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Nervenkitzel, gepaart mit Humor, garantiert der neue Weichsler-Krimi von Josef J. Preyer: Beim Krimifestival in Steyr geben sich die Stars der deutschsprachigen Krimiliteratur ein Stelldichein. Doch die Veranstaltung bietet mehr Spannung, als manchen Autoren und Besuchern lieb ist. Der Reihe nach werden vier Teilnehmer ermordet. Erstes Opfer ist ein Literaturkritiker. Er stirbt durch einen Stromschlag aus seinem Smartphone. Der Verdacht fällt auf Bestsellerautor Kurt Bachmann. Passieren doch die Morde exakt so, wie er sie in seinen Krimis beschrieben hat. Die Zwillingsschwestern Rosa und Marie Weichsler, die sich nach außen hin als eine Person ausgeben, lösen den brisanten Fall, der ihrem Freund, Inspektor Herbert Frühauf, Rätsel aufgibt. Auch Frühaufs Zwillingsbruder Hermann mischt erstmals mit.
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Seitenzahl: 215
J. J. Preyer
ROSMARIE WEICHSLER
und die Krimischriftsteller
Kriminalroman
Band4
ENNSTHALER VERLAG STEYR
Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen und realen Handlungen ist zufällig und nicht beabsichtigt.
www.ennsthaler.at
ISBN 978-3-7095-0064-4
J. J. Preyer · Rosmarie Weichsler und die Krimischriftsteller
Alle Rechte vorbehalten
Copyright © 2016 by Ennsthaler Verlag, Steyr
Ennsthaler Gesellschaft m.b.H. & Co KG, 4400 Steyr, Österreich
Titelbild: © Boris Ryaposov / Fotolia.com, © Uwe Tröger / Fotolia.com
E-Book-Herstellung: www.zeilenwert.de
Cover
Titel
Impressum
1. Kein Schwein ruft mich an
2. Bei Anruf Mord
3. Der lachende Mörder
4. Schön Rosmarien
5. Eisenstein
6. Freudenhaus
7. Chaotische Verhältnisse
8. Hörigkeit
9. Rosmarie darf nicht sterben
10. Schreie vom Turm
11. Der Teufel in Frau Engel
12. Gefallener Engel
13. Frankfurter
14. Herzflimmern
15. Twinni
16. Eiskalt serviert
17. Finale
Der Autor
Weiters erschienen
Was für eine klägliche Absteige! Im ganzen Zimmer war keine freie Steckdose zu finden, also musste er ins Badezimmer und dort seine elektrische Zahnbürste vom Netz nehmen, um das verdammte Smartphone aufladen zu können.
Er hätte es nicht dieser unmöglichen Person leihen sollen, die womöglich damit kostspielige Anrufe getätigt hatte. Und er musste das wieder umständlich seiner Chefin klarmachen, die ihm nicht einmal ein vernünftiges Hotel gegönnt hatte, in dieser an sich schönen Stadt.
Die Badezimmertür ließ er angelehnt, als er sich zurück in das kärglich möblierte Zimmer mit der viel zu schwachen Beleuchtung begab. Es könnte ja sein, dass Kurt Bachmann zurückrief. Er hatte dessen Verlegerin ein großes Interview versprochen, als Wiedergutmachung, weil er den Mörder in seinem letzten Krimi verraten hatte, in seiner Rezension von Hörsturz. Weil der Verlag sich geweigert hatte, eine Anzeige zu schalten.
Nach der Drohung mit einem Rechtsanwalt hatte Melitta Abrahamowitsch, die Kulturchefin des Telegraf, vorgeschlagen, ein großes Interview mit dem besten Thrillerautor deutscher Zunge, wie sie sich ausgedrückt hatte, zu bringen.
Und jetzt saß Reinhard Wegrosek im Hotel Nagl in der Bahnhofstraße und hoffte auf den Rückruf Bachmanns, der sich offenbar als der Star der Steyrer Krimi-Messe bitten lassen wollte.
Die wichtigsten Lebensdaten hatte er bereits per Mail vom Bischof-Verlag erhalten: Kurt Bachmann, geboren am 9. November 1982 in Karlsruhe. Journalist bei einer Lokalzeitung, für die er Gerichtsreportagen schrieb, bevor er einen Kriminalfall, der ihn besonders interessierte, zu einem Kriminalroman verarbeitete. Das war der Beginn einer wunderbaren Karriere, in deren Verlauf er über Umwege zum Bischof-Verlag, dem führenden Krimiverlag deutscher Zunge, gelangte.
