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Triora, die weltberühmte Hauptstadt der Hexen. Commissario Gallo wird in das idyllische Hinterland der lebhaften Küstenstadt Sanremo gerufen. In einer Schlucht in den malerischen Hügeln über der Riviera dei Fiori ist eine Leiche gefunden worden. Safranplantagen, Olivenhaine und Kräuterpfade säumen den Tatort. Gallo erkennt bald, dass es eine Verbindung zwischen dem Toten und einer vermissten Naturforscherin gibt. Hatte sie gehofft, die alten Geheimnisse der unzähligen Kräuter, Gewürze und Heilpflanzen von Triora zu entdecken, für die im 16. Jahrhundert mehr als 200 Frauen der Hexerei angeklagt wurden?
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Seitenzahl: 344
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Stephan R. Meier
Riviera Express – Schatten über Triora
Entwicklung: F. Damele, S. Meier
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Aleh Varanishcha / stock.adobe.com
ISBN 978-3-7349-3086-7
Nachts am Meer
Riva Ligure, 31. Oktober
Die Jäger waren in ihrer Tarnkleidung kurz nach Mitternacht aufgebrochen. Jetzt, eine Stunde später, marschierten sie durch die dichte Macchia die Hügel hinauf. Sie bildeten eine imaginäre Kette, die sich stetig aufwärts an den terrassierten Hängen parallel zur Strada Provinciale Passo della Guardia nördlich von Triora hinaufarbeitete.
Sie waren auf Wildschweinjagd. Am besten scheuchte man sie beim ersten Morgengrauen talwärts. Sie würden sich deshalb bald trennen müssen. Drei der Jäger würden noch weiter hochklettern und auf das verabredete Zeichen anfangen, Lärm zu machen. Das trieb die Tiere nach unten ins Tal, wo der Reste der Truppe sie erwartete.
Es war stockfinstere Nacht. Aber sie alle kannten die Gegend sehr gut. So war es kein Problem, dass sie sich im dichten Gestrüpp beim Erklimmen der Hänge öfters aus den Augen verloren.
Ein Kauz fühlte sich gestört und markierte sein Revier mit einem lauten »Huu-hu-hu-hu-huu«. Aus der Krone einer mächtigen Eiche flatterten ein paar Raben auf und krächzten.
Eine Wolke schob sich vor den sichelförmigen Neumond. Es wurde schwarze Nacht.
Ein Wildschwein schreckte auf und brach sich mit wütendem Grunzen eine Schneise zwischen zwei der Jäger hindurch. Diese zuckten mit ihren Gewehren, aber es wäre zu gefährlich, in tiefschwarzer Nacht einen Schuss abzugeben. Leicht hätte es einen anderen Jäger treffen können.
Nach dem Schreck kletterten sie wieder weiter nach oben. Plötzlich brach die Hölle los: Ein Schuss krachte weiter unten und sein Echo hallte von den Hängen der anderen Talseite wider. Der ganze Hügel schien schlagartig zu erwachen: Tiere stoben im Dunkeln umher und Vögel erhoben sich von ihrem Nachtlager und kreischten mit lautem Getöse am nächtlichen Himmel.
»Wer war das? Porca miseria! Seid ihr noch bei Trost?«
»Keine Ahnung«, antwortete eine Stimme aus dem Dunkel weiter vorne.
»Wo kam das her? Wer ist dort unten?«
»Ich seh’ absolut nix!«
»Sollen wir durchzählen?«, kam eine geisterhafte Stimme von weiter oben.
»Was sollen wir tun?«
Als die Mondsichel wieder ein fahles Licht auf die Konturen der nächtlichen Hügel warf, sammelten sie sich am nördlichen Ende einer der Terrassen, auf denen seit vielen Jahrhunderten Nutzpflanzen angebaut wurden.
»Wer hat geschossen?«, fragte wütend einer der Jäger seine Kollegen, die schwere Jagdflinte abgeknickt über den Unterarm balancierend. »Jetzt ist alles für die Katz! Wir können auch gleich abbrechen!«, schrie er und spuckte verächtlich auf den Boden.
»Hier! Hierher!!!«, rief jemand von unterhalb der Steinmauern aus dem Dunkeln. »Hier liegt einer!« Die Männer erstarrten. Der Schrei klang nicht nach dem Fund einer Jagdtrophäe. Sie waren alarmiert.
Sekunden später waren sie über die anderthalb Meter hohe Trockensteinmauer nach untern gesprungen und sahen die Beine aus einem Gebüsch ragen.
»Mein Gott! Wer ist das? Ist er tot?«
Commissario Gallo schreckte aus dem Schlaf auf. Es war kurz nach 2 Uhr nachts. Er stand auf, um ein Glas Wasser zu trinken. Es war nicht nur der Durst, der ihn aus dem Bett getrieben hatte. Etwas hatte ihn erschreckt. Und irgendwo war ihm auch diese wundervolle deutsche Frau im Traum herumgespukt, Sonia, die er nach einem ähnlichen Treffen in der Bar & Ristorante La Scogliera in Riva Ligure im Juni zum ersten Mal getroffen hatte. Und dann immer wieder. Bis sich ihrer beiden Schicksale durch den damaligen Fall ineinander verhakt hatten. Sie wirkte so zerbrechlich, filigran, und war dabei so unendlich stark. Was war wohl aus ihr geworden? War sie vollkommen genesen?
Gallo schüttete das Wasser herunter. Dann legte er eine Hand auf seinen leicht gewölbten Bauch. Der gestrige Abend mit seinen Freunden in der Scogliera unten am Strand war feucht-fröhlich gewesen. Der Moscatello di Taggia war zu Recht auf dem Weg zu einem der besten Weißweine der Welt, vor allem wenn man ihn zu frischen Meeresfrüchten, einem delikaten Safran-Risotto und zu Tintenfischgerichten genießen durfte. Aber vielleicht hätte er sich beim Mirto-Likör, der nach dem Essen die Runde gemacht hatte, etwas mehr zurückhalten sollen.
Die Fliesen in der Küche fühlten sich unter seinen nackten Füßen kalt an, und der Wind drückte vom Meer kommend heftig gegen die Fensterscheiben. Einen Moment lang betrachtete er den schwarzen Horizont hinter den Lichtinseln der Peitschenlampen entlang der verlassenen Uferpromenade und die Palmwedel, die sich im Wind wiegten. Leise murmelte er Erinnerungsfetzen aus seiner Kindheit vor sich hin, während er seinen Bauch massierte: Und dräut der Winter noch so sehr mit trotzigen Gebärden … Eines der Gedichte, die er auswendig vortragen musste, in einen Matrosenanzug gekleidet, als er noch der fünfjährige Tommaso Galimberti della Casa war, der Spross einer ehrgeizigen Mutter, die ihn gerne wie eine lebende Puppe vor ihren nicht minder adligen Freundinnen antreten ließ.
