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Der Meisterdetektiv Sherlock Holmes und Dr. Watson erforschen ein geheimnisvolles Kornfeld und stoßen auf die Spur einer gigantischen Verschwörung.Jack the Ripper, die Freimaurer, die Bundeslade des Alten Testaments, die Schriftstellerin Virginia Woolf und natürlich Professor Moriarty mischen in dem turbulenten Geschehen mit, an dessen Ende das größte Geheimnis Englands gelüftet wird.
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Seitenzahl: 217
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DIE NEUEN FÄLLE DES MEISTERDETEKTIVS
SHERLOCK HOLMES
In dieser Reihe bisher erschienen:
3001 – Sherlock Holmes und die Zeitmaschine von Ralph E. Vaughan
3002 – Sherlock Holmes und die Moriarty-Lüge von J. J. Preyer
3003 – Sherlock Holmes und die geheimnisvolle Wand von Ronald M. Hahn
3004 – Sherlock Holmes und der Werwolf von Klaus-Peter Walter
3005 – Sherlock Holmes und der Teufel von St. James von J. J. Preyer
3006 – Dr. Watson von Michael Hardwick
3007 – Sherlock Holmes und die Drachenlady von Klaus-Peter Walter
3008 – Sherlock Holmes jagt Hieronymus Bosch von Martin Barkawitz
3009 – Sherlock Holmes und sein schwierigster Fall von Gary Lovisi
3010 – Sherlock Holmes und der Hund der Rache von Michael Hardwick
3011 – Sherlock Holmes und die indische Kette von Michael Buttler
3012 – Sherlock Holmes und der Fluch der Titanic von J. J. Preyer
3013 – Sherlock Holmes und das Freimaurerkomplott von J. J. Preyer
3014 – Sherlock Holmes im Auftrag der Krone von G. G. Grandt
3015 – Sherlock Holmes und die Diamanten der Prinzessin
J. J. Preyer
SHERLOCK HOLMES
und das Freimaurerkomplott
Basierend auf den Charakteren von
© 2015 BLITZ-Verlag
Redaktion: Jörg Kaegelmann
Lektorat: Dr. Richard Werner
Umschlaggestaltung: Mark Freier
Satz: Winfried Brand
Alle Rechte vorbehalten
www.BLITZ-Verlag.de
ISBN 978-3-95719-212-7
Wer keine Kinder hat, schreibt Bücher, heißt es.
Möglich. Dieses Buch jedenfalls soll ein Vermächtnis sein, eine Erinnerung an den großen Detektiv Sherlock Holmes, der so etwas wie ein Vater für mich geworden ist, und an Dr. John Watson, den ich wegen seiner gutmütig-herzlichen Art als einen lieben Onkel betrachte.
Es ist Winter, drei Jahre nach dem zweiten großen Krieg. Ich sitze im Fairmount Hotel in Sussex und schaue von jenem Zimmer, das Sherlock Holmes in den letzten Jahrzehnten seines Lebens bewohnte, auf das Meer. Ich habe alles so belassen, wie es war. Nur so konnte ich die Stimmen und die Gemütsverfassung wachrufen, um dieses Buch zu schreiben.
Die früheren Gäste des Hotels und die noch unzerstörte Natur des Sussex von damals wurden für mich in den Stunden des Schreibens wieder lebendig. Und natürlich Sherlock Holmes und Doktor Watson.
Mühsam schob Mona ihr schweres Herrenfahrrad mit dem Weidenkorb bergauf und nahm den Weg durch den Devil’s Dyke, in dem ein Weizenfeld ihres Vaters lag. Die Hügel, die das Tal umgaben, schützten es gegen den rauen Wind des Meeres und begünstigten somit den Anbau von Zuchtgetreide.
Der Weizen des heurigen Jahres war schon kräftig gewachsen und leuchtete silbern. Das beunruhigte sie. Noch nie hatte sie ein Feld in dieser ungewöhnlichen Farbe gesehen, doch sie hoffte, das Licht der Abendsonne wäre die Ursache der Verfärbung.
