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Sherlock Holmes und Doktor Watson versuchen das Rätsel um den Untergang der Titanic im Jahr 1912 zu lösen. Dabei lernen sie Überlebende des Unglücks kennen, darunter den Kopf einer gefährlichen Verschwörung. Ihm ist die Frau auf den Fersen, die Holmes schon einmal hinters Licht geführt hat: Irene Adler, die Frau im Leben des großen Detektivs. Zwischen Holmes und Irene Adler entbrennt erneut ein erbitterter Kampf.Achtung:Die Print-Ausgabe unserer Sherlock-Holmes-Reihe ist nur noch exklusiv in unserem Shop erhältlich.
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Seitenzahl: 208
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DIE NEUEN FÄLLE DES MEISTERDETEKTIVS
SHERLOCK HOLMES
In dieser Reihe bisher erschienen:
3001 – Sherlock Holmes und die Zeitmaschine von Ralph E. Vaughan
3002 – Sherlock Holmes und die Moriarty-Lüge von J. J. Preyer
3003 – Sherlock Holmes und die geheimnisvolle Wand von Ronald M. Hahn
3004 – Sherlock Holmes und der Werwolf von Klaus-Peter Walter
3005 – Sherlock Holmes und der Teufel von St. James von J. J. Preyer
3006 – Dr. Watson von Michael Hardwick
3007 – Sherlock Holmes und die Drachenlady von Klaus-Peter Walter
3008 – Sherlock Holmes jagt Hieronymus Bosch von Martin Barkawitz
3009 – Sherlock Holmes und sein schwierigster Fall von Gary Lovisi
3010 – Sherlock Holmes und der Hund der Rache von Michael Hardwick
3011 – Sherlock Holmes und die indische Kette von Michael Buttler
3012 – Sherlock Holmes und der Fluch der Titanic
J. J. Preyer
SHERLOCK HOLMES
und der Fluch der Titanic
Nach den Charakteren Sherlock Holmes, Doktor Watson und Irene Adler
© 2015 BLITZ-Verlag
Redaktion: Jörg Kaegelmann
Lektorat: Dr. Richard Werner
Umschlaggestaltung: Mark Freier
Satz: Winfried Brand
Alle Rechte vorbehalten
www.BLITZ-Verlag.de
ISBN 978-3-95719-211-0
Kingsgate Castle, Wiltshire
29. Dezember 1902, Davidstag
Der athletisch wirkende junge Mann mit den wirren roten Haaren zog einen blühenden Kirschzweig aus der Vase und betrachtete ihn andächtig. Während Wasser auf die weiße Tischdecke tropfte, hob der Rothaarige zu singen an, zuerst etwas zaghaft, dann fester im Ton und sicherer.
Lo, how a Rose e’er blooming
From tender stem hath sprung!
Of Jesse’s lineage coming,
As men of old have sung.
It came, a flow’ret bright,
Amid the cold of winter,
When half spent was the night.
Es ist ein Ros entsprungen,
Aus einer Wurzel zart.
Nun schlossen sich die beiden anderen Zwanzigjährigen und ein älterer Mann, die mit dem Rothaarigen am Speisetisch saßen, dem Gesang an.
Wie uns die Alten sungen,
Aus Jesse kam die Art
Und hat ein Blümlein bracht,
Mitten im kalten Winter,
Wohl zu der halben Nacht.
»Wohl zu der halben Nacht«, wiederholte ein schmächtiger blonder Junge und trank das Glas mit dem Rotwein aus dem Süden Afrikas leer.
Der etwa vierzigjährige Colonel David King, ein kräftiger Mann mit gepflegtem Schnurrbart und einer kaum verheilten Schussverletzung an der linken Seite seiner Stirn, betätigte die Glocke, um den Butler zu rufen. »Das Mahl war vorzüglich, Jonathan. Danken Sie der Köchin und ihrem Gefolge in meinem Namen und im Namen meiner Gäste. Sie können die Teller abräumen. Und bringen Sie Nachschub! Der Wein ist alt, der Abend jung.«
Der Butler entfernte Geschirr und Servietten, dann kam er mit einem vollen Weinkrug zurück.
