Ronny Rieken - Heinrich Thies - E-Book

Ronny Rieken E-Book

Heinrich Thies

3,8

Beschreibung

Im Mai 1998 wird Ronny Rieken, Vater von drei kleinen Kindern, festgenommen. Er soll zwei Mädchen missbraucht und ermordet haben. Der erste großflächige Einsatz eines Speicheltests zur Genanalyse hat die Polizei auf seine Spur geführt. Rieken gesteht sofort, ist kooperativ, bereut anscheinend aufrichtig. Der Fall ist geklärt. Für die Ermittler. Für die Gesellschaft hingegen bleibt der Fall ungeklärt. Was treibt einen Menschen dazu, wehrlose Geschöpfe, die seine eigenen Kinder sein könnten, zu mißbrauchen, zu quälen, zu töten? Warum brechen die zivilisatorischen Schutzwälle der menschlichen Psyche so unvermittelt? Weshalb halten diese Schutzwälle bei den meisten, bei einem wie Ronny Rieken aber nicht? Heinrich Thies hat zahlreiche Gespräche mit Ronny Rieken in der Haftanstalt geführt, er hat mit den Eltern seiner Opfer gesprochen, Psychiater, Psychologen, Polizeibeamte, Kriminologen und Familienangehörige befragt, den Mordprozeß besucht, das psychiatrische Gutachten und die Urteilsbegründung ausgewertet. Das beeindruckende und beklemmende Portrait eines Kindermörders von Heinrich Thies zeigt, wie nah Abgrund und Normalität beieinanderliegen.

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Seitenzahl: 220

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Heinrich Thies

Ronny Rieken

Portrait eines Kindermörders

Zweite Auflage 2005

© zu Klampen Verlag · Röse 21 · D-31832Springe

Dieses Werk wurde vermittelt durch die

Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827Garbsen

e-mail: [email protected]

www.zuklampen.de

Satz: thielenVERLAGSBÜRO, Hannover

Umschlag: Matthias Vogel (paramikron), Hannover

Umschlagfoto: Udo Heuer, Hannover

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014

ISBN 9783866743489

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.ddb.de› abrufbar.

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Prolog

1. Ein Mädchen verschwindet

2. Die Begegnung

3. Ulrike wird vermisst

4. Erinnerungen an den Vater

5. Der Prügelknabe

6. Unterwegs als Schiffsjunge

7. Die Traumfrau

8. Auf Abwegen

9. »Es war das perfekte Leben«

10. Christina

11. Über Nacht zum Soko-Chef

12. Die Trauerfeier

13. Der Speicheltest

14. Die letzten Wochen der Freiheit

15. Wie ein Fahndungserfolg zur Panne wird

16. Die Schwester: »So abgebrüht war er nun auch wieder nicht«

17. Das Geständnis

18. Die Ehefrau: »Man kann ihn doch nicht einfach fallen lassen«

19. Erkundung der Abgründe

20. »Ich habe es wirklich nicht gewollt«– Briefe aus der Untersuchungshaft

21. Der Prozess

22. »Es fehlt an einer emotionalen Bremse«– Gespräch mit Norbert Leygraf

23. Die Schwester: »Mitleid hatte ich die ganze Zeit mit ihm«

24. Befreiung aus mütterlicher Umklammerung

25. Unter Schicksalsgenossen

26. Der Gefängnispsychologe: »Wir wissen einfach zu wenig«

27. Die verwaisten Eltern: Lebenslang im Schatten der Erinnerungen

28. Wieder ist ein Mädchen verschwunden

29. Nachwort: Die Banalität des Bösen

Prolog

»Ein Schelm, der Böses dabei denkt.« Der Spruch des Hosenbandordens steht in ehrwürdigem Französisch über dem historischen Eingangsportal der Justizvollzugsanstalt (JVA) Celle. Eine Inschrift mit Hintersinn. Denn tatsächlich dürfte der flüchtige Besucher der niedersächsischen Herzogstadt Celle hinter der schönen Fassade mit den Türmen und stuckverzierten Giebeln eher ein Schloss vermuten als ein Gefängnis. Ursprünglich sollte eine Universität daraus werden, doch dann wurde ein Zucht- und Tollhaus in Celle dringender gebraucht. Und wenn das Folterwerkzeug auch nur noch im Gefängnismuseum zu besichtigen ist, so hat sich am allgemeinen Bestimmungszweck von der Gründung im Jahre 1716 bis in die Gegenwart hinein kaum etwas verändert. Heute verbirgt sich hinter den denkmalgeschützten Mauern eine der am besten gesicherten Justizvollzugsanstalten Deutschlands. Die JVA Celle I ist die Dauerherberge von Schwerverbrechern und Mördern, von denen viele lebenslange Freiheitsstrafen zu verbüßen haben.