Deutsche Zunge. Jetzt wusste er, von wo er diesen lachhaften Ausdruck hatte. Aus der Verlagsmitteilung.
Er streckte die Zunge aus seinem Mund und ließ ein lautes Bäh ertönen, das seinem Beruf, dem Krimifestival und Kurt Bachmann im Besonderen galt.
In diesem Moment gab sein Smartphone Laut. Von der Ferne ertönte die Instrumentalversion des alten, von den Comedian Harmonists gesungenen Schlagers Kein Schwein ruft mich an als Klingelton.
Wegrosek eilte in das Badezimmer, hielt dort jedoch einen Augenblick inne, bevor er den Anruf annahm und das Handy an sein linkes Ohr drückte.
Ein unerträglicher Schmerz schoss durch seinen Kopf, sein Körper krümmte sich unter dem Stromschlag, der von seinem Smartphone ausging, sein Atem und der Schlag seines Herzens stockten, dann fiel er zu Boden, das Handy noch immer an seinem Ohr, das mittlerweile von der Hitze, die von dem Gerät ausging, zu dampfen begann.
Das große Plakat an der Eingangstür hielt viel von dem sanften Licht der Frühlingssonne ab, das sonst Rosa Weichslers Geschäft an der Mauer zum Steyrer Schloss erhellte. Die 46-jährige Trafikantin schaltete das Licht an, um Hilde Kerns Krimi Kärntnermord lesen zu können, ein recht spannendes Buch der Starautorin aus Villach, die sie vielleicht bei der Eröffnung zur Steyrer Krimi-Messe persönlich sehen würde, wenn sie nicht zu Hause bleiben und ihrer Zwillingsschwester Marie den Vortritt lassen musste. Denn noch hatten die beiden nicht entschieden, wer zur Eröffnung des Krimifestivals gehen durfte, das internationale Schriftsteller in die Stadt in Österreichs Alpenvorland bringen würde. Dafür verzichtete sie sogar auf etwas Tageslicht, zugunsten des Plakats, das auf diese Veranstaltung verwies.
Wie jeden Morgen betrat auch an diesem Montag Chefinspektor Herbert Frühauf die Trafik, um seine tägliche kleinformatige Zeitung zu beheben und mit Rosmarie Weichsler zu schäkern. Dabei wirkte der wohlbeleibte Mann wie ein Bernhardinerhund, der sein Frauchen zum Spiel auffordern wollte.
»Ich hol dich gegen halb sieben ab. Ist das recht?«, fragte er.
»Wenn du um fünf kommst, kannst du mit uns essen.«
»Mit uns?«, fragte der Mann verwirrt, der offenbar noch immer nicht durchschaut hatte, dass Rosmarie Weichsler sich aus den beiden Zwillingsschwestern Rosa und Marie zusammensetzte.
»Mit Herbert und mir.«
»Ah ja«, sagte der Chefinspektor.
Rosa und Marie Weichslers Großpudel hatte denselben Vornamen wie er, deshalb hatten die Schwestern neuerdings begonnen, ihn Frühauf zu rufen. Natürlich nur, wenn Chefinspektor Herbert Frühauf nicht zugegen war.
»Was gibt es denn? Ich meine zu essen«, erkundigte sich Frühauf, und sein hungriger Blick verriet Rosa, dass sie ihm Appetit gemacht hatte.
»Darüber ließe sich diskutieren«, meinte die etwas mollige Trafikantin und zwinkerte dem Chefinspektor zu.
»Das überlasse ich wie immer dir, Rosmarie«, erwiderte der Mann, der nach seinem Handy suchte, das die Melodie zu Fritz Kreislers Lied Schön Rosmarien anspielte.
Rosa Weichsler musste unwillkürlich lächeln und schob dem Chefinspektor einen Schokoriegel über den Ladentisch, den er nickend ergriff, während er den Anruf seiner Mutter entgegennahm.
»Ja, ich richte Rosmarie deine Grüße aus. Danke«, beendete er das Gespräch.
»Sie besteht darauf, dass wir sie mitnehmen«, sagte er dann etwas kleinlaut.
