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Wie einst Moses im Alten Testament wird ein Kind im Weidenkorb ausgesetzt und verändert wie jener die Welt. Zumindest die Welt einer Familie von Bierbrauern in der englischen Grafschaft Kent.Pater Brown, unterstützt von seinem Freund Hercule Flambeau und den Drei Gerechten, klärt fünf Morde auf, für die ein unheimlicher Täter verantwortlich ist.Die Printausgabe umfasst 160 Buchseiten.
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Seitenzahl: 197
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DIE NEUEN FÄLLE DES PATER BROWN
In dieser Reihe von J. J. Preyer bisher erschienen:
1101 Pater Brown und die Beichte des Großinquisitors
1102
J. J. Preyer
Pater Brown und das Lied vom Tod
Basierend auf den Charakteren von
© 2016 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 Windeck
Redaktion: Jörg Kaegelmann
Titelbild: Mark Freier
Umschlaggestaltung: Mark Freier
Satz: Winfried Brand
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-95719-952-2
Auf Pfarrer Wakefield war Verlass. Wenn er einen Termin hatte, fuhr er meist eine Viertelstunde früher weg, um auch dann noch pünktlich an sein Ziel zu kommen, wenn es Verkehrsstaus gab oder sein alter Vauxhall schlapp machte. Dieses Mal war Simon Wakefield eine ganze halbe Stunde früher gestartet, so wichtig war ihm der Termin bei seinem früheren Bischof.
Bischof emeritus Nathan Webber war ein gütiger, weiser Vorgesetzter gewesen, bis er vor acht Jahren in den Ruhestand trat. Die katholischen Pfarrer der im Südosten Englands gelegenen Grafschaft Kent hatten ihn Nathan den Weisen genannt und mussten sich erst an seinen Nachfolger gewöhnen. Sahen sie sich mit einem besonders schwierigen Fall der Seelsorge konfrontiert, suchten sie noch immer den Rat des früheren Bischofs.
So auch Simon Wakefield, der, tief in Gedanken versunken, durch die endlosen Reihen der nun traurig und leer wirkenden Hopfenfelder fuhr.
Es war Mitte Januar, die deprimierendste Zeit des Jahres, wie Pfarrer Wakefield es empfand. Der dichte Nebel über dem Land, der nur in Ausnahmefällen schwand und die Sonne durchließ, und das Fehlen jedweder Vegetation vervollständigten das Bild der Ödnis.
Die abgeernteten Hopfenfelder ließen kaum ahnen, dass die im nun kalten Boden ruhenden Pflanzen bis Ende Juli die Drähte und Stangen auf eine Höhe von über 20 Fuß emporwachsen würden.
Man konnte, wollte man dem Hopfen in dieser tristen Jahreszeit nicht ganz abschwören, das daraus gewonnene flüssige Produkt genießen, und das tat der Pfarrer für gewöhnlich auch im Oast House, dem Pub in der Nähe seines Pfarrhauses. Er trank sein würziges Mild Ale immer mit schlechtem Gewissen, denn alles, was Vergnügen bereitete, war dem spartanisch lebenden Geistlichen suspekt.
Aber, dachte der Pfarrer auf seiner Fahrt in den kleinen Ort Tenterden, heute Abend würde er sich mit zwei, drei Gläsern trösten, in dieser schwierigen Situation, aus der er momentan keinen Ausweg sah.
Jemand hatte im Rahmen einer Beichte von einem, wie ihm schien, teuflischen Verbrechen berichtet, dessen Ziel noch nicht erreicht war. Das hieß, dass noch Schreckliches geschehen würde.
Pfarrer Wakefield litt unter der schweren Last, die ihn schier zu erdrücken drohte. Er konnte nichts unternehmen, um den möglichen Opfern beizustehen. Das Beichtgeheimnis durfte nicht verletzt werden.
Da war ihm sein früherer Bischof eingefallen. Vielleicht wusste dieser einen Weg, den sich der Pfarrer im Moment nicht vorstellen konnte.