Colonel King füllte die Gläser und rief: »Auf den Sieg! Auf König David und seine Krieger!«
»Es lebe König David!«, jubelten die jungen Männer.
»Seid ihr bereit zur Lesung aus dem Heiligen Buch?«
»Wir sind bereit, Sir.«
Colonel King öffnete eine in dunkles Khaki gebundene Feldausgabe der Bibel und begann mit etwas undeutlicher Stimme zu lesen: »Und David ward lüstern und sprach: Wer will mir Wasser zu trinken holen aus dem Brunnen zu Bethlehem unter dem Tor? Da brachen die drei Helden ins Lager der Philister und schöpften Wasser aus dem Brunnen zu Bethlehem unter dem Tor und trugen’s und brachten’s David. Aber er wollte es nicht trinken, sondern gab es dem Herrn. Und sprach: Das lasse der Herr fern von mir sein, dass ich das tue! Ist’s nicht das Blut der Männer, die ihr Leben gewagt haben und dahingegangen sind? Und wollte es nicht trinken.«{1}
Colonel David King nahm einen tiefen Schluck aus seinem Trinkglas, dann wandte er sich wieder an seine Gäste: »Du bist Jasobeam, du Samma und du Eleasar. Ihr seid die drei Helden Davids, die die Philister besiegen, zu ihrem eigenen Ruhm und zum Ruhme ihres Königs. Denkt an die Worte des Heiligen Buches: Da brachen die drei Helden ins Lager der Philister und schöpften Wasser aus dem Brunnen zu Bethlehem unter dem Tor und trugen’s und brachten’s David. Eure große Tat geschah vor exakt einem Jahr, am Davidstag des Jahres 1901. Ihr brachtet mir, eurem Colonel, zum Ehrentag den Wein aus der Mitte der Feinde, aus dem Lager der Buren in Ysterspruit. Wie es im Heiligen Buche steht, opferten wir den Wein unserem allmächtigen Gott, der unsere Wege lenkt, uns den Sieg geschenkt hat und mich trotz der schweren Verwundung überleben ließ. Der euch, meine Krieger, nahezu unversehrt in die Heimat zurückführte.«
Der Colonel hatte sich von seinem Stuhl erhoben und schwankte leicht. Nicht unter dem Einfluss des Alkohols, sondern unter der Schwere seiner Gehirnverletzung, die auch seine Artikulation beeinträchtigte. »Mir wurde Anfang Dezember von Ihrer Majestät, der Queen unseres großartigen Landes, das Victoria-Kreuz verliehen, für Tapferkeit vor dem Feind.«
Die drei Soldaten klopften beifällig mit den Knöcheln ihrer Finger gegen die Tischplatte.
»Und weil ihr, meine Krieger, diese Auszeichnung mindestens ebenso verdient habt wie ich, habe ich euch zu dieser Feier nach Kingsgate eingeladen. Die tapfersten Soldaten meiner Truppe bekommen hiermit das Kreuz aus meiner Hand verliehen. Das Victoria-Kreuz für heldenhafte Taten im Südafrikanischen Krieg geht an Private Jasobeam, an Private Eleasar und an Private Samma.«
Mit unsicherer Hand heftete Colonel King den jungen Männern die Bronzemedaillen an ihre dunklen Jacketts, genau über dem Herzen. Dann nahm er die Kristallvase, der der Rothaarige den Kirschzweig entnommen hatte, goss das Wasser achtlos auf den Teppich des Speisesaals und füllte sie mit rotem Wein. Den Zweig tauchte er in die rote Flüssigkeit und stellte das Gefäß an das Fenster zum Park. Auf bunten Bleiglasscheiben wurde der Baum Jesse dargestellt, die Blutlinie des Hauses David, angefangen von Adam über König David und dessen Sohn Salomon, über den heiligen Josef und Jesus Christus bis herauf zu den verstorbenen Eltern des Schlossherren.