Mona legte das Fahrrad an den Wegesrand und untersuchte eine der Pflanzen. Die Ähre war mit einem pelzigen weißen Belag überzogen, ihre Körner waren verformt. Voll Sorge, das Feld könnte von einer ihr bisher unbekannten Pflanzenkrankheit befallen sein, riss sie einige Ähren von den Halmen, um sie ihrem Vater zu zeigen. Glücklicherweise lag das Tal so, dass eine Übertragung einer Krankheit auf die anderen Felder nicht unmittelbar zu befürchten war. In Gedanken versunken nahm Mona das Rad und schob es weiter den Hügel hinauf, bis sie nach einer halben Stunde die Farm erreichte.
Ihr Vater hatte ein Schaf geschlachtet. Das Tier, das er mit einem Stich in die Halsschlagader getötet hatte, lag auf dem Rücken im Hof. Gerade als Mona um die Ecke bog, öffnete er mit einem einzigen Schnitt den Bauch und fing das Blut in einem Bottich auf, um später die Innereien zu entnehmen.
Mona sah bei den Schlachtungen nie zu, weil ihr die Tiere leid taten. Sie ging ins Haus, brachte auf dem Herd Wasser zum Kochen und bereitete starken, dunklen Tee zu. Auf groben Tellern servierte sie Fleischpastete und als Dessert mit Erdbeermarmelade gefülltes Hefegebäck, Köstlichkeiten, die sie von ihrem Arbeitsplatz, dem Fairmount Hotel, mitgebracht hatte. Mona durfte Speisen, die beim Mittagessen und beim High Tea im Hotel übrig blieben, am Abend mit auf die Farm nehmen. So musste sie nach dem schweren Arbeitstag als Zimmermädchen und Servierhilfe wenigstens nicht mehr für sich und ihren Vater kochen. Aus dem Gemüsegarten, der mit einem Holzzaun gegen das Eindringen der Hühner geschützt war, holte sie noch etwas Salat dazu.
Ihr Vater hatte seine Arbeit unterbrochen, war polternd in die Stube gekommen und hatte die Gummischürze abgelegt. Donald Hatfield war ein kleiner, sehniger Mann um die fünfzig, der wegen seiner noch vollen Haare und der Bartstoppeln düster wirkte. Er gab seiner Tochter einen Kuss auf die Wange und setzte sich zu Tisch. Nach einem kurzen Gebet begannen die beiden ihr Mahl.
„Das Getreide gedeiht hervorragend, obwohl es in letzter Zeit so trocken war“, sagte Donald Hatfield. „Wenn nichts Unvorhergesehenes passiert, könnte es eine gute Ernte geben.“
„Hoffentlich“, meinte Mona. „Das wäre wichtig für uns. Übrigens, ich bin heute, weil es so schön war, durch den Dyke gegangen ...“
Überrascht und misstrauisch sah der Vater sie an. Mona spürte, dass etwas nicht stimmte. Er räusperte sich, als ob er etwas sagen wollte, aß dann aber schweigend weiter.
„Das Weizenfeld macht mir Sorgen“, sagte Mona und legte eine der Ähren, die sie abgerissen hatte, auf den Tisch. „Ich glaube, das Getreide ist von einer Krankheit befallen.“
Donald Hatfield schaute die Körner nicht einmal an und brummte missmutig. „Du kümmerst dich um deine Arbeit im Hotel, ich mich um die Felder. Ich will nicht, dass du dich in meine Belange einmischst.“
Dann erhob er sich vom Tisch, obwohl er kaum etwas gegessen hatte, und verließ den Raum. Das Auswaschen der Schafdärme, die er zur Wursterzeugung benötigte, das weitere Zerlegen des Tierkörpers sowie das Einsalzen und Räuchern beschäftigten ihn bis nach Mitternacht, sodass Mona ihn nicht mehr zu Gesicht bekam.
Obwohl sie wie immer von der Arbeit erschöpft war, konnte sie an diesem Abend lange nicht einschlafen. Zu sehr beschäftigte sie die Frage, was es mit den silbernen Ähren im Devil’s Dyke auf sich hatte und in welchen Schwierigkeiten sich ihr Vater befand. Da fiel ihr ein, dass sich einer der Dauergäste im Fairmount Hotel im Kabinett seines Apartments eine Art Labor eingerichtet hatte, in dem sie nur einmal in der Woche saubermachen durfte – und das nur unter der strengen Aufsicht des Besitzers. Sie beschloss, etwas früher aufzustehen und wieder den Weg durch den Dyke zu nehmen. Mit dem Gedanken, dem großen, älteren Herrn mit dem strengen Blick einige Kornähren zur Untersuchung zu bringen, schlief Mona endlich ein.
