Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Ost-West-Konflikt als Deutschland-Krimi von der Autorin erlebt und erzählt. Nicht wie aktuell als Krieg, wie ihn Putin gegen die Ukraine entfesselt. Damals herrschte der Kalte Krieg. Wie kam Wanke aus dem noch erlebten Zweiten Weltkrieg in das politische Gemenge? Tätig als Journalistin in der Brandt-, Schmidt-, Wehner-, Kohl-, Bahr- und Vogel-Ära auf dem Weg der geteilten Deutschen bis zu ihrer Wiedervereinigung. Von Ost nach West und zurück in den Osten endet die Verfasserin mit ihrer Geschichte an der Nahtstelle des Konflikts, der Berliner Mauer. An ihren Resten in der Bernauerstraße, deren Anblick ihre Erinnerungen nach über 30 Jahren Einheit noch immer bedrängen.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 686
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Auftakt
Schritt 1 (1945–1969): Nachkriegsdeutschland im frostigen Morgengrauen der Teilung und des Kalten Kriegs
Schritt 2 (1966–1969): DDR erforscht im Zwielicht von Propaganda, Fake und Kampfjargon der SED – Alltag der Ostdeutschen im Ausdruck innerdeutschen Briefwechsels
Schritt 3 (1969–1974): »Wandel durch Annäherung«: Erlebte Neue Ostpolitik im Spiegel des italienischen Rundfunks Rai
Schritt 4 (1974–1989): Rheinfrust statt Rheinlust: Deutschlandpolitik der SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag im Gegenwind von SED-Politbüro und Staatssicherheit
Schritt 5 (1990): Auf dem Weg in die Einheit: SPD-Volkskammerfraktion im Wandel von Koalition zu Opposition
Schritt 6 (1991–1997): Auf dem »Brandenburger Weg«: Innen- und Kommunalpolitik im Aufbruch der Einheit, Balanceakt Verfassungsschutz
Schritt 7 (1997–): Landleben und Stadtleben im vereinten Deutschland: Ehe im ländlichen Wendland und Rückkehr nach Berlin
Nachklang
Anhang
Beruflicher Werdegang (Abriss)
Gendern
Dank
»Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.«
(Artikel 1 Grundgesetz)
»Politik ist ein langsames zähes Bohren an dicken Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich, dass sie oft angesichts erdrückend großer Probleme wenig vermag und dennoch fortgesetzt werden muss.«
(Max Weber)
»Keine Verfassung, keine Beschlüsse des Gesetzgebers entscheiden, wie gut die Einheit menschlich gelingt. Sich vereinen heißt teilen.«
(Richard von Weizsäcker)
Die Teilung Deutschlands und seine Wiedervereinigung – eine nicht enden wollende Geschichte? Genug darüber erforscht? Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Künstlerinnen und Künstler, Politikerinnen und Politiker, Bürgerinnen und Bürger in Ost und West haben sich damit beschäftigt und beschäftigen sich noch. Ihr Blickwinkel wechselt von Erzählung zu Erzählung. Zusammen ergeben ihre Geschichten den Flickenteppich »geeintes Deutschland«.
Gibt es eine objektive Schau des innerdeutschen Gefüges und seiner Wandlungen? Wohl nicht. Das Gebilde Innerdeutsch rundet sich dann ab, wenn möglichst viele Deutsche ihr Erlebtes in den Teppich der Einheit flechten, sodass wir der Lebenswirklichkeit von rund 16 Millionen Menschen »drüben« und etwa 62 Millionen »hüben« näher kommen.
