Rosa Luxemburgs Koffer - Leopold G. Haller - E-Book

Rosa Luxemburgs Koffer E-Book

Leopold G. Haller

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Beschreibung

Eingebettet in reale historische Begebenheiten, begleitet von tatsächlichem ebenso wie kontrafaktischem Tagesgeschehen, fragt Rosa Luxemburgs Koffer: Was wäre wenn … die Heldin der sozialistischen Revolution den Anschlag auf sie überlebt hätte? Nach dem Januaraufstand im Berlin des Jahres 1919 werden Karl Liebknecht und Wilhelm Pieck verschleppt und ermordet – Luxemburg selbst entkommt wie durch ein Wunder und flieht ins Exil. Sie lernt dort James Joyce kennen, kehrt zurück nach Berlin und lässt sich, neben einem gewissen Adolf Hitler, zur Wahl des Reichspräsidenten aufstellen. Ihr Koffer ist derweil auf einer eigenen Reise …

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Für Christiane, Sebastian, Sophie und Heinrich

Die ganze Geschichte – nichts als eine Aneinanderreihung von verpassten Gelegenheiten.

CHINESISCHE WEISHEIT

Inhalt

1. Attentate

2. Ungewissheit

3. Auf dem Sprung

4. Zu neuen Ufern

5. Verteidigung

6. Vorwärts

Epilog

Dokumentenanhang

Nachwort des Verfassers

Literaturverweise

1. Attentate

Berlin, Dienstag, 14. Januar 1919

Mimi springt mit einem herzergreifenden Miauen vom Kanapee auf den Teppich. Instinktiv ist der Katze klar, dass sie sich nun wieder verabschieden muss. Mit leisem Schnurren und hochgestelltem Schwanz tänzelt sie um den Rocksaum ihres Frauchens, das sich tief zu seinem Liebling hinunterbeugt, ihn mit geübtem Griff aufnimmt und liebkost: „Mimichen, ich würde auch gern viel lieber mit dir auf dem Kanapee liegen, aber …“ – „Rosa, bitte, der Wagen wartet doch, hier bist du nicht mehr sicher!“, schallt es aus dem Schlafzimmer. Mit eiligen Schritten, einen kleinen Bastkoffer in der rechten Hand, tritt eine energische Mittvierzigerin mit kurzanliegenden Haaren in den Korridor, bleibt vor Rosa Luxemburg stehen und stellt ihr das Köfferchen an die Seite. Luxemburg lässt ihre Katze sanft und vorsichtig auf den Boden gleiten. „Ja, Mathilde, ich weiß, es eilt, halb Berlin will mich in Stücke schneiden und den Raubtieren zum Fraße vorwerfen, aber die andere Hälfte, die liebt mich und hört mir zu. Mimi ist so traurig, dass ich schon wieder fortmuss …“ – „Rosa, ich bin auch traurig, aber du musst jetzt wirklich gehen, jederzeit kann hier das aufgehetzte Mordgesindel einbrechen und dir nach dem Leben trachten. Ich habe das Notwendigste für ein paar Übernachtungen zusammengepackt. Und auch den zweiten Teil des Faust.“ – „Danke, was würde ich nur ohne dich machen, Mathilde!“, entgegnet Rosa Luxemburg mit unglücklichem gehetztem Blick. Starke Kopfschmerzen lassen ihre Schläfen pochen, die Wangen sind fahl und eingefallen, ihre hochgesteckten Haare nicht erst seit dem letzten Gefängnisaufenthalt in Breslau grau geworden. Nur die braunen Augen, inmitten tiefer Ringe liegend, strahlen wie eh und je ungebrochene Entschlossenheit und Willenskraft aus. „Es ist kalt draußen, nimm deinen warmen Wollmantel und vergiss den Hut nicht. Warte, ich helfe dir in den Mantel! Wo soll’s denn diesmal überhaupt hingehen?“ – „Wilmersdorf. Aber bitte, mehr musst du nicht wissen. Das ist besser so, glaub mir. Ich melde mich!“ Die beiden Frauen umarmen sich zum Abschied. Rosa Luxemburg nimmt ihren Koffer, rückt den Hut zurecht und verlässt die Wohnung. Um ein Haar wäre Mimi mit hinausgeschlüpft, hätte nicht Mathilde Jacob aufgepasst und den blitzschnellen samtpfotigen Stubentiger geistesgegenwärtig mit einer energischen Handbewegung in die Wohnung gescheucht. Bei einem Abendspaziergang hatten sie das junge Kätzchen damals arg zerbissen und blutend an einer Seitenstraße liegend gefunden. Luxemburg entschied ohne Zögern, das halbtote Tier nicht einfach seinem Schicksal zu überlassen, sondern es mitzunehmen und gesund zu pflegen.

Draußen dämmert es bereits. Der Himmel ist leicht bewölkt, die Temperatur schwankt um den Gefrierpunkt. In einer angrenzenden Seitenstraße wartet ein unauffälliger Lieferwagen, der heute nur einen einzigen, wenn auch viel zu gefährlichen Zwischenstopp von Neukölln kommend gemacht hat. Aus Sicherheitsgründen hat Rosa Luxemburg ihre Wohnung schon vor Tagen fluchtartig verlassen müssen. Mordaufrufe machen öffentlich die Runde, und eine hohe Kopfprämie ist auf ihre Ergreifung ausgesetzt. Selbst die sozialdemokratische Zeitung Vorwärts beteiligt sich an der Hetze:

Vielhundert Tote in einer Reih’,

Proletarier! Karl, Rosa, Radek und Kumpanei,

es ist keiner dabei, es ist keiner dabei!

Proletarier!

„Zustände schlimmer als im Wilden Westen – und das mitten in Berlin!“, hat sie noch gespottet. In diesen Wochen ist sie immer wieder bei zuverlässigen Genossen in verschiedenen konspirativen Unterkünften abgetaucht und bewegt sich möglichst unauffällig in Lieferwagen durch die aufgewühlte Stadt.

Im Inneren des vollbeladenen Bäckereiautos sitzt wartend Karl Liebknecht auf dem Rücksitz, nervös an seiner Zigarette ziehend. Rosa Luxemburg nickt ihm schweigend zu und setzt sich wieder auf den freien Platz neben ihm, nachdem ihr Fahrer den Koffer zwischen Brotkisten und abgepacktem Kuchen verstaut hat. Im Hauptberuf liefert er die Backwaren an kleine Bäckereien in ganz Berlin aus – wenn er nicht gerade die Führung des Spartakusbundes möglichst unauffällig durch die Stadt chauffiert. „Wo soll’s denn nu hinjehn?“, will er, ein vertrauenswürdiger Genosse, wissen. „Ja, jetzt weiter nach Wilmersdorf, Mannheimer Straße 43, bitte.“ – „Allet klar, auf jeht’s!“ Mit lautem Knattern setzt sich der Kraftwagen in Bewegung.