Am nächsten Morgen heizte sie den Herd an und deckte den Frühstückstisch. Von ihrem Vater, der um diese Zeit gewöhnlich bei den Hühnern war und Eier holte, war an diesem Tag nichts zu sehen und nichts zu hören. Also aß sie ihr Frühstück allein und räumte nur ihr eigenes Geschirr weg. Aus dem Herd schaufelte sie einige Stücke glühende Holzkohle in das Bügeleisen, mit dem sie noch schnell eine weiße Bluse glättete. Auch den dunklen Rock plättete sie. Sie musste ordentlich aussehen, darauf legte die Hotelbesitzerin großen Wert.
Bergab konnte Mona das Fahrrad laufen lassen. Eine blaue Strickjacke schützte sie gegen den kühlen Fahrtwind, und sie hatte das vom Seewind zerzauste, kornblonde Haar mit einer hellblauen Schleife zu einem Pferdeschwanz gebunden.
Die Morgensonne tauchte die Hügel der Sussex Downs in freundliches Licht, das die Blüten des Weißdorns im hellgrünen Laub leuchten ließ. In die dichten Sträucher flogen emsig Spatzen, Rotkehlchen und Amseln mit Insekten und Würmern in ihren Schnäbeln. Im glitzernden Wasser des Channels lag die Yacht Acacia vor Anker. Mona konnte die Goldlettern auf dem Rumpf des Schoners erkennen. Drei weitere Schiffe bildeten seine Begleitung. Wie oft hatte sich Mona in den letzten beiden Jahren weit weg von diesem kargen Land und der ermüdenden Arbeit auf ein Segelschiff und in ferne Länder gewünscht. Wenn aber die Downs bei gutem Wetter so paradiesisch schön waren wie an ebendiesem Tag, war sie doch froh, zu Hause zu sein.
Die Ähren des silbernen Weizenfeldes im Devil’s Dyke waren von einer Schicht Tau bedeckt. Mona atmete auf, als die in freundlichem Orange gehaltenen Steinmauern des Fairmount Hotels in der Ferne auftauchten. Das stattliche zweistöckige Gebäude aus dem letzten Jahrhundert stand auf der Klippe zum Meer und bot von der verglasten Terrasse aus eine großartige Aussicht auf den Channel.
In der Küche des Hotels wurde sie von Elizabeth Bromham, der Eigentümerin des Hauses, auf eine wärmende Tasse Tee eingeladen. Dann begann mit dem Servieren des Frühstücks Monas Arbeitstag. Ganz nach den Wünschen der Gäste wurden die Gedecke entweder in die verglaste Veranda oder auf die Zimmer gebracht. Mona trug einen makellosen, kurzen schwarzen Rock mit weißer Schürze und eine leuchtend weiße Bluse – die Bekleidung, die dem Personal zur Verfügung gestellt wurde.
Der Dauergast, der sich das Laboratorium eingerichtet hatte, nahm sein Frühstück gewöhnlich in seinem Apartment ein. Mona Hatfield klopfte. Als der hochgewachsene schlanke Herr im seidenen Morgenmantel die Tür öffnete, stellte sie das Tablett mit dem Frühstück auf den kleinen Tisch am Fenster.
„Du hast nicht gut geschlafen, Mona“, meinte der Mann.
„Ja, leider. Aber wie kommen Sie darauf?“
„Die Färbung deiner Haut ist nicht so rosig und gesund wie üblich, und das trotz des sonnigen Wetters.“
„Ich vergesse immer wieder, dass Sie Detektiv sind.“
„Ich war Detektiv, Mona. Das ist Vergangenheit.“
„Aber heute müssen Sie mir bitte helfen, Mister Holmes. Ich mache mir große Sorgen.“ Das Mädchen entnahm einer Schürzentasche das Bündel Ähren, das es in ein weißes Tuch gehüllt hatte. „Eines unserer Felder ist mit diesem silbernen Film überzogen, und mein Vater weigert sich, darüber zu reden.“
Sherlock Holmes betrachtete eine der Kornähren, nahm dann eine Lupe zur Hand und wiegte den Kopf. „Interessant, interessant“, murmelte er nach einer Weile.
„Bitte untersuchen Sie das Getreide in Ihrem Labor. Ich möchte wissen, ob es etwas Gefährliches ist.“
„Und du sagst, dass ein ganzes Getreidefeld so aussieht wie diese Ähren?“
„Ja, Mister Holmes. Das Feld leuchtet wie Silber.“
„Die silbernen Gräser“, sagte der Detektiv nachdenklich.