Noch ist die DDR ein historisch schwankendes Terrain, nach 30 Jahren der Wiedervereinigung. Schon die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags »Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit« zog im Juni 1998 nach drei Jahren mühevoller Suche unzufrieden Bilanz. Zum abschließenden Bericht des Gremiums bemerkt der ostdeutsche Theologe und letzte Verteidigungsminister der Deutschen Demokratischen Republik, Rainer Eppelmann: »Noch sind die methodischen Probleme der wissenschaftlichen Alltagsforschung keineswegs hinreichend geklärt. Das betrifft in besonderer Weise den Alltag in der Diktatur. Zu stark sind auch die biografischen Befangenheiten und Prägungen durch den Einigungsprozess, als dass hier abgewogene Gesamtdarstellungen jetzt schon gelingen könnten.«
Nachkriegsdeutschland im frostigen Morgengrauen der Teilung und des Kalten Kriegs
Taumelt die Revolution, so friedlich und verheißungsvoll aufgebrochen?«, beginne ich am 30. Dezember 1989 meinen Brief zum Jahreswechsel an meine ostdeutsche Freundin Linde in Berlin. Wir befinden uns im letzten Akt eines Krimis am Tatort Deutschland, geteilt durch Mauer, Stacheldraht und Metallwand. Im Hinterland des Geschehens, das auf den nächsten Seiten vor uns abläuft, spielt Linde, Bürgerin der Deutschen Demokratischen Republik (DDR), die Rolle der Zeugin, die unter einer Partei-Diktatur gelebt und gelitten hat. Ich, Bürgerin der Bonner Bundesrepublik Deutschland (BRD), begleite die Freundin bis zur »Wende« im Wort. Wir begegnen uns im Brief. Beide vor dem Zweiten Weltkrieg in Oberschlesien geboren, waren wir 44 Jahre getrennt. Heute leben wir wiedervereinigt in der Berliner Republik, im Schatten von Berliner Mauerresten. Fügung des Schicksals?
Was kann uns noch trennen? In der Neige unseres Lebens stolpern wir über das unsichere Jetzt und sinnieren über die Zukunft unseres Planeten. Und immer wieder schiebt sich das getrennte Vorher in unser Gespräch. Es will erzählt werden.
In Fetzen taucht Erinnerung auf … der 9. November 1989 in Berlin, ein grauer Herbsttag, Stunden vor Mitternacht. Eine wachsende Menschenmenge verharrt am Grenzübergang Bornholmer Straße. Im Hintergrund Grenztruppen, die jederzeit für den Notfall, letztlich die »Konterrevolution«, bereitstehen, zu Befehl und Gehorsam. Die Wächter am Schlagbaum unsicher. Da soll sich doch der Schabowski vor der Presse zum Thema Reisen mit einem »sofort … unverzüglich« verhaspelt haben … Doch dazu kein Befehl nach unten, die Führung schweigt. Noch ist das Gewissen der Grenzer weggeschlossen. Die Menschen vor dem Schlagbaum drängen, drängen unerbittlich – bis die Truppe weicht: Schlagbaum hoch. Licht fällt in die graue Nacht. Dann gibt es kein Halten mehr. Rasant geht es ins Offene, in die deutsche Einheit.
Ist es der Big Bang in der Geschichte der deutschen Teilung? Die Sektkorken knallen, Ost und West liegen sich in den Armen, vor und hinter der Mauer, auf der Mauer. Das verhasste Beton-Monster wird friedlich vereinnahmt. Ungebändigte Freude, wenig Krawall. Etwas geschah, weltenwirkend. Das Ende der Geschichte war es nicht, wie der US-amerikanische Historiker Francis Fukuyama 1992 verkündet. Nicht der Beginn eines ewigen Friedens, wie mancher hoffte.
Aus dem Blickwinkel des politischen Philosophen Angelo Bolaffi aus Rom markiert »der 9. November 1989 die geo-politische und geo-geistige Trennungslinie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: nicht nur für Europa, sondern für den gesamten Planeten. Es war die Zäsur, um die herum ein spezifischer historischer Raum zusammenbrach und sich ein ganz neuer zu bilden begann: der einer globalen Welt. Eine im wahrsten Sinne planetarische Revolution der Wirtschaft … Aufstieg des Neoliberalismus zum obersten ökonomischen Prinzip auf allen Kontinenten und der Kommunikationstechniken, die Sinn und Modalitäten des kollektiven Handelns radikal transformiert haben.« (aus: Lettre International, Nr. 127, Winter 2019).
