Staatsanwaltschaft die Polizia di Stato hinzugezogen hatte – sein Kommissariat – dann gab es Zweifel an der Todesursache.
»Hat Bevilacqua sich gemeldet?«
»Deshalb rufe ich dich ja an. Er ist schon unterwegs von Imperia. Er hat telefonisch die Leiche konfiszieren lassen und möchte eine Untersuchung der Todesursache.«
»Wer ist sonst noch vor Ort?«
»Die Carabinieri von Camporosso mit zwei Patrouillen, eine Ambulanz und ein Notarzt, ja und natürlich der Bauer.«
»Sag Giulia und Rubbano Bescheid. Und Claudio soll Chiara abholen. Wir treffen uns dann dort.«
»Und du?«
»Wie: und ich?«
»Soll Claudio nicht lieber erst dich abholen? Mit deinem Arm kannst du doch gar nicht fahren.«
»Mach dir mal keine Sorgen. Halb so wild.«
»Macho«, hörte Gallo Laura murmeln, dann fügte sie lauter hinzu: »Pass bitte auf beim Fahren. Dein Arm ist noch nicht 100-prozentig …«
»Danke, Laura, ich komme zurecht. Teil die Leute ein, ich mach mich auf den Weg.«
Er ging ins Bad, duschte kurz, putzte sich die Zähne, legte seinen Tagesverband an und atmete tief durch. Von unten hörte er die vertrauten Geräusche aus Paolinas Bar: Das Zischen der großen Espressomaschine, das Klappern der Ofentür, das Scharren der Stühle auf den Pflastersteinen und lebhaftes Schwatzen der ersten Gäste um 7.15 Uhr. Auf seinen geliebten Cappuccino und die Scheibe Focaccia, die ihm Paolina jeden Morgen in einen Korb legte, den er an einem Seil nach oben zog, musste er heute wohl verzichten.
Vor seiner Garage warf er einen prüfenden Blick auf den jetzt schon wieder fast strahlend blauen Himmel. Selbst im November war das Klima an der Blumenriviera mild. Auch dieser Tag fühlte sich an wie Frühling. Die küstennahen Sonnenhänge wurden dann durch Warmluftpolster an den Buchten und küstennahen Tälern davor geschützt abzukühlen. Wäre sein Arm voll funktionsfähig, hätte Gallo sich jetzt auf seine alte Moto Guzzi California, Baujahr 1973, gesetzt und das Nützliche mit dem Angenehmen verbunden. Stattdessen griff er nach dem Schlüssel des Alfa Romeo Junior GT, setzte sich vorsichtig ans Steuer, testete kurz, wie er mit der linken Hand das Lenkrad festhalten konnte, und startete den Motor. Ein sattes, sonores Blubbern drang an sein Ohr, tief und resonant, dank der geringen Schalldämmung, die den Modellen aus den 1960ern diesen aggressiven und einzigartigen Klang verlieh.
Die Sonne hatte den Asphalt nahezu trockengelegt. Als Gallo von der Corso Villaregia auf die Via Aurelia einbog, klingelte erneut sein Handy. Es war Pasquale. Gallo drückte auf die Lautsprechertaste.
»Come stai, vecchio.«
»Commissario, buongiorno. Ich habe einen fantastischen Zackenbarsch für dich!«
»Bist du doch rausgefahren? Bei dem Sauwetter?«
»Sì, Commissario, ich bin gleich an der Hafenmole. Ich bin doch kein Schönwetter-Angler. Wäre Michelangelo nicht Künstler, sondern Fischer gewesen, dann wäre er ein Anstreicher im Vergleich zu mir! Hahaha!«, klang es schallend aus dem Telefon.