»Für den Herrn«, bemerkte der Colonel und füllte sein Glas und die Becher der Gäste bis zum Rand mit Rotwein. »Und das für uns. Auf unsere Zukunft!«
»Ich bedanke mich in meinem Namen und im Namen meiner Kameraden für die Auszeichnung, Sir!«, rief der blonde Junge mit den starken Brillengläsern. »Geben Sie einen Befehl, wir führen ihn aus!«
»Wir treffen uns in einem Jahr wieder. Hier, in meinem Schloss. Bis dahin macht ihr euch unentbehrlich im Umkreis eurer Väter. Versucht in euren zivilen Berufen voranzukommen, weit voran. Ich beobachtete euch lange im Krieg in Afrika und ich sah, dass ihr den Kameraden im Kopf und im Körper etwas voraushabt. Aber ich wählte euch auch wegen eures privaten Hintergrundes aus. Ihr könnt und werdet das Land verändern … verbessern.«
»Sagen Sie, was wir tun sollen, King David!«, rief der Blonde.
»Ihr könnt euch auf mich verlassen. Und ich mich auf euch, das weiß ich. Ich werde, sobald mein Kopf einigermaßen in Ordnung ist, wieder im Ministerium tätig sein. Ich trainiere täglich. Die Fortschritte sind zufriedenstellend.« Dann sagte er noch: »Und vergesst nicht das Symbol über dem Ausgang dieser Halle, die Schweigerose. Sie soll euch daran erinnern, dass nichts von dem, was hier gesprochen wird, nach außen dringen darf.«
»Wir werden schweigen, King David!«, riefen die Män-ner.
Draußen hatte es zu schneien begonnen. Der Schnee schluckte die ohnehin spärlichen Geräusche in der Landschaft Wiltshires.
Zwölf Jahre danach
9. Jänner 1915, 19:34 Uhr
Tallis Street 11, London
Das Wasser in der Wanne war noch etwas zu heiß, also ließ der schlanke, fast hagere Mann kaltes Wasser nachfließen. Der Dunst legte sich auf die Kacheln des Badezimmers der gemieteten Wohnung in der Tallis Street, unweit der Londoner Fleet Street. Der Journalist Stanley R. Evans (das R. stand für Richard) hatte die schäbige Unterkunft in dem Backsteingebäude aus dem vorigen Jahrhundert bezogen, weil es von hier nicht weit zu seinem Arbeitsplatz, dem Verlagsgebäude der Pall Mall Gazette, war und sich der junge Lokalreporter bisher von seinem bescheidenen Gehalt ein besseres Quartier in dieser Gegend nicht hatte leisten können.
Doch das war anders geworden, seit ihm dieser amerikanische Schriftsteller sein Buch zugeschickt hatte: Hoffnungslos – oder Das Wrack der Titan. Bevor Evans begonnen hatte, den Text von Morgan Robertson zu lesen, hatte er gemeint, er handle vom Untergang der Titanic, die am 15. April 1912 auf ihrer Fahrt von England nach New York vor Halifax gesunken war. Dann jedoch hatte der junge Journalist entdeckt, dass Robertsons Novelle bereits im Jahr 1898, also vierzehn Jahre vor dem Unglück, erschienen war. Das im Buch beschriebene Schiff Titan sank wie die Titanic im Nordatlantik nach der Kollision mit einem Eisberg. Der Lokalreporter erkannte die Chance, das Thema Untergang der Titanic neu zu beleben, und wandte sich an seinen erfahreneren Kollegen Conolly, der sofort einen Abdruck des Romans in Fortsetzungen in die Wege leitete.
Der Autor des Buches lebte in den Vereinigten Staaten von Amerika und bewilligte für ein relativ bescheidenes Honorar den Nachdruck in der Gazette. Zudem versprach Robertson weiteres sensationelles Material den Untergang der Titanic betreffend. Das war der Schneeball, der die Lawine auslöste. Von da an – es war Anfang Mai 1914 – überschlugen sich die Ereignisse.
Stanley Evans hatte seither keinen Augenblick der Ruhe gehabt, nicht einmal über Weihnachten. Der junge Journalist fühlte sich ausgelaugt. Er fand seit Tagen keinen Frieden mehr, konnte nicht schlafen. Seine Hände zitterten so stark, dass es ihm schwerfiel, auf seiner Remington zu schreiben oder sich eine Zigarette anzuzünden. Er würde sich, wenn das Ärgste vorüber war, mehr Zeit für sich selbst nehmen, in Ruhe essen, spazieren gehen.