Der Pfarrer bemerkte nicht, dass ihm, seit er vom Pfarrhaus losgefahren war, ein schwarzer Jeep folgte, in dem ein Mann mittleren Alters saß, der auf dem Rücksitz eine Repetierbüchse liegen hatte, wie sie zur Fuchsjagd Verwendung fand.
Der emeritierte Bischof wohnte in einer Pension in dem Weiler Tenterden, in der drei weitere Dauergäste untergebracht waren. So musste er sich nicht um Dinge des täglichen Bedarfs wie Kochen oder gar Wäschewaschen kümmern. Er wurde umsorgt wie in seiner Zeit als Pfarrer und später als Bischof.
Da Pfarrer Wakefield sein Ziel, die Ingleden Park Road, eine halbe Stunde zu früh erreicht hatte, parkte er seinen Wagen in einiger Entfernung zur Unterkunft seines ehemaligen Vorgesetzten und wanderte die Straße entlang. Nach exakt zehn Minuten machte er kehrt und betrat die Villa Greensleeves fünf Minuten vor der vereinbarten Zeit.
Der Mann im Jeep beobachtete ihn von der gegenüberliegenden Straßenseite aus durch ein Zielfernrohr.
Der weißhaarige Bischof bat seinen Priesterkollegen in das Wohnzimmer seines Drei-Zimmer-Apartments im ersten Stock des geräumigen Hauses, das von einer Witwe Goldsmith geführt wurde.
„Gut schauen Sie aus, Wakefield. Das Leben in Maidstone scheint Ihnen zu bekommen“, begrüßte Bischof Webber den Pfarrer.
„Grundsätzlich ja“, erwiderte der dünne, hochgewachsene Mann mit dem rabenschwarzen, brav gescheitelten Haar.
„Ah ja. Bevor wir zu Ihrem Anliegen kommen, sollten wir uns etwas stärken. Spricht irgendetwas gegen ein Glas Bitter?“
„Tee wäre mit lieber, wenn ich so unbescheiden sein darf. Ich bin im Auto unterwegs.“
„Natürlich. Sehr vernünftig“, zeigte sich der Bischof leicht enttäuscht, entschloss sich aber, auf das belebende Getränk nicht zu verzichten und holte eine Flasche aus dem Kühlschrank.
Der Mann im schwarzen Jeep, der Pfarrer Wakefield die knapp 20 Meilen von Maidstone nach Tenterden gefolgt war, schlüpfte in die graue Uniform eines Mitarbeiters von British Telecommunications und verstaute die Büchse in einem ebenfalls grauen Kunststoffbehälter. Er betrat den schmucken Vorgarten des schneeweiß gestrichenen Hauses und begab sich in den kleinen Park hinter dem Gebäude.
Während der Bischof dem Bier zusprach und dreieckig geschnittene Gurkensandwiches servierte, die er bei Mrs Goldsmith bestellt hatte, trank der Pfarrer Tee mit Milch, den er, weil er sich nicht zu sehr verwöhnen wollte, nur sparsam süßte.
Pfarrer Wakefield war streng zu sich selbst, weil er durch die Beichten, die er immer wieder abnahm, von der Gier der Menschen wusste, die ganze Familien, wenn nicht sogar Dörfer, Städte und Länder zerstören konnte.
Bischof Webber, der seinen Kollegen nicht drängen wollte, verzichtete darauf, den Pfarrer nach dem Grund seines Besuches zu befragen. Er wartete geduldig, bis dieser selbst damit herausrückte.
Pfarrer Wakefield hatte sich exakt drei Stück der kleinen Brötchen auf seinen Teller gelegt. Mehr gönnte er sich nicht, obwohl er sie besonders schmackhaft fand. Sie waren mit einem Hauch Paprika gewürzt, und auch die mild gesalzene Butter verlieh den Sandwiches ein höchst angenehmes Aroma.