„Gräser?“, fragte das Mädchen. „Es handelt sich um ein Getreidefeld.“
„Natürlich“, korrigierte er sich. „Es erinnerte mich allerdings an etwas.“
Dann versprach er Mona, seine Untersuchungen bis zum Feierabend des Mädchens am späten Nachmittag abgeschlossen zu haben.
„Guten Appetit!“, wünschte Mona und verließ den Raum.
Sherlock Holmes setzte sich an den Tisch. Er öffnete die Times, die ihm das Mädchen gebracht hatte. Es war, weil das Hotel so weit entfernt von London lag, die Ausgabe des Vortages. Dennoch schätzte es Holmes, beim Frühstück in der Zeitung zu blättern. Die Wettervorhersage vom Vortag stimmte. Es war ein kühler, trockener Morgen, und der Tag sollte sonnig werden.
Seit sich der Detektiv vor zwei Jahren, mit fünfundsechzig, endgültig ins Privatleben zurückgezogen hatte, um fortan dem Trubel der Großstadt fernzubleiben, lebte er zu seiner großen Zufriedenheit in diesem Hotel in Sussex. Die Wohnung in London, in der Baker Street 221b, hatte er zwar behalten, nutzte sie aber nur bei seinen seltenen Besuchen in der Hauptstadt.
Zum ersten Mal in seinem Leben begann er das Landleben und die Natur zu schätzen. Er genoss die wechselnden Wetterlagen und Stimmungen am Meer ebenso wie die Möglichkeit zu ausgedehnten Spaziergängen. Die Ruhe und das gute Essen, dem er reichlich und mit Genuss zusprach, hatten dazu beigetragen, dass sein zuvor stets hagerer Körper an Gewicht zugelegt hatte, was ihn jünger und gesünder aussehen ließ.
Im Fairmount Hotel hatte er seinerzeit gespeist, als er die Ermittlungen im Falle des Vampirs von Sussex abgeschlossen hatte. Eine groteske Geschichte, in der ein eifersüchtiger fünfzehnjähriger Knabe die zweite Frau seines Vaters und deren Baby mit Pfeilgift töten wollte. Die Mutter saugte jedoch dem Kleinkind das Gift aus der Halswunde und wurde des Vampirismus verdächtigt. Ein Fall, den Watson treulich aufgezeichnet hatte.
Auch das Ende seiner Tätigkeit als beratender Detektiv behagte Holmes. Die großen, faszinierenden Fälle schienen nicht mehr zu existieren, und alles, was mit Liebschaften, Täuschung und Ehebruch zu tun hatte, widerte ihn an. Er war froh, nichts mehr damit zu tun zu haben, obwohl er, und das musste er eingestehen, während er ein Stück gebutterten Toast in den Mund schob, fast froh war, dass ihm Mona mit der Bitte, die Kornähren zu untersuchen, endlich einen Vorwand gegeben hatte, seine chemischen Versuche wieder aufzunehmen. Er hatte es sich schön vorgestellt, endlich in Ruhe seinen Forschungen nachgehen zu können, aber Experimente ohne Sinn und Zweck waren auf Dauer langweilig.
Obwohl Holmes am liebsten sofort mit der Untersuchung begonnen hätte, ließ er sich nicht von seiner täglichen Routine abbringen, und die bestand in einem ausgedehnten Spaziergang mit Mr Holding, einem ehemaligen Journalisten der Londoner Times, der mit seiner Frau ebenfalls im Hotel residierte. An schönen Tagen wie diesem, bei nur mäßigem Wind, nahmen sie gewöhnlich den Weg über die Klippen und genossen gemeinsam den Panoramablick auf das Meer. So diskutierten die beiden Männer auch an diesem Morgen interessante Neuigkeiten, während Anthony J. Holding die Reste seines Frühstücks an gierige Möwen verfütterte.
Die Sonne wurde vom Wasser so stark reflektiert, dass Holding seine rechte Hand zum Schutz gegen das Licht heben musste, um die vier Schiffe in der Bucht erkennen zu können.
„Die Yacht“, wusste der weißhaarige Journalist zu berichten, „gehört einem Amerikaner.“
„Mister Ratcliffe aus Boston, einem erfolgreichen Geschäftsmann“, ergänzte Holmes.