Das Badewasser hatte endlich die richtige Temperatur, und Stanley Evans ließ sich in die mit den Jahren rau gewordene Wanne gleiten. Seine Haut gab vor dem Untertauchen verstärkt den Geruch von Zigarettenrauch ab.
Evans atmete durch. Die größte Hektik, die seine und Conollys Artikelserie über den Untergang der Titanic ausgelöst hatte, war ausgestanden. Kaum dass die Gazette mit dem Abdruck des Romans begonnen hatte, übermittelte ihm Morgan Robertson weitere Dokumente. Brisantes Material, das auf einen gigantischen Versicherungsbetrug schließen ließ.
Der Chefredakteur gab grünes Licht, sodass die Gazette den ganzen Dezember über die sensationelle Artikelserie veröffentlichen konnte. Und Evans und Conolly hatten noch einiges an Material auf Lager, das den Untergang der Titanic in neuem Licht zeigen würde. Diese Artikel sollten in den nächsten Tagen in Druck gehen. Dann würde er Urlaub machen und sich eine größere Wohnung suchen, eine komfortablere Bleibe, etwas außerhalb des Stadtzentrums gelegen.
Evans spürte einen kalten Luftzug an den Schultern. Er drehte seinen Kopf in Richtung Tür und erblickte einen in dunklen Khaki gekleideten Soldaten, der eine Colt-Browning M1895 auf ihn richtete, einen Gasdrucklader, wie er im Burenkrieg Verwendung gefunden hatte. Sekundenbruchteile später zerfetzte eine Serie von Schüssen den Kopf des Journalisten.
Bedächtig legte der Soldat einen blühenden Kirschzweig auf den Rand der Wanne.
Fairmount Hotel, Sussex
21. Jänner 1915
In der Times, die im ersten Monat des Jahres 1915 voll von Kriegsmeldungen war, las Sherlock Holmes über das Bombardement der Städte Great Yarmouth und King’s Lynn durch die Deutschen. Diese Luftangriffe mit Starrluftschiffen, die nach ihrem Konstrukteur Zeppeline genannt wurden, hatten zwanzig Menschenleben gefordert. Bereits der zweite spektakuläre Erfolg für die Deutschen in diesem jungen Jahr, überlegte Holmes. Am Neujahrstag hatte ein deutsches U-Boot das Kampfschiff HMS Formidable vor Lyme Regis in Dorset versenkt. Eine furchtbare Katastrophe für England und die ganze Welt, in die mittlerweile alle Staaten Europas, aber auch die USA verwickelt waren.
Es war an der Zeit, dass England alle seine Kräfte bündelte, dass alle politischen Lager in einer einzigen Regierung zusammenarbeiteten. Ansonsten … Mycroft Holmes, der Bruder des Detektivs, hatte Premier Asquith von der Liberalen Partei eine Konzentrationsregierung vorgeschlagen, an der auch die Konservativen beteiligt werden sollten. Wie sein Bruder sah auch Sherlock Holmes darin die einzige Chance für das Land; interne Zwistigkeiten mussten überwunden werden, um den gemeinsamen Feind, die Deutschen, besiegen zu können.
Der Wind trieb den Regen, der an diesem Morgen mit Schnee vermischt war, vom Kanalher gegen das Fairmount Hotelan den Klippen von Sussex. Ein Wetter, das Luftangriffe der Deutschen erschweren wird, überlegte Holmes und blätterte in seiner einen Tag alten Ausgabe der Londoner Zeitung.
Das Fairmount Hotellag zu weit von London entfernt, um eine täglich aktuelle Anlieferung der Times zu ermöglichen. So musste sich der Detektiv mit den Ausgaben des jeweiligen Vortages begnügen. Aber das war beinahe der einzige Nachteil seines neuen Zuhauses, in das er sich 1903 aus der Großstadt zurückgezogen hatte. Mit einundsechzig Jahren hatte er es sich verdient, das Leben im Lande und in der Welt mit etwas Distanz zu betrachten, meinte er, wohlversorgt durch Mr und Mrs Bromham, die jungen, bemühten Betreiber des Hotels, denen keine Anstrengung zu groß war, damit ihre vier Dauergäste mit Wärme und ausgezeichneten Mahlzeiten versorgt wurden.