Wie schön könnte die Welt sein, wenn es keine Menschen gäbe, dachte der Priester und schämte sich zugleich dieses Gedankens. Immerhin war der Mensch von Gott geschaffen worden. Und wer war er, die Werke Gottes beurteilen oder gar kritisieren zu wollen?
„Ich bin in einer Zwickmühle“, begann der Pfarrer. „Ich habe im Rahmen einer Beichte von einem Verbrechen erfahren, das auf lange Sicht geplant wurde, dessen unheilvolles Ergebnis sich also erst entfalten wird.“
„Und Sie halten sich, wie es unsere Pflicht verlangt, an das Beichtgeheimnis“, wandte der frühere Bischof ein.
„Natürlich. Obwohl es wichtig wäre, Schritte gegen den Täter zu setzen, um großes Unheil zu verhindern.“
„Das liegt in Gottes Hand“, sagte der Bischof.
Der Mann im grauen Overall erklomm geschickt die alte Eiche im Park hinter dem Haus, lehnte sich gegen einen aufwärtsstrebenden Ast, zog die Büchse mit dem Zielfernrohr aus dem Behälter und setzte sie zusammen. Durch das beleuchtete Fenster im ersten Stock sah er die Köpfe der beiden Priester und konnte sie anvisieren.
„Wenn Sie wollen, berate ich Sie gerne“, schlug der Bischof vor und nippte von seinem Bier. „Im Rahmen einer Beichte können Sie mir alles anvertrauen, was Sie wissen, ohne das Beichtgeheimnis zu verletzen, denn dann bin ich derjenige, der zum Schweigen verpflichtet ist.“
„Ein grandioser Vorschlag“, zeigte sich der Pfarrer begeistert. „Darauf wäre ich nie gekommen.“
„Wollen Sie hier oder in der Kirche beichten?“
„In der Kirche, im Beichtstuhl, wäre es mir lieber.“
„Gut, dann gehen wir.“
Der Mann auf dem Eichbaum verstaute seine Waffe im Futteral und kletterte den breiten Stamm hinunter. Die beiden Männer waren nun vom Freien aus nicht mehr sichtbar, und er musste sich eine andere Strategie überlegen, um an sie heranzukommen. Sein Plan bestand darin, sie zu eliminieren, weil einer von ihnen zu viel wusste und sein unheilvolles Wissen dem anderen anvertrauen würde.
Als er sah, dass sie zu Fuß auf die St. Andrew’s Church zustrebten, folgte er ihnen in einiger Distanz. Der Ziegelbau entsprach nicht seiner Vorstellung einer anständigen Kirche. Er war viel zu modern und hatte nicht einmal einen Turm.
Bischof Webber nahm im Mittelteil des aus hellem Holz gefertigten Beichtstuhls Platz, während sich Pfarrer Wakefield an die linke Seite kniete.
Er bekreuzigte sich im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.
Bischof Webber flüsterte: „Gott, der unser Herz erleuchtet, schenke dir wahre Erkenntnis deiner Sünden und Seiner Barmherzigkeit.“
„Amen. Ich beginne meine Beichte mit dem Bekenntnis der Hilflosigkeit, der Sünde der Hilflosigkeit, die einem Mann in meinen Jahren nicht passieren dürfte.“
„Es ist keine Sünde, den Rat eines anderen Menschen zu suchen, der wiederum Gott um Hilfe bittet. Aber erzähl, was dir auf dem Herzen liegt, Bruder.“
„Jemand hat von einem fürchterlichen Plan berichtet, der unabsehbare Folgen haben wird. Mir ist in meinem ganzen Leben so etwas nicht vorgekommen.“
„Berichte, Bruder!“
„Es begann damit, dass …“
In diesem Moment knallten zwei Schüsse durch die Kirche von St. Andrew’s, das Beichtgespräch der beiden Männer verstummte. Der fremde Schütze blickte hinter die Vorhänge des Beichtstuhls, um zu prüfen, ob die Priester noch lebten. Der Bischof war tot, doch der Pfarrer atmete noch. Ein weiterer Schuss in die Stirn schaffte die nötige Klarheit. Nun konnten die beiden Schwätzer das Geheimnis nicht mehr verraten.