»Beeil dich, sonst ist sie weg!«
Pasquale hatte also, wie nicht anders zu erwarten war, dem Sturm getrotzt und seinen Fang sicher und heil in den Hafen gebracht. Bevilacqua, seine Kollegen, die Carabinieri, die Leiche – schoss es ihm durch den Kopf. Aber ein fangfrischer Zackenbarsch?! Er brauchte nur fünf Minuten, höchstens, mehr nicht. Gallo überlegte kurz, blickte in den Rückspiegel, machte einen U-Turn und fuhr zurück in den Hafen von Riva Ligure.
1. Mai 1876
Apricale
Ich lag wach und lauschte auf die Geräusche der Tiere neben uns im Stall: das Schnauben einer Mutter, die ihre jungen, schmatzenden Zicklein säugte, das Hufeschlagen, wenn Wanzen oder Läuse im Fell juckten, gelegentlich auch ein unterdrücktes Blöken. Ich konnte das gut unterscheiden. Es ist nichts Alarmierendes. Auch meine sechs Schwestern schliefen unruhig. Sie stöhnten im Schlaf, zuckten träumend wie junge Hunde mit den Beinen oder schlugen mit ihren Armen; Maddalena, meine Lieblingsschwester, und Greta, die Kleinste, schliefen wie fast immer eng umschlungen.
Die zwei aus Holzbohlen genagelten Holzgestelle im hinteren Teil des Stalles waren unser Bett. Wir Kinder schliefen alle darin, direkt neben den Tieren.
Der Stall war niedrig, Als Matratzen dienten uns strohgefüllte Jutesäcke. Kopfkissen gab es nicht. Nebenan, im einzigen Zimmer des Steinhauses am Platz von Apricale, schliefen Mama und Papa neben der Feuerstelle. Es war früh am Morgen. Die Sonne schickte die ersten Strahlen durch die Gassen. Ich würde gleich aufstehen und mein Jutekleid überwerfen.
Es war der 1. Mai 1876. Hier in den Hügeln oberhalb des Tales weckte mich dieser zarte Hauch des Frühlings und trieb mich aus dem Haus. Das leise Zwitschern der Vögel und das Murmeln des Baches, der durch unsere kleine Stadt Apricale floss, boten eine friedliche Melodie. Die Sonne, die sich langsam über die Hügel erhob, tauchte die Landschaft um unser Steindorf herum, die ich durch den Spalt in der Steinwand des Stalls sehen konnte, in ein warmes, goldenes Licht. Die Glocke vom Kirchturm schlug sechs Mal.
Ich, Cristina, eine 15-jährige, einfache Ziegenhirtin, schlich aus der Bettstatt, trieb die Ziegen mit leisen Kommandos nach draußen und machte mich auf den Weg hügelaufwärts zu den Weiden. Meine grünen Augen, von denen alle im Dorf sagten, sie seien wunderschön, leuchteten vor Freude, und meine dunklen Locken tanzten im Wind. Mit schlanker Statur und der Robustheit eines Mädchens, das sein Leben in den Bergen verbracht hatte, trug ich einen Korb auf dem Rücken, gefüllt mit Brot und Käse für den Tag. Mein schlichtes, aber sauberes Kleid, das meine Mutter Apollonia mit viel Liebe genäht hatte, schützte mich vor der Morgensonne.
Die Wege waren schmal und steinig, doch ich kannte jeden Pfad und jede Kurve wie meine eigene Westentasche. Die Ziegen folgten mir treu, jede einzelne von ihnen mit einem eigenen Namen und einer eigenen Persönlichkeit. Bella, die Neugierige, sprang an der Spitze, während Luna, die Älteste, in ihrem gemächlichen Tempo folgte. Ich hatte eine besondere Verbindung zu meinen Tieren; ich verstand ihre Launen und Bedürfnisse und konnte jedes ihrer Blöker deuten.
Die Weiden lagen auf einem sanften Hügel, von wo aus man einen atemberaubenden Blick auf das Tal hatte. Die Luft war erfüllt vom Duft der wilden Kräuter und Blumen, die überall blühten. Ich setzte mich unter einen alten Olivenbaum, der mir einen willkommenen Schatten bot, und beobachtete meine Ziegen, die friedlich grasten.