Ein Klopfen an der Tür riss Holmes aus seinen Gedanken. Molly Fernwick, das Zimmermädchen, holte das Frühstückstablett ab und schob Holz in den offenen Kamin, der angenehme Wärme spendete. Als der Detektiv die Zeitung anschließend auf dem nun frei gewordenen Tisch am Fenster zum Meer ausbreitete, erregte ein unscheinbarer Bericht auf Seite fünf seine Aufmerksamkeit.
MORD AN JOURNALIST
Der junge Reporter Stanley R. Evans von der Pall Mall Gazette wurde am Abend des 9. Jänner im Badezimmer seiner Wohnung tot aufgefunden. Er starb nach Angaben der Metropolitan Police an mehreren Schussverletzungen, verursacht durch ein Maschinengewehr militärischer Herkunft. Wie die Polizei berichtet, fand man neben der Leiche einen blühenden Kirschzweig.
Evans war mit seiner Artikelserie über die Hintergründe des Titanic-Unglücks, die er gemeinsam mit einem Kollegen verfasste, bekannt geworden. Die Kollegen der Pall Mall Gazette zeigten sich erschüttert über den Tod ihres Mitarbeiters.
Trotz des nassen Winterwetters wollte Holmes nicht auf seinen Morgenspaziergang verzichten. Dieses Mal jedoch wählte er einen Pfad, der in das Landesinnere führte. Der Weg die Klippen entlang, den er ansonsten nahm, war den Winterstürmen zu sehr ausgesetzt. Als er nach einer Stunde durchnässt ins Hotel zurückkam, reichte ihm Mrs Halliwell, die verwitwete Mutter der jungen Hotelbesitzerin, die Post, die der Kutscher des Hotels aus dem benachbarten Yapton abgeholt hatte.
Holmes erkannte die Handschrift seines Bruders auf einem der Kuverts und öffnete dieses noch auf der Treppe zu seinen Zimmern im ersten Stock. Er vermutete, dass ihn Mycroft aus staatspolitischen Gründen kontaktierte, und dachte schon daran, abzulehnen. Immerhin lag die Schuld an der verfahrenen politischen Situation auch bei der englischen Regierung, und Holmes fühlte sich wenig geneigt, Position zu beziehen. Daher überraschte und beruhigte ihn der Inhalt des Schreibens. Mycroft Holmes schlug seinem Bruder ein Treffen im Londoner Diogenes Club vor, und zwar in einer wichtigen Angelegenheit, die in Zusammenhang mit dem Untergang der Titanic und Anschuldigungen eines Journalisten gegen einen persönlichen Freund Mycrofts stand.
Sherlock Holmes bat Mrs Halliwell, für elf Uhr eine Kutsche für die Fahrt nach London kommen zu lassen. »Ein wasser- und sturmdichtes Modell, wenn es sich machen lässt.«
»Sehr wohl, Mister Holmes. Simon wird Sie nach Yapton bringen und sich um ein geeignetes Gefährt für die Weiterfahrt kümmern.«
»Was würde ich wohl ohne Sie machen, Misses Halliwell«, bedankte sich der Detektiv.
»Jeder von uns ist ersetzbar, Mister Holmes«, antwortete die Witwe, die etwa das Alter von Holmes hatte.
»Mit Ausnahmen«, entgegnete Holmes.
»Natürlich. Entschuldigen Sie, Mister Holmes. Ich vergaß …«
»Ich denke ausnahmsweise nicht an mich, Misses Halliwell.«
Bevor Holmes den Brougham bestieg, verständigte er vom Postamt in Yapton aus seinen Bruder telefonisch, dass er ihn am übernächsten Tag zum Lunch im Club treffen werde. Er wollte zuvor noch einen Abstecher nach Tunbridge Wells zu seinem alten Freund und Biographen John Watson machen, der dort als Arzt für wohlhabende Londoner und Londonerinnen tätig war, die ihren Kuraufenthalt in der ruhigen Kleinstadt verbrachten. Der Doktor hatte sich, als er sechzig wurde, mit seiner dritten Frau, der charmanten Elsa, dorthin zurückgezogen.