Pater Jeremiah Brown, der Pfarrer des kleinen Ortes Edenbridge, hatte Mitleid mit allen Erdenbürgern, die im Januar geboren wurden, dem dunkelsten und unfreundlichsten Monat des Jahres, während das Vergnügen der Eltern, das letztlich der Ausgangspunkt war, in den Monat April des Vorjahres fiel, eine Jahreszeit, in der die Natur und alles Getier und der Mensch zu neuem Leben erwachten.
Die armen Babys mussten das ausbaden und wurden allesamt – milde ausgedrückt – komplexe Persönlichkeiten, sobald sie heranwuchsen.
Um das Ungemach für die Neugeborenen, die in der kalten Kirche getauft wurden, etwas zu mildern, ließ Pater Brown einen besonders wirksamen Baustellenventilator aufstellen, der, an eine Starkstromleitung angeschlossen, rasch für erträgliche Temperaturen in der Taufkapelle sorgte. Auch das Taufwasser temperierte er, indem er heißes Wasser aus einem Wasserkocher, mit dem er für gewöhnlich Tee zubereitete, in die geweihte Flüssigkeit goss.
Der vier Tage alte Junge, der auf den Namen Randolph getauft werden sollte, lag unter einer kuscheligen Decke in einem Weidenkorb.
Dieser Umstand verleitete Pater Brown zu einer Ansprache, in der er Bezug auf den Propheten Moses nahm, der, neugeboren, in einem mit Pech wasserdicht gemachten Weidenkorb im Fluss ausgesetzt wurde und das Glück hatte, nicht von Krokodilen gefressen zu werden.
„Und ein Mann vom Hause Levi ging hin und nahm eine Tochter Levis“, zitierte der Pater aus dem Alten Testament. „Und die Frau ward schwanger und gebar einen Sohn. Und sie sah, dass er schön war und verbarg ihn drei Monate.Und als sie ihn nicht länger verbergen konnte, nahm sie für ihn ein Kästlein von Schilfrohr und verpichte es mit Erdharz und mit Pech und legte das Kind darein und legte es in das Schilf am Ufer des Stromes.Und seine Schwester stellte sich von Ferne, um zu erfahren, was ihm geschehen würde.Und die Tochter des Pharaos ging hinab, um an dem Strome zu baden, und ihre Mägde gingen an der Seite des Stromes. Und sie sah das Kästlein mitten im Schilf und sandte ihre Magd hin und ließ es holen.Und sie öffnete es und sah das Kind, und siehe, der Knabe weinte. Und es erbarmte sie seiner, und sie sprach: Von den Kindern der Hebräer ist dieses.Und seine Schwester sprach zu der Tochter des Pharaos: Soll ich hingehen und dir eine stillende Frau von den Hebräerinnen rufen, dass sie dir das Kind säuge?Und die Tochter des Pharaos sprach zu ihr: Gehe hin. Da ging die Jungfrau hin und rief des Kindes Mutter.Und die Tochter des Pharaos sprach zu ihr: Nimm dieses Kind mit und säuge es mir, und ich werde dir deinen Lohn geben. Und die Frau nahm das Kind und säugte es.Und als das Kind groß wurde, brachte sie es der Tochter des Pharaos, und es wurde ihr zum Sohne; und sie gab ihm den Namen Mose und sprach: denn aus dem Wasser habe ich ihn gezogen.“
Pater Browns angenehme Stimme und die vielen Und in dem Text hatten auf den kleinen Randolph eine derartig beruhigende Wirkung, dass er in seinem Korb friedlich schlief. Nur die Händchen bewegten sich im Traum.