Aus Sicherheitsgründen erhalten die Besucher seit Mitte 2003Einlass nicht mehr durch das historische Portal mit dem hintersinnigen Spruch, sondern durch einen angebauten Eingangstrakt mit vielen verborgenden Kameraaugen und gespenstischen Sprechanlagen. Und wer einen der Gefangenen besuchen will, muss zuerst eine lange Sicherheitsschleuse passieren und sich gründlich durchleuchten und abtasten lassen. Im Besuchszimmer selbst darf man sich dann wie im Erfrischungsraum eines Freizeitheims fühlen. Gemütlich brummt der Kaffeeautomat, gleich daneben hält ein anderes Selbstbedienungsgerät die übliche Auswahl an Chips, Schokoriegeln und Weingummis bereit. Sogar an eine Spielecke ist gedacht. Schließlich sind unter den Häftlingen nicht wenige Familienväter mit Kindern, wie die Zeichnungen zeigen, die an einer Wand hängen.

Auch Ronny Rieken ist Vater von drei Kindern. Weil er zwei Mädchen ermordet hat, ist er in Haft. Wie fühlt sich einer, der eine solch erdrückende Schuld auf sich geladen hat und womöglich den Rest seines Lebens hinter Gittern verbringen muss?

Der dunkelblonde Mann mit dem blassen Gesicht, der geradewegs aus der Tischlerwerkstatt kommt, schmunzelt, als er hereingeführt wird. Betont locker streckt er die Hand zum Gruß aus.

»Hallo.«

»Guten Tag. Wie geht’s Ihnen?«

»Na ja, kann nicht klagen…«

»Kaffee?«

»Immer.«

Dankbar nimmt Ronny Rieken einen Plastikbecher mit Automaten-Kaffee entgegen. Weitere Gastgeschenke sind nicht gestattet, größere Geldbeträge müssen am Eingang hinterlegt werden. Aber der verurteilte Kindermörder hat seine Gesprächsbereitschaft auch nicht an Geldforderungen geknüpft.

Seit seiner Verurteilung im November 1998 habe ich immer wieder den Versuch unternommen, mit Ronny Rieken ins Gespräch zu kommen. Anfang 2003 schließlich hat er seine Bereitschaft signalisiert.

Da unser Gespräch außerhalb der offiziellen Besuchszeiten stattfindet, ist das Besuchszimmer leer. Nicht einmal ein Justizbediensteter hält Wache.

Drei Totenköpfe zieren den linken Unterarm des Gefangenen, ein Drachenkopf und Flammenball den rechten– Tätowierungen aus der Jugendzeit, eingeätzte Knasterinnerungen. Am linken Ohr trägt Ronny Rieken einen goldglitzernden Ohrring. An der rechten Hand seinen Ehering– das sichtbare Zeichen dafür, dass noch nicht alle Verbindungen zur Außenwelt gerissen sind. Dass da noch etwas ist, das ihm Halt gibt.

Der Mann mit dem Dreitagebart zündet sich eine seiner Selbstgedrehten an und zieht den Rauch durch die Lunge. Daraufhin berichtet er im Plauderton über den Knastalltag, lässt sich bereitwillig nach den verschiedenen Etappen seines Lebens und seinen Straftaten befragen. Es sind grausame Dinge, über die er spricht. In den Worten, die er dafür wählt, kommt die Dramatik bisweilen auch zum Ausdruck. »Schlimm« nennt er, was ihm als Kind angetan wurde, »schlimm« was er später anderen Kindern angetan hat. Doch er verliert keine Träne dabei, lehnt sich zurück, verschränkt die Arme vor der Brust, runzelt die Stirn, schmunzelt, raucht.

Ein Schelm, der Böses dabei denkt.