In der Mannheimer Straße angekommen, bemerken Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht nicht, wie sie beim Aussteigen von einer Gruppe bewaffneter Männer beobachtet werden. In helle Aufregung versetzt den Trupp der Abgleich der kleinen, etwas humpelnden Frau und des bebrillten, zigarettenrauchenden Mannes mit den bebilderten Steckbriefen, die sie in diesen Tagen immer mit sich führen. Schließlich müssen sie ihren Stadtteil von Vaterlandsverrätern und Spartakisten-Gesindel freihalten, das sind sie sich und den anderen ordnungsliebenden Anwohnern als Wilmersdorfer Bürgerwehr schuldig. „Kiek mal, det is se doch, die Luxemburg, die rote Schlampe, und der Liebknecht, Dreckskerl!“

Wanda Marcusson, eine Freundin von Luxemburg, begrüßt ihre Gäste herzlich an der Haustür, nimmt die Koffer entgegen und führt beide in die gute Stube. Dort werden die Neuankömmlinge vom Rest der Familie, Ehemann Siegfried, der Mitglied im Arbeiter- und Soldatenrat von Wilmersdorf ist, und Sohn Erwin, ebenfalls willkommen geheißen. Wanda Marcusson hat schon Teller mit belegten Broten, eine Schale eingelegter Gurken und eine große Kanne Tee vorbereitet. „Leider habe ich nur Kräutertee aus dem eigenen Gärtchen, es gibt in den Geschäften nun schon lange keinen schwarzen Tee mehr wie vor dem Krieg.“ – „Ja, vielen Dank“, erwidert Rosa Luxemburg, „ich trinke sehr gern eine Tasse heißen Kräutertee. Die Engländer werden uns ja nicht ewig blockieren können, dann gibt’s auch wieder Darjeelingtee oder sogar richtigen Kaffee. Und Hunger wie ein Wolf habe ich auch. Was ist mit dir, Karl?“ Ausgehungert blickt Liebknecht auf den gedeckten Tisch, nickt müde und nimmt ebenfalls Platz.

Die beiden Verfolgten, seit vielen Jahren führende Köpfe der sozialistischen Bewegung in Deutschland und Europa und bekannte Kriegsgegner, sind – als sie jetzt erschöpft, übermüdet und abgehetzt am Tisch einer weiteren konspirativen Wohnung sitzen – an einem Wendepunkt ihres Lebens angekommen. Niemand in der mächtigen deutschen Sozialdemokratie, deren Mitglieder die beiden viele Jahre lang gewesen waren, hätte in der Zeit vor dem Krieg geahnt, dass die politische Lage sich einmal so dramatisch zuspitzen würde. Die SPD, seit 1912 stärkste Partei im Deutschen Reichstag, und die eng mit ihr verbündeten Gewerkschaften befanden sich einst in fundamentaler Opposition zum preußisch-deutschen Junker- und Industriellenstaat. Ihr Wahlspruch:

Diesem System keinen Mann und keinen Groschen!

vom damaligen Parteivorsitzenden August Bebel verkündet, war ihnen mit den Jahren schleichend abhandengekommen. Reform oder Revolution? ist nun das beherrschende Thema, der Wechsel des politischen Systems im Deutschen Reich soll, wenn es nach Eduard Bernstein und seinen Anhängern geht, nur mehr organisch und Schritt für Schritt erfolgen. Der Sozialismus würde wie ein Krebsgeschwür langsam und friedlich durch Reformen und Zugeständnisse der Herrschenden in den Kapitalismus hineinwachsen und ihn so zwangsläufig ins historische Jenseits befördern. Klassenkampf und Revolution könnten derweil in die Ferien geschickt werden, so die Überzeugung der sozialdemokratischen Reformisten.

Dieser grundlegende Kurswechsel zur marxistischen Theorie und Programmatik der alten SPD aber wird von Anfang an heftig bekämpft von einer innerparteilich kleinen Schar linker Politiker wie Liebknecht und Luxemburg. Sie verkündet im September 1913 in Frankfurt-Bockenheim:

Wenn uns zugemutet wird, die Mordwaffen gegen unsere französischen oder anderen ausländischen Brüder zu erheben, so erklären wir: „Nein, das tun wir nicht!“

Die SPD wechselt im Sommer 1914 sehr schnell mit fliegenden Fahnen und Jubelgeschrei auf die Seite der nationalistischen Kriegsbefürworter: Für einen vermeintlich kurzen Ausflug nach Paris und die Befreiung Russlands vom Joch des Zarismus. Schließlich will doch sogar der ein Jahr vor Kriegsbeginn verstorbene August Bebel als alter Knabe die Flinte auf den Buckel nehmen und in den Krieg gegen Russland ziehen. Der Kampf im Parlament ersetzt weitgehend den Kampf auf der Straße und in den Fabriken um die Köpfe und Herzen des Proletariats. Immer wieder werden in den Jahren vor Kriegsbeginn außerparlamentarische Aktionen und Gelegenheiten zu Massenstreiks von Partei- und Gewerkschaftsführung abgeschwächt oder gar verhindert. Die organisatorische Kraft der SPD und der Gewerkschaften hätte 1914 allemal ausgereicht, da sind sich Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht sicher, durch eine Mobilisierung der organisierten Arbeiterschaft, großangelegte Antikriegsaktionen und anhaltende konsequente Massenstreiks in den Rüstungsbetrieben den aufziehenden Weltkrieg zu verhindern. Und da gibt es auch noch die Sozialistische Internationale. Mit den anderen verbündeten europäischen Arbeiterparteien aus Frankreich, England, Belgien, den Niederlanden und vielen anderen Ländern müsste sich doch der große Krieg um die imperialistische Neuaufteilung der Welt verhindern lassen:

Und ebenso besteht die einzige wirkliche Garantie des Friedens für Deutschland wie für Frankreich darin, ohne Verzug mit aller Energie die latente Macht des Proletariats in Bewegung zu setzen, eine so nachdrückliche Massenaktion gegen den Krieg zu organisieren, dass die lauen „Friedenswünsche“ der Regierungen in einen heißen Schreck vor den unabsehbaren Konsequenzen eines Krieges gewandelt werden.

Die Geschichte geht indessen einen anderen Weg. In den Augen von Luxemburg und Liebknecht hat die SPD welthistorisch versagt, der internationale Sozialismus seine bisher wichtigste Prüfung nicht bestanden, nämlich den Frieden zu sichern. Die deutsche Reichswehr fällt gleich zu Kriegsbeginn mit der Unterstützung der SPD ins neutrale Belgien ein – besetzt dabei kurzerhand auch Brüssel, den Sitz der Sozialistischen Internationalen.

Im Reichstag billigen die sozialdemokratischen Abgeordneten die Kredite für den imperialistischen Krieg zunächst einstimmig unter Fraktionszwang. Kaiser Wilhelm II. kennt plötzlich keine Parteien mehr, nur noch Deutsche. Lediglich Karl Liebknecht wagt es am 2. Dezember 1914 als erster und bis dahin einziger Abgeordneter der deutschen Sozialdemokratie – und des gesamten Parlamentes –, unter Missachtung des Fraktionszwanges, gegen weitere Kriegskredite zu stimmen. Von nun an gilt auch für die frühere Friedenspartei SPD: Jeder Schuß ein Ruß’ – jeder Stoß ein Franzos’! Vergessen die Zeiten, in denen man sich nicht vorstellen konnte, den Klassenbrüdern jenseits der eigenen Grenzen Gewalt anzutun. Schließlich wollte man doch einmal mit ihnen gemeinsam in naher Zukunft eine humane, sozialistische Weltgemeinschaft aufbauen. Herausgekommen ist das:

Proletarier aller Länder, vereinigt Euch im Frieden, und schneidet Euch die Gurgel ab im Kriege!

Rosa Luxemburg vermerkt im April 1915 frustriert:

Hier erweist sich aber auch der heutige Weltkrieg nicht bloß als ein grandioser Mord, sondern auch als Selbstmord der europäischen Arbeiterklasse. Es sind ja die Soldaten des Sozialismus, die Proletarier Englands, Frankreichs, Deutschlands, Russlands, Belgiens selbst, die einander auf Geheiß des Kapitals seit Monaten abschlachten, einander das kalte Mordeisen ins Herz stoßen, einander mit tödlichen Armen umklammernd, zusammen ins Grab hinabtaumeln.