„Woher wissen Sie das schon wieder?“ Der Unterton in den Worten des Journalisten ließ erkennen, dass er sich etwas in seiner beruflichen Eitelkeit gekränkt fühlte.
„Er pflegt an manchen Abenden im Hotel zu speisen, wenn er des kulinarischen Einerleis auf dem Schiff überdrüssig ist“, erwiderte der Detektiv. „Und da hatte ich das Vergnügen ...“
„Sie müssen mich dem Mann vorstellen“, bat der Journalist.
„Selbstredend, lieber Holding.“
Nach der Wanderung betrat Sherlock Holmes die Terrasse des Hotels, wickelte sich in eine dicke Decke, legte sich in seinen Liegestuhl und genoss den wärmenden Sonnenschein. Als er von seinem Nickerchen erwachte, war es Zeit, ein leichtes Mahl einzunehmen. Mona Hatfield, die servierte, lächelte er aufmunternd zu.
Die Hausgäste hatten Tische am großen Panoramafenster zum Meer. Sherlock Holmes grüßte den Journalisten und seine Frau. Der kahlköpfige Colonel Jack Barkham, der seine eher weiblich anmutenden Bewegungen vergeblich durch einen besonders zackigen Gang und eine bemüht tiefe Stimme auszugleichen versuchte, marschierte auf seinen kleinen Tisch zu.
So wie Holmes und der Colonel lebte auch der Maler Walter Sickert, ein etwa sechzigjähriger Mann mit einem leichten deutschen Akzent, allein im Hotel. Nach dem Tod seiner Frau hatte er sich hierher zurückgezogen und wohnte nun, weil er es sich leisten konnte, im Frühjahr und Sommer im Hotel. Den Herbst und Winter verbrachte er in London, um Ausstellungen zu organisieren. Schließlich wollte er seine Gemälde verkaufen, die Holmes allerdings zu denken gaben. Die meisten seiner großflächigen, ungemein wirkungsvollen Ölbilder gestaltete – oder, um die eigenen Worte des Malers zu gebrauchen – inszenierte Walter Sickert nach Skizzen. Meist zeichnete er Szenen aus Music Halls und zweideutigen Etablissements. Er schreckte auch nicht davor zurück, nach Zeitungsfotos zu arbeiten, welche die übel zugerichteten Opfer von Jack the Ripper abbildeten. Sickert war deshalb schon von Scotland Yard vernommen worden, hatte aber offenbar zufriedenstellende Erklärungen abgeben können.
Dennoch blieb Sherlock Holmes misstrauisch.
Nach dem leichten Mittagsmahl mit Käseomelette, grünem Salat, Erdbeeren mit frischer Sahne und dem unvermeidlichen Tee zog sich der Detektiv auf seine Zimmer zurück. Sorgfältig bereitete er auf Glasplättchen mehrere Präparate für das Mikroskop vor, darunter Querschnitte durch die Getreidekörner und Abstriche des silbernen Belages der Ähren. Als Nächstes suchte er in seiner Ausgabe der Encyclopaedia Britannica der Jahre 1910/11 nach dem Stichwort Getreidekrankheiten. Es war ihm klar, dass es sich bei der pelzig-silbrigen Schicht auf den Ähren um Pilzbefall handeln musste. Die Frage war, um welchen Pilz es sich dabei handelte und welche Gefahren mit seinem Auftreten verbunden waren. Schließlich fand er eine Abbildung des Fusarium-Pilzes, die dem Aussehen seiner Präparate exakt entsprach.
Fusarium-Befall, las er, kann in Getreide zur Bildung von Mykotoxinen (Pilzgiften) führen, die eine Gefahr für Mensch und Tier darstellen. Der Fusarium-Pilz ist ein Bodenpilz und neben anderen Mikroorganismen für den Abbau von Pflanzenresten verantwortlich. Eine Infektion des Getreides mit dem Fusarium-Pilz, die durch Pilzsporen über den Ackerboden erfolgt, führt zu dem charakteristischen Ährenbefall, bei dem einzelne Ähren ausbleichen und manchmal ein silberner Sporenbelag erkennbar ist. Meist vertrocknen die Ähren oberhalb der befallenen Stelle, es wird dort nur Schmachtkorn gebildet, das weitgehend frei von Toxin bleibt. Unterhalb der befallenen Stelle können normalgroße Körner heranreifen, die aber mit Gift belastet sind. Besonders stark befallene Körner sind heller (silbrig) und werden runzelig verformt (eingedellt).