„Diese Bibelstelle, die ich zur Taufe von Master Randolph Larkin gewählt habe“, predigte Pater Brown, „verdeutlicht, dass selbst später große Männer wie der Prophet Moses, dem Gott die Zehn Gebote anvertraut hat, am Beginn ihres Lebens hilflos auf andere Menschen angewiesen sind. Und oft sieht es am Ende des Lebens nicht anders aus. Das Leben von Neugeborenen und Alten und Siechen liegt buchstäblich in der Hand ihrer Mitmenschen. Und Gott gebe, dass dies so gute Hände sind wie im Falle unseres kleinen Randolph, dem ich eine große Zukunft wünsche.“
Pater Brown bat nun die Familie an den Taufbrunnen. Die Mutter hob den kleinen Jungen aus dem Korb und bettete ihn auf ihren rechten Arm. Der Taufpate, ein Onkel, berührte ihn mit der rechten Hand.
„Liebe Familie Larkin“, sprach der Pater, „nachdem wir jetzt gemeinsam den Glauben der Kirche bekannt haben, frage ich Sie: Wollen Sie, dass Ihr Kind in diesem Glauben die Taufe empfängt?“
Die Eltern und der Pate antworteten mit einem Ja, die Mutter hielt das Baby über das geöffnete Taufbecken, der Pater goss aus einem goldenen Becher das geweihte Wasser über den Kopf Randolphs. Dieser gluckste vor sich hin, weil ihm die lauwarme Flüssigkeit Vergnügen bereitete, und alle Anwesenden, inklusive dem Pater, schlossen sich dem Lächeln an.
Der Pater kehrte zufrieden in das Pfarrhaus zurück. Die Fröhlichkeit des Kindes hatte den grauen Januartag erhellt.
„Die Sandwiches sind im Kühlschrank. Soll ich noch Tee machen“, fragte Phyllis Eliot, der gute Geist in Pfarrhaus und Kirche.
„Nein, das übernehme natürlich ich. Ich weiß nicht, ob Mrs Gardner pünktlich eintreffen wird. Und danke für die wunderschönen Tulpen mitten im Winter.“
„Gern geschehen. Sie rufen mich an, wenn Sie etwas brauchen. Ansonsten komme ich morgen wieder.“
Heather Gardner betrat mit dem elften Glockenschlag der Kirchturmuhr das Pfarrhaus der St. Lawrence’s Church und begrüßte den Pater mit einem kräftigen Händedruck, der zu der großen, grauhaarigen Frau passte.
Ihrem Gesichtsausdruck entnahm der Pfarrer, dass sie in ernster Mission unterwegs war. Sie hatte ihn dringend um ein Gespräch gebeten.
Der Pater setzte den Wasserkocher, der sich schon bei der Taufe wunderbar bewährt hatte, in Gang und holte die Sandwiches aus dem Kühlschrank.
Mrs Gardner und er nahmen in den gemütlichen, schon etwas abgenutzten Polstersesseln Platz, und der Pater wartete, was die Richterin im Ruhestand ihm mitzuteilen hatte. Er kannte die Frau nur flüchtig, hatte im bisherigen Verlauf seines Lebens kaum mit ihr Kontakt gehabt und war nun neugierig, welches Anliegen sie zu ihm führte. Wahrscheinlich eine Hochzeit, oder doch eher eine Trauerfeier.
„Ich habe uns etwas mitgebracht“, sagte die Frau mit der tiefen Stimme eines Mannes und stellte eine Flasche Glendronach auf den Tisch. „Dieser Whiskey“, erklärte sie, „ist mindestens zwölf Jahre im Sherry-Fass gereift. Ich bin nämlich keine Teeliebhaberin.“
„Ich schätze beides“, erklärte der Pater und stellte zwei Gläser auf den Tisch, die die Richterin großzügig mit der auffallend dunklen Flüssigkeit befüllte.