Das war lange her. Fast 35 Jahre. Seitdem war viel passiert. Er hatte einen bürgerlichen Beruf angenommen, den Beruf als Polizist, den er mit Stolz ausübte – sehr zum Leidwesen seiner Mutter.
Er sah wieder hinaus. Die Palmen fächelten heftig im Wind. Gallo öffnete kurz das Fenster und ließ sich den Wind ins Gesicht wehen. Der Oktoberwind an der Riviera war kein kalter Herbstwind. Es war ja auch noch nicht Winter. Es gab in dem Sinne gar keinen Winter an der Blumenriviera, es gab überhaupt nur drei Jahreszeiten. Der milde Herbst ging direkt in den milden Frühling über. Bis in den Dezember hinein gingen die Menschen hier noch im Meer schwimmen.
Galimberti della Casa … jetzt war er einfach Commissario Tomas Gallo, seit Kurzem verantwortlich für das Kommissariat der Polizia di Stato in Sanremo. Gott sei Dank. Sein beträchtliches Erbe interessierte ihn nicht. Das wurde von irgendwelchen anonymen Treuhändern verwaltet, die er nie traf. Er lebte von seinem Polizisten-Gehalt, wohnte zur Miete und freute sich, dass er das enge, lieblose Korsett seiner Familie abgeschüttelt hatte; und dass es ihm gelungen war, seinen komplizierten Nachnamen ablegen und einfach Commissario Gallo sein zu dürfen.
Er schloss das Fenster.
Das Thermometer, das er neben dem Fenster an die Wand geschraubt hatte und das mit dem Sensor draußen verbunden war, zeigte 17 Grad. In ungefähr die Temperatur, die das Meer haben musste. Das waren nun wahrlich keine Wintertemperaturen, dachte Gallo, und stellte sich vor, wie in der Metropole Mailand die Leute dick eingemummt den Kopf einzogen, um den eisigen Herbstwinden zu trotzen. Er lächelte. Welch ein Luxus! Das Meer fungierte als gigantische Klimaanlage, das im Winter die Luft wärmte, wenn sie darüberstrich, und im Sommer abkühlte. Es war an der Blumenriviera nie zu heiß und nie zu kalt. Und der Unterschied zwischen den Temperaturen tagsüber und nachts war minimal, oft nur wenige Grade. Das berühmte »beste Klima Italiens«, das einst die von Zipperlein geplagte Elite Europas angelockt hatte.
Während die Kälte in der Po-Ebene und in Mitteleuropa, nördlich der Alpen, schon mit ihren boshaften Unterminierungsarbeiten begann, blickte Thomas Gallo aus seinem riesigen Küchenfenster auf das tiefschwarze Meer. Er trug ein graues Sweatshirt und Boxershorts. Sein dichtes Haar wuschelte ihm um den Kopf und ein an manchen Stellen leicht grau werdender Bart bedeckte sein markantes Kinn.
Er kniff die Augen zusammen und suchte den Horizont ab, auf dem Lichtpunkte auf den weit draußen sicherlich viel höheren Wellen tanzten. Fischerboote oder eine kleinere Fähre oder die spärlich beleuchteten Frachter auf dem Weg nach Genua.
Eine Katze schlich durch den kleinen, ruhigen Hafen, in dem die typischen ligurischen Fischerboote träge dümpelten. Sie suchte nach Köderresten, schnupperte hier und da, setzte sich, stand wieder auf, leckte sich die Pfoten und sah auf einmal genau in seine Richtung. Sie hatte sein Telefon im Zimmer über der Küche in seinem schmalen, bunt gestrichenen Uferhäuschen noch vor ihm gehört – von der anderen Straßenseite.
Commissario Gallo hastete die Stufen nach oben, immer zwei der steilen Treppenstufen auf einmal nehmend. Er schubste seinen Kleiderhaufen beiseite, wühlte sich durch Socken, Pullover, zwei schwarze T-Shirts und fand schließlich seine Jeans, in deren Tasche es klingelte und vibrierte. Mit der einen Hand schaltete er die Nachttischlampe ein, mit dem Daumen der anderen schob er den grünen Telefonhörer auf dem Display nach oben.
»Pronto!«
»Commissario?«
»Giulia! Ja, was ist?«
»Entschuldige die Störung so spät …«
»…«
»Nun, es tut mir leid, aber 112 hat einen Anruf von Triora erhalten.«
»Und?«
»Unsere Wache war im Dienst und so ist eine unserer Patrouillen vor Ort.«
»Was ist passiert?«
»Eine Leiche wurde gefunden.«
»Okay, wo?«
»Im Wald auf den Hügeln oberhalb von Triora.«
»Das liegt oberhalb von Molini, oder?«
»Ja, genau, Commissario. Taggia, Badalucco, Montalto, Molini und dann Triora. Am Ende des Tals.«
»Worum geht es genau?«
»Die Leiche lag im Wald. Ein Jäger.«
»Jeden Monat werden mindestens zwei Jäger durch Unfälle angeschossen oder getötet …«
»Ja, ja, Commissario, ich weiß. Aber hier ist es anders.«
»Was ist anders?«
»Der Anruf wurde von jemandem von den italienischen Rangers getätigt.«
»Das sind die Freiwilligen, die im Wald nach Glutnestern suchen, oder?«
»Ja, das stimmt. Und sie helfen, die Wildschweine aufzuspüren. Die sind eine echte Plage geworden.«
»Giulia, und dann?«
»Die 112-Zentrale hat sofort einen Krankenwagen und den Notarztwagen mit Sanitäter und Fahrer hochgeschickt, um den Tod feststellen zu lassen. Commissario, der Ranger muss offenbar ziemlich unter Schock gestanden haben.«
»Warum?«
»Weil es wahrscheinlich kein Jagdunfall ist!«
»…«
»Er sagte, es sah aus wie eine Hinrichtung.«
»Warum denkt er, dass es sich nicht um einen Jagdunfall handelt?«
»Weil der Jäger vermutlich aus nächster Nähe erschossen wurde. Im Licht der Taschenlampe sieht man sogar die Schussreste an der Einschussstelle. Das hat er gesagt. Das Polizeipräsidium Imperia und natürlich der diensthabende stellvertretende Staatsanwalt wurden benachrichtigt.«
»Wer ist es?«
»Dottore Bevilacqua.«
»Verstanden! Unser Bevilacqua.«
»Er ist schon auf dem Weg dorthin.«
Gallo sah sein Spiegelbild im Fenster. Er zuckte mit den Schultern, zog seinen Bauch ein wenig ein und überprüfte den Zustand seines Kopfes. Etwas zwischen Brei, Schläfrigkeit und drohenden Kopfschmerzen. Nichts, was ein paar Aspirin nicht lösen könnten.