Holmes war froh, als ihm der Turm von St. Swithun’s in East Grinstead, etwa fünfzehn Meilen westlich von Tunbridge Wells, das bevorstehende Ende der Zwischenetappe ankündigte. Es regnete heftig, aber wenigstens hatte der Schneefall nachgelassen, der dem Kutscher am Anfang der Reise so sehr die Sicht genommen hatte, dass sie nur langsam vorangekommen waren. Im Sommer, bei trockenem Wetter, war Tunbridge Wells in drei Stunden zu erreichen.
Mrs Elsa Watson, eine blühende Frau Ende vierzig, öffnete die Tür zu ihrem Haus, das in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Pantiles, dem Zentrum des eleganten Kurortes, lag.
»James«, so nannte Mrs Watson gelegentlich ihren Mann, »hat sich nach der Sprechstunde zurückgezogen. Ich werde ihn sofort rufen. Nehmen Sie doch Platz, Mister Holmes. Ich freue mich so sehr, Sie endlich wieder bei uns begrüßen zu können. Wie geht es Ihnen? Wie war die Fahrt?«
Holmes ließ Mrs Watson, die ohnehin auf keine Antwort wartete, geduldig ausreden und betrat das edle Haus.
»Holmes!« Watson kam etwas verschlafen die Treppe aus dem ersten Geschoss des Hauses herunter. »Ich habe Ihre Stimme erkannt.«
Der Detektiv wollte seinem Freund die Hand zur Begrüßung reichen, doch dieser umarmte ihn und drückte ihn fest an sich. Mrs Watson entfernte sich diskret und servierte den Männern wenig später im Salon des Hauses Sherry.
»Das Essen ist in einer halben Stunde fertig«, kündigte sie an. »Sie mögen doch Haddock, Mister Holmes? Ich muss auf die Gesundheit meines Mannes achten, und da ist Fisch am geeignetsten.«
»Sie sehen jünger aus als noch vor zehn Jahren«, sagte Holmes zu seinem Freund, nachdem sich die Dame des Hauses Richtung Küche entfernt hatte. »Die Ehe tut Ihnen sichtlich gut.«
»Ich war auch vor zehn Jahren verheiratet«, bemerkte der Doktor.
»Dann hat Ihr Aussehen andere Gründe. Womöglich hängt es damit zusammen, dass ich Sie nun mit meinen Fällen nicht mehr so strapaziere.«
»Das trifft in keiner Weise zu. Ihre detektivischen Fähigkeiten scheinen nachzulassen. Oder Sie wollen mich fernhalten von weiteren Ermittlungen, Holmes, und das gefällt mir gar nicht. Ich bin noch kein Greis und versichere Ihnen …«
»Es gibt keine weiteren Fälle, Watson, also auch keinen Grund, etwas vor Ihnen zu verbergen. Der Detektiv ist in den Ruhestand getreten und sieht keinen Anlass, daran etwas zu ändern.«
»Eine Lüge, eine glatte Lüge. Sie haben ein Leuchten in den Augen, das mir verrät, dass Sie einer interessanten Sache auf der Spur sind. Wie gern würde ich Sie wieder begleiten und die Praxis Praxis sein lassen und nach dem glücklichen Abschluss eines Falles darüber schreiben.«
»Und vernichtende Kritiken für die Bücher einstecken.«
»Ach, daher weht der Wind. Sie wollen nicht mehr, dass ich über Ihre Fälle schreibe, weil Sie meinen, dass meine schriftstellerischen Fähigkeiten ebenso bescheiden sind wie mein detektivisches Talent.«
»Aber nein«, beeilte sich Holmes zu widersprechen. »Im Gegenteil.«
»Was meinen Sie damit?«
»Womit, teurer Freund?«
»Mit im Gegenteil.«
»Eine Phrase, Doktor. Nur so dahingesagt. Sie haben meinen Ruhm mit Ihren wundervollen Textchen über die Welt verbreitet.«
»Textchen! Da haben wir es wieder. Sie selbst halten nichts von meinen Romanen.«
»Schluss jetzt!«, unterbrach Mrs Watson ihren Mann und den Detektiv und servierte Gemüsesuppe. »Wenn den Herren keine anderen Tischgespräche einfallen, verordne ich totales Stillschweigen während des Essens.«
Watson erwähnte das Thema nicht mehr bis zum frühen Nachmittag des nächsten Tages, als der Detektiv einen Brougham nach London bestieg. »Lassen Sie Misses Hudson grüßen«, sagte er noch, dann senkte er traurig den Blick und ging zurück in das Haus.