„Na, was sagen Sie dazu?“, erkundigte sich Mrs Gardner, nachdem beide davon probiert hatten.
„Nicht schlecht. Ein sehr volles Aroma.“
„Das ist eine etwas zurückhaltende Beschreibung eines grandiosen Getränks.“
„Wie würden Sie es formulieren?“
„Ich würde von sherrygetränkten Trauben und Johannisbeeren, von Marmelade und Espresso in der Nase sprechen und von einer Explosion an kandierten Orangen und dunkler, leicht gekühlter Schokolade, kombiniert mit einer fantastischen, reichhaltigen Fruchtsüße, die überleitet in weiche Toffeearomen im langen Finish am Gaumen.“
„Meine Worte, meine Worte“, stellte der Pater lächelnd fest. „Genauso hätte ich es beschrieben, wäre ich sprachlich begabter.“
„Alles klar. Ich komme nun zu meinem Anliegen. Einer meiner besten Freunde ist ermordet worden. Es handelt sich dabei um einen Menschen, den auch Sie kennen, Pater, nämlich um Ihren früheren Bischof Nathan Webber. Er war offenbar einer großen Sache auf der Spur, als man ihn und einen Pfarrer erschoss.“
„Ich habe davon gelesen“, meldete sich der Pater zu Wort.
„Und Sie überlegen schon, wer diesen Frevel begangen haben und wie man ihn zur Rechenschaft ziehen könnte.“
„Ich denke, das ist Sache der Polizei.“
„Wie auch immer“, sagte die pensionierte Richterin und schlug mit der Faust auf den Tisch. „Um das zu klären, gibt es die Drei Gerechten, die derzeit um einen Mann dezimiert sind.“
Pater Brown lächelte. Er dachte an die Bibelstelle vom Weltgericht, in der die Gerechten ins Himmelreich aufgenommen, während die Selbstgerechten zu ewiger Pein verdammt wurden, und er zitierte das Buch Matthäus: „Wahrlich ich sage euch: Was ihr nicht getan habt einem unter diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan. Und sie werden in die ewige Pein gehen, aber die Gerechten in das ewige Leben.“
„Nun, einer von uns ist hoffentlich in das ewige Leben eingegangen“, sagte die Richterin trocken und füllte ihr Glas. „Sie müssen wissen, dass Bischof Webber einer von uns war und dass wir Ersatz suchen. Ich und Oberst Osbourne.“
„Oberst Osbourne ist also einer der Drei Gerechten“, schloss Pater Brown, und seine grauen Augen blickten freundlich durch die Harry-Potter-Brille auf sein Gegenüber.
„Ich weiß nicht, Pater, ob Sie mich verspotten, oder ob Sie es ernst meinen.“
„Oh, ich versichere Ihnen, geschätzte Frau Rat …“
„Da sehen Sie es, Pater. Auch die Anrede Frau Rat beinhaltet doch, wie soll ich sagen, kritische Distanz.“
„Wie wünschen Sie angeredet zu werden?“
„Freunde nennen mich Heather.“
„Mich nennen sie Jeremiah.“
„Und Sie meinen, wir könnten Freunde werden?“
„Ich halte es für möglich, wenn Sie mir erklären, welche Aufgabe die Drei Gerechten in dieser Welt übernommen, welches Anliegen Sie an mich und warum Sie den dritten Gerechten verloren haben, Heather.“
„Gut. Deswegen bin ich zu Ihnen gekommen, Jeremiah. Nein, das passt nicht. Sie sind für mich der Pater. Ich bleibe bei Pater.“
„Ich bin damit einverstanden.“
„Bischof Webber, ich und Oberst Osbourne haben es uns zur Aufgabe gemacht, ungeklärten Übeltaten nachzugehen und den Menschen, die darin verwickelt sind, zu helfen.“
„Die Täter der irdischen Gerechtigkeit zuzuführen?“