»Ich habe auch sofort Inspektor Rubbano angerufen, nachdem ein Arzt aus Triora den Tod bestätigt hat.«
»Okay, Giulia, weck Benzina auf, er soll fahren. Ich sehe nachts nicht so gut«, log er, um nicht zugeben zu müssen, dass er sich verkatert fühlte. »Du hast Bereitschaft, also bleibst du im Büro in Sanremo. Rubbano löst dich morgen früh ab. Benzina soll erst Claudio Giostra abholen, dann mich zu Hause in Riva Ligure. Hast du die Nummer von dem Ranger?«
»Ja, Commissario, die hab ich. Klar.«
»Schick sie mir aufs Handy. Und seinen Namen. Und besorg mir bitte auch den Namen vom Postenkommandanten der Polizia Locale aus Triora. Und die Nummer vom Kommandanten der Carabinieri dort oben, am besten seine Handynummer, okay?«
»Ja, mach ich. Ich schick dir alles aufs Handy.«
»…«
»Was noch, Giulia?«
»Also Claudio wohnt oberhalb von Taggia, am Anfang des Tals. Es wäre doch sinnvoller, wenn Benzina erst dich abholt und ihr dann zusammen Claudio auf dem Weg nach oben ins Tal abholt. Das spart Zeit, oder?«
»Meinetwegen. Ja, hast recht, Giulia. So soll er’s machen.«
Gallo hörte Giulias Strahlen durchs Telefon.
»Okay, ich leite alles in die Wege. Soll ich noch jemanden verständigen?«
»Nein, Giulia, ich schau mir das erst mal selbst an. Benzina soll den Dienstwagen nehmen, da sind Taschenlampen drin und Gummistiefel.«
»Ja, das sag ich ihm.«
»Wo liegt denn der Tote? Weißt du das?«
»Neben einem Safranfeld.«
»Was?«
»Na, eben direkt neben einem Feld, auf dem Safran angebaut wird. Der Safran aus Triora, Commissario.«
Gallo erinnerte sich dunkel. Gestern Abend gab es in der Scogliera Risotto – mit Safran. Andrea, der Chef, war ganz stolz und hat ihnen die Geschichte erzählt, dass der Safran aus Triora stammte. Gallo hatte Safran aus Persien im Gedächtnis, aus Südspanien und anderen entlegenen exotischen Gegenden der Welt. Aber hier? An der Riviera? Rubbano, der autistische Analyst, hatte bestimmt die ganze Story, wenn er ihn fragte.
»Dann schick mir auch die Geolocations auf Maps, Giulia. Sonst laufen wir da stundenlang herum und finden nichts.«
»Okay, Commissario. Mach ich. Und ich werde einen Treffpunkt um 3.30 Uhr mit der Polizia Locale vereinbaren, am Ortsausgang nördlich von Triora.«
»Okay. Gut. Das ist sogar noch besser.«
»Um 6.30 Uhr wird es hell.«
»Um 6.30 Uhr?«
»Ja, Commissario. Du bist kein Frühaufsteher, oder?«
»Äh, nein. Aber gut zu wissen.«
»Rubbano hat mir die Uhrzeit durchgegeben. Er wollte wissen, ob du die ›Zivile Dämmerungszeit‹, die ›Astronomische Dämmerung‹ oder die ›Nautische Dämmerung‹ haben möchtest.«
»Typisch Rubbano. Keine Ahnung. Gibt’s da einen Unterschied?«
»Oh ja. Das ist erstaunlich. Anscheinend beginnt die Dämmerung über dem Meer viel früher, also man sieht schon was, bevor die Sonne zu sehen ist, und das spielt anscheinend eine Rolle …«
»Giulia«, unterbrach Gallo sie, »das ist mir egal. Lass stecken. Wir sind Polizisten. Keine Kapitäne auf Kriegspfad. Mir ist nur wichtig, ab wann wir da oben was sehen. Ich glaube nicht, dass die in Triora über das Equipment verfügen, um einen Tatort nachts im Wald taghell erleuchten zu können.«
Es war jetzt 2.15 Uhr, plus circa eine Stunde Fahrt insgesamt – mehr oder weniger –, dann hätten sie noch ungefähr zweieinhalb Stunden in absoluter Dunkelheit in den Schluchten oberhalb von Triora. Dann käme die Dämmerung. Hoffentlich waren die Taschenlampen im Dienstauto geladen.
»Gut. Danke, Giulia. Bis später.«
Gallo legte auf und machte sich einen Plan. Aspirin war dringend. Kaffee auch. Dusche konnte durch eine Katzenwäsche ersetzt werden. Anziehen dauerte nur wenige Minuten. Ein wärmender Pullover machte Sinn, es war ja Ende Oktober und es ging ganz schön weit rauf ins Tal. Da herrschte ein anderes Klima. Im Schatten des Monte Saccarello.
Also auch eine winddichte Jacke.
Gallo lief die Treppe hinab in seine Küche, schraubte die Mokkakanne auf und angelte im Schrank nach dem gemahlenen Kaffee. Dann wühlte er in einer Schublade nach dem Aspirin. Gerade als er die angebrochene Packung gefunden hatte, erschrak er zu Tode. Mit aufgerissenen Augen starrte er auf den Schatten, der sich an seiner Küchenwand bewegte. Es sah diabolisch aus, ein runder Kopf mit zwei spitzen Hörnern drauf. Das Ganze überdimensional vergrößert durch den Schein der Laterne draußen an der Uferpromenade, in deren Licht die Katze aus dem Hafen auf seiner Fensterbank saß und neugierig zu ihm hereinschaute.
Riva Ligure, 31. Oktober
Commissario Gallo hatte eine Jeans mit einem Loch über dem Knie angezogen. Auch deshalb, weil diese über dem Stuhl im Schlafzimmer lag und als Erstes greifbar war. So musste er nicht suchen.
»Wird schon passen«, murmelte er und stellte dankbar fest, dass seine Kopfschmerzen bereits nachgelassen hatten. Er streifte ein schwarzes, langärmeliges T-Shirt über, schlüpfte in seine Socken, angelte im Schrank nach einem warmen Pullover mit engem Halsausschnitt und ging die halsbrecherisch steile Treppe nach unten. Die Mokkamaschine auf dem Herd röchelte laut vor sich hin und die ganze Küche duftete nach dem besten Morgenduft: frisch gebrühter Kaffee. Er stellte die Gasflamme ab, goss den heißen Mokka in eine kalte Tasse, schüttete Zucker hinterher, einen kleinen Schwapp Milch obendrauf und goss sich den Inhalt anschließend in den Mund.