Drei Stunden steht der Mann in der graublauen Arbeitskluft Rede und Antwort, verzichtet auf das Mittagessen und erklärt sich sofort bereit, das Gespräch an einem anderen Tag fortzusetzen, als ein Justizbediensteter auf das Ende der Besuchszeit hinweist. »Vor einem halben Jahr hätte ich noch keinen Mucks gesagt«, gibt er dem Interviewer mit auf den Weg. »Aber jetzt ist es anders. Ich will reden, ich will mit mir ins Reine kommen. Wird ja auch langsam Zeit.«

Insgesamt zehnmal habe ich Ronny Rieken in seinem Celler Gefängnis aufgesucht, um besser zu verstehen, was mir so unerklärlich schien. Immer wieder habe ich nachgefragt, wenn sich Widersprüche auftaten und die Schilderungen von dem abwichen, was Rieken gegenüber den Kriminalbeamten, Gutachtern oder im Prozess ausgesagt hatte. Gleichwohl wäre es verfehlt zu hoffen, dass am Ende so etwas wie die Wahrheit stehen könnte. Jede Lebensgeschichte bleibt immer subjektiv– dies gilt insbesondere für die Biografie eines Mannes, dessen bisheriges Leben auf Lüge und Täuschung gründete.

Um den Blick auf die verhängnisvolle Entwicklung des Sexualstraftäters Ronny Riekens zu weiten, habe ich daher ganz unterschiedliche Sichtweisen einbezogen. Von Familienangehörigen, Polizeibeamten und Psychiatern– und auch von den Eltern der Opfer. Um die Persönlichkeitsrechte der Beteiligten zu wahren, habe ich bei Personen aus dem privaten Umfeld des Täters sowie überlebenden Opfern die Namen geändert.

Aus all den Textbestandteilen lässt sich kein geschlossenes Bild zusammensetzen. Allenfalls ein Mosaik. Nicht auf eine griffige Erklärung ist dieses Bemühen daher ausgerichtet, sondern auf behutsame Annäherung– Annäherung an das Unfassbare, Annäherung an das vermeintlich Böse.

Das so genannte Böse fällt nicht vom Himmel. Es kommt auch nicht in der Gestalt des Teufels daher. Das Böse hat meistens eine lange Vorgeschichte. »Das eben ist der Fluch der bösen Tat, dass sie fortzeugend immer Böses muss gebären«, hat schon Friedrich Schiller festgestellt. Dies gilt auch für die Verbrechen Ronny Riekens, deren Grausamkeit die Grenzen menschlicher Vorstellungskraft sprengt. Die Ursachen reichen bis in die frühe Kindheit zurück– seelische Verletzungen, die möglicherweise nie ganz verheilten. In geradezu biblischer Wucht zeigt sich an der Lebensgeschichte des Kindermörders, wie die Sünden des Vaters auf den Sohn kamen. Ronny Rieken sitzt heute in derselben Haftanstalt ein, in der sein Vater einst seine Strafe verbüßte– und zwar für ganz ähnliche Delikte. Es ist nicht entscheidend, ob er tatsächlich von seinem Vater vergewaltigt wurde, wie er sagt. Entscheidend ist das negative Vorbild, das Wilhelm Hyazinthus Rieken seinem Sohn vermittelte. Denn trotz der Schläge und Peinigungen liebte Ronny Rieken seinen Vater. Damit war er offen für die Übernahme der fatalen väterlichen Verhaltensmuster. Der Vater, der ihm im Alter von sechs Jahren durch die Festnahme entrissen wurde, lebte gewissermaßen in seinem Innern fort.

Selbstverständlich folgt daraus kein Automatismus, der am Ende wie im Selbstlauf zu den Kindermorden führt. Nicht eine einzige Wurzel, sondern ein Wurzelgeflecht hat das Unfassbare hervorgebracht. Abgesehen von der wissenschaftlich strittigen Frage der genetischen Vorbelastung war es nicht nur die kriminelle Komponente des Vaters, die Ronny Rieken prägte. Auch seine Mutter hat ihn geprägt. In dem Bestreben, den geliebten Sohn vor dem schädlichen Einfluss des Vaters zu bewahren, erklärte sie die Verbrechen ihres Mannes zum Tabu– und legte damit, ohne es zu wollen, den Grundstein für ein Lügengebäude, in dem Ronny Rieken zeitlebens gefangen blieb. Erst war es der Vater, mit dem er sich nicht offen auseinandersetzen konnte, dann waren es seine eigenen Fantasien, die er vor seiner Umwelt verbergen musste. Schließlich waren es seine Taten, die nicht nach außen dringen durften und ihn in ein Doppelleben flüchten ließen. Und vieles spricht dafür, dass Ronny Rieken deshalb nach außen hin so unverdächtig agieren konnte, weil er den Mord an Ulrike Everts in bewährter Manier erfolgreich aus seinem Bewusstsein tilgte.