In der Ferne sah ich meinen Vater, der schon auf einem benachbarten Feld arbeitete. Er hob die Hand zum Gruß, und ich winkte zurück. Mein Vater war ein stolzer, harter Mann, doch in seinen Augen lag immer ein Funken von Zärtlichkeit, wenn er mich ansah. Er war es, der mir alles über das Hüten der Ziegen beigebracht hatte und mich dazu ermutigte, meine Träume zu verfolgen, auch wenn das Leben in den Bergen hart sein konnte. Er tat das heimlich, hinter dem Rücken meiner Mutter. Mama sähe mich lieber im Dorf, mit vielen Kindern. Aber ich hatte Träume, die mich weit fort trugen von unserem Bergdorf im Hinterland von Sanremo und Ventimiglia. Dort musste es eine andere Welt geben.
Ich hatte sechs Schwestern, ich bin als Vierte geboren. Wir lebten zusammen in unserem kleinen, geduckten Steinhaus gleich am Platz vor der Kirche, das meine Mutter mit viel Hingabe pflegte. Meine älteren Schwestern halfen mir manchmal mit den Ziegen, dem Sammeln von Kräutern oder dem Pflücken von Früchten, während die Jüngeren ab und zu sogar zur Schule gingen, wenn die Regierung einen Wanderlehrer vorbeischickte, oder sie meiner Mutter nicht im Haus helfen mussten. Es war nicht immer leicht, für alle zu sorgen, aber die Gemeinschaft unserer Familie gab mir Kraft.
Mein Leben war jedoch nicht nur von der Arbeit mit den Ziegen und der Schufterei auf den Feldern geprägt. Ich war Gian Battista zur Ehe versprochen, einem jungen Mann aus dem Dorf. Gian Battista war der Sohn eines wohlhabenden Metzgers und besaß selbst ein Stück Land. Unsere Eltern hatten die Verbindung arrangiert, um unsere beiden Familien näher zusammenzubringen. Es ist nicht leicht, sieben Mädchen in einem Dorf wie Apricale zu verheiraten.
Gian Battista war freundlich und respektvoll, aber was mich am meisten zu ihm hinzog, war, dass auch er von hier wegwollte, dass er oft tagelang verschwunden war und dann in neuen Kleidern und mit Geschenken zurückkehrte und die Leute im Dorf tuscheln ließ, woher er wohl das Geld dafür hatte.
»Das kann nicht mit rechten Dingen zugehen«, raunten sich die Menschen im Dorf zu, »stiehlt er etwa?«
Sein Onkel Luca, ein Hüne von Mann, zwei Meter groß, 90 Kilo Knochen und Muskeln, Schuhgröße 49 und Hände wie Ofenschaufeln, war der Einzige, der Gian Battista so schelten konnte, dass es ein paar Wochen wirkte. Und Onkel Luca munkelte in seiner Backstube, wo er das Brot für das ganze Dorf buk, dass ihm zu Ohren gekommen sei, dass Gian Battista in Sanremo zweifelhafte Freunde hätte, die in allerlei Machenschaften verwickelt seien. Von Diebstahl war die Rede und von Betrügereien. Ich wusste nicht, was das bedeutete, aber ich wusste, alles, was Gio und mir half, aus Apricale wegzukommen, war erst einmal gut. Mir war es egal. Gian Battista war mit zugesprochen worden, und ich mochte ihn. Und als seine Frau würde ich zu ihm halten müssen. Egal was er machte. Er war anders, ja, aber er war der Einzige, der sich über die Leute im Dorf lustig machte und mir versprach:
»Wirst sehen, mein Bonbon, ich werde es allen beweisen! Und dich nehme ich mit! Und dann kehren wir in einer großen Kutsche wieder ins Dorf zurück! Ich werde dir und allen anderen zeigen, wer ich bin!«
Und dann küsste er mich, und wir kugelten lachend durch das Gras den Hügel hinab. Der Gedanke an die Ehe erfüllte mich mit gemischten Gefühlen. Einerseits versprach sie Sicherheit und Wohlstand, andererseits sehnte ich mich nach Abenteuer und Freiheit. Würde Gian Battista mir all das bieten können?