Er fühlte sich schlagartig besser. Jetzt war er langsam für den nächsten Einsatz bereit. Sein Kopf wurde klarer. Trotzdem vermisste er das Morgenritual, bei dem Paolina unten von der Bar ihm einen frischen Cappuccino und ein Stück knuspriger Focaccia, das wunderbar duftende Olivenbrot Liguriens, in einen Korb legte, den er nach oben zog. Aber dafür war es jetzt viel zu früh.
Der Mokka tat seine Wirkung. Bin mal gespannt, was diesmal auf uns wartet, dachte er. Von Kapitalverbrechen wimmelte es an der Riviera nicht. Die wachsende Berühmtheit Sanremos, die vielen Veranstaltungen, die Superjachten im Porto Sole, das zog natürlich auch vermehrt Verbrechen an. Aber ein so komplizierter und bedrohlicher Fall wie Mitte des Jahres, als er gerade in Sanremo angefangen hatte und gleich zu seinem Einstand jemand die Villa von Alfred Nobel in die Luft sprengen wollte – das war was!
Aber sein Team hatte bewiesen, dass es auch mit so einer großen Herausforderung zurechtkam. Der Fall wurde gelöst. Das Kommissariat Sanremo war zu einer schlagkräftigen Truppe geworden, die felsenfest hinter ihm stand. Das wusste er jetzt.
Er sah auf die Uhr: 2.30 Uhr. Gleich müsste Benzina hier sein. Um diese Uhrzeit im Oktober war kein Verkehr auf der Aurelia, der Küstenstraße, die sich um den halben italienischen Stiefel herumschlang. Er sah aus dem Fenster hinunter auf die Uferpromenade. Alles war verwaist, der Wind hatte nachgelassen, ein paar Möwen kreisten um die Wellenbrecher vor dem Hafen und kreischten sich gegenseitig an, als seien sie völlig irre geworden. Er blickte die Straße hinab Richtung Westen. Von dort müsste der Wagen kommen, aus Richtung Sanremo. Ein Kellner einer der Bars an der Promenade versuchte seinen Roller anzulassen. Gallo sah einen Kopf in einem Helm, der bei jedem Tritt auf den Anlasser im Licht der Laterne auf und ab nickte.
Dann sah er Scheinwerfer, die auf dem Lungomare von Riva Ligure eingebogen waren, und Sekunden später hielt ein kleiner, nagelneuer koreanischer SUV mit der Aufschrift »Polizia di Stato« vor seinem kleinen, schmalen Haus, das eingequetscht in der ersten Reihe auf der Meeresseite mit zwei Dutzend anderen ähnlichen bunten Häusern die Meeresfront bildete.
Gallo ging die lange Treppe ins Erdgeschoss hinab, nahm den schmalen Flur, der das Haus von der Garage trennte, die, als das Haus gebaut worden war, als Unterstand für das Fischerboot, die Netze und andere Utensilien, die Fischer so brauchen, gebaut worden war. Jetzt standen seine Fahrzeuge dort: sein heiß geliebter Alfa Romeo Junior GT, ein Oldtimer, seine moderne Vespa und eine ausgemusterte Moto Guzzi California der State Trooper aus Arizona.
Er schloss die schwere Holztür zu seinem Haus ab, trat auf den Bürgersteig, blickte kurz über das Meer und steuerte auf den SUV der Polizia di Stato mit seinen blauen Lichtern auf dem Dach zu. Er stutzte. Eigentlich sollte nur Benzina im Auto sitzen. Giulia hatte richtigerweise vorgeschlagen, erst ihn, den Commissario, abzuholen und dann Claudio unterwegs ins Tal hinauf aufzugabeln. Sodass Benzina allein sein müsste. Aber es saß eine weitere Person auf dem Rücksitz: Der Mann trug einen Anzug, ein weißes Hemd und eine schmale Krawatte. Es war Rubbano. Sub-Commissario Antonio Rubbano.
Benzina ließ das Fenster herunter. Zwischen seinen Lippen klemmte der obligatorische Zigarrenstummel. Gallo konnte erkennen, dass er seinen Arbeitsoverall auch mitten in der Nacht immer noch – oder schon wieder – trug. Auf dem Kopf trug er eine Schiebermütze, speckig und an vielen Stellen schon fadenscheinig.
»Guten Morgen, Commissario!«, nuschelte er an seiner Zigarre vorbei.
Gallo bückte sich und sah ins Auto. Auf dem Rücksitz saß tatsächlich Rubbano. Benzina lächelte und deutete mit seinem Daumen auf den stocksteif dasitzenden, inselbegabten Kollegen im Anzug auf dem Rücksitz, der es sich wohl nicht hatte nehmen lassen, bei so einem unverhofften nächtlichen Einsatz dabei zu sein und das Team nach Kräften zu unterstützen.
»Guten Morgen zusammen!«, sagte Commissario Gallo und war froh, dass er auf dem Beifahrersitz Platz nehmen konnte. Gallo wusste, dass die Fahrt in die Hügel in einer endlos scheinenden Abfolge enger steiler Kurven bestand, teilweise sogar Spitzkehren, die sich in halsbrecherischer Weise auf schmalen Steinbrücken über Schluchten und Grate nach oben schlängelte. Er wusste, dass Benzina rasch – nein, höllisch schnell – fahren würde, er wusste aber auch, dass sein Magen weniger an die gebirgige Fahrt gewöhnt war als die seiner Kollegen, die allesamt hier geboren und aufgewachsen waren. Vor allem heute Morgen fühlte er sich nicht gewachsen, Benzinas Fahrweise auf einer Straße, die eher einer Achterbahn glich als einer Strada Provinciale, aushalten zu können. Allein bei dem Gedanken daran begann der eben getrunkene Kaffee in seinem Magen munter hin und her zu schwappen.
Commissario Gallo umrundete den Wagen und setzte sich neben Benzina. Er blickte nach hinten und sah Antonio Rubbano in die Augen:
»Antonio, was machen Sie denn hier? Von Ihnen war nicht die Rede gewesen. Warum sind Sie nicht im Bett geblieben?«
»Commissario, ich habe über Funk die Kommunikation über den Vorfall in Triora mitgehört.«
»Von zu Hause aus?«
»Jawohl, Commissario, ich habe für Notfälle ein Polizeifunkgerät zu Hause.«
»Aber Antonio, wir wissen ja noch gar nicht, ob überhaupt ein Fall für uns vorliegt. Wir werden uns das erst einmal ansehen müssen und dann sortieren, ob es uns überhaupt etwas angeht oder nicht. Ob es nicht doch ein Jagdunfall war.«
»Dafür bin ich ja mitgekommen, Commissario. Fürs Sortieren.« Würde er nicht auf der Rückbank eines Autos sitzen, hätte Rubbano bei diesen Worten salutiert. Antonio Rubbano hatte autistische Züge. Aber das war kein Nachteil – ganz im Gegenteil. Sein fast fotografisches Gedächtnis, seine Fähigkeit, Zusammenhänge herzustellen, weil er Fakten so zuverlässig wie eine Maschine behielt, war für Gallos kleines Team unschätzbar wertvoll. Seine mangelnden emotionalen Fähigkeiten konnten die übrigen Teammitglieder locker wettmachen. Gallo hatte nach dem ersten gelösten Fall, der sich als äußerst vertrackt entpuppt hatte, aus einer kleinen, zusammengewürfelten Truppe eine schlagkräftige, fähige Mannschaft geschmiedet, bei der jeder sich auf die Talente der anderen jederzeit verlassen konnte. Er musste sie nur machen lassen, sie beschützen, und mit dem Erfolg des Einzelnen stellte sich automatisch der Erfolg der ganzen Truppe ein. Rubbano war ein wichtiges Element in dem Puzzle. Und Gallo war stolz darauf, dass er das Team führen durfte.