Holmes beschloss, Mona am Abend auf ihrem Heimweg zur Farm zu begleiten, um sich selbst einen Eindruck zu verschaffen. Er war beunruhigt. Mona hatte etwas entdeckt, das für die Landwirtschaft der Gegend, womöglich für das gesamte Königreich, gefährlich werden konnte. Getrocknete Pilzsporen, die vom Wind auf andere Felder getragen wurden, konnten zu einer Ausbreitung der Krankheit und letztlich zu einer Katastrophe führen.
Die Mainachmittagssonne tauchte das Weizenfeld in einen metallischen Glanz.
Sherlock Holmes war beeindruckt und sagte: „Das Getreide ist verseucht. Beachtlich, wie radikal sich der Pilzbefall ausgebreitet hat. Ich bin sehr beunruhigt.“
„Was soll ich tun?“, fragte Mona Hatfield. „Könnten Sie mit meinem Vater darüber reden? Er weicht mir aus, sobald ich auf dieses Thema zu sprechen komme.“
Aufmunternd lächelte Holmes die junge Frau an. „Ich werde mit ihm reden, natürlich, Mona. Aber vorher ist noch einiges zu klären.“
„Wenn wir Saatgetreide für das nächste Jahr zukaufen müssten, wäre das der Ruin für die Farm. Das können wir uns nicht leisten.“
„Es steckt mehr dahinter, als es den Anschein hat“, vermutete Holmes. „Ich werde nach London fahren und mich im Landwirtschaftsministerium umhören. Wenn der Befall des Feldes natürliche Ursachen hat, muss dieses Problem auch anderswo im Königreich auftreten.“
Holmes bemerkte eine leichte Bewegung im dichten Strauchwerk am Rande des Getreidefeldes, konnte aber nicht erkennen, ob sich ein Tier oder ein Mensch in den Büschen verbarg. Die tief stehende Sonne blendete ihn.
„Achte auf dich, Mona. Die Sache ist ernst. Wir sehen uns gegen Ende der Woche wieder. Ich fahre am frühen Morgen nach London.“
„Ich pass schon auf mich auf. Und auf meinen Vater. Danke, dass Sie sich der Sache annehmen, Mister Holmes.“
Das Wetter war umgeschlagen, als sich Sherlock Holmes früh am nächsten Morgen vom Kutscher des Hotels nach Yapton bringen ließ. Der Detektiv hatte sich entschlossen, nicht den Zug von Brighton nach London Victoria zu nehmen, sondern per Hansom einen Abstecher in das etwa vierzig Meilen entfernte Tunbridge Wells zu machen, wo er seinen alten Freund und Biographen Dr. Watson aufsuchen wollte.
Überzieher und Baskenmütze waren an diesem kühlen, nassen Morgen unerlässlich. Das zum Pferd hin offene Cab bot keinen wirklichen Schutz gegen Zugluft und Feuchtigkeit. Die Fahrt über anfangs holprige, dann immer besser werdende Straßen dauerte an die drei Stunden, und Holmes war erleichtert, als er das unbequeme Fahrzeug verlassen konnte.
Watson hatte sich im Zentrum des Kurortes in der Nähe der Pantiles niedergelassen, wo auch die eisenhaltige Quelle sprudelte, derentwegen viele wohlhabende Londoner nach Tunbridge Wells pilgerten. Obwohl Watson mittlerweile die siebzig überschritten hatte, war er noch als Arzt tätig, aber nur mehr für ausgesuchte Klienten. Nächtliche Krankenbesuche vermied er. Er hatte in seinem Berufsleben genug verdient, um nun ein ruhigeres Leben genießen zu können.
Holmes drückte den Messingknopf der Türglocke mehrere Male, bis ihm geöffnet wurde. Elsa, Watsons dritte Frau, zwitscherte los, ohne auch nur einmal Luft zu schöpfen: „Mister Holmes! Was für eine Überraschung! Ein Glück, dass John zu Hause ist. Er hat sich nach dem Mittagessen eine Stunde hingelegt. Ich werde ihn wecken. Sie sind sicher hungrig. Kommen Sie doch herein!“
Mrs Watson führte den Detektiv in das geräumige Wohnzimmer, und bald darauf stand nach fast einem Jahr wieder sein alter Freund Watson vor ihm, etwas zerknittert vom Mittagsschlaf, sonst aber ganz der Alte.