So oder so: Jede Sicht ist subjektiv. Ein komplexes Geschehen, wie den Einbruch eines Staats als Teil der Auflösung starrer Blöcke, begrifflich zu fassen, ist schwierig. Landläufig durchgesetzt hat sich »Wende«, eingeengt auf eine simple historische Sicht. Daneben »friedliche Revolution« mit Spielraum für die Phantasie. Diese Umschreibungen übernehme ich einfachheitshalber. Was fühlten die Ostdeutschen damals, als die Mauer die ersten Risse bekam? »Unverhofft frei zu sein. Einfach loslaufen zu können, dorthin, wohin wir schon immer wollten, das war mein erster Impuls«, erinnert sich Freundin Linde.
Ein Jahr später waren die Deutschen wiedervereinigt. Staatlich. Die soziale, mentale und psychische Vereinigung geriet ins Stocken. Das war abzusehen, doch im Freudentaumel der ersten Stunde waren wir dafür blind. Wo liegen die Ursachen für die längst nicht überwundene Trennung? Was hat der Westen, was der Osten versäumt? Finden wir darauf die Antwort? »Schreib doch einfach auf, was du so nah an den Ereignissen erlebt hast«, ermuntert mich Ehemann Udo. Auch Freundin Linde drängt. Ich setze mich ans Schreibpult. Will die Gedanken klären.
Warnhinweis: Auf den folgenden Seiten wird keine Fluchtgeschichte erzählt, wie der Titel vermuten lässt. Es handelt sich vielmehr um Politik. Ich wandere, mal leichtfüßig, mal schwerbeinig, auf politischen Pfaden.
Von Abkehr und Heimkehr der Deutschen will ich erzählen – so, wie meine Sinne innerdeutsches Geschehen erlebt und verarbeitet haben. Wo anfangen? Mit dem Zeigefinger auf der Landkarte meines Lebens einen Punkt bestimmen? Oder einen Punkt auf der Skala meiner Zeit? Vor mir das Blatt Papier – noch blank. Viele Ideen, doch keine will sich schwarz auf weiß setzen. Ich schwinge mich aufs Fahrrad, raus in die Natur. Radeln im frischen Grün bringt meine Gedanken auf den Sprung.
An diesem sonnigen Maimorgen im Jahr 2012 werde ich, stramm geradelt, in einer halben Stunde in Salzwedel, Sachsen-Anhalt, sein. Etwa 14 Kilometer entfernt von Trabuhn, unserem Dorf im Hannoverschen Wendland, Niedersachsen. Jetzt, auf der Landstraße K 40 nach Sachsen-Anhalt, halte ich abrupt am Straßenrand vor dem Schild »Altmarkkreis Salzwedel«. Hier verlief doch einst die innerdeutsche Grenze, fällt mir in den Sinn. Heute endet vor dem Schild das Bundesland Niedersachsen, dahinter beginnt unvermittelt das Bundesland Sachsen-Anhalt. Keine Sperre hält mich auf. Niemand hindert mich, durchzufahren, von Bundesland zu Bundesland, in einem Deutschland.
Nichts mehr trennt diesen Lebensraum. Nur ein meterhoher Findling mit eingemeißelten Lettern im hohen Gras weist hin auf 40 Jahre Teilung. Nichts erinnert an den fünf Kilometer breiten Grenzstreifen östlich der Grenze, mit Grenztruppe, Spähtrupp mit Kamera und Feldstecher, Waffe und Hund, nichts an Wachturm, Signalzaun und Minenfeld östlich der Grenze. Ein »Todesstreifen«, nachts hell erleuchtet. Zeitzeugen, wie Udo und ich, erinnern sich. Wir sind am Stacheldrahtzaun entlanggeradelt und haben versucht, einen Blick nach »drüben« zu werfen.
An diesem Grenzabschnitt wurde das Land auf beiden Seiten zum Biotop. In sumpfiger Wiese brüten Kraniche, Enten und Wildgänse, sammeln sich Vögel vieler Art. Störche suchen Nahrung für ihre Brut. Kleine Wasserläufe, Büsche, Bäume, sich selbst überlassene Natur: Grenzgänger, die den Stacheldraht im Flug, im Kriechgang, im Samen und im Wasserlauf ungehindert überwinden konnten.