Gallo bemerkte jetzt, dass Benzina ihn von der Seite beobachtete, und blickte hinüber. Gallo sah ein zerknautschtes Gesicht unter einer Schiebermütze, einen Mund, dessen Oberlippe wegen Zahnmangels eingefallen war (Benzina hatte noch höchstens eineinhalb Zähne im Mund, schätzte Gallo), und ein kräftiges Kinn, vor dem ein erloschener Zigarrenstummel tanzte. Vor allem aber sah Gallo die hellwachen, blitzenden Augen im Gesicht des einstigen Rallyemechanikers, der jetzt, mit Mitte 70, sich als externe Hilfskraft um den Fuhrpark der Polizei kümmerte und manchmal – so wie heute Nacht – als Fahrer fungierte, was er extra bezahlt bekam.
Und aus diesen schlauen und wissenden Augen Benzinas empfing Gallo eine stumme, unmissverständliche Botschaft: Ist schon okay, Commissario, sagten diese Augen, wenn Rubbano dabei ist. Ein Mann mit Asperger-Syndrom kann immer nützlich sein. Man weiß ja nie, was einen da oben in der sagenumwobenen, geheimnisvollen Stadt Triora erwartet.
Valle Argentina, 31. Oktober
In der undurchdringlichen Dunkelheit, die nur von einem fahlen Schein des Mondes und den vereinzelten Lichtern entlegener Bauernhäuser an den Hängen durchbrochen wurde, schlängelte sich der kleine koreanische SUV der Polizia di Stato behände durch die kurvigen Straßen des Hinterlandes der Blumenriviera. Das Fahrzeug, ein zuverlässiger Gefährte in Diensten der Beamten, das sich mit seinem Elektromotor wie an einer Schnur bergauf gezogen perfekt in die nächtliche Stille einfügte, war mit einer ungewöhnlichen Crew besetzt: Benzina, ein fast zahnloser Virtuose der Serpentinen, dessen Lebensgeschichte sich in den Linien seines wettergegerbten Gesichts widerspiegelte, saß am Steuer. Benzina spielte so sicher und so gefühlvoll mit der Physik des Wagens, dass der kleine SUV sich weder in Kurven neigte noch Beschleunigungs- oder Abbremsmanöver zu spüren waren. Mit dem richtigen Druck aufs Gaspedal im exakt richtigen Moment reduzierte Benzina die Querbeschleunigung in den Kurven auf ein Minimum. Gallos noch vom Vorabend überlasteter Magen dankte ihm.
Von Riva Ligure, dem malerischen Ort, der in der Nacht wie ein schlafender Wächter am Meer ruhte, führte ihre Reise tief ins Herz des ligurischen Berglandes. Vorbei an Taggia, wo sie kurz anhielten und Claudio Giostra, den Inspektor in seiner Uniform, der an der alten römischen Brücke aus dem ersten Jahrhundert wartete, zusteigen ließen.
»Da muss er irgendwo stehen«, murmelte Benzina, als sie an der verwaisten Brücke anhielten. »Das ist doch die römische Brücke, oder?«, fragte er mehr in Richtung Rubbano als zu Gallo.
»Die Brücke ist nicht römisch. Das ist ein Irrtum. Sie ist romanisch. Erbaut im 13. Jahrhundert. Alle nennen sie die römische Brücke, dabei stimmt das gar nicht. Sie wurde auch erst im 17. Jahrhundert vollendet.«
»Na ja, also Mittelalter. Aber sie steht noch und ist begehbar, oder?«, fragte Gallo.
»Ja«, versicherte Rubbano, »die ist noch in Betrieb. Zu schmal für Autos, natürlich, aber sie steht noch immer fest auf ihren 15 steinernen Bögen. Der Fluss war im frühen Mittelalter ein Bach, der weiter östlich verlief. Da reichten zwei Bögen. Dann gab es zahlreiche Überschwemmungen, und der Bach wurde zu einem Fluss, über den die Menschen dann immer weitere Bögen bauen mussten, bis es jetzt seit dem 17. Jahrhundert 15 an der Zahl sind.«
Benzina seufzte und trommelte ungeduldig auf dem Lenkrad. Dann blinkte er mit der Lichthupe, weil Claudio in seiner Uniform von vorne auf sie zutrabte und dabei seinen Pistolenhalfter mit der Hand festhielt.
»Da ist er ja«, murmelte Benzina, »Antonio: rutsch rüber.«
Nach Taggia, dessen altertümliche Mauern im Dunkel verborgen lagen, ging es zu viert in zügiger Fahrt durch Badalucco und Montalto Ligure – Dörfer, die sich an die steilen Hänge klammerten, als wollten sie der Schwerkraft trotzen. Molini di Triora war das letzte Dorf auf ihrem Weg, bevor sie nach einigen Haarnadelkurven Triora erreichten, das berüchtigt war als die Hexenhauptstadt Italiens, umhüllt von den Mythen und Legenden vergangener Jahrhunderte.
Die nächtliche Fahrt war mehr als eine bloße Überwindung von Distanzen; sie war eine Reise durch die Zeit, ein Eintauchen in eine Welt, in der das leise Flüstern jahrhundertealter Geschichten noch immer in der Luft lag. Die Scheinwerfer streiften eine Landschaft, die sich auf dem stetig bergauf führenden Weg um sie herum entfaltete und waren ein stummer Zeuge von menschlicher Anstrengung und Beharrlichkeit, die diese steilen Hänge rechts und links von ihnen seit Jahrtausenden geformt hatten. Die terrassierten Felder, im Mondlicht und im Schein der darüber huschenden Scheinwerfern nur schemenhaft erkennbar, sprachen von der Hartnäckigkeit und dem Einfallsreichtum der Bauern, die dieses steile Gelände in eines der fruchtbarsten Anbaugebiete des gesamten Mittelmeerraums verwandelt hatten. Weil sie durch die Terrassierung mit Trockensteinmauern genau die richtige Mischung aus Durchsickern und Rückhaltung des Regenwassers erzielt hatten, sodass sich in vielen Jahrhunderten ein fast PH-neutraler Humus gebildet hatte. All das wusste Rubbano auswendig abzuspulen.