„Holmes! Das ist eine Überraschung! Warum haben Sie nicht geschrieben? Wir hätten ...“
„Überraschungen sind meine Spezialität“, erwiderte der Detektiv. „Sie offenbaren die Wahrheit.“
„Und wie sieht sie aus, die Wahrheit über mich und Elsa?“
Holmes lächelte. „Mir präsentiert sich ein Bild vollkommener Eintracht. Der Herr des Hauses schlummert nach einem köstlichen Mahl, die Dame des Hauses wohl auch, aber sie ist schneller wieder gesellschaftsfähig. Alle finanziellen Angelegenheiten sind bestens geregelt. Es bietet sich ein untadeliges Bild von Wohlstand und Ruhe.“
„Darauf wäre auch ich gekommen, Holmes. Ehrlich.“
„Sie waren schon immer mein bester Schüler.“
„Einen Sherry?“, fragte der Doktor.
„Dem wäre ich nicht abgeneigt. Aber nur, wenn wir Misses Watson überreden können, sich uns anzuschließen.“
„Gern. Ich bin in einer Minute hier!“, rief Watsons Frau aus der Küche. „Wir bereiten einige Sandwiches zu.“
Schließlich prosteten sie einander zu. Die junge Haushaltshilfe stellte ein silbernes Tablett mit kleinen dreieckigen Sandwiches, die mit Sardinen, Tomaten und hauchdünn geschnittenen Gurken belegt waren, auf den makellos weißen Überwurf des Eichentischs in der Mitte des Salons. Von der Decke des Zimmers hingen Kristalllüster, die trotz der Helligkeit des Maitages beleuchtet waren und, von der Sonne beschienen, in allen Regenbogenfarben schillerten. Eine Terrassentür führte in den parkähnlichen Garten, in dem eine schwarz-weiß gefleckte Katze majestätisch auf und ab schritt und scheinbar gelangweilt den Spatzen bei ihrem munteren Treiben zusah.
„Wie war die Reise?“, erkundigte sich Mrs Watson.
„Danke der Nachfrage. Ich habe sie überlebt.“
„Was führt Sie in unsere Gegend, Holmes?“, fragte der Doktor.
„Ein Fall.“
„Ach, Sie sind wieder aktiv?“
„Ein Hausmädchen aus meinem Hotel“, erklärte Holmes, „wandte sich in einer hochinteressanten Angelegenheit an mich, und ich möchte in Whitehall erkunden, was dahintersteckt. Mein Bruder Mycroft wird mir hoffentlich den Weg ebnen.“
„Davon müssen Sie mir erzählen. Das heißt, viel lieber würde ich Sie begleiten. Ich vermisse unsere Zeit in der Baker Street. Und etwas Abwechslung täte gut.“
Auch Mrs Watson war der Meinung, dass ihr Gatte durchaus abkömmlich war, und so redete sie ihm zu, mit Sherlock Holmes nach London zu fahren.
„Wenn wir den Nachmittagszug nehmen, kommen wir gegen acht Uhr in der Baker Street an. Ich werde Miss Lomax telefonisch verständigen, damit sie die Räumlichkeiten vorbereitet. Und ein Abendessen könnte auch nicht schaden.“
Etwas amüsiert und mit fachmännischem Blick betrachtete der Doktor seinen alten Freund. „Sie haben zugenommen, lieber Holmes. Landluft tut den Menschen gut, wie ich inzwischen auch aus eigener Erfahrung weiß“, meinte er und tätschelte dabei selbstzufrieden seinen Bauch.
„Landluft und Eheleben, Watson. Ein weiterer Grund, warum ich Junggeselle geblieben bin.“
Die dicke Katze aus dem Garten starrte schon seit einiger Zeit neugierig durch die Terrassentür auf Holmes und die Watsons. Mit ihrer rechten Pfote tippte sie nun mehrmals sanft gegen die Glasscheibe, bis Mrs Watson öffnete.
„Rebecca, Liebling“, begrüßte sie die Katzendame, die schnurstracks auf den Tisch zusteuerte.
„Sie liebt Sardinenbrötchen“, erklärte John Watson seinem Gast und fütterte das Tier vom Tisch.