Ich träumte davon, eines Tages mehr zu sehen als nur die Hügel von Apricale. Dafür musste man Mut haben. Wie Gian Battista. Ich hatte von den großen Städten und dem weiten Meer gehört und ich wusste, dass es eine Welt jenseits meiner Heimat gab, die darauf wartete, entdeckt zu werden. Doch für den Moment war ich zufrieden, meine Tage in der friedlichen Umarmung der Natur zu verbringen, umgeben von den Tieren, die ich so liebte.
Während die Sonne höher stieg und die Mittagshitze drückender wurde, suchte ich in meinem Korb nach dem Mittagessen. Ich brach das Brot und den Käse und genoss die einfache Mahlzeit. In der Ferne hörte ich das Lachen von Kindern, die im Dorf spielten, und das Rattern der Kutschen auf den Kopfsteinpflasterstraßen.
Als ich satt war, pflückte ich mir von einem Feigenbaum die größten Blätter. Ich flocht und faltete sie zusammen, bis sie eine Form hatten, die an einen ausladenden Hut erinnerte. Den setzte ich auf den Kopf und befestigte ihn mit kurzen kräftigen Strohhalmen an meinem Haar. Dann warf ich den Kopf zurück, zog den Bauch so weit ein, wie es ging, drückte mein Schultern nach hinten und stolzierte mit einem eingefrorenen Lächeln durch unsere Ziegen hindurch, als wären sie das Publikum auf einer Promenade am Meer. In der Hand hielt ich einen eingebildeten Sonnenschirm, der natürlich besonders schöne Fransen hatte, und tat so, als sei ich eine der eleganten Prinzessinnen oder Damen der großen Welt, die ich auf den herausgerissenen Seiten der Modejournale gesehen hatte, mit denen Papa, wenn er die Eier unserer Hühner zum Verkauf in die Stadt am Meer – Sanremo – brachte, unseren Eselskarren polsterte. Ich hatte schon eine ganze Menge solcher Seiten gefunden, sorgsam geglättet und sie zusammengebunden. Den Text konnte ich nicht verstehen, weil ich ja weder lesen noch schreiben konnte. Aber die Bilder, die habe ich sehr genau studiert. Wie sie ihre Köpfe hielten, wie sie gütig lächelten, wie sie – ein Bein leicht nach vorne gehalten, eine Hand auf die Hüfte gestützt – über die Schulter lächelten! Das wollte ich auch! So wollte ich auch sein!
Würde Gian Battista mir diese Welt zeigen können? Mich mitnehmen?
Er hatte es versprochen!
Plötzlich wurde ich aus meinen Gedanken gerissen, als Bella, die neugierige Ziege, ein lautes Blöken von sich gab. Ich sprang auf und sah, dass Bella am Rand des Hügels stand, ihr Blick fixiert auf etwas im Tal. Ich lief hinüber und folgte Bellas Blick. Dort unten, auf einem staubigen Weg, näherte sich eine Gruppe von Fremden dem Dorf. Ihre Kleidung und ihre Pferde deuteten darauf hin, dass sie von weither kamen. Schmuggler? Oder die Carabinieri auf der Suche nach Gian Battista?
Meine Neugier konnte ich kaum zügeln. Wer waren diese Fremden und was wollten sie in Apricale? Ich beobachtete gespannt, wie die Gruppe sich dem Dorf näherte. Mein Herz schlug schneller, als ich erkannte, dass dies auch eine Chance sein könnte, mehr über die Welt jenseits meiner Hügel zu erfahren.