»Aber das weiß keiner so richtig«, bemerkte Claudio von hinten.
»Ist das ein Geheimtipp?«, fragte Gallo.
»Nein, das wohl nicht. Aber die exzellente Qualität all dessen, was hier wächst, gibt es nur in sehr begrenzter Menge. Die Hänge sind zu steil, zu zerklüftet, zu schwierig zu beackern. Alles muss von Hand gemacht werden oder ist nur mit kleinen, zweirädrigen Zugmaschinen erreichbar, die man nebenherlaufend steuern muss.«
»Und die Taggiasca Olive wächst nur hier?«, wollte Gallo wissen. »Was ist so besonders an ihr?«, setzte er hinzu, weil es ihn wirklich interessierte.
»Die Oliven sind mit die kleinsten Oliven, die es gibt, aber die Pflanze, also der Baum, ist mit bis zu 15 Metern Höhe der höchste Olivenbaum überhaupt. Besonders ist der sehr hohe Gehalt an Öl mit bis zu 26 Prozent und die extrem geringe Säure von weniger als 0,5 Prozent. Das Öl ist elegant, fruchtig und leicht scharf. Es ist seit 1997 als ›Riviera di Ponente‹ Öl ein eingetragenes, geschütztes Markenzeichen und wird heute vor allem in der Provinz Imperia angebaut.«
»Das grüne Gold der Riviera«, nuschelte Benzina und zwang den SUV in die nächste Kurve. Bei diesem Manöver tauchte ein steinerner Wachtturm im Scheinwerferkegel auf, mit Efeu bewachsen und an der Spitze schon etwas eingefallen.
»Ein Sarazenerturm«, referierte Rubbano, »von dem aus müsste man bis runter zum Meer sehen können, um die Dörfer hier oben frühzeitig warnen zu können, wenn Piraten – also die Sarazener, die Völker des Ostens aus Arabien, die das südliche Mittelmeer bewohnten – übers Meer kamen.«
»Die kamen bis hier rauf?«, fragte Gallo erstaunt.
»Ja, die Sarazener landeten an den Stränden und zogen dann landeinwärts, plünderten die Dörfer und brannten alles nieder. Manchmal, wenn ein Schiff dieser Piraten sichtbar wurde, haben die Ligurer selbst große Feuer entfacht, um die Sarazener glauben zu machen, dass sie schon eingenommen worden sind.«
»Das Öl«, steuerte Claudio bei, »am besten probiert man es pur, auf Weißbrot. Aber man kann damit eigentlich alles machen. Salate, Gemüse, Fisch, Fleisch – es passt zu allem und ist sehr gesund.«
Gallo öffnete das Fenster einen Spalt breit und sah hinaus.
Die Luft war erfüllt vom Duft der kurz vor der Ernte schwer an ihren Früchten tragenden Olivenbäume, deren silbrige Blätter im nächtlichen Wind ein sanftes Rascheln von sich gaben.
Rubbanos Stimme, sonst so zurückhaltend und in sich gekehrt, begann immer wieder die Stille des Fahrzeuginneren zu durchbrechen. Mit einer fast hypnotischen Monotonie teilte er sein umfangreiches Wissen über die geografischen und historischen Besonderheiten der Gegend. Seine Worte malten Bilder von üppigen Gemüse- und Obstgärten, die auf den antiken Terrassen gediehen, von engen Tälern, die sich tief in das Herz der Erde schnitten, von Städten und Dörfern, die geplündert, verkauft und geschliffen worden waren, nach denen mal die Grafen von Ventimiglia, mal die Savoyer, mal die mächtige Republik Genua, dann wieder die Piraten, Napoleon oder Karl VI. ihre begierigen Hände ausgestreckt hatten, ein Hin und Her, das in der Römerzeit begonnen hatte und mit dem die Ligurer – die nie einen mächtigen Protektor an der Seite hatten – ganz allein fertig werden mussten, und nicht zuletzt von Triora selbst, einem Ort, der sowohl von seiner atemberaubenden Schönheit, seinem einstigen, märchenhaften Reichtum als Kornkammer der Republik Genua als auch von seiner schaurigen Vergangenheit geprägt war.
Gallo kam es vor, als hätte er auf den gerade mal 35 Kilometern seit der Küste eine Zeitreise unternommen. Niemals zuvor hatte er auf dieser nächtlichen Fahrt durch das Valle Argentina, das nach dem Fluss, der sich in den Schiefer und den Kalkstein gegraben hatte, benannt, die magische Anziehungskraft zwischen Bergen und Meer, den beiden großen Gegensätzen der Natur, so stark gespürt. Eben noch am Meer, mit seinem heiteren, lichtdurchfluteten Flair, der unendlichen Weite und den Hunderten Blaus, die die Sonne, das Plankton und die Wolken zauberten, und hier – wenige Kilometer weiter – steile Schmugglerpfade neben wispernden Bächen, Partisanenverstecke in mächtigen Kastanienhainen, Füchse und Hermeline, die durch Benzinas Scheinwerferlicht huschten, Tafeln, die auf Steinböcke und Bergziegen hinwiesen, überall am Straßenrand Rosmarin und Thymian, Beeren und Pilze – und all das in üppiger, verschwenderischer Menge.
Oder wie Rubbano es ausdrückte: die Riviera dei Fiori. Von den Thunfischschwärmen zu den Wildschweinrotten sind es nur zwei Kilometer.
Ein begnadetes Land. Nach dem sich Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende begehrliche Hände ausgestreckt hatten. Heute kämpfte das Tal darum, seinen Teil am modernen Tourismus abzubekommen. Viele Schilder hatten sie im Scheinwerferlicht aufblitzen sehen. Da wurden Mountainbike Pfade angepriesen, Agrarprodukte im Direktverkauf beworben – und alle paar 100 Meter sah man hässliche Schilder von Immobilienmaklern, die wie der Ersatz von Familienwappen an den malerischen Steinfassaden klebten. Die wenigen Alten, wusste Rubbano, die noch hier wohnten, kämpften zusammen mit ihren Bürgermeistern um den letzten Dorfladen und mussten mitansehen, wie immer mehr holländische, deutsche oder englische SUVs in den Dörfern auftauchten, der örtlichen Bauindustrie mit den Renovierungsarbeiten ein kurzes Aufbäumen bescherten, bis dann die Dörfer hübsch renoviert und ans Internet angeschlossen vollkommen leblos an den Hängen vor sich hindämmerten, weil die Deutschen, Holländer oder Schweizer nur zwei Wochen im Jahr hierher kamen. Ein Dorfsterben in Schönheit, wie Gallo sinnierte.