»Das wird mein Vater übernehmen müssen«, löste Rosa das Problem souverän. »Die beiden haben sich in letzter Zeit ohnehin kaum gesehen. Ich verständige Vater, dass er Liliane anruft.«
»Aber sie ist noch böse auf ihn.«
»Das macht nichts. Sonst muss sie zu Hause bleiben.«
»Du bist wieder einmal sehr streng, Rosmarie. Aber ich mag das an dir.«
»Konsequent, nicht streng.«
»50 Shades of Rosmarie.«
»Oh, das sind ganz neue Töne. Hast du das Buch gelesen?«
»Nein, den Film gesehen.«
»Aber der läuft gar nicht mehr.«
»DVD. Wenn du Lust hast, könnten wir ihn gemeinsam anschauen.«
»Ich überleg es mir.«
Kaum war Frühauf gegangen, griff Rosa zu ihrem Handy und beauftragte ihren Vater, am Abend gestellt zu sein.
»Wenn Lily aber nicht will?«, wandte er ein.
»Sie wird wollen müssen«, zeigte sich Rosa unerbittlich. Dann verständigte sie Marie, ihre Zwillingsschwester, dass Herbert zum Abendessen komme, bevor er eine von ihnen zur Eröffnung des Festivals entführe.
»›Entführt‹ klingt recht abenteuerlich«, fand Marie und hoffte, sie würde diejenige sein, auf die das Los fiel.
»Goldmarie und Pechmarie«, sagte Rosa, die sicher war, sie würde entführt werden.
»Und Herbert als Prinz. Ich lach mich krumm und schief«, konterte Marie.
»Lach nicht! Geh einkaufen! Ich schlage vor, wir essen etwas Leichtes, damit Herbert und ich bei der Eröffnung nicht einschlafen.«
»Herbert mag nichts Leichtes, abgesehen von Huhn.«
»Huhn mit Reis und frischem grünem Salat.«
»Und erinnere Monika, dass sie die nächsten Tage übernimmt. Ich möchte nichts von den Lesungen versäumen.«
»Sie weiß es und freut sich auf das Dinner beim David in Christkindl.«
»Du hast also die zwei Karten.«
»Sowieso.«
»Du bist großartig, Marie.«
»Du auch, Rosa.«
Und wenn das Los nicht auf Rosa fiel, musste sie einen Weg finden, dennoch an dieser Eröffnung teilzunehmen. Das durfte sie nicht versäumen. Weniger wegen der vielen Krimischriftsteller, nein, das war zwar interessant, doch beileibe nicht so wichtig wie ein anderes Ereignis, das alles in den Schatten stellen würde, was die Zwillingsschwestern erlebt hatten, seitdem sie als Rosmarie auftraten.
An der Eröffnung der Krimi-Messe würde Hermann Bischof-Frühauf teilnehmen. Und jener Hermann Bischof-Frühauf war kein Geringerer als der Mann von Barbara Bischof, der Leiterin des führenden deutschsprachigen Krimiverlags. Doch das war Rosa nicht so wichtig wie der Umstand, dass Hermann Bischof-Frühauf der Zwillingsbruder ihres Herberts war. Und den musste sie ganz einfach kennenlernen.
Man stelle sich vor: ein Zwillingsbruder von Herbert. Damit hätte endlich jede der Zwillingsschwestern einen Mann. Wenn er im Wesen einigermaßen ihrem Herbert entspräche. Gut, Steigerungen nach oben wären willkommen.
Der Umstand, dass Hermann Bischof-Frühauf verheiratet war, störte Rosa im Moment weniger. Aber das sollte sich noch ändern. Auf dramatische Weise.
»Wir haben ein Problem«, sagte Herbert Frühauf, während er an einer Hühnerkeule nagte.
»Wir?«, fragte Marie.
»Ich hoffe doch sehr«, begann Frühauf seine Erklärung, »dass du mich in diesem wichtigen Fall nicht im Stich lässt.«
Als Rosa in den Mansarden über das Babyfon das Wort Fall vernahm, griff sie sofort nach einem neuen, noch unbeschriebenen rosaroten Poesiealbum, öffnete dieses und wartete gespannt, was Frühauf weiter zu berichten hatte.
»Ein Mord im Zusammenhang mit dem Krimifestival«, erklärte er. »Herzmanovsky hat mich gebeten, mit äußerster Zurückhaltung zu ermitteln.«
»Warum?«, fragte Marie, und Rosa nickte zustimmend im Mansardenzimmer.
»Weil er einen Abbruch der Veranstaltung befürchtet. Immerhin hat er ein Jahr Arbeit in das alles investiert.«
»Und du willst seinem Wunsch entsprechen?«, erkundigte sich Marie.