Mit einem entschlossenen Lächeln auf den Lippen und einem Gefühl von Abenteuerlust in meinem Herzen wusste ich, dass dieser Tag anders sein würde als alle anderen. Als Ziegenhirtin von Apricale und Gian Battista versprochen war ich bereit, meine Welt zu erweitern und die Geheimnisse, die das Leben für mich bereithielt, zu entdecken.
Koste es, was es wolle!
19. November
Riva Ligure, Hafen, früher Morgen
Die stumpfe Nase der Saturno stupste an die Kaimauer, und Pasquale sprang mit einer Tüte in der Hand an Land. Er reichte sie freudestrahlend Gallo. Ein Zwanzigeuroschein wechselte wortlos den Besitzer.
»Den Kassenzettel hab’ ich ausgedruckt. Er liegt drin.«
Gallo sah in die Tüte. Ein Prachtexemplar von Zackenbarsch, ausgenommen und ohne Schuppen. Gallo legte zum Dank zwei Finger an die Stirn, der wertvolle Fisch war perfekt für das, was er vorhatte.
Er sprang wieder in seinen Wagen und wendete. Im Rückspiegel sah er noch, wie Pasquale einen ausgeblichenen Sonnenschirm aufspannte, unter dem er seinen provisorischen Stand aufbauen würde. Aus einem alten Transistorradio klang blechern Musik. Mehrere zumeist ältere Herrschaften standen schon mit ihren Kühltaschen vor dem wackligen Metalltisch und warteten geduldig, bis Pasquale den Fang ausgenommen und gesäubert hatte. Gallo gab Gas und hielt 300 Meter weiter an dem Strandrestaurant La Scogliera.
»Andrea!«, rief er aus dem Autofenster.
Ein wuscheliger Kopf tauchte hinter der Begrenzungsmauer auf.
»Ciao Gallo! Cosa c’è?«
Gallo reichte ihm die Tüte aus dem Autofenster. »Hier, heute Abend, um 20 Uhr. Für zwei Personen.«
Andrea linste neugierig in die Tüte.
»Caspita! Che meraviglia! Per due? Alla Ligure?«
»Einfach in den Ofen, bisschen Zitrone und Olivenöl, basta«, sagte Gallo. »Ich glaub, sie mag es geradeheraus, auch beim Essen.«
»Oh lala! Wer ist die Glückliche? Es ist aber nicht die blonde Deutsche, oder?«
Gallo schmunzelte.
»Wirst dann sehen, ich muss jetzt los, okay? Bis heute Abend, ciao, mein Lieber.«
Gallo gab Gas und hatte weniger als vier Minuten mit dem Manöver gebraucht.
Chiara Percivaldi. Er hielt es für eine gute Idee, sich auf diese Weise bei ihr bedanken zu können. Und einen fangfrischen, perfekt zubereiteten Zackenbarsch würde in Ligurien niemand ausschlagen. Das süße Leben, das so oft beschrieben wird, traf an der Blumenriviera wie an keinem anderen Ort in Italien den Nagel auf den Kopf. Der Lebensstil war entspannt und genussbetont, verbunden mit einem unverkrampften Gleichgewicht zwischen Arbeit und Freizeit.
Im Radio liefen jetzt die Nachrichten. Gallo fegte die Küstenstraße, die Aurelia, in Richtung Sanremo entlang. Eine aufgeregte Stimme berichtete von den Schäden, die das Unwetter der letzten Nacht in der Nähe von Nizza verursacht hatte. Tatsächlich war es dort zu einem heftigen Sturm mit zwei Zentimeter dicken Hagelkörnern gekommen. Weiters ein Bericht der EU-Kommission, wie die Klimaziele bis 2050 erreicht werden sollten. Gallo, der mit einem Ohr zuhörte, schüttelte den Kopf. Er bezweifelte, ob die italienische Regierung den Weg der EU konsequent mitging. In Russland äußerten sich Würdenträger der orthodoxen Kirche kritisch gegenüber den zaristischen Anwandlungen der Kremlführung und sahen darin eine blasphemische Verunglimpfung des historischen Zarentums, dessen Anhänger in jüngster Zeit ein größeres Gewicht unter den oppositionellen Kräften – vor allem auf dem Land – erlangt hatten.