Vor dem Stacheldraht, auf westlicher Seite, im Gras verborgen vor den Blicken des DDR-Grenzers, hatten wir Raum und Zeit zum Träumen. Die Luft schwirrte vom Summen, Zwitschern, Rufen, Quaken und Blöken, ein Fest der Töne … Es sei denn östlich der Grenze fielen Schüsse und auf den Kolonnenwegen jagten Fahrzeuge der DDR-Grenzer, Hunde schlugen an – das Leben eines »Republikflüchtigen« hing womöglich an einem seidenen Faden. Wer versuchte die Grenze zu überwinden, musste mit dem Tod rechnen. Jetzt ist dieser Landstrich wiedergeeintes Deutschland. Ich sehe Kühe in weiter Flur grasen, Wild, das die frisch asphaltierte Straße überquert, früher von Unkraut überwucherter Schotter.
1393 Kilometer verlief die innerdeutsche Grenze, von der Lübecker Bucht im Norden in südlicher Richtung bis zur deutsch-tschechoslowakischen Grenze, ostwärts von Hof. Am Grenzabschnitt, wo ich mich gerade mit dem Fahrrad befinde, wirkte sich die Teilung schmerzlich aus. Abweisender Stacheldraht und Stahlmauer trennten willkürlich Familien, durchschnitten Landschaften, Wirtschaftsräume und Kulturen, traditionelle Verbindungswege.
Die Teilung der Deutschen war verbunden mit dem Kalten Krieg, in dem reale Kriegsgefahr lauerte. Vornehmlich äußerte er sich in verbaler Drohung und in Propaganda. Dabei ereignete sich auch Kurioses. So erzählten die Alteingesessenen von Trabuhn, wo ich mit meiner Familie von 1997 bis 2017 lebte, von »Propagandaschlachten«. Sie sollen sich in den 60er Jahren zwischen Ost und West an der nahen Elbe zugetragen haben. Wir klönten, wie so oft am Samstagabend, im Trabuhner Dorfkrug »Lemgower Hof«, als Waldemar L. in die Runde fragte: »Erinnert ihr euch noch an die Fußball-Gummibälle auf der Elbe?« Elfriede H., Elisabeth M. und Mariechen v. H., die älteren Dorfbewohnerinnen, nickten. Ich wurde neugierig: »Erzähl mal, Waldemar, was war mit den Bällen?« Waldemar: »Die waren gefüllt mit Flugblättern der SED /_Sozialistische Einheitspartei der DDR, Anm. der Verf._/, darunter Briefe von DDR-Schülern. Sollte Propaganda für die Jungen in der BRD sein.« »Und ihr, habt ihr euch gewehrt?« »Na klar, wir ließen wasserstoffgefüllte Schwebeballons rübersegeln.« Der sonst schweigsame Rentner wurde geschwätzig.
In ihrer Wochenendausgabe vom 10. Oktober 2015 bestätigt das Regionalblatt »Elbe-Jeetzel-Zeitung« (EJZ) Waldemars Erinnerung. »1963 überquerten etwa 20 000 Ballons die Elbe, die Flugblätter im östlichen Grenzstreifen abwarfen. Hinter der Aktion standen die Bundeswehreinheit ›Psychologische Kampfführung‹, die westlichen Alliierten, Geheimdienste, Bundesregierung und antikommunistische Organisationen.« Und weiter: »Man nutzte das weit in die DDR hineinragende Gebiet mit dem günstigen Westwind: dünn besiedelt, abseits der Verkehrsströme gelegen.« Mit welchen Argumenten haben sich die Propagandakrieger die Bälle zugeworfen? Dazu die »EJZ«: »Der Osten mit marxistischen Parolen, Wohltaten im ›Arbeiter- und Bauernstaat‹, am Pranger die soziale Ungleichheit im kapitalistischen Westen. Dagegen hielt der Westen die Vorteile eines freien Lebens und sozialer Marktwirtschaft hoch.« Die absurde Seite des Kalten Krieges.