»Wenn es sich machen lässt«, erwiderte Frühauf und fügte rasch hinzu: »Wenn du mich unterstützt.«
»Gut, dann berichte!«
»Könnte ich noch etwas Reis haben?«
»Du möchtest bestimmt auch noch Fleisch.«
»Das habe ich nicht zu sagen gewagt.«
»Mein Gott, Herbert!«
Bei der Erwähnung dieses Namens hob Pudel Herbert den Kopf und leckte über sein Maul. Auch er erwartete sich einen weiteren Happen Hühnerfleisch und bekam diesen in Form des Bischofs, des besonders knusprigen Hühnerafters.
Der Chefinspektor neidete insgeheim dem Hund diesen Leckerbissen, er zog es jedoch vor zu schweigen und sich mit dem zu bescheiden, was Rosmarie ihm zugedacht hatte.
Das Wort Bischof ließ ihn an seinen Zwillingsbruder Hermann denken, der immerhin in die Verlegerfamilie Bischof eingeheiratet hatte.
Er hatte seinen Bruder immer gemocht, obwohl dieser stets gescheiter, tüchtiger und was sonst alles gewesen war. Ein Vorbild, an dem er ständig gemessen worden war. Nur schöner war Hermann nie gewesen. Der Zwillingsbruder war optisch die exakte Kopie von ihm gewesen und geblieben.
Und die Überlegenheit geistiger Natur hatte ihn zwar an die Spitze des führenden deutschen Krimiverlags geführt, aber auch an die Seite einer der unangenehmsten Personen, die Frühauf je kennengelernt hatte, an die Seite von Barbara Bischof, seiner Ehefrau, einem wahren Monster in Menschengestalt. Nicht vom Aussehen her. Die Frau schaute an sich gar nicht so übel aus. Aber sie war vom Wesen her ein wahrer Bischof. Und damit meinte Frühauf nicht die geistlichen Würdenträger gleichen Namens.
»Was ist los, Herbert? Was hat dir die Rede verschlagen?«, unterbrach Marie die Gedanken ihres Gastes.
»Och. Nichts.«
»Erzähl!«
Und der Chefinspektor berichtete von dem Zimmermädchen der Pension Nagl, das den Kulturredakteur des Telegraf tot in seinem Zimmer gefunden hatte.
»Mit einer Brandwunde am linken Ohr. Jemand muss sein Handy manipuliert und in eine tödliche Waffe umfunktioniert haben«, erklärte Frühauf.
Rosa in den Mansarden schrieb eifrig mit und hoffte, Marie würde die einzige Frage stellen, die in diesem Moment gestellt werden musste, und sie wurde nicht enttäuscht.
»Du hast doch überprüft, von wem der letzte, der tödliche Anruf gekommen ist, Herbert?«, erkundigte sich Marie beim Chefinspektor.
»Natürlich«, erwiderte dieser. »Allerdings hat das kein Ergebnis gebracht.«
»Eine anonyme Nummer?«
»Nein.«
»Was sonst?«
»Ein absolut untadeliger Anrufer.«
»Und zwar?«
»Der Stargast des Krimi-Festivals.«
»Kurt Bachmann, der Wilton-Preisträger.«
»Genau der.«
»Und wie kommst du darauf, dass dieser Herr so untadelig wäre, dass er als Mörder nicht infrage käme?«, ließ Marie nicht locker.
»Er ist der Ehrengast des Krimifestivals.«
»Ah ja«, meinte Marie trocken, und Rosa in den Mansarden schüttelte ungläubig den Kopf.
»Du meinst, man kann nicht einmal ihm trauen?«
»Ich meine, dass wir uns das genau anschauen müssen«, stellte Marie fest. »Er wird ja zur Eröffnung lesen.«
»Ich werde aber keinen Affen aus mir machen lassen und ihn verhören. Darüber würden alle deutschsprachigen Medien berichten, und ich wäre erledigt.«
»Eine wichtige Überlegung«, pflichtete ihm Marie bei. »Wir werden beobachten und nachdenken.«
»Das Huhn war köstlich«, steuerte Frühauf ein anderes Thema an. »Etwas Süßes wäre der krönende Höhepunkt.«
»Ist der krönende Höhepunkt«, korrigierte ihn Marie und stellte einen Teller mit Schokoladepudding auf den Küchentisch, den sie mit Schlagobers aus der Sprühdose verzierte.
»Er fürchtet sich vor mir«, scherzte Frühauf und rüttelte am Dessertteller, dass der Pudding wackelte.
»Du bist so etwas von kindisch«, stöhnte Marie. »Wie soll man das denn aushalten!«
»Indem man für Nachschub sorgt«, meinte Frühauf, auf eine weitere Portion Schlagobers hoffend.
Und er wurde nicht enttäuscht. Marie reichte ihm die Sprühdose ein weiteres Mal, und der Chefinspektor bediente sich großzügig.