Dann hörte Gallo noch die Wettervorhersage, die einen sonnigen und milden, beinahe frühlingshaften November versprach. Die Meerwassertemperatur lag immer noch bei 22 Grad.
Die Strände der Blumenriviera – grübelte Gallo, während er Sanremo auf der quirligen Via Roma durchquerte. Das Meer, das Licht – unvergleichlich und ihm seit seinen Kindertagen vertraut. Während seine Mutter, die Gräfin Letizia Galimberti della Casa, den ganzen Sommer zwischen Migräneanfällen und Cocktail-Empfängen im mondänen Sanremo pendelte, verbrachte Tommaso die meiste Zeit im Jahr unter der Obhut von Bediensteten in einem kleinen, einfachen Hotel am Strand von Riva Ligure, weit weg von der Scheinwelt seiner Mutter, für die er damals schon nichts übrig hatte. Hier, in der Pension Stenella, konnte Tommaso das tun, was Jungs tun: in den Tag hinein leben, im Sand herumtollen, schwimmen, tauchen und mit seinen Kameraden auf den Felsen im Meer angeln, die erste Runde auf einem Motorrad drehen, in den braun gebrannten Händen das erste heimliche Bier und in warmen Nächten die ersten zärtlichen Flirtereien. Freundschaften waren seit dieser Zeit geblieben, wie mit Andrea von der Scogliera. Tomas und Andrea waren wie Brüder – wie Narziss und Goldmund. Eine Freundschaft für die Ewigkeit. Etwas, was unbezahlbar war und von unschätzbarem Wert.
19. November
Camporosso, Lagerplatz nahe der Autobahn, vormittags
Um die Zeit, die er wegen des Zackenbarsches verloren hatte, wieder einzuholen, hatte er das magnetische Blaulicht aufs Dach seines Alfas gesetzt und auch einige Geschwindigkeitsbeschränkungen übertreten, was eigentlich überhaupt nicht seine Art war, aber anders war es unmöglich, schneller durch den täglichen Berufsverkehr zu kommen. Kurz hinter Bordighera bog Gallo von der Via Aurelia nördlich ab auf die Strada Provinciale 64. Nach knapp einem Kilometer fuhr er in östlicher Richtung weiter über den Fluss Nervia auf die Via Braie und dann links auf die Via Oberto Doria, an deren Ende Giancarlo Conti, der Postenkommandant der Polizia Locale aus Camporosso, der Arzt Doktor Giuseppe Rizzo und Franco Moretti, der Bauer, der die Leiche gefunden hatte, auf einem kommunalen Lagerplatz – eine Art Bauhof – warteten.
Die zwei jungen Sanitäter, die Dottore Rizzo gefahren hatten, lehnten am Krankenwagen und stierten stumpfsinnig in ihre Mobiltelefone. Ihre Art, sich vom schrecklichen Schicksal einer vermeintlich jungen Frau abzulenken.
Kurz nach Gallo trafen auch Giulia und Rubbano ein – ohne Blaulicht.
Gallo begrüßte kurz seine Kollegen, bevor er mit ihnen gemeinsam auf die wartende Gruppe zuging. Im Gehen zeigte Giulia fragend auf Gallos geschienten Unterarm.
»Konntest du damit überhaupt fahren?«
»Autopilot.«
»Haha.«
Darüber konnte Giulia nicht lachen, war ihre Frage doch weder süffisant noch sarkastisch gemeint, sondern vielmehr besorgt. Wem in ihrem Team würde es nützen, wenn ihr Chef aus Leichtsinn und Selbstüberschätzung einen Unfall baute und dann wirklich für längere Zeit ausfiel. Gallo war unverzichtbar. Er allein traf die Entscheidungen, weil er einen untrüglichen Spürsinn, eine unstrittige Autorität und eine ans Geniale grenzende Kombinationsgabe besaß. Sie mochte sich gar nicht vorstellen, was wäre, wenn …
Als ob Gallo ihre fürsorglichen Gedanken lesen könnte, warf er ihr einen milden Blick zu, der ihr sagen sollte, dass er sie sehr wohl verstanden hatte.