Je länger der Krieg dauert und je mehr militärische, zivile und moralische Opfer er fordert, desto mehr schwindet die anfängliche Euphorie für ihn in der Gesellschaft. Die antimilitaristische Opposition in Deutschland wächst stark an, Streiks und Demonstrationen nehmen erheblich zu. Eine Mehrheit der SPD mit Friedrich Ebert, Philipp Scheidemann und Gustav Noske unterstützt den Kriegskurs des Kaisers und seiner Generalität weiterhin, innerparteiliche Gegner dieser Politik, wie Liebknecht und Luxemburg, werden ausgegrenzt, zunehmend politisch kaltgestellt, aus der Partei ausgeschlossen und später sogar für Jahre inhaftiert. Die trotzdem immer stärker werdende Gemeinschaft aus linken Kriegsgegnern um Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg, Clara Zetkin, Franz Mehring, Ernst Meyer, Leo Jogiches, Wilhelm Pieck, Käte Duncker und Hugo Eberlein muss sich neu organisieren und gründet so schließlich Anfang 1916 die Spartakusgruppe. Diese muss wegen kriegsbedingter Repressalien äußerst konspirativ arbeiten, so etwa unter dem Deckmantel einer Baugenossenschaft Ideal. Die SPD wird für die Gruppe immer mehr von einem alten Gichtonkel, der sich vor jedem Luftzug fürchtet, zu einem Haufen organisierter Verwesung, an dessen Liquidierung sie sich zu beteiligen hätten.

Rosa Luxemburg wird im Februar 1916 aus dem Gefängnis entlassen. Gesundheitlich stark angeschlagen, schließt sie sich aber sofort der Spartakusgruppe an. Bereits im Juli sperrt man sie wieder ein und nimmt sie in Schutzhaft, die sie selbst finanzieren muss. Das Gefängnis soll Rosa Luxemburg erst am 9. November 1918 wieder verlassen. Im Juni 1916 wird Karl Liebknecht zu zweieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt. Ihr beider Verbrechen besteht darin, gegen den Krieg agitiert zu haben.

Die Spaltung der SPD geht im April 1917 mit der Gründung der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei (USPD) mit Karl Kautsky, Eduard Bernstein, Hugo Haase und bald einhunderstsiebzigtausend Mitgliedern weiter. Unter Wahrung ihrer politischen Selbständigkeit und des Rechts auf organisatorische Eigenständigkeit schließt sich die Spartakusgruppe den Unabhängigen an. Der Zusammenschluss steht unter dem Motto:

Wir sind mit Euch, wenn Ihr ernstlich kämpft. Wir werden ohne Euch handeln, wo Ihr versagt, wir werden gegen Euch sein, wenn Ihr Eure Pflicht vernachlässigt.

Weil auch die Unabhängigen in der Frage Krieg und Frieden, Reform oder Revolution? schwanken und mit immer wieder wechselnden Positionen auftreten, erscheint für die Spartakisten eine Mitgliedschaft in der USPD im Laufe des Jahres 1918 nicht weiter möglich. Lange und intensiv war diskutiert worden, um eine erneute Spaltung der organisierten Arbeiterschaft Deutschlands zu verhindern. Ende 1918 verfestigt sich die Unvereinbarkeit der Positionen hinsichtlich des weiteren Verlaufs der gesellschaftlichen Entwicklung. Der Weltkrieg ist nach nunmehr vier Jahren seit November zu Ende und die Hohenzollernmonarchie ist es auch. In Deutschland herrscht Revolution, die in Russland bereits ein Jahr zuvor ausgebrochen und gegen alle Widerstände und Voraussagen immer noch nicht zusammengebrochen ist. In Berlin wird Ende 1918 eine neue Partei, die Kommunistische Partei Deutschlands, ins Leben gerufen. Rosa Luxemburgs Vorschlag, die Partei besser als sozialistisch zu bezeichnen, weil ihre Aufgabe doch der Kampf für den Sozialismus und nicht für einen noch ganz fernen Kommunismus sei, verwirft die Mehrheit der anwesenden Delegierten.

Also ist Anfang 1919 die vormals in der starken und stolzen SPD vereinte Arbeiterbewegung in Deutschland – einst selbst aus verschiedenen Strömungen hervorgegangen – in drei Parteien mit sehr unterschiedlichen, sich widersprechenden Zielen organisiert und tief gespalten.

Der Berliner Polizeipräsident Emil Eichhorn, der USPD angehörig, wird am 4. Januar vom preußischen Innenminister Paul Hirsch, SPD, entlassen. Das führt am folgenden Tag zu Massendemonstrationen und zum Beginn des Aufstandes bewaffneter Arbeiter in der ganzen Stadt. Die Mehrheitssozialdemokraten verbünden sich daraufhin mit Teilen der alten Reichswehr, beordern diese nach Berlin, um Ruhe und Ordnung wiederherzustellen – gegen ihre ehemaligen Parteigenossen und Mitkämpfer. Rosa Luxemburg schreibt dazu in der Roten Fahne, der Zeitung des ehemaligen Spartakusbundes, jetzt das Presseorgan der vor zwei Wochen gegründeten KPD:

Die wunde Stelle der revolutionären Sache in diesem Augenblick, die politische Unreife der Soldatenmasse, die sich immer noch von ihren Offizieren zu volksfeindlichen gegenrevolutionären Zwecken missbrauchen lässt, ist allein schon ein Beweis dafür, dass ein dauernder Sieg der Revolution bei diesem Zusammenstoß nicht möglich war. Andererseits ist diese Unreife des Militärs selbst nur ein Symptom der allgemeinen Unreife der deutschen Revolution.

Die beiden Gäste der Marcussons haben inzwischen ihre Teller komplett geleert. „Möchtet ihr mehr Tee? Ich koche gern noch welchen. Es gibt auch eingeweckten Apfelkompott!“, ruft Frau Marcusson aus der Küche. Das lassen sich Luxemburg und Liebknecht nicht zweimal sagen. Nachdem auch der Nachtisch beendet ist, seufzt Rosa Luxemburg melancholisch:

Ach, Karl, warum spielt das Leben mit mir ewiges Haschen? Mir scheint es immer, dass es nicht in mir, nicht dort ist, wo ich bin, sondern irgendwo weit weg.

Berlin, Mittwoch, 15. Januar 1919

Den ganzen Tag lang verlassen Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg die Wohnung der Marcussons nicht. Besuch von anderen Genossen ist bisher ausgeblieben, kaum jemand kennt ihren jetzigen Aufenthaltsort. In der Roten Fahne sind im letzten Monat die politischen Forderungen des Spartakusbundes veröffentlicht worden:

Die gesamte Polizei, sämtliche Offiziere sowie alle nichtproletarischen Soldaten sollen entwaffnet werden, außerdem Beschlagnahmung aller Waffen- und Munitionsbestände sowie der Rüstungsbetriebe durch Arbeiter- und Soldatenräte. Die gesamte erwachsene männliche proletarische Bevölkerung soll als Arbeitermiliz bewaffnet werden, Bildung einer Roten Garde aus Proletariern als aktivem Teil der Miliz zum ständigen Schutz der Revolution vor gegenrevolutionären Anschlägen und Anstiftungen. Alle deutschen Einzelstaaten will man abschaffen und eine einheitliche deutsche sozialistische Republik bilden. Parlamente und Gemeinderäte werden aufgelöst und ihre Funktionen durch Arbeiter- und Soldatenräte sowie deren Ausschüsse und Organe übernommen. Eine Wahl von Arbeiterräten über ganz Deutschland durch die gesamte erwachsene Arbeiterschaft beider Geschlechter in Stadt und Land soll erfolgen. Vermögen von Adelsfamilien werden konfisziert und der Allgemeinheit zugeführt. Enteignung von Grund und Boden aller landwirtschaftlichen Groß- und Mittelbetriebe, Bildung sozialistischer landwirtschaftlicher Genossenschaften unter einheitlicher zentraler Leitung im gesamten Deutschen Reich. Bäuerliche Kleinbetriebe bleiben im Besitz ihrer Inhaber bis zu deren freiwilligem Anschluss an die sozialistischen Genossenschaften. Enteignung aller Banken, Bergwerke, Verhüttungsbetriebe sowie aller Großbetriebe in Industrie und Handel durch die Räterepublik. Außerdem sofortige Aufnahme der Verbindungen mit den Bruderparteien des Auslandes, um die sozialistische Revolution auf eine internationale Basis zu stellen und den Frieden durch die internationale Verbrüderung und revolutionäre Erhebung des Weltproletariats zu gestalten und zu sichern.