*
»Mister Holmes! Warum haben Sie mich nicht verständigt?«, klagte die Landlady des Hauses Baker Street 221b. »Die Räume im ersten Stock sind ungeheizt. Ich hätte …«
»Sehen Sie, Misses Hudson, das ist der Grund, warum ich unangemeldet komme«, unterbrach Holmes sie. »Ich werde mich um all das selbst kümmern.«
»Weil Sie meinen, dass ich in meinem Alter nicht mehr dazu fähig bin! Es ist ein Fluch, alt und hässlich zu werden.«
»Sie beleidigen mich, Misses Hudson«, erwiderte Holmes lächelnd. »So deutlich müssten Sie es nicht ausdrücken.«
Die alte Hausdame begann zu weinen. »Entschuldigen Sie, Mister Holmes … die Freude! Sie überwältigt mich. Dass Sie nun wieder da sind! Ich hoffe, es wird sein wie früher, als …«
»Als mir Misses Hudson Tee und Gebäck servierte.«
»Aber doch nicht am Abend!«, protestierte die über Achtzigjährige. »Haben Sie etwas Geduld. Bald gibt es ein Festessen.«
»Bei dem Sie mir Gesellschaft leisten werden«, fügte der Detektiv hinzu.
»Ach, Mister Holmes, Sie sind zu liebenswürdig. Ich weiß, was meine Aufgabe im Hause ist, der ich nun leider nicht mehr so wie früher nachkommen kann.«
»Sie fühlen sich krank, Misses Hudson?«
»Alt und müde bin ich geworden. Ich muss gestehen, dass mir meine Nichte hilft, das Haus und Ihre Wohnung in Ordnung zu halten. Ohne Helen wüsste ich nicht, was ich täte.«
»Ich hoffe, ich bekomme eine Chance, Ihre Nichte kennenzulernen«, erwiderte der Detektiv.
»Oh ja, Helen wird Ihnen das Frühstück bereiten. Sie ist momentan mit einem jungen Mann unterwegs, den sie …«
Das Frühstück, das Mrs Hudson und Ms Lomax zubereitet hatten, war besser als das im Fairmount Hotelund sogar reichhaltiger als jenes von Elsa Watson. Holmes bat Mrs Hudsons Nichte Helen, die die Teller und Tassen auf dem Tisch auftrug, sich einen Moment zu ihm zu setzen. Verlegen nahm das sechzehnjährige Mädchen am Frühstückstisch Platz.
»Sie kommen vom Land und sind harte Arbeit gewöhnt«, stellte der Detektiv fest. »Aber Sie sind glücklich bei Ihrer Tante, hier in der Großstadt.«
»Tante Jane hat Ihnen von mir erzählt?«, fragte das Mädchen.
»Wir hatten leider noch nicht die Gelegenheit zu einem längeren Gespräch«, heuchelte Holmes. »Ich schließe von der gesunden Gesichtsfarbe und den kräftigen Händen auf Ihren Hintergrund. Und die Tatsache, dass Ihnen Misses Hudson große Freiheiten gewährt, was Ihren Umgang mit jungen Männern betrifft, lässt ahnen, dass Sie nicht unglücklich sein können, Miss Lomax.«
Das junge Mädchen war errötet, aber Holmes erlöste es aus der unangenehmen Situation, indem er bat, für halb zehn eine Droschke für ihn zu bestellen. Erleichtert eilte Helen Lomax die Stiegen hinunter in das Erdgeschoss.