»Wann soll ich dich abholen?«, erkundigte er sich. »Die Gala beginnt um halb acht.«
»Wir treffen einander vor dem Zelt. Die paar Schritte zur Fachschulstraße kann ich allein gehen. Sagen wir um zehn nach sieben.«
»Zelt? Du hast von einem Zelt gesprochen?«
»Die Eröffnung findet im Zelt statt, nur die Messestände sind in der Halle des Turnvereins untergebracht. Das Echo schreibt doch seit Tagen über nichts anderes.«
Um drei viertel sechs warfen die beiden Schwestern einen Würfel. Wer die höchste Zahl erreichte, durfte mit Herbert zur Eröffnung des Krimifestivals.
Die Spannung stieg ins beinahe Unerträgliche, nachdem beide dreimal die gleichen Zahlen gewürfelt hatten. Doch beim vierten Versuch erreichte Marie vier Punkte und Rosa nur zwei.
Rosas Enttäuschung war so groß, dass sie weinen musste. Ein Umstand, der sogleich Pudel Herbert auf den Plan rief. Er war ein begnadeter Frauentröster, der die feinsten Nuancen der Stimmungen seiner Herrinnen spürte und dann mit seiner rauen rosa Zunge über die Hände der Trauernden leckte, bis diese wieder lachte.
Dieses Mal jedoch brachte Marie ihre Schwester zum Lachen. Genauer gesagt der Vorschlag, den sie machte.
»Du gehst natürlich auch zur Gala. Aber nicht mit Herbert. Schließlich habe ich gesiegt.«
»Du meinst …«
»Du gehst verkleidet.«
»Als was denn?«
»Als wer denn. Gib dich nicht so naiv! Denk zurück an den Fasching!«
»Du meinst … Als du als Moni Rahofer-Rieß gegangen bist und ich …«
»Ja, ich meine.«
Um drei viertel sieben verließ eine seltsame Gestalt das Siedlungshaus in der Ufergasse: ein etwas molliger Mann mit weißem Haar, weißem Schnurrbart, der fatal dem Steyrer Vizebürgermeister Friedhelm Hager ähnelte, einem jovialen, lebensfrohen Menschen, dem es ebenso wie den Weichsler-Zwillingen nicht gelang, sein Gewicht unter Kontrolle zu halten. Sein Äußeres widersprach dem Familiennamen.
Rosa hoffte inständig, dass Hager nicht auch Krimifreund war und ebenso diese Veranstaltung besuchte.
Als Rosa das Zirkuszelt betrat, begrüßte sie der Jerry-Cotton-Marsch, gespielt von der Stadtkapelle.
Sie wollte, um nicht unnötig aufzufallen, einen Platz auf den hinteren Rängen suchen, nicht in den Logen, die direkt an die Manege anschlossen, wurde jedoch von einem schwarz gekleideten Mitarbeiter des Steyrer Kulturamts in die Ehrenloge geleitet.
»Schade, dass Ihre Frau Gemahlin nicht kommen kann«, bedauerte der nervöse junge Mann und überreichte Rosa ein Programmheft.
»Sie hat wieder einmal Migräne«, erklärte Rosa mit betont tiefer Stimme.
»Bei dem Wetter kein Wunder«, meinte der Kulturbeamte und befand sich schon auf dem Weg zu einem weiteren Ehrengast.
Diesen Moment nutzte nun Rosa, um in den zweiten Rang zu flüchten, von wo sie das Spektakel unbeobachtet zu verfolgen hoffte.
Dabei lief sie jedoch dem Steyrer Bürgermeister in die Hände, der sich mit seiner Frau Richtung Logen bewegte.
»Wohin des Wegs, Friedhelm?«, fragte er und packte Rosa am rechten Arm, um ihr die Hand zu schütteln.
Während Rosa der eleganten Frau des Bürgermeisters die Hand küsste, versuchte sie, sich an den Vornamen ihres Mannes zu erinnern.
Gerhard. Natürlich Gerhard. Magister Gerhard Ackerl. Diesem erklärte sie dann: »Meine Frau. Sie wird böse, wenn ich sie nicht am Eingang abhole.«
»Ich kenne sie«, meinte der Bürgermeister, und auch seine Frau nickte verständnisvoll. »Bist du verkühlt?«
»Schwer verkühlt«, stöhnte Rosa, hustete und eilte weiter – vom Regen in die Traufe, in die strengen Arme der Vizebürgermeistersgattin, die Rosa am linken Ärmel ihres Sakkos fasste.