Und weiter heißt es in der Roten Fahne vom 14. Dezember:

Die proletarische Revolution bedarf für ihre Ziele keines Terrors, sie hasst und verabscheut den Menschenmord. Sie bedarf dieser Kampfmittel nicht, weil sie nicht Individuen, sondern Institutionen bekämpft, weil sie nicht mit naiven Illusionen in die Arena tritt, deren Enttäuschung sie blutig zu rächen hätte. Sie ist kein verzweifelter Versuch einer Minderheit, die Welt mit Gewalt nach ihrem Ideal zu modeln, sondern die Aktion der großen Millionenmasse des Volkes, die berufen ist, die geschichtliche Mission zu erfüllen und die geschichtliche Notwendigkeit in Wirklichkeit umzusetzen. Der Spartakusbund wird nie anders die Regierungsgewalt übernehmen als durch den klaren, unzweideutigen Willen der großen Mehrheit der proletarischen Masse in Deutschland, nie anders als kraft ihrer bewussten Zustimmung zu den Ansichten, Zielen und Kampfmethoden des Spartakusbundes.

Gestern noch hat Liebknecht einen Artikel verfasst. Mit Trotz alledem! ist er überschrieben und heute in der Parteizeitung erschienen. Er bewertet darin die bitteren Erfahrungen der letzten Wochen. Siegfried Marcusson hatte ihn abends noch in die Redaktion gebracht:

Noch ist der Golgathaweg der deutschen Arbeiterklasse nicht beendet – aber der Tag der Erlösung naht. Der Tag des Gerichts für die Ebert-Scheidemann-Noske und für die kapitalistischen Machthaber, die sich noch heute hinter ihnen verstecken. Himmelhoch schlagen die Wogen der Ereignisse – wir sind es gewohnt, vom Gipfel in die Tiefe geschleudert zu werden. Aber unser Schiff zieht seinen geraden Kurs fest und stolz dahin bis zum Ziel.

Und ob wir dann noch leben werden, wenn es erreicht wird – leben wird unser Programm; es wird die Welt der erlösten Menschheit beherrschen. Trotz alledem!

Lange erörtern beide, wie man in der jetzigen, politisch völlig verfahrenen und lebensgefährlichen Situation die weitere Herausgabe der Roten Fahne organisieren und ihre Verteilung sicherstellen könne. Die Zeitung ist momentan das einzige Sprachrohr der Partei nach außen, öffentliche Versammlungen sind schon lange nicht mehr möglich, seit Freikorps der Reichswehr, die zum Schutz der Ostgrenze gegen polnische Übergriffe gegründet worden waren, in Berlin alles zusammenschießen, was nach Widerstand aussieht. Gerufen hat sie der SPD-Mann Gustav Noske, im neuen Rat der Volksbeauftragten zuständig für Heer und Marine. Ohne die Rote Fahne, deren Schriftleitung Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht innehaben, gibt es keine Verbindung zu den Aufständischen auf den Straßen Berlins und anderswo im Land.

Um 19 Uhr pocht es energisch an die Wohnungstür der Marcussons. Große Erleichterung, es ist Wilhelm Pieck, ein Freund und Mitkämpfer. „Karl“, ruft er schon an der Zimmertür, „ich habe dir deine Zigaretten mitgebracht!“ Nach einem kurzen Moment des Erstaunens brechen alle in Heiterkeit aus. „Na, Willi“, prustet Rosa Luxemburg mit einem Seitenblick auf Liebknecht los, „dann ist die Revolution ja jetzt gerettet – wenigstens in Wilmersdorf!“ Pieck setzt sich zu den beiden an den Tisch, grinst breit übers ganze Gesicht und legt drei Päckchen Zigaretten, zwei gefälschte Ausweispapiere und einen Packen Manuskripte für die Rote Fahne zur Abstimmung auf den Tisch. „Die werden euch noch gute Dienste leisten!“, freut sich Pieck. „Was denn, die Zigaretten – ganz sicher!“, schmunzelt Liebknecht. Jetzt wieder sehr ernst, betrachtet Wilhelm Pieck seine beiden erschöpften, übernächtigten Genossen: „Warum um alles in der Welt geht ihr nicht ins Ausland, hier seid ihr in Lebensgefahr, das muss euch doch klar sein! Wie lange wollt ihr euch noch verstecken?“ – „Willi, darüber haben wir doch jetzt schon so oft gesprochen“, entgegnet Liebknecht gereizt. „Wie sollen wir die Arbeiter mobilisieren, wie sollen wir die Rote Fahne herausbringen – aus dem Ausland? Nein, die Revolution braucht uns jetzt und hier – mitten in Berlin!“ – „Ihr wisst aber schon, dass der Genosse Lenin 1917 auch …“, setzt Pieck entgegen, kann seinen Satz aber nicht beenden. „Steckrübensuppe – und mit einer großen Rinderbeinscheibe gekocht … Ich war heute Morgen die Zweite in der Schlange beim Metzger und habe tatsächlich noch eine erwischt“, verkündet Frau Marcusson stolz. Aus der Küche trägt sie für ihre drei Gäste eine dampfende Terrine auf.

Um 21:30 Uhr klingelt es erneut. Herein stürmt diesmal ein Trupp von fünf Soldaten unter dem Kommando Leutnant Lindners, angeführt vom ortskundigen Gastwirt Mehring von der Wilmersdorfer Bürgerwehr. Sie wollen Luxemburg und Liebknecht festnehmen und ins Hauptquartier der Garde-Kavallerie-Schützen-Division bringen, das sich aktuell im Hotel Eden befindet. Karl Liebknecht verweist auf seinen Pass, er sei gar nicht der, den die Herren suchen würden, und auch die Dame – bereits zu Bett gegangen – sei mitnichten: wer? Rasch werden die Steckbriefe von den Soldaten hervorgeholt, Rosa Luxemburg wird geweckt, Pässe und Aussehen der Personen abgeglichen. Luxemburgs leicht schleppender Gang, allseits bekannt, wird bemerkt, und die von Wilhelm Pieck überbrachten Pässe entlarvt man nach eingehender Prüfung als Fälschungen – und dann liegen da noch die Manuskripte für die Rote Fahne auf dem Tisch … Liebknecht wird als Erster aus der Wohnung gebracht und unter Bewachung bei strömendem, kaltem Winterregen in ein bereitstehendes Auto gesetzt. Danach folgen Rosa Luxemburg und Wilhelm Pieck in einem zweiten Wagen. Luxemburg schafft es gerade noch, ihren Koffer mitzunehmen.