„Bischof Webber achtete darauf, auf oberflächliche Resultate zu verzichten. Wichtig war ihm zu verhindern, dass weitere Verbrechen begangen wurden.“
„Das liegt auch in meinem Sinn, wenn ich mich um die Lösung von Fällen bemühe.“
„Das wissen wir. Und das ist der Grund, warum ich mich an Sie wende, Pater. Wir brauchen einen Dritten, am besten aus demselben Berufsstand wie der ermordete Bischof …“
„Und Sie wollen herausfinden, wer ihn aus welchem Grund getötet hat.“
„Ihn und den Pfarrer.“
„Sie fragen und erhalten eine klare Antwort: Ich selbst fühle mich nicht als gerechter Mann, also bin ich kein geeigneter Nachfolger eines solchen. Aber mich reizt es, das Geheimnis um den Tod zweier Berufskollegen zu klären und weitere Verbrechen zu verhindern.“
„Nathan muss von Pfarrer Wakefield etwas Schreckliches erfahren haben.“
„Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Heather“, sagte Pater Brown, und seine vollen Wangen leuchteten rot wie die Äpfel im Herbst. „Ich werde versuchen, den Fall mit Ihnen zu lösen, mit der Hilfe eines wunderbaren Mannes, mit dem ich immer wieder zusammenarbeite.“
„Das enttäuscht mich aber, Pater.“
„Sie werden es nicht bereuen, wenn Sie meinen Freund Hercule Flambeau zu Ihrem dritten Gerechten machen. Ich werde ihn unterstützen, soweit es geht.“
„Eine Empfehlung von Ihnen hat natürlich Gewicht. Könnten Sie mir verraten, wer dieser Mann mit dem französisch klingenden Namen ist?“
„Privatdetektiv Hercule Flambeau, im besten Mannesalter, ein Mensch, der einen scharfen Verstand mit körperlicher Geschmeidigkeit verbindet.“
„Wo wohnt und arbeitet Ihr Freund?“
„Er wohnt, seitdem er sich verliebt hat, in Edenbridge. Seine Detektivagentur liegt in Tonbridge …“
„Um die Adresse kümmern wir uns selbst.“
„Sie wollen direkt Kontakt zu ihm aufnehmen?“, erkundigte sich Pater Brown.
„Wir wollen ihn in seinem täglichen Leben beobachten, um herauszufinden, ob er zu uns passt. Daher bitte ich Sie, nicht mit ihm über unser Anliegen zu reden, damit er nicht vorgewarnt ist. Das alles übernehmen wir.“
„Gut, ich bin auf das Ergebnis gespannt.“
„Und Sie wollen es wirklich nicht selbst machen, Pater?“
„Nein. Mir genügt es, ein halber Gerechter zu sein. Die dreieinhalb Gerechten wäre doch ein interessanter Name.“
„Wir bleiben bei den Drei Gerechten, und darauf trinken wir.“
Das Gespräch mit der resoluten Richterin und der ausgezeichnete Whiskey hatten Pater Brown müde werden lassen, und er entschloss sich zu einem entspannenden Mittagsschläfchen auf der Couch in seinem Arbeitszimmer.
Etwas Glendronach war noch in der Flasche, also leerte Pater Brown die Hälfte davon in sein Glas, den Rest wollte er für Hercule aufheben. Er sollte ihn probieren und vielleicht mitentscheiden, ob sie bei ihrem geschätzten Tullamore Dew bleiben oder auf die neue Marke umsteigen sollten.
Zum Vergleich trank Pater Brown auch einen Schluck seines gewohnten Whiskeys, legte sich aber, ohne ein Urteil gefällt zu haben, auf die Couch und hüllte sich in die karierte Wolldecke.
Als er erwachte, dachte der Pater nicht mehr an Whiskey oder die Drei Gerechten, nicht einmal an Gott. Ein bohrender Schmerz hatte sich in seinem rechten Unterkiefer breitgemacht, der alles andere überdeckte.