»Ah, so ist das«, zischte die Schwarzhaarige mit dem stechenden Blick. »Du schwafelst etwas von einer dringenden Sitzung, ich kann allein hierher gehen, und jetzt kreuzt du doch auf.«
»Ich bin nicht der, der ich zu sein scheine«, flüsterte Rosa.
»Das kann jeder sagen«, krächzte die Frau mit vor Empörung verzerrter Stimme. »Wir sprechen uns noch.«
Rosa atmete tief durch, als die Schwarzhaarige losließ und Richtung Logen stürmte, dem Bürgermeister und seiner Frau hinterher.
Was für eine fatale Idee, hier als Friedhelm Hager aufzutreten! Erschöpft ließ sich Rosa auf eine der Sitzbänke fallen und überlegte, ob der tatsächliche Vizebürgermeister wirklich bei einer Sitzung war. Aber das war nicht ihr Problem.
Das Eintreffen von Frühauf und Marie brachte sie rasch auf andere Gedanken. Die beiden schritten – ja, anders konnte man den Auftritt der beiden nicht beschreiben – die beiden schritten auf ihre Sitzplätze im Parkett zu, stolz erhobener Häupter, mit Pudel Herbert im Schlepptau. Dieser tänzelte die Metalltreppe nach unten.
So eindrucksvoll der Einmarsch ihrer Lieben auch war, der Höhepunkt stand noch bevor. Noch hatte sie Herbert Frühaufs Zwillingsbruder Hermann Bischof-Frühauf nicht erblickt und knetete aus Nervosität das Papiertaschentuch, das sie in der linken Hand hielt, zu einem weißen Ball.
Doch was war das! Sie hörte Herbert Frühauf reden, obwohl er etwa zwanzig Meter vor ihr saß. Wie konnte das sein? Und sie vernahm eine nörgelnd-quengelnde weibliche Stimme, die eindeutig nicht zu Marie gehörte.
»Hast du schon Kontakt zu ihm aufgenommen? Wir müssen versuchen, ihn mit einem Projekt zu locken.«
»Das hat doch keinen Sinn, Babsi.«
»Nenn mich nicht Babsi. Ich bin die …«
»Barbara. Ich weiß.«
»Du kümmerst dich noch heute um die Sache. Da ist er ja. Du musst ihn begrüßen.«
»Das überlasse ich dir«, brummte der Mann mit Frühaufs Stimme und ging weiter, auf seinen Bruder Herbert zu.
Rosa musste den Blick abwenden, als Hermann Bischof-Frühauf von Marie und Herbert begrüßt wurde, so eifersüchtig war sie. Sogar der Pudel zeigte sich erfreut, als ihn der Mann streichelte. Und sie saß hier, in der lächerlichen Verkleidung und konnte nichts machen als zu schauen. Zuzuschauen, wie alle Augenblicke Menschen einander um den Hals fielen, vorsichtig, um weder Make-up noch Frisur zu beeinträchtigen und zuzuhören, den falsch klingenden Beteuerungen, dass man sich so wahnsinnig freue, den oder diejenige zu sehen. Lieber konzentrierte sich Rosa auf die Weisen der Stadtkapelle, die inzwischen das James-Bond-Thema intonierte.
Im Takt dazu wippend nahm nun auch der Steyrer Schriftsteller K.K. Meyer die Treppe nach unten, in Begleitung seines Großpudels Robert, eines Bruders von Herbert. Die beiden stammten vom selben Wurf.
Sowohl Herr als auch Hund boten einen traurigen Anblick. Beide waren viel zu stark geschoren. Der Herr am Kopf, der Hund am ganzen Körper. Und sie gingen nicht, sie schlichen dahin. Angeblich schrieb der Mann seine Romane in den frühen Morgenstunden. Den Rest des Tages waren dann er und sein Hund so müde, dass sie immer wieder einschliefen. Dem Vernehmen nach sogar bei Lesungen, die der Mann zweimal jährlich hielt. Eine Schande für seinen Berufsstand und die Stadt und die Züchterin aus Ternberg, fand Rosa.
Die Musik wurde lauter. James Bond ging in einen Tusch über, eine Frau in Frack und Zylinder lief in die Manege und verbeugte sich. War das nicht Lina Martini, die Autorin der Romane um Lisa Mahler? Eindeutig. Rosa schätzte die Krimis mit der lesbischen Ermittlerin aus der deutschen Hauptstadt, die es den Männern so richtig zeigte. Bei ihr waren alle Täter männlich.