Rubbano wollte, wie gewohnt und wie jeden Morgen im Kommissariat, auch jetzt seinen täglichen Bericht vortragen. Ohne Einleitung legte er los. In Ospedaletti hatte sich ein Motorradunfall mit anschließender Fahrerflucht ereignet. Bevor Rubbano fortfahren konnte, unterbrach ihn Gallo freundlich, aber bestimmt, wie es seinem zugänglichen, dennoch autoritär distanzierten Führungsstil entsprach.
»Erzähl’s mir später. Jetzt konzentrieren wir uns auf das hier, okay?«
Rubbano nickte, fügte aber dennoch schnell hinzu, dass in der vergangenen Nacht eigentlich sonst nichts passiert war, außer einem Brand auf einem Agriturismo nahe Apricale, bei dem eine Frau, wahrscheinlich die Eigentümerin, ums Leben gekommen war. Gallo, der Rubbanos Inselbegabung absolut respektierte und darüber hinaus sogar über alle Maßen schätzte, wusste, dass Rubbano seine Rituale brauchte, um nicht den Halt im Alltag zu verlieren. Also ließ Gallo ihn gewähren und äußerte, um Rubbano das Gefühl seiner uneingeschränkten Aufmerksamkeit zu vermitteln, die Vermutung, dass es sich in Apricale vielleicht nur um einen Blitzeinschlag gehandelt habe. Rubbano, ausdruckslos und mit stoischem Blick, war zufrieden. Mehr wollte er nicht loswerden.
Der Postenkommandant der Carabinieri stellte sich und die Anwesenden vor. Gallo nickte und musterte seine Gegenüber. Er hatte eine intuitive Menschenkenntnis und ein Gespür für subtile Signale und Hinweise im Verhalten und in der Körpersprache anderer Menschen, gepaart mit der Fähigkeit, effektiv und klar mit anderen zu kommunizieren. Und hier spürte er unter der Oberfläche routinierter Polizeiarbeit ein offensichtliches Desinteresse oder, euphemistischer ausgedrückt, eine gewisse Empathielosigkeit, die wohl jahrelanger Beschäftigung mit Verbrechen und Unglücksfällen geschuldet war. Eine Abnützung, die er nicht akzeptierte und sich selbst nie erlauben würde. Entsprechend trat Gallo energisch auf.
»Unfall? Selbstmord? Mord? Weiß man, wer die Frau ist?«
Conti schüttelte den Kopf. Dottore Rizzo, ein untersetzter, korpulenter Mann um die 60 Jahre mit wachen Augen und, wie Gallo vermutete, unendlich viel Erfahrung, schaltete sich ein.
»Das Gesicht der Frau ist komplett unkenntlich, völlig zerschmettert. Wahrscheinlich vom Sturz! Kein schöner Anblick.«
»Wer hat die Leiche gefunden?«
»Franco, circa 50 Meter von hier, unterhalb der Autobahnbrücke.« Conti zeigte in die Richtung, als ein weiterer Streifenwagen hinter ihnen auftauchte. Chiara Percivaldi und Inspektor Claudio Giostra parkten neben Gallos Alfa Romeo. Ohne jede Begrüßung kam Chiara auf Gallo zu und gleich zur Sache.
»Bist du etwa selbst gefahren?«
Bevor Gallo antworten konnte, kam Giulia ihm zuvor.
»Autopilot.«
Gallo grinste und zuckte mit den Achseln. Chiara verdrehte die Augen, presste die dezent geschminkten Lippen zusammen und schüttelte verständnislos den Kopf.