»Rüber nach der Grenzbefestigung konnte so leicht niemand. Wenn wir unsere Verwandten auf östlicher Seite besuchen wollten, haben die Bonzen dort zusätzlich gemauert.« Seufzend stellte Lisa R., Gastwirtin des »Lemgower Hof«, Bier auf den Tisch: »Diese Grenze, die hat uns doch alle gewurmt. Schrecklich die Schilder: Halt hier Zonengrenze! Wehe, du kamst ihr zu nahe. Ihr habt das ja selbst erlebt.« Lisa schloss rasselnd ihre Kasse, als wolle sie die Erinnerung an jene Zeit tilgen.
Selbst der Westen zeigte sich streng, wie ich im Tagebuch des Schriftstellers Ralph Giordano las. Mit anderen, die damals mit ihm als überzeugte Jungkommunistinnen und Jungkommunisten in der noch nicht verbotenen westdeutschen Sektion aktiv waren, versuchte der junge Giordano dreimal über die Elbe in die DDR zu gelangen. Beispielsweise zu den Internationalen Weltjugendfestspielen 1951 in Ostberlin. Ein Treffen, das viele junge Westdeutsche, auch meinen Bruder Peter, in die »Hauptstadt der DDR« lockte. Die Giordano-Gruppe wurde jedoch von westdeutschen Grenzern aufgespürt und abgeführt.
Ich lauschte den Erzählungen der Dörflerinnen und Dörfler gebannt. Wer würde sich in 50 Jahren an das damalige Geschehen erinnern? Die Zeitzeugen wären dann gestorben, verschwunden die »Horchposten« auf westlicher und östlicher Seite. In der Nähe unseres Dorfs der »Thurauer« Turm«, den wir auf dem Weg von Trabuhn nach Lüchow passieren, heute von kleinen Unternehmen genutzt. Der Turm war ein »Horcher« der US-Alliierten, wie Waldemar erzählte. Er hatte dort für die Amerikaner gearbeitet, wollte und durfte wohl nichts darüber ausplaudern.
An der 342 Kilometer langen Ländergrenze Sachsen-Anhalt/Niedersachsen wurde Niedersachsen Zonenrandfördergebiet. Staatliche Fördermittel sollten die wirtschaftlichen Nachteile für die Gemeinden entlang des Grenzstreifens ausgleichen. Wie reagierten die Menschen auf das Land hinter der Grenze? Ihr Blick nach Osten war skeptisch, gar ablehnend. Mancher im Dorf meinte vor der »Wende«, »hier ist nicht das Ende der Welt, aber man kann es schon sehen«. Während der westliche Zonenrand bis zur Wiedervereinigung auf Fördermittel hoffen und die Menschen damit ihr Leben verbessern konnten, wurde das Randgebiet auf ostdeutscher Seite sträflich vernachlässigt. Kurz nach der »Wende« drüben, fand ich verlassene und zerfallene Gehöfte und Kasernen vor. In der nächstgrößeren Stadt, Salzwedel, warteten mittelalterliche Bauten auf Einsturz. Die Fassaden der Jugendstilvillen waren von Wetter und Industrieabstoß zerfressen. Einst zeugten sie von bürgerlichem Wohlstand. Nach der »Wende« wurde saniert. Heute strahlen immer mehr Gebäude in alt-neuem Glanz.
Gegen den östlichen Verfall stachen die schmucken Fachwerkhäuser im niedersächsischen Lüchow und in den angrenzenden Rundlingsdörfern, wie Trabuhn, auffällig ab. Wie mag dieser Wohlstand auf die an Ruin gewöhnten DDR-Bürgerinnen und DDR-Bürger gewirkt haben, als sie nach Öffnung des Grenzübergangs Salzwedel-Bergen (Dumme) in den »Goldenen Westen« strömten? Meine Erinnerung ruft Novembertage im Jahr 1989 zurück. Udo lebte damals in der Trabuhner Molkerei, die Freunde zum Wohnhaus ausgebaut hatten. Ich, tätig in Bonn, besuchte ihn am Wochenende. Aus dem Fenster im zweiten Stock hatten wir klare Sicht auf die Landstraße L 260, die von Sachsen-Anhalt an Trabuhn vorbei ins niedersächsische Lüchow führt: Dort eine nicht enden wollende Trabi- und Wartburg-Schlange. Die Kreisstadt Lüchow lockte die Ostdeutschen mit dem Angebot lang entbehrter Güter.