So männlich wie auch Lina Martini mit ihrer schlanken Gestalt, dem kurzen, auf der linken Seite gescheitelten Haar. Auch die Stimme klang dunkel. Ob die Frau Hormone nahm?
Aber da war schon der Bürgermeister an Lina Martinis Seite, begrüßte die Autoren und Leser und schoss zur Eröffnung des großen Galaabends des deutschen Krimis mit einer Pistole in die Luft.
Lina Martinis Stimme klang noch eine Oktave tiefer, als sie Kurt Bachmann, dem Eröffnungsredner, die Hand drückte und ihn um eine Lesung aus seinem neuesten Roman Hörsturz bat.
Der Autor, der nach Rosas Schätzung um die 35 Jahre alt sein musste, hatte den für jüngere Männer unvermeidlichen Dreitagebart, der ein allerliebstes Grübchen an seinem Kinn teilweise verdeckte.
Überhaupt gefiel er ihr, abgesehen von seiner Stimme. Die war viel zu leise, sodass es ihr schwerfiel, seinem Vortrag zu folgen.
Er bezeichnete den Bischof-Verlag, in dem seine Romane erschienen waren, als den Krimiverlag schlechthin. Eine Behauptung, die auf manchen Rängen im Zelt nervöses Husten auslöste. Dann nahm er auf dem blutroten Sofa in der Mitte der Manege Platz, das Scheinwerferlicht konzentrierte sich auf ihn und das Buch, das er in Händen hielt.
Sakrileg, denkt Heiner Hellmann. Mohlberg hat das Sakrileg schlechthin begangen: den Mörder – oder besser – die Mörderin seines Krimis »Landnahme« zu verraten. In einer ansonsten recht positiven Rezension im »Anzeiger«. Und das nicht irrtümlich. Der Mann ist zu intelligent für einen solchen Lapsus. Lothar Mohlberg ist verärgert, dass der Verlag keine Anzeige schaltet, also verrät er den Mörder. Und deswegen wird er sterben.
Hellmann blickt durch das Fernrohr, das er auf einem Stativ befestigt hat. Er beobachtet den Mann am Computer in den Redaktionsräumen des »Anzeigers«.
Mohlberg schreibt einen Artikel, trinkt dazwischen aus einer weißen Tasse, versehen mit der Aufschrift »Vorsicht Gift« und bohrt immer wieder in der Nase, wobei er das, was er zutage fördert, an der Unterseite seiner Schreibtischplatte abstreift.
Ein Grund mehr, diesen unappetitlichen, selbstherrlichen Mann aus dem Verkehr zu ziehen.
Hellmann greift zu seinem Wertkartenhandy, das er für diesen Zweck, für diesen einzigen, entscheidenden Anruf erworben hat und tippt die Mobilnummer Mohlbergs in die Tasten. Bevor er die letzte Taste drückt, konzentriert er sich noch einmal auf das feiste Gesicht des Journalisten, dem er das manipulierte Smartphone untergejubelt hat. Dann ist es so weit.
Mohlberg greift nach seinem Handy, drückt die Empfangstaste, legt das Gerät an sein linkes Ohr und erschauert, erzittert, erstarrt, kippt auf die linke Seite seines Drehsessels und rührt sich nicht mehr. Schaut aus wie die Person aus Edvard Munchs Gemälde »Der Schrei«, den Mund als anklagendes O verzerrt.
Hellmann unterbricht das Gespräch, tritt auf sein billiges Handy, zertritt es und spült die Reste in der Toilette seines Hotelzimmers hinunter.
Vor Anspannung hatte Rosa für einige Sekunden auf das Atmen vergessen. Das gab es doch nicht! Kurt Bachmann schilderte in seinem Roman einen Mord, der auf exakt dieselbe Weise begangen wurde wie der Mord an dem Kulturredakteur des Telegraf. Der Mann, der den Mörder verraten hatte, starb infolge eines Stromschlags.
Rosa, der unter der grauen Perücke heiß geworden war, versuchte angesichts des dramatischen Ereignisses ruhig zu bleiben, obwohl ein einzelner Schweißtropfen von ihrer Stirn über die linke Wange lief und sie so sehr kitzelte, dass sie nach dem Taschentuch griff und damit an ihrem Gesicht rieb. Wenigstens war sie in ihrer Maske als Vizebürgermeister nicht geschminkt.
Jetzt war Maries Geistesgegenwart gefragt. Rosa ließ das Papiertaschentuch in der Anzughose verschwinden und fasste mit den Fingern der linken Hand in die Handfläche der rechten, wie beim Beten.