»Deine Verantwortung, aber komm nachher nicht und beschwer dich.«
Gallo nickte wortlos und folgte Conti, der bereits die steile Böschung hinunter zum Pfeiler der Autobahnbrücke voranging.
19. November
Camporosso, Autobahnbrücke, vormittags
Es war in der Tat ein fürchterlicher Anblick. Die zierliche Frau lag mit verdrehten Gliedern und gebrochenem Rückgrat im kniehohen dürren Gestrüpp. Die anwesenden Polizisten und Sanitäter, die schlimme Anblicke gewohnt waren, sahen schweigend und betroffen aus gebührendem Abstand Chiara Percivaldi zu. Unmerklich schüttelte es auch Giulia. Der Anblick des vollkommen zerfleischten, dem Himmel zugewandten Gesichtes der Toten ließ niemanden kalt. Verkehrslärm war zu hören. Die Leiche lag unter der Autobahnbrücke der A10, die sich von Camporosso aus über die Nervia nach San Giacomo auf der anderen Seite des Flusses spannte. Alle, außer Chiara Percivaldi, die über die Leiche gebeugt war, um nach ersten Spuren zu suchen, standen schockiert und schweigend um sie herum. Claudio schluckte schwer und musste kämpfen, sich nicht zu übergeben. Gallo blickte nach oben. Er schätzte die Höhe der Brücke an dieser Stelle auf ungefähr 60 Meter.
»Informiert die Autobahnpolizei. Sie sollen auf der Brücke hinter der Tunnelausfahrt nach Spuren suchen. Vielleicht hat sie ihr Auto dort abgestellt. Rubbano, du checkst die Überwachungskameras.«
Moretti, der Bauer, der die ganze Zeit etwas abseits stand und eine Toscanello rauchte, kam jetzt genervt auf Gallo zu und wollte wissen, wie lange er hier noch rumstehen müsse.
»Solange bis ich sage, Sie können gehen.« Gallo ließ keine Zweifel, wer hier das Kommando hatte.
»Haben Sie, als Sie die Leiche entdeckt haben, jemanden gesehen oder ist Ihnen sonst etwas aufgefallen?«
»Nein, aber das habe ich Conti doch schon alles erzählt.«
»Was haben Sie überhaupt um diese Uhrzeit hier gemacht?«
Moretti nahm einen letzten Zug, schmiss den Zigarillo vor Gallo auf den Boden und trat ihn aus.
»Wissen Sie, was ich mit meinem kleinen Hof verdiene?«
Gallo blickte ihm direkt in die zornblitzenden Augen.
»Einen Scheißdreck. Es reicht hinten und vorne nicht. Meine Frau hatte Anfang des Jahres eine schwere Operation. Die ständigen Unwetter haben die meisten meiner Olivenbäume beschädigt, und bis das Geld von der Regierung kommt, bin ich eh schon tot. Also, was ich hier gemacht habe: Ich sammle regelmäßig den Dreck auf, den die Leute aus dem fahrenden Auto oder einfach über die Leitplanken schmeißen, wenn sie Pinkelpause machen. Dafür zahlt mir die Gemeinde Geld. Nicht viel, aber jede Mücke sticht. Noch Fragen, Commissario?«
Gallo verspürte kein Verlangen, das Gespräch mit Moretti fortzuführen. Und für den Weltschmerz eines Olivenbauern hatte er, auch wenn er dessen Situation verstand und bedauerte, keine Zeit.
»Ich danke Ihnen vielmals. Ich habe keine weiteren Fragen. Sie können gehen.«
Wortlos drehte sich Moretti um und stapfte davon. Gallo rief ihm noch nach:
»Ich hoffe, Ihrer Frau geht es wieder besser!«
Ohne sich umzudrehen, schüttelte Moretti den Kopf und stieg mit schweren Schritten die Böschung hinauf.
Chiara Percivaldi stand auf, streifte die Plastikhandschuhe ab und trat zu Gallo.