Pater Brown hatte zwar noch all seine Zähne, aber was wollte man machen: Mit 54 war man nicht mehr der Jüngste. Der Verfall, der Abstieg, begann, fand der Pater in diesem Augenblick. Er musste morgen früh zu Dr. Perkinson und fürchtete schon jetzt das lange Sitzen im Wartezimmer und die Schmerzen der Behandlung.
Die Ankunft seines Freundes Hercule Flambeau lenkte ihn von seinen trüben Gedanken ab, die perfekt zum Wetter passten. Inzwischen hatte es heftig zu regnen begonnen. Der Detektiv war völlig durchnässt, obwohl er nur von seinem alten Mercedes zum Pfarrhaus gelaufen war.
Flambeaus Augen leuchteten geradezu vor verhaltener Energie. Irgendetwas musste vorgefallen sein, das den 39-jährigen Mann in den Panther seiner jungen Jahre zurückverwandelt hatte.
Ein schwarzer Panther kurz vor dem Sprung, fand Pater Brown und fragte seinen Freund, was ihn bewege.
„Eine Riesin von einer Frau verfolgt mich seit Stunden. Bis hierher. Und dieses Monster von einem Weib glaubt, ich würde sie nicht bemerken. Ich vermute, da steckt nichts Gutes dahinter.“
„Oder es will Sie jemand kennenlernen, um Sie mit einem neuen Fall zu betrauen.“
„Das heißt in anderen Worten, Sie wissen, Pater, wer Wanda, das Riesenweib, ist und was dieses im Schilde führt.“
„Och, dazu kann ich nichts sagen.“
„Hat sie bei Ihnen gebeichtet?“
„Sie war bei mir und hat mich mit einem interessanten Whiskey beschenkt. Ich hab Ihnen einen Schluck übrig gelassen.“
„Oh, Glendronach. Nicht ganz mein Geschmack, aber er lässt sich trinken. Mhm. So gut habe ich ihn nicht in Erinnerung. Das schmeckt nach mehr.“
Pater Brown bedauerte, dass er nicht mehr übrig gelassen hatte und genehmigte sich ein weiteres Glas Tullamore Dew. Er spülte seinen Mund, bevor er die Flüssigkeit schluckte, in der Hoffnung, dass der Alkohol seine Zahnschmerzen lindere.
In diesem Moment läutete es lange und durchdringend an der Haustür.
Pater Brown ging öffnen und kam mit Richterin Gardner zurück an den Küchentisch, an dem Flambeau und er besonders gerne saßen.
„Ich sehe, Sie brauchen Nachschub“, sagte die Frau, noch bevor sie Flambeau begrüßt hatte, verließ den Raum und kehrte nach einigen Minuten mit einer vollen Flasche Glendronach zurück, knallte diese auf den Tisch und öffnete den Drehverschluss.
„Ich bin Heather Gardner, pensionierte Richterin und eine der Drei Gerechten. Ich möchte Sie, Mister Flambeau, als dritten Gerechten anwerben, weil Ihr Vorgänger ermordet worden ist. Meine ursprüngliche Wahl galt Pater Brown, der will aber nicht, also haben wir uns für Sie entschieden.“
Flambeau wirkte nun nicht mehr wie ein Panther vor dem Sprung, sondern wie ein schwarzes Kätzchen, das von einem Bullterrier attackiert wurde.
„Aber …“, sagte er. Mehr fiel ihm nicht ein.
„Darauf trinken wir ein Glas Glendronach.“
„Sie denken daran, dass Sie noch mit dem Auto fahren müssen, Mrs Gardner“, warnte der Pater.
„Heather“, donnerte die Richterin. „Ich verständige bei solchen Gelegenheiten den Oberst. Er trinkt nicht und holt mich ab, wenn es nötig ist. Bei der Gelegenheit lernen Sie auch ihn kennen, Hercule.“
„Ja, Mrs Gardner“, sagte Flambeau und erinnerte den Pater an einen verschüchterten Jungen.