So begann die Wiedervereinigung des geteilten Deutschlands. Wiedervereinigt? Nein, »neuvereinigt«, würde Willy Brandt mich berichtigen. 1991 weist der SPD-Politiker in einem Fernseh-Interview darauf hin: »Manche Leute, auch in Bonn und anderswo, übrigens auch im Ausland, sprechen von der Wiedervereinigung und melden dabei ihre Bedenken an. Ich schlage vor«, so Brandt, »dass wir das ›Wieder‹ mal in die Schublade legen. Nichts wird wieder so, wie es früher einmal war.« Brandt weiter: »Wir wollen anknüpfen an die guten Abschnitte deutscher Geschichte … Und wir wollen Einheit … wir wollen eine solche Form der Einheit, die dem Frieden dient und die dem Ausgleich mit unseren europäischen Nachbarn förderlich ist.«
Wie sehen wir Bürgerinnen und Bürger uns? Wie sehe ich mich? Bundesdeutsch, als neuvereinigte Deutsche, europäisch oder als Weltbürgerin? Wo stehe ich in der Einheit und wie bin ich hineingekommen? Um darauf Antworten zu finden, will ich versuchen, das Knäuel der Bilder, Erfahrungen, Gedanken und Gefühle in mir zu entwirren. Soll ich einstimmen in den Jubel über die Einheit, der uns zu jedem neuen Jahrestag des Mauerfalls verordnet wird? Dieser Jubel lag mir immer fern. Die Wiedervereinigung war ein Muss, aber am Werden der Einheit übe ich Kritik. Das Ergebnis »Einheit« ist das Produkt westlicher Arroganz. Das wird deutlich, wenn wir uns den Verhandelnden nähern und die Verhandlungen über die Wiedervereinigung im Detail betrachten. Darum geht es in meiner Geschichte. Seit Jahrzehnten beschäftigt mich das Gegeneinander und Zueinander der beiden deutschen Staaten. Dafür wurden Weichen in meinem Leben gestellt, privater und beruflicher Art, Schritt für Schritt hin zum Osten. Erinnerungen bedrängen mich, Notizen liegen bereit, Dokumente warten im Archiv – Zeuginnen und Zeugen, die auftreten und ihre Rolle spielen wollen.
Nach dem Ausflug ins Grüne mit der Erinnerung an die innerdeutsche Grenze sitze ich wieder am Schreibpult. Schon hatte ich etliche Seiten gefüllt, als mich ein Interview in der Ausgabe 7/2012 des Nachrichtenmagazins »Der Spiegel« ins Stocken brachte. In diesem Interview behauptet der amerikanische Hirnforscher David Eagleman, der Mensch besitze gar keinen freien Willen: »Gehirne haben sich im Lauf der Evolution darauf spezialisiert, Informationen zu sammeln und das Verhalten entsprechend zu lenken. Dabei ist es egal, ob das Bewusstsein an der Entscheidungsfindung beteiligt ist oder nicht. Sie glauben, Ihnen falle gerade eine neue Idee ein? Ihr Bewusstsein spielt dabei die geringste Rolle. Das Gehirn wird weitgehend von einem Autopiloten gesteuert. Das Bewusstsein hat kaum Zugang zu der gewaltigen Fabrik, die im Verborgenen arbeitet und fertige Ideen in einem Akt mächtiger Zauberei liefert. Das Bewusstsein steht nicht im Mittelpunkt des Gehirns, es befindet sich irgendwo an der Peripherie, wie der Beifahrer im Auto. Das Gehirn sucht nach Mustern im Chaos und will Konsistenz. Unsere Gehirne sind meisterhafte Erzähler, sie verstehen es ausgezeichnet, sogar aus eklatanten Widersprüchen eine stimmige Geschichte zu spinnen. Mit Hilfe von Geschichten ergeben verwirrende Informationen einen Sinn. Wir erzählen uns ständig Märchen, um uns die fremden Prozesse zu erklären, die unter der Haube ablaufen. Das Ich ist so ein Märchen, eine vom Gehirn aus Zweckpragmatismus erfundene Fiktion. … Das Denken in Möglichkeiten hat uns in die Lage versetzt, Kulturen und Zivilisationen zu schaffen.« Soweit Eagleman.