An der Ecke Kurfürsten-/Budapester Straße hält der Wagen mit Rosa Luxemburg und Wilhelm Pieck. Sie werden ins nahe Hotel Eden gebracht, das derzeitige Stabsquartier der Garde-Kavallerie-Schützen-Division. Unter wüsten Beschimpfungen und handgreiflichen Tätlichkeiten der zahlreichen im Hotel untergebrachten Freikorpssoldaten trennt man die beiden. Pieck wird unter Bewachung an einen Pfeiler im Erdgeschoss gestellt und Luxemburg in den ersten Stock gebracht, wo sie ebenfalls unter Bewachung in einem geräumigen Hotelzimmer einquartiert wird.

Hauptmann Ernst Julius Waldemar Pabst, Befehlshaber der Freikorps im Eden, ist Erster Generalstabsoffizier der Garde-Kavallerie-Schützen-Division, zu der die Marinebrigaden Ehrhardt und Loewenfeld sowie das Regiment Reinhard gehören. Pabst ist Weltkriegsteilnehmer und ab 1916 im Generalstab tätig, und er ist wirklich überrascht, wer ihm da heute ins Netz gegangen ist. Nun wird es also an ihm sein, zu richten.

Mit Luxemburg und Liebknecht sind die prominentesten Führungspersonen der so verhassten radikalen Linken in seiner Gewalt. Sie dürfen auf gar keinen Fall davonkommen. Das Vaterland ist in Gefahr! Es droht ein bolschewistischer Umsturz wie in Russland, wenn der Aufruhr dieser Spartakistenbande nicht radikal niedergeschlagen wird! Allerdings, auch er ist trotz seiner gehobenen Position nur ein Rädchen im Getriebe und ein Teil der Befehlskette. Melden macht frei!, also lässt er sich von seinem Adjutanten eine Telefonverbindung zu Gustav Noske herstellen, die nach einigen Minuten auch zustande kommt.

Nur teilweise mit dem Ergebnis des etwa zehnminütigen Gesprächs mit Noske zufrieden, legt Pabst den Hörer wieder auf die Gabel. „Diese feinen Herren Sozialdemokraten glauben doch jetzt tatsächlich, etwas Besseres zu sein, nur weil sie der Krieg aus der Gosse nach oben gespült hat, pfui Teufel!“, ereifert sich Pabst gegenüber seinem Adjutanten, der pflichtschuldig mit „Jawoll, Herr Hauptmann!“ salutiert. Zwar hat Noske ihm, Pabst, für sein Vorhaben freie Hand gegeben, aber mit den Details und der weiteren Ausführung will sich der bessere Herr vom Rat der Volksbeauftragten nicht die Hände schmutzig machen. Die Drecksarbeit muss also er mit seinen Kameraden erledigen. Wie immer!

Nach dem Telefongespräch mit Pabst erhebt sich Gustav Noske von seinem Schreibtisch und macht es sich in einem Ledersessel bequem. Er nimmt eine Zigarre aus dem vor ihm stehenden fast leeren Kasten, zündet sie, nachdem er die Spitze fein säuberlich gekappt hat, an und bläst den Rauch gedankenversunken in die Weite seines Arbeitszimmers. Seit vielen Jahren kennt er Luxemburg und Liebknecht nun schon aus der gemeinsamen Parteiarbeit. Meistens hatte man sich gegenseitig heftig bekämpft, er auf der Seite der Reformisten, auf der Seite der Verteidiger des Vaterlandes und vehementer Gegner des russischen Bolschewismus. Die beiden gegen den vaterländischen Krieg, für Revolution, Aufruhr und Unordnung. Luxemburg und Liebknecht hatten sich in seinen Augen immer weiter radikalisiert, wollen alles umstürzen, was ihm heilig und wert ist. Und jetzt der Bürgerkrieg, die gewaltsamen Unruhen. Die Lage steht auf Messers Schneide und kann jederzeit in die falsche Richtung kippen. „Einer muss den Bluthund geben, ich scheue die Verantwortung nicht …“, murmelt er verbissen in seinen Schnäuzer und rückt dabei seine verrutschte Brille wieder zurecht. Es muss sein, daran hat er nicht den geringsten Zweifel. Aber auch er braucht Rückendeckung für diese Entscheidung, von oben, von ganz oben. Er drückt den Rest der Zigarre in einem riesigen Messingaschenbecher aus, setzt sich wieder an seinen Schreibtisch und wählt eine ihm sehr geläufige Telefonnummer. Es dauert eine Weile, dann meldet sich auf der anderen Seite der Leitung eine heisere, übermüdet klingende Stimme: „Ja, Ebert hier, was gibt’s?“

Nach kurzer Zeit wird Rosa Luxemburg aus ihrem Hotelzimmer geholt, erneut abgeführt und auf eine Bank vor das Büro von Waldemar Pabst gesetzt. Sie öffnet ihren Koffer und nimmt den Faust heraus, zur Ablenkung und Beruhigung der Nerven:

Wie tobt’s in diesen wilden Tagen!

Ein jeder schlägt und wird erschlagen,

Und fürs Kommando bleibt man taub.

Der Bürger hinter seinen Mauern,

Der Ritter auf dem Felsennest

Verschwuren sich, uns auszudauern,

Und halten ihre Kräfte fest.

Der Mietsoldat wird ungeduldig,

Mit Ungestüm verlangt er seinen Lohn,

Und wären wir ihm nichts mehr schuldig,

Er liefe ganz und gar davon.

Verbiete wer, was alle wollten,

Der hat ins Wespennest gestört;

Das Reich, das sie beschützen sollten,

Es liegt geplündert und verheert.

Man lässt ihr Toben wütend hausen,

Schon ist die halbe Welt vertan …

Ach, hört denn dieses gegenseitige Abschlachten, diese Gewalt nie auf? Doch, das muss es, das wird es! Dazu ist aber der Sozialismus nötig, der die Grundlagen für diese Gemetzel beseitigen wird. Eine Gesellschaft ohne Ausbeutung der einen Klasse durch die Herrschenden, die Besitzenden. Eine Gesellschaft ohne Krieg!

Ich möchte alle Leiden, alle verborgenen, bitteren Tränen den Satten auf ihr Gewissen laden, ihnen alles mit schrecklicher Rache heimzahlen. Für diejenigen fordere ich Strafe, die heute satt sind, die in Wollust leben, die nicht wissen, nicht fühlen, unter welchen Qualen Millionen ihr Brot verdienen.

Abrupt aus ihren Gedanken gerissen, öffnet sich die Tür von Pabsts Quartier. Zwei Soldaten führen Karl Liebknecht, der bereits vernommen worden ist, den Flur entlang in Richtung Treppe. Ihre Blicke treffen sich für einen kurzen Augenblick: „Karl, was …?“ Aber bevor ein Gespräch zustande kommt, stoßen die Soldaten Liebknecht vor sich her und zerren ihn die Treppe hinunter.

Jetzt wird Rosa Luxemburg von Pabst verhört. „Sind Sie Frau Rosa Luxemburg?“ – „Wer will das wissen?“ – „Ihre Frechheiten können Sie für sich behalten! Wir haben jetzt die Macht im Staat, nicht Sie und Ihre erbärmlichen Bundesgenossen, Frau Luxemburg!“ – „Die Geschichte wird schon bald das Gegenteil beweisen.“ – „Gott bewahre! Weitere Fragen werden Sie ja wohl sowieso nicht beantworten …“ – „Wohin werde ich nun gebracht?“

Das kurze Gespräch mit Pabst ist beendet. Rosa Luxemburg soll ins Moabiter Frauengefängnis eingeliefert werden – hat man ihr gesagt. Sie wird durch einen Nebenausgang in der Kurfürstenstraße aus dem Hotel geführt. Den Faust hat sie wieder in ihren Koffer gepackt, das Lesezeichen hastig irgendwo hinten zwischen die Seiten geschoben. Draußen wird sie plötzlich von einem Soldaten mit dem Gewehrkolben niedergeschlagen. Ihren Koffer befördert man mit einem derben Stiefeltritt in die nahen Grünanlagen. Stark aus einer Platzwunde am Kopf blutend und halb bewusstlos, zerren zwei Soldaten Rosa Luxemburg in ein bereitstehendes Auto, das sich sofort in Bewegung setzt. Plötzlich stoppt der Wagen nach kurzer Fahrt. Luxemburg nimmt durch den Nebel in ihrem Kopf laute Männerstimmen wahr, die sich in harschem Militärjargon Befehle hin und her schreien. Eine Minute lang ist es still, dann fallen Schüsse.