Diogenes Club
Pall Mall, London
Mycroft Holmes, der achtundsechzigjährige Bruder des Detektivs, ein untersetzter Mann von beachtlicher Statur, empfing Sherlock im Stranger’s Room, dem einzigen Ort im Gebäude des Diogenes Clubs, an dem Gespräche erlaubt waren.
»Ich gehöre zwar zu den Gründern dieses Clubs, doch selbst mir würde der unmittelbare Ausschluss drohen, sollte ich das Wichtigste unserer Gesetze brechen«, erklärte Mycroft Holmes.
»Das absolute Schweigegebot in den Clubräumlichkeiten.«
»So ist es, Bruder. Ein Paradies für Männer. Man ist in Gesellschaft und muss nicht reden. Du bist in letzter Zeit fülliger geworden, Sherlock.«
Sherlock Holmes erhob sich. »Da du mir anscheinend nichts Wesentliches mitzuteilen hast, wirst du verstehen, wenn ich mich entferne und dir die Möglichkeit gebe, in deinem Club weiter zu schweigen. Ein Verhalten, das ich dir angesichts dessen, was du vorzubringen hast, nur empfehlen kann.«
»Entschuldige, Sherlock. Ich dachte mir, gepflegte Scherze seien unter Brüdern möglich. Ich komme also zur Sache. Zu einer brisanten Sache, in der sich ein Clubmitglied an mich gewandt hat, mit der Bitte, dich zu beauftragen …«
»Ich nehme keine Aufträge mehr an«, unterbrach Sherlock Holmes.
»Mit der Bitte, dich höflichst zu ersuchen …«
»Und dieses Clubmitglied«, fiel Holmes seinem Bruder abermals ins Wort, »lauscht in diesem Moment an der halb geöffneten Tür zum Nebenraum.«
»Tritt ein, Bruce!«, sagte Mycroft Holmes in Richtung der Tür. »Der geniale Detektiv will es anders, als wir es uns gedacht haben.«
Ein schlanker Mann mit dunklem Haar und einem beinahe verwegenen Schnurrbart betrat den Stranger’s Room des Diogenes Clubs.
»Das ist mein Clubkollege Joseph Bruce Ismay, der Inhaber der White Star Line.«
Als Sherlock Holmes dem Mann die Hand schüttelte, bemerkte er, dass diese eiskalt und feucht war. Bruce Ismay stand unter psychischem Druck, was auch der starre Blick seiner eisgrauen Augen verriet.
»White Star Line«, wiederholte der Detektiv. »Das ist doch die Schifffahrtslinie, der die Titanic gehörte.«
»So ist es«, bestätigte Mycroft Holmes und zündete sich seine Bruyère-Pfeife an. Bald hüllte der aromatische Geruch des Royal Navy Flakes die Männer ein.
Der Cream-Sherry, den ein Butler des Clubs servierte, brachte ein wenig Farbe in das bleiche Gesicht des etwa fünfzigjährigen Bruce Ismay zurück. »Ja, die Titanic war der große Stolz von J. P. Morgan und mir.«
»John Pierpont Morgan ist der amerikanische Teilhaber Ihrer Firma, wenn ich mich nicht irre«, warf Sherlock Holmes ein.
»Sein Sohn, John P. Morgan junior, ist Eigentümer der International Mercantile Marine, der Mutterfirma von White Star«, präzisierte Bruce Ismay. »Sein Vater starb ein Jahr nach dem Untergang der Titanic, im März 1913.«
Mycroft Holmes fuhr fort: »Um zum Kern der Sache zu kommen: Die Gerüchte und Anschuldigungen gegen Bruce und seinen amerikanischen Freund sind seit dem Unglück nicht verstummt und haben durch die Sensationsartikel der Pall Mall Gazette neuen Auftrieb erhalten. Die verrückten Journalisten werfen Bruce und dem verstorbenen Pierpont Morgan vor, das Schiff versenkt zu haben, um für ihre Firma eine gigantische Versicherungssumme zu kassieren.«