„Sie ist unser ein und alles!“ Mrs Watson lächelte etwas verlegen und schloss einen mehr als ausführlichen Bericht über sämtliche Eigenheiten Rebeccas an.
Eine Droschke brachte Holmes und Watson zum Bahnhof, und nach weniger als einer Stunde Zugfahrt erreichten sie die Charing Cross Station. Holmes erzählte im Cab, das sie in die Baker Street 221b transportierte, von dem silbern glänzenden Weizenfeld in den Sussex Downs.
„Dahinter liegt vielleicht ein gefährlicher verbrecherischer Plan, der die Welt erschüttern könnte“, erklärte der Detektiv. „Wir müssen herausfinden, was genau dahintersteckt, um die Ausführung dieses Verbrechens vereiteln zu können, mein lieber Watson.“
Durch die vertraute Anrede fühlte sich der Doktor augenscheinlich in alte Zeiten zurückversetzt und schien überglücklich, wieder in die Pläne und Absichten seines Freundes eingeschlossen zu werden.
„Was für eine Freude, Sie wiederzusehen, meine Herren!“, wurden die beiden Männer an der weit geöffneten Tür von einer jungen Frau in einem dunkelgrauen Kostüm begrüßt.
Helen Lomax bewohnte mit einem Freund das Erdgeschoss des Hauses, das sie von ihrer inzwischen verstorbenen Tante, Mrs Hudson, geerbt hatte. Sie wirkte städtisch-elegant, aber die gesunde Gesichtsfarbe verriet einen Menschen ländlicher Herkunft, der es liebte, viel Zeit im Freien zu verbringen. Finanziell und persönlich schien es der jungen Frau gut zu gehen; der einfache, aber raffinierte Schnitt ihres Kleides ließ auf einen guten Schneider schließen.
Holmes zahlte fürstlich für die Miete der Räumlichkeiten im ersten und zweiten Stockwerk, die er in letzter Zeit aber nur ein- bis zweimal im Jahr frequentiert hatte. Der Detektiv unterließ es allerdings, hierüber mit Watson zu sprechen. Die Zeit, in der er imponieren wollte, war vorüber. Er war älter, weiser und leiser geworden.
Der Tisch am Fenster in Sherlock Holmes’ Arbeitszimmer im ersten Stock, von wo aus man eine hervorragende Aussicht auf die Baker Street hatte, war bereits gedeckt, und Miss Lomax fragte, ob sie das Abendessen servieren dürfe. Es gab indisches Huhn mit Wildreis und einen leichten Weißwein. Zum Dessert servierte Miss Lomax frische Erdbeeren. Das Feuer im offenen Kamin trug zu der angenehmen Atmosphäre bei. Nach einem Glas Brandy zogen sich die beiden Herren zufrieden in ihre Schlafräume zurück.
Wie ihre Tante verstand sich auch Miss Lomax auf die Zubereitung eines echten schottischen Frühstücks. Holmes langte wieder kräftig zu. Besonderen Genuss bereitete ihm, dass er am Morgen endlich wieder eine druckfrische Ausgabe der Times lesen konnte.
Während Watson am Vormittag einige Einkäufe erledigen wollte, nahm der Detektiv telefonisch Kontakt zu seinem nunmehr vierundsiebzigjährigen Bruder Mycroft auf, der zwar nicht mehr für die Londoner Regierung tätig war, aber nach wie vor wichtige Kontakte zu offiziellen Kreisen aufrechterhielt. Sie verabredeten sich auf einen Sherry im Besucherzimmer des Diogenes Clubs, den Mycroft mitgegründet hatte. Dort herrschte ja immer noch Sprechverbot – dies immerhin hatte sich in der Zwischenzeit nicht geändert.
Mycroft Holmes war ein kräftiger, untersetzt wirkender Mann, an dessen Leibesfülle man das gute Leben, das er führte, ermessen konnte. Ächzend erhob er sich aus dem weichen Fauteuil und umarmte seinen Bruder.
„Du siehst aus wie immer“, sagte er.
„Ist das ein Lob oder eine Beleidigung?“, fragte Holmes und stellte fest: „Du hast größere gesundheitliche Probleme?“
„Und du hast recht, wie immer. Aber noch lebe ich.“
Die Brüder nahmen dankend den Sherry, den ihnen ein Butler servierte.
„Wünschen die Herren Tee und Sandwiches?“, fragte dieser noch.