Benzina zischelte zwischen seinen eineinhalb Zähnen und dem Zigarrenstumpen hindurch vom Fahrersitz her etwas, das wie »Die haben hier schon Schlimmeres überlebt – wirst schon sehen« klang.
Gallo genoss die nächtliche Fahrt und die vielen Dinge, die er wie nebenbei von seinen Teammitgliedern lernte. Aber etwas anderes, was er vor den anderen verborgen hielt, nagte an ihm. Es war der letzte Fall, den sie gelöst hatten, der ihn beschäftigte. Er war ein großes Risiko eingegangen und hatte – wenn auch völlig nichts ahnend – einen schweren Fehler gemacht, der sie alle, vor allem aber die Ermittlungen in große Gefahr gebracht hatte. Es ging um eine Liebelei, die zunächst harmlos schien – bis sich herausstellte, dass … aber das hatte er nicht wissen können, als es passierte. Sein Team jedenfalls hatte ihm die Absolution erteilt und unerschütterlich zu ihm gehalten. Und keiner, wirklich niemand, hatte es ihm als Schwäche vorgehalten. Im Gegenteil, der Vorfall hatte das Team erst so richtig zusammengebracht.
Als sie am Ortseingang von Triora ankamen, wurden sie von einem blauen Blitzlichtgewitter empfangen. Der örtliche Polizeiwagen, ein Carabinieri Patrouillenauto, der Krankenwagen und der BMW, der den Notarzt heraufgebracht hatte, standen am Ortseingang mit eingeschaltetem Blaulicht und warteten auf sie. Benzina brachte den SUV schwungvoll zum Stehen. Die Beamten, trotz der vorgerückten Stunde wach und aufmerksam, grüßten die Ankömmlinge mit einer Mischung aus Respekt und einer leichten Spur von Erleichterung. Sie wussten, dass die Ankunft des neuen Commissario und seines Teams den Beginn einer intensiven Untersuchung bedeutete, die die dunklen Schatten, die wegen eines möglichen Mordes über diesem malerischen Ort lagen, lichten könnte. Sie waren froh, dass der stellvertretende Staatsanwalt Bevilacqua die Ermittlungen in die Hände der Experten für Kapitalverbrechen aus Sanremo gelegt hatte, nachdem sie Bereitschaftsdienst hatten und ihr Patrouillenwagen als Erstes eingetroffen war. Und im Übrigen war es immer schwer für die lokalen Polizeikräfte, in einem kleinen Dorf mit weniger als 400 Einwohnern in einem Kapitalverbrechen zu ermitteln. Jeder kannte jeden – oder anders ausgedrückt: Jeder wusste etwas über jeden anderen im Dorf. Da die Spreu vom Weizen zu trennen, war fast nur mit einem scharfen Blick von außen zu bewerkstelligen, ohne dass Gallo – oder etwa Bevilacqua – auch nur im Mindesten die Fähigkeiten der lokalen Polizei vor Ort infrage stellen würde.
Aus dem Dunklen schoss ein untersetzter Mann auf Gallos Wagen zu, und Gallo stieg aus. Dottore Bevilacqua.
»Guten Morgen«, sagte er ernst.
»Herr Vize-Staatsanwalt! Guten Morgen.«
»Gut, dass Sie da sind, Gallo. Also: Der Notarzt war schon bei der Leiche und hat mich darüber informiert, dass der Mann tot ist. Diese Bestätigung haben wir also. Er teilt die Einschätzung, dass der Mann erschossen worden ist, aus nächster Nähe. Er hat, außer das, was notwendig ist, die Leiche nicht angerührt und wartet auf Instruktionen zum Abtransport mit dem Krankenwagen.«
»Gut, Dottore. Wie soll es dann weitergehen?«, fragte Gallo.
»Also, ich muss zurück nach Imperia. Ich kann die Leiche ohne ein erstes Gutachten vor Ort nicht zum Abtransport freigeben. Da es am Fundort stockdunkel ist, schlage ich vor, Sie sehen sich das mal an und besprechen alles Weitere mit der Rechtsmedizinerin. Glauben Sie, sie kann hochkommen?«
»Sie ist schon unterwegs, das ist kein Problem, Dottore.«
»Gut. Dann geben Sie die Leiche frei, wenn sie fertig ist. Dottoressa Percivaldi, richtig?«
»Ja, Dottore, wir werden sie gleich informieren. Aber als Allererstes möchte ich den Tatort in Augenschein nehmen.«
»Gut. Sie übernehmen ab jetzt die Ermittlungen. Durchsuchungsbeschlüsse und Festnahmen ordnen Sie ab jetzt in Absprache mit mir an.«
»Wir werden die Wohnung des Toten durchsuchen müssen.«
»Selbstverständlich, Gallo, selbstverständlich. Volle Rückendeckung.«
»Ausgerechnet heute ist die Sitzung mit dem Innenministerium, alle Quästuren der Provinzhauptstädte treffen sich online wegen neuer Direktiven zur Sicherheit. Um 8.30 Uhr geht’s los, Gallo.«
»Ich bin ja jetzt da, Dottore. Fahren Sie ruhig. Sollte ich Sie brauchen, kann ich Sie dann am Telefon erreichen?«
»Ja, absolut. Aber schicken Sie mir eine WhatsApp, dann kann ich kurz stummschalten oder rausgehen.«
»Gut, kein Problem. So machen wir es.«
»Jetzt lasse ich Sie mit den örtlichen Kräften weitermachen. Die Carabinieri sind schon von mir instruiert worden. Da drüben ist der Maresciallo, ein fähiger Mann. Viel Glück, Gallo, und bis später.«
Der ranghöchste Gesetzesvertreter, ein Maresciallo Amadori, ein hochgewachsener, freundlich und hellwach blickender Mann mit raspelkurz geschnittenem Haar in der makellosen Uniform der Carabinieri, stellte sich vor und salutierte vor Gallo.
»Wie kommen wir am schnellsten zum Tatort? Zum Fundort der Leiche?«, wollte Gallo wissen.
»Wir fahren vor. Folgen Sie uns einfach. Wir müssen kurz durch den Ort und dann am nördlichen Ende den Hang hoch.«
Gallo streifte den Vertreter der Rangers und die beiden Kollegen der örtlichen Polizei, der Polizia Locale, deren Vorgesetzter der Bürgermeister war, mit einem grüßenden Blick und bedankte sich stumm bei ihnen, dass sie auf sie gewartet hatten. Es war fast 3.30 Uhr und noch stockdunkel. Vom Ort, der wie eine riesige Burg über ihnen thronte, waren die Lichter der Straßenlaternen die einzige Lichtquelle. Alles lag noch im Tiefschlaf.
Es war der Tag von Halloween.
Heute ist die Nacht der Nächte, die Nacht der Hexen.