Kurz vor Mitternacht verlässt Sophie Gründer durch den gleichen Nebenausgang wie Rosa Luxemburg das Hotel Eden. Aufgewühlt bleibt die junge Frau nach einigen Schritten stehen und atmet tief die kalte Nachtluft ein. Sie braucht den kargen Lohn, den sie hier als Zimmermädchen verdient, dringend. Ihr Verlobter ist aus dem Krieg bisher nicht nach Hause zurückgekehrt, seit Wochen hat sie nichts mehr von ihm gehört, die Mutter hat es auf der Lunge. Aber diese ständigen Belästigungen und Übergriffe der vielen Soldaten im Hotel, das verkraftet sie nicht länger, sie ist doch schließlich keine Straßendirne. „Mädchen, jetzt stell dir mal nich so an, davon is noch keene jestorben“, war der einzige Kommentar ihres Chefs, als sie ihren ganzen Mut zusammengenommen hatte, sich zu beschweren. „Hättste ma besser jelassen, det Beschwern“, war die Meinung ihrer besten Freundin Louise, „am Ende entlassen se dir noch, denn stehste da.“

Inmitten dieser Gedanken fällt ihr Blick auf einen Gegenstand im Gebüsch. Vorsichtig klaubt sie den kleinen Koffer aus dem dornigen Strauch. „Wie kommt denn so was hier in die Beete?“, murmelt sie. Die junge Frau schaut sich um: kein Mensch weit und breit zu sehen. Schnell schnappen die beiden Verschlüsse auf: Blusen, Frauenunterwäsche, ein Kulturbeutel, ein Buch Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Der Tragödie zweiter Teil. Sie verschließt den kleinen Koffer und nimmt ihn an sich. Gleich morgen will sie ihn im Fundbüro abgeben. Vielleicht meldet sich jemand, und sie bekommt einen Finderlohn.

Berlin, Donnerstag, 16. Januar 1919

Große Freude in der kleinen Hinterhofmansarde im Wedding: Heinrich ist wieder da! Sophie Gründer ist außer sich vor Freude. Ihr Verlobter Heinrich Schmidt, aus englischer Gefangenschaft in Belgien entlassen, ist ganz unversehrt zurückgekommen – und jetzt in ihren Armen. Die beiden werden in den nächsten Tagen kaum die Wohnung verlassen, vergessen ist der Gang zum Fundbüro mit dem kleinen Koffer.

Am frühen Nachmittag zieht leichter kalter Regen auf. Nur wenige Berliner sind bei diesem Wetter in der Stadt unterwegs. Eine Gruppe Straßenkinder, denen auch diese Wetterlage immer noch lieber ist, als den Tag mit der ganzen Familie zusammengepfercht in der engen Mietskaserne zu verbringen, treibt sich am Halleschen Tor herum. Man rezitiert den neuesten Gassenhauer, wenn auch ein paar Wochen nach der Zeit. Der kleine Emil kann alle beiden Strophen auswendig und fast fehlerfrei hersagen:

O Tannenbaum, o Tannenbaum,

Der Kaiser hat in’ Sack jehaun!

Da kooft er sich ’nen Henkelmann

Und fängt bei Krupp als Dreher an.

O Tannenbaum, o Tannenbaum,

Der Kaiser hat in’ Sack jehaun!

O Tannenbaum, o Tannenbaum,

Der Wilhelm hat in’ Sack jehaun!

Auguste muss Kartoffeln stehln,

Der Kronprinz muss Granaten drehn.

O Tannenbaum, o Tannenbaum,

Der Wilhelm hat in’ Sack jehaun!

Hauptwachtmeister Friedrich Karsulke hört diese Spottverse auf die kaiserliche Familie gar nicht gern, aber bevor er die Kinder wegen Majestätsbeleidigung dingfest machen kann, sind sie ihm auch schon entwischt, diese kleinen nichtsnutzigen Rotzlümmel.

August, der etwa zwölfjährige Zeitungsjunge, kurz geschoren, zu klein für sein Alter und mager, bietet den hastig vorbeieilenden Passanten laut rufend die Zeitung BZ am Mittag an. Es ist die Nummer sieben. Zehn Pfennige will er für ein Exemplar haben, und über ein kleines Trinkgeld freut er sich besonders. Die Zeitung titelt:

LIEBKNECHT VON DER MENGE GETÖTET

WILHELM PIECK AUF DER FLUCHT ERSCHOSSEN

2. Ungewissheit

Ukrainische Westfront, Freitag, 17. Januar 1919

Die Felswand wirft ein lautes Echo der Gewehrsalve zurück. Sekunden später sind die zweiundzwanzig jungen Männer, denen man die Augen verbunden hat, in den verschiedensten Positionen in sich zusammengesunken. Blut sickert je nach Einschussstelle schneller oder langsamer aus ihren Körpern. Das leise Röcheln fünfer Überlebender wird von den Rotarmisten mit aufgesetzten Kopfschüssen zum Verstummen gebracht. Der fallende Schnee beginnt langsam, die leblosen Körper wie mit einem kalten weißen Leichentuch zu verhüllen.

Der in schwarzes Leder gekleidete Exekutionstrupp mit den roten Armbinden stapft, die Gewehre geschultert, durch den Schnee zum Zug zurück. Die Soldaten steigen in einen Mannschaftswaggon, der Kommandeur der Einheit, Gruppenführer Andrej Iwanowitsch Woronin, Rotarmist der ersten Stunde und beim Sturm auf das Winterpalais in Petrograd dabei, findet seinen Vorgesetzten, wie vermutet, im Speisewagen vor und meldet in militärischer Haltung: „Genosse Kommissar, Befehl ausgeführt, alle Deserteure erschossen!“ Lew Dawidowitsch Bronstein, der sich bereits seit seinen vielen Jahren Exil in London, München, Wien, Paris und New York Leo Trotzki – Feder – nennt, schaut missgelaunt vom vor ihm stehenden Teller mit rotem Kaviar auf. Immer dieser rote Kaviar, sie haben ihm davon wieder kistenweise in seinen Zug geliefert. Aber wo soll man damit hin, seit der Export dieses einst so begehrten Handelsgutes völlig zusammengebrochen ist? „Danke, Genosse Gruppenführer, ausgezeichnet! Nehmen Sie doch von dem Kaviar, es ist genug davon da. Warten Sie bitte.“ Noch ehe Woronin reagieren kann, schaufelt ihm Trotzki eine große Portion des edlen Rogens auf einen leeren Teller und drückt ihn dem verdutzten Rotarmisten in die Hand. Der bedankt sich mit einem kurzen Kopfnicken, salutiert mit der noch freien Hand und stiefelt durch den Zug in seinen Waggon, überrascht und in gespannter Erwartung, was ihm der Genosse Trotzki da aufgeladen hat.