Und ihre inständigen Gedanken drangen offenbar zu ihrer Zwillingsschwester vor, die den rechts neben ihr sitzenden Chefinspektor im letzten Moment zurückhalten konnte, in die Manege zu stürmen und Kurt Bachmann zu verhaften. Wegen des Mordes an dem Literaturkritiker Reinhard Wegrosek.
»Bleib sitzen!«, befahl sie Herbert Frühauf, und Pudel Herbert, der die Unruhe Frühaufs ebenfalls gespürt und sich erhoben hatte, ließ sich gehorsam zu Boden fallen, verwundert ob des unfreundlichen Tons seiner Herrin.
»Dich meine ich, Frühauf«, stellte sie schließlich mit einem gefährlichen Zischen in ihrer Stimme klar. »Du bringst dich um deinen Job. Der Mann ist nicht so dumm, die Mordmethode öffentlich zu machen, wenn er der Täter ist.«
»Vielleicht nimmt er Kokain und hat die Kontrolle über sich verloren.«
»Vielleicht«, erwiderte Marie mit einem derart gefährlichen Ton in ihrer Stimme, dass der Chefinspektor zusammenzuckte. Außerdem hatte Rosmarie ihn soeben Frühauf genannt, und das bedeutete allerhöchste Gefahr für die Beziehung, also blieb er tatsächlich sitzen und schnaufte vor Anstrengung, die es ihn kostete, sich zu beherrschen.
»Und hör auf so zu schnaufen!«, gab Marie noch eins drauf.
»Aber atmen darf ich schon noch«, zeigte Frühauf ein letztes Fünkchen Widerstand, das jedoch sofort erlosch, als die zu seiner Rechten sitzende Frau ihn aufforderte, sofort still zu sein oder hinauszugehen.
»Ich bin doch nicht hierhergekommen, um mich von Ihnen belästigen zu lassen, Sie ungeschlachtes Wesen«, schimpfte nun eine Frau in der Reihe hinter ihnen.
Nun wiederum brachte die Wortwahl der Frau in Rot – denn diese war von ihrem Hütchen über das Kostüm und die Handtasche bis zu den Schuhen in Rot getaucht – Marie zum Lachen. Ungeschlachtes Wesen. Was für eine treffende Beschreibung für den Chefinspektor, der in Aussehen und Wesen einem Bernhardiner glich.
Als nun auch Herbert Frühauf zu lachen begann, war die Situation gerettet, und Marie musste nur mehr hinzufügen: »Wir besprechen das alles bei einem Bier bei mir«, um den Mann an ihrer Seite endgültig zu beruhigen.
»Bier bei dir«, wiederholte der Chefinspektor und lächelte glücklich vor sich hin, misstrauisch beäugt von der Frau in Rot.
Nach einigen weiteren Lesungen stimmten die Musikanten der Stadtkapelle den Schlager Ohne Krimi geht dieMimi nie ins Bett an und geleiteten damit, wie Lina Martini es ausdrückte, die verehrten Gäste des Krimifestivals in die Pause, auf die die Verleihung des Wiltons an Kurt Bachmann folgen würde.
Die Zuschauer gingen teilweise ins Freie, um frische Luft zu atmen, die meisten jedoch bewegten sich in Richtung Bar, die in einem Nebenzelt untergebracht war, an das ein Toilettenwagen anschloss.
Rosa, in der Hoffnung, auf Frühaufs Bruder Hermann zu stoßen, folgte in einigem Abstand Marie und dem Chefinspektor, die sich Gin Tonic und ein kleines Bier gönnten. Die Krise war also überstanden. Marie hatte den Chefinspektor erfolgreich vor einem fatalen Schritt bewahren können.
Ah, da war auch Herberts Zwillingsbruder, der seinen Arm um die Schulter Frühaufs legte und mit seinem Bierglas Marie zuprostete.
Die beiden Männer trugen unterschiedliche Kleidung, doch ansonsten … Man konnte sie nicht wirklich auseinanderhalten. Umso genauer beobachtete Rosa die Brüder und stieß tatsächlich auf ein Unterscheidungsmerkmal. Hermann Bischof-Frühauf rauchte in einem fort, obwohl im Zelt aus Brandschutzgründen Rauchverbot herrschte.
»Servus Friedhelm!«, wandte sich plötzlich eine Männerstimme an Rosa in Gestalt des Vizebürgermeisters. »Ich habe ein Anliegen an dich. Mein Neffe möchte bei den Stadtbetrieben unterkommen, und da dachte ich, du könntest ein gutes Wort für ihn einlegen.«