Fast 10.000 Menschen wurden erwartet.
Gallo sah nach oben, wo Triora wie eine schlafende Trutzburg aus Stein auf einem großen Felsrücken thronte, dessen Flanken auf drei Seiten in tiefe Bergfalten hinabfielen.
Gemeinsam machten sie sich im Konvoi auf den Weg vorbei an den engen, verwinkelten Straßen des Dorfzentrums und an den stummen Zeugen einer bewegten Vergangenheit: alten Steinhäusern, deren Gemäuer von Kriegen, Hexenverfolgungen und uralten Ritualen zu erzählen schienen. Der SUV kroch durch die nächtlichen Gassen, sein elektrischer Motor ein leises Summen in der stillen Nacht, vorbei am Palazzo Stella, von dem aus als Gast der Adligen von Stella der fähigste General Napoleons, André Masséna, eigentlich Andrea Massena, geboren im damals zu Ligurien gehörenden Nizza, der die französischen Schlachten gegen die österreichisch-ungarische und sardische Armee von Triora aus beaufsichtigte, gewohnt hatte. Bis sie nördlich von Triora, etwas außerhalb der Stadtmauern, den abgelegenen Tatort auf einem Plateau neben einem Eichenwald an einem Steilhang erreichten, der von der örtlichen Polizei sorgfältig abgesperrt und mit einigen improvisierten Lichtern beleuchtet worden war. Gallo staunte, wie groß Triora wirkte. Mit unzähligen verwinkelten, steilen Gassen, Steinbögen zwischen den Häusern, kleinen Plätzen überall, Torbögen, steilen Treppen und alles auf Felsen gebaut.
»Ich hatte es mir nicht so groß vorgestellt«, sagte Gallo, »das wirkt ja riesig. Auf jeden Fall nicht so wie ein 400-Seelen-Dorf.«
»Triora war von Anfang an als Wehrdorf gebaut. Das heißt, alles musste innerhalb der Stadtmauern untergebracht werden: Ställe, Waren-Lager, das Vieh, Bäckereien, Kochstellen, Esel, Brennmaterial und alles, was das Dorf das ganze Jahr über zum Leben benötigte. Deshalb wirkt es so groß«, sagte Rubbano.
Nach kurzer Fahrt ging es aus dem Dorf wieder hügelaufwärts über einen befestigten Feldweg und durch einen Kastanienhain hindurch. Dann sahen sie den Geländewagen der Rangers und den zweiten Patrouillenwagen der Polizia di Stato.
Das Flatterband, das im schwachen Licht der Fahrzeugscheinwerfer flackerte, markierte die Grenze zwischen der alltäglichen Welt und dem Schauplatz eines grausamen Verbrechens. Im Zentrum der Aufmerksamkeit lag der Körper des Opfers, mit verdrehten Beinen und das Gesicht abgewandt zum dunklen Tal hin, so als würde er sich schämen.
Die Ermittler stiegen aus dem Fahrzeug, jeder gefangen in seinen eigenen Gedanken über das, was vor ihnen lag. Die nächtliche Fahrt, eine Reise durch die Dunkelheit und durch die Geschichte, mündete für Gallo und sein Team in dieser stillen Konfrontation mit der brutalen Realität eines Verbrechens, das nicht nur ihre Fähigkeiten als Ermittler, sondern auch ihre Entschlossenheit, in einer Welt voller Schatten Gerechtigkeit zu suchen, auf die Probe stellen würde.
Dass die Schatten sich auch über ihn legten, davon ahnte Commissario Tomas Gallo noch nichts in dieser frühen Morgenstunde.
Genua, Silvester 2022
Lenas hypnotisierter Blick löste sich langsam von der Zimmerdecke. Sie verließ die tanzenden Schatten, die von den Scheinwerfern der vorbeifahrenden Autos gezeichnet wurden, durchbrochen von den bunten, grellen Blitzen des Feuerwerks, mit dem das neue Jahr in der ganzen Stadt begrüßt wurde. Und langsam, ohne den Kopf vom Kissen zu heben, richtete sie ihren Blick auf den Wecker. Mit Zahlen so groß und grün wie die Blätter eines dunklen Waldes zeigte er eine Minute nach Mitternacht an. Eine weitere verdammte Minute ihres nutzlosen Lebens war bereits verstrichen. Draußen tanzten und grölten Menschen in obsessivem Rhythmus, Geräusche, die sich zu einem Brei aus Lärm verdichteten. Gewaltige Böller detonierten draußen, die sie im Halbdunkel zusammenzucken und fluchen ließen und ihre Katze zu Tode erschreckten. Auch dieses neue Jahr konnte nur abscheulich werden, dachte sie grimmig.
So wie sie dalag, fühlte sie sich weniger wie ein Mensch aus Fleisch und Blut, eher wie eine gestaltlose Materie aus Teleplasma: Die wirkliche Magdalena Dallobosco, die junge Frau mit der vielversprechenden Universitätslaufbahn, die gab es nicht mehr. Sie war ein Geist geworden, ein Schattenabdruck ihrer selbst. Nichts erinnerte mehr an das, was sie einmal gewesen war. Nichts war übrig von dem, wovon sie einmal überzeugt war, dass es das ihr bestimmte Leben war, bevor die Welt mit all ihren Ungerechtigkeiten über ihr zusammengebrochen war.
Sie hielt sich immer noch für schön, elegant und für eine sehr extravagante Erscheinung mit ihrem langen, gewellten rabenschwarzen Haar. Mit einem trotzigen Lächeln auf ihrem blassen Gesicht dachte sie an den Uni-Abschluss, den sie mit Bravour bestanden hatte, und wie sie danach bereit gewesen war, sich energisch in die Arbeitswelt zu stürzen.
Mit Begeisterung und vollem Elan, in der Tat.
Ein Enthusiasmus, von dem sie jetzt wusste, dass sie ihn nie mehr zurückgewinnen würde, so niedergeschmettert wie sie von allem war, was in den letzten Monaten geschehen war. Eine ununterbrochene Abfolge von Katastrophen, von denen sie genau wusste, dass sie diese nicht einem widrigen Schicksal zu verdanken hatte, sondern dass sie ein Opfer von Gehässigkeit, Niedertracht und psychischer Gewalt geworden war – ein Elend also, das Vornamen und Nachnamen hatte.
Gesichter und Stimmen von Menschen, die sie fertigmachen wollten und deren Präsenz sich mit anderen Ereignissen verknüpfte, die sie schließlich nicht mehr voneinander trennen und auch nicht mehr abschütteln wollte – auch, weil sie das gar nicht mehr konnte.
Jetzt war es zu spät für eine Umkehr, denn ihre Daseinsberechtigung war ein Wühlen in diesen tiefen, schwarzen Löchern ihrer Seele geworden. Das war ihr neuer Lebensinhalt.