Eigentlich kann Trotzki mit dem Tagesverlauf bisher recht zufrieden sein. Auch wenn der Einsatz gegen die ukrainischen Anarchisten des Bauernführers Nestor Machno bisher nicht sonderlich erfolgreich war und ihm eine elende Sisyphusarbeit zu sein scheint, hat er den Halt des Zuges genutzt und vor Ort mit mehreren Hundert festgesetzten Genossen Deserteuren intensiv über die Revolution und den Bürgerkrieg diskutiert. Seit Verkündung der allgemeinen Wehrpflicht für die Rote Armee widersetzen sich überall und immer wieder Rekruten ihrer Einberufung und werden als Deserteure interniert. Trotzki will sich die jungen Männer genauer ansehen und vertraut auf seine Fähigkeit als begnadeter Redner. Man hat ihm mit großer Dringlichkeit davon abgeraten, sich unter die Genossen Deserteure zu mischen, denn es könne etwas passieren, er sei nicht sicher. Aber ihm war nichts geschehen. Wie aufgeregte Schuljungen haben die jungen Männer ihn umringt, lärmend, neugierig, undiszipliniert, aber durchaus nicht feindselig. Anderthalb Stunden dauert die Unterhaltung, Trotzki hat nach anfänglichen Tumulten ihre Stimmung gegen den Militärdienst gekippt, ein dankbares Auditorium gefunden und schließlich bei fast allen die Widerstände gegen eine Einberufung zur Roten Armee überwunden. Seiner Aufforderung am Ende des Gespräches, die Hände zum Zeichen der Treue für die Revolution zu heben, sind bis auf einige wenige alle begeistert gefolgt.

Seit der Ernennung zum Kriegskommissar im vergangenen Jahr ist Leo Trotzkis neue Funktion eine wahre Titanenaufgabe: Es handelt sich um nichts weniger, als die Reste des alten, geschlagenen zaristischen Heeres säuberlich wegzufegen und an ihrer Stelle im Feuer des Bürgerkrieges eine neue Armee aufzubauen, deren Schema in keinem Buch zu finden ist. Das kann man weder ohne neue Orden noch ohne Repressalien durchführen:

Man kann nicht Menschenmassen in den Tod führen, ohne gleichzeitig die Todesstrafe im Arsenal zu haben.

Zu dieser Erkenntnis ist er schon damals gelangt. Denn nach wie vor ist die Revolution umzingelt und eingeschnürt von mächtigen Feinden. Selbst ohne jegliche eigene militärische Ausbildung muss er auf sein Organisationstalent vertrauen und ständig überall und immer improvisieren. Weil nach dem langen Krieg auch noch alle Lager leergeräumt sind, geht jedes einzelne Uniformteil für die Rote Armee von der Nähnadel an die Front, jede in den Munitionsfabriken hergestellte Patrone landet sofort im Gewehr.

Trotzki nimmt einen großen Schluck Tee, gießt aus dem Samowar nach, lässt noch drei Stücke Zucker in das Glas gleiten und löffelt seinen roten Kaviar zu Ende. Ein Blick aus dem Zugfester zeigt ihm, dass das Schneetreiben noch stärker geworden ist. Aber hier, im Speisewagen seines Zuges, ist es angenehm warm. Der Zug, wie gut, dass er ihn hat! Letztes Jahr im Sommer war er für ihn in Moskau zusammengestellt und seitdem ständig umgebaut und erweitert worden. Er ist seine mobile Kommandozentrale und dient gleichzeitig als Sekretariat, Druckerei, Telegrafenamt, Bibliothek und Garage für mehrere Autos. Es gibt kleine Flugzeuge, einen Badebereich mit Sauna, ein umfangreiches Waffen-, Munitions- und Vorratslager. In zahlreichen Waggons sind Kompanien von Rotarmisten untergebracht wie in einer Kaserne. Aber der Zug ist nicht nur Trotzkis mobile Einsatzzentrale, er dient auch überall an der Front zum Aufbau der Roten Armee, ihrer Schulung, Verwaltung und Versorgung. Dazu ist sehr viel nötig: Zuerst müssen die weit verstreuten Truppenteile mit guten und zuverlässigen Kommandeuren ausgestattet werden, bei Bedarf auch mit Nachschub an erfahrenen Kämpfern, opferbereiten Revolutionären zur Aufstockung der mancherorts sehr gelichteten Reihen. Dann werden Stiefel gebraucht, vielleicht eine Badeanstalt, Essen und Getränke, Wäsche, Tabak und Streichhölzer. Eine Agitationskampagne muss organisiert und durchgeführt werden. Der Zug ist zugleich Urheber und Regulator dieser permanenten Improvisationen. Sein menschlicher Maschinenraum, sein Motor aber sind die drei unermüdlichen und für ihren Kommandeur unersetzlichen Stenografen und Organisatoren: Glasmann, Sermux und Netschajew.

Trotzki schlürft am vor ihm stehenden Tee, zieht an seiner Zigarette und erhebt sich von dem bequemen Sitzpolster, um in seinem Arbeitswaggon den täglichen Lagebericht für die Genossen im Kreml zu verfassen. Aus Sicherheitsgründen hat die neue russische Regierung vor wenigen Monaten Petrograd verlassen und ist mit ihren Familien und Stäben nach Moskau, der neuen Hauptstadt, in den Kreml gezogen.

Die Tür des Speisewagens öffnet sich, der junge Netschajew tritt eilig mit besorgter Miene an Leo Trotzki heran und drückt ihm schweigend ein gerade eben eingetroffenes Telegramm in die Hand: Karl Liebknecht und Wilhelm Pieck am 15. nachts in Berlin ermordet. Tief erschüttert setzt sich Trotzki mit kreidebleichem Gesicht zurück an den Tisch. „Genosse, ist das wirklich wahr, wurde das bestätigt?“, fragt er ungläubig den wie versteinert vor ihm stehenden Netschajew. „Genosse Kommissar, ich konnte es zuerst selbst nicht glauben und habe mehrfach in Moskau nachgefragt. Aber es ist wahr, leider, Genosse Kommissar, es wurde von Moskau bestätigt“, erwidert Netschajew und blickt betroffen zu Boden.

Wilhelm Pieck ist Trotzki nur dem Namen nach als fähiger junger Genosse und erfahrener Organisator bekannt. Karl Liebknecht aber ist für ihn ein Freund und enger politischer Verbündeter. Seit Jahren schon liegen die beiden auf der gleichen politischen Wellenlänge, ähnlich auch im Temperament: aufbrausend, spontan und zu eigenwilligen Entscheidungen neigend. Was könnte aus Liebknecht werden, wenn die Revolution in Deutschland siegen würde? Nun soll er tot sein, in Berlin ermordet von der Konterrevolution und ihren verlogenen heuchlerischen SPD-Schergen. Es ist unfassbar. Die Revolution in Deutschland, deren Erfolg so unendlich hilfreich und dringend notwendig für die bedrängten russischen Genossen wäre, ist offensichtlich vorerst gescheitert.

Mit einem durchdringenden zischenden Pfeifen der beiden stark gepanzerten Lokomotiven setzt sich der Zug wie ein riesiger Lindwurm in Richtung Petrograd in Bewegung. In seinem bestens abgefederten, aus amerikanischer Herstellung stammenden Pullman’schen Salonwagen spürt Leo Trotzki während der Fahrt kaum etwas von den Erschütterungen des maroden russischen Schienennetzes. Er hat die Zugsauna verlassen und entspannt sich jetzt in der großen Badewanne. Morgen, am Samstag, wird der Genosse Kriegskommissar in Petrograd vor dem örtlichen Sowjet der Stadt die Nachrede für die beiden ermordeten Revolutionäre halten, morgen. Aber jetzt braucht er wirklich sein heißes Bad! Zurück in der winterlichen Kälte bleiben zweiundzwanzig kleine menschliche Grabhügel, inzwischen vollständig schneebedeckt.