Solche Lügengespinste lassen sich nicht einfach abstreifen wie Spinnweben. Bei allem glaubwürdigen Bemühen, mit sich ins Reine zu kommen, neigt Ronny Rieken auch heute noch dazu, die Dinge so zu schildern, wie sie ihm nützlich erscheinen und den äußeren Erwartungen entsprechen. Manche Täuschungsstrategien haben sich möglicherweise so tief in ihm festgesetzt, dass er selbst nicht in der Lage ist, Wahrheit und Erfindung zu unterscheiden.

Daraus ergeben sich für die Lebensgeschichte, die im wesentlichen auf den Schilderungen Ronny Riekens basiert, erhebliche Schwierigkeiten. Was kann man von all dem glauben, das so einer erzählt?

Ich habe mich für zwei Verfahrensweisen entschieden, um das Problem zu entschärfen. Zum einen habe ich die Schilderungen Riekens abgeglichen mit Berichten Dritter (Urteilsbegründung, Angaben der Schwester, eines leitenden Polizeibeamten und eines Psychologen, psychiatrisches Gutachten usw.). Zum anderen habe ich markante Darstellungen und Wertungen Riekens als kursiv gesetzte Einschübe hervorgehoben, um den subjektiven Charakter dieser Aussagen deutlich zu machen. Dabei geht es nicht nur um den Inhalt, sondern auch um die Sprache. In der Art und Weise, wie Ronny Rieken seine Entwicklung, seine Taten und sein seelisches Dilemma artikuliert, charakterisiert er sich selbst. Ebenso aufschlussreich ist, wie sich in der– oftmals widersprüchlichen– Selbstreflexion Riekens dessen inneres Ringen widerspiegelt. Dreh- und Angelpunkt dabei ist immer wieder das zwiespältige Verhältnis zu seiner Mutter.

Die unterschiedlichen Textelemente stehen unkommentiert für sich. Sie sind so ineinandermontiert, dass sie sich wechselseitig erhellen, aber auch relativieren.

1. Ein Mädchen verschwindet

Es ist heiß an diesem 11.Juni 1996, 28Grad im Schatten. Wie üblich ist Ulrike Everts gegen 13Uhr von der Schule nach Hause gekommen, hat ihre Vögel, Fische und Zwergkaninchen gefüttert und dann mit ihren Eltern Mittag gegessen.

Nach dem Mittagessen lässt die dreizehn Jahre alte Realschülerin sich von ihrem Vater zur Ponyweide fahren, die nur zwei Kilometer vom Wohnhaus der Familie entfernt ist. Der Weg von Jeddeloh II, einem Dorf in der Nähe von Oldenburg, zum Wochenendgrundstück in Harbern führt über den Küstenkanal.

Dahinter warten zwei Shetlandponys auf Ulrike. Das Mädchen mit den blonden nackenlangen Haaren spannt Rex und Sonja vor ihre kleine Kutsche, ihr Vater verabschiedet sich. Wubbo Everts muss zurück in seine Firma, einen Handwerksbetrieb für Kältetechnik.

Gegen 15

2.Die Begegnung

Es war noch angenehm kühl, als Ronny Rieken an diesem Tag gegen halb sechs Uhr in der Frühe das Haus verließ. Jonas, sein anderthalb Jahre alter Sohn, die fünf Wochen alte Maren und Gerda, seine Frau, schliefen noch fest. Wie üblich hatte er sich Butterbrote geschmiert und seine Arbeitskluft angelegt, die blaue Latzhose und das karierte Flanellhemd. Alles sollte so aussehen, als fahre er wie gewohnt zur Arbeit. In Wirklichkeit war er der Arbeit schon seit fünf Tagen ferngeblieben. Das war die Rache. Die Rache dafür, dass sein Chef sich geweigert hatte, ihm eine Woche vor Monatsende einen Vorschuss zu zahlen. Dabei hätte er das Geld dringend gebraucht. Eine Autoreparatur hatte den Rest der Familienersparnisse aufgezehrt. Und die Vorräte im Haushalt waren aufgebraucht, so dass der monatliche Großeinkauf fällig geworden war.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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