Berlin, Freitag, 17. Januar 1919

Nur kurz hat er mittags nach dem vorzüglichen Hotelessen im ansonsten darbenden Berlin sein Quartier für einen kleinen Verdauungsspaziergang verlassen. Die Offiziere wurden auch im Krieg, im Gegensatz zu den Mannschaftsdienstgraden, immer sehr gut versorgt. Er ist mit bewaffnetem Geleitschutz unterwegs, sicher ist sicher. Zwar hat sich die Sonne zwischen den Wolken gezeigt, aber es ist ihm einfach zu kalt draußen. Inzwischen, am späten Nachmittag, hält es Waldemar Pabst in seinem behaglich warmen Quartier im Eden nicht mehr an seinem Schreibtisch. Nervös und beunruhigt dreht er seine Runden in dem großen Raum, Schwaden von Zigarettenrauch hinter sich herziehend. Leider ist die Lage in der Stadt noch immer nicht unter Kontrolle. Seine Soldaten liefern sich verlustreiche Scharmützel mit der Volksmarinedivision, einer linken aufständischen Truppe, die sich noch in einigen Winkeln Berlins verschanzt hält und dort sogar die Straßen kontrolliert. Aber mit diesem Gesindel wird auch noch aufzuräumen sein, und da wird er kein Pardon geben.

Was Pabst aber noch mehr als die Umtriebe der Volksmarinedivision beunruhigt, ist die Tatsache, dass er nicht weiß, was aus Rosa Luxemburg geworden ist. Aus ihr und den drei Kameraden, die die Sache erledigen sollten. In einiger Entfernung vom Eden hat man zwar gestern das Auto gefunden, mit dem Luxemburg Mittwochnacht abtransportiert worden war, aber es war leer, keine Spur von ihr und den drei Kameraden. Blutflecken im Wagen und auf der Straße lassen auf eine gewaltsame Auseinandersetzung schließen, aber bisher weiß niemand, was genau passiert ist. Pabst setzt sich wieder an seinen ausladenden Schreibtisch, öffnet das unterste Fach und greift nach einer zur Hälfte gefüllten Flasche französischen Cognacs. Das Hotel hat einen ausgezeichneten Vorrat an diesen schönen Dingen des Lebens, geht ihm durch den Kopf, alles noch Vorkriegsware. Welche Mengen müssen hier erst bei Kriegsbeginn vor viereinhalb Jahren gebunkert worden sein. Ehe er das bereitstehende Glas füllen kann, klingelt das Telefon auf seinem Schreibtisch. Pabst stellt die Flasche ab und greift zum Hörer.

Nach dem Gespräch füllt er endlich sein Glas mit dem Cognac, schnuppert genüsslich daran und leert es in einem Zuge. Sofort spürt er eine wohlige Wärme in Kehle und Magen, die langsam den ganzen Körper durchdringt. Am Telefon war der neue Polizeipräsident von Berlin. Er hat ihm mitgeteilt, dass man an der Freiarchenbrücke drei männliche Leichen aus dem Landwehrkanal geborgen habe. Dem Vernehmen nach handele es sich um die Soldaten Runge, Souchon und Janschkow. Aber die genaue Identifikation müsse er, Pabst, noch bestätigen. Die drei Leichen würden Schusswunden aufweisen. Was ist passiert? Ja, die drei sind nicht mehr am Leben, sicher, ein Verlust, so ist das eben im Krieg, Menschen sterben, Kameraden werden getötet. Die entscheidende Frage bei der Angelegenheit ist aber doch: Wo steckt Rosa Luxemburg? Lebt sie etwa noch? Und wie soll er das alles Noske erklären?

Stuttgart-Sillenbuch, Freitag, 17. Januar 1919

Anna Luxemburg hat gerade Licht im Zimmer gemacht, um diese Jahreszeit wird es schon so früh dunkel. Józef, ihr Bruder und Arzt, beugt sich tief über die im Bett liegende bleiche Frau, die zu schlafen scheint, und wechselt fachmännisch ihren Kopfverband. „Józio, bist du’s? Wo bin ich? Was ist los?“, haucht sie ihm entgegen, die Augen mühsam öffnend. „Anna, Anna, sie kommt zu sich, sie ist wach, sag den anderen Bescheid!“, ruft er seiner Schwester zu, die gerade das Zimmer verlassen will. Tränen rollen ihm über das Gesicht.

Wenige Minuten später hat sich das Krankenzimmer in der ersten Etage des Hauses Zetkin gefüllt. Neben Anna und Józef Luxemburg, die eilig angereist waren, um nach ihrer Schwester zu sehen, stehen die Hausherrin Clara Zetkin und ihre Söhne Maxim und Kostja. Aus Frankfurt ist nachmittags Paul Levi, Anwalt und Lebensgefährte Rosa Luxemburgs, nach Sillenbuch gekommen. Leo Jogiches, der in Begleitung von zwei zuverlässigen Soldaten der Volksmarinedivision die verletzte und immer noch bewusstlose Rosa Luxemburg gestern so unauffällig wie möglich hierhergebracht hat, ist bereits wieder nach Berlin zurückgekehrt. Sie hätte es so gewollt, in Berlin werden sein Organisationstalent und seine Erfahrung nötiger gebraucht als in Sillenbuch. Sie ist jetzt in guten Händen, hier gibt es für ihn nichts mehr zu tun.

„Rosa, du bist jetzt bei Clara, und du hast unglaubliches Glück gehabt. Ich weiß nicht, wer dein Schutzengel ist, aber jedenfalls hast du einen oder vielleicht auch ein ganzes Dutzend, und alle zusammen haben sie ihre Sache sehr gut gemacht.“ Paul Levi spricht aus, was die Umstehenden gerade denken. „Du warst lange bewusstlos, die Platzwunde am Kopf habe ich genäht, die Gehirnerschütterung wird dir noch einige Kopfschmerzen bereiten, aber der Rest deines klugen Köpfchens ist völlig heil geblieben – zum Glück!“, ergänzt ihr Bruder Józef. „Rosalia, meine liebe Rosalia, trink erst mal einen Schluck Wasser, du hast doch sicher auch riesigen Hunger, du musst unbedingt etwas essen. Und ihr alle, ihr schließt jetzt die Tür hinter euch und geht wieder nach unten, das ist zu viel für die arme Rosa, sie braucht jetzt Ruhe!“ Mit leichtem Nachdruck und ein wenig Anschubhilfe befördert die große Schwester die Anwesenden aus dem Krankenzimmer und setzt sich zu ihrer kleinen Schwester auf den Bettrand. Die schaut sie mit großen Augen an: „Andzia, was ist mit Karl und Willi passiert? Wieso bin ich jetzt hier?“

Stuttgart-Sillenbuch, Sonntag, 19. Januar 1919

Die Blässe ist ein wenig aus ihrem Gesicht gewichen, der Kopf frisch verbunden. Was sie noch nicht weiß: Ihr Lebensgefährte Paul Levi ist bei seiner Rückkehr, direkt nach dem Besuch, verhaftet worden. Mit erstaunlichem Appetit frühstückt Rosa Luxemburg in ihrem Krankenbett: Eier mit Speck, zwei Wurstbrote, einen halben Liter heiße Milch und ein Stück von Clara Zetkins selbstgebackenem Mandelkuchen, den Anna ihr ans Bett gebracht hat. Leider hilft auch das beste Frühstück nicht gegen ihre hämmernden Kopfschmerzen. Die werden mit der Zeit besser, hat ihr Bruder diagnostiziert. Was versteht der gute Herr Doktor nur unter mit der Zeit