Wie bitte? Wir erzählen uns ständig Märchen? Was mir, verblüfft, einfiel, das war das Nibelungenlied: »Uns wird in alten maeren wunders vil geseit/von heleden lobebaeren, von grôzer arebeit,/ von fröuden, hôchgeziten, von weinen und von klagen,/von kuener recken striten muget ir nu wunder hoeren sagen.« (siehe Literaturliste). Meine Gedanken flogen. Plötzlich meinte ich, Parallelen zu entdecken. Glich die Strecke deutscher Geschichte, von der ich erzählen will, nicht den Ereignissen im Nibelungenlied? Der Vergleich mit dem »Nationalepos« der Deutschen wäre kühn. Erster Akt: Morgenröte an Rhein und Spree, zweiter Akt: Kampf um Deutschland zwischen Ost und West, dritter Akt: Götterdämmerung an der Spree. War nur ein loser Gedanke. Denn hier fehlt der für meine Erzählung essentielle Tatbestand der Teilung eines Staats. Und die Helden? Etwa die Stasi und die Schurken des ZK-Politbüros? Wie gekommen, lasse ich diese Feder einer Idee davonfliegen. Bleiben wir im Krimi mit einer Toten durch Suizid, der Diktatur DDR.
Nach Eagleman schreibe ich also nicht aus freien Stücken, sondern mein Hirn sucht nach Mustern im Chaos und will Konsistenz? Ich klappte das Notebook zu. Wochen vergingen. Eaglemans Thesen – eigentlich nichts Neues. Doch wie vertrugen sie sich mit meinem Erzählen? Diese Frage beunruhigte mich. Schon im griechischen Altertum, vor allem im Europa der Aufklärung, war der »freie Wille« immer wieder Gegenstand philosophischen Traktats. Wie oft habe ich mit meinem Vater über »Schopenhauer« diskutiert! Der eine oder andere Band von »Die Welt als Wille und Vorstellung« aus der Feder des Philosophen lag aufgeschlagen auf Vaters Schreibtisch. »Verrenne dich nicht, auch Wissenschaft irrt«, sagte ich mir. Das Thema »freier Wille« wird uns immer wieder begegnen. Wenn stimmt, dass laut Eagleman unser Hirn Geschichten zusammenbastelt, dann hat mein Hirn meine Geschichte fast fertig im Kopf. Der Tatort-Deutschland-Krimi wüchse nicht auf meinem Gras, nicht aus dem Erlebten? Sei’s drum.
Über Eagleman und sein Essay war der alte Faden meiner Erzählung gerissen. Ich musste neu beginnen. Idee über Idee verfing sich in meinem Gedankennetz, aber die Seiten vor mir blieben leer. Erst ein Kurzurlaub an der Ostsee half mir auf die Sprünge.
Bansin, 6. Februar 2013
Liebe Linde,
Eisschollen und hartgefrorene Schneeberge an der Ostseeküste. Erwartet hatte ich hellen Strand und sanften Wellenschlag. Seit drei Tagen haben wir Kaiserwetter: strahlende Sonne am eisblauen Himmel. So recht, um meinen Gedanken freien Lauf zu lassen, wenn ich die Küste entlangwandere, weg vom touristenquirligen Ort.
Dabei beschäftigt mich wieder einmal unser entzweit-geeintes Land, ausgelöst zum einen von der Erinnerung an deine Postkarten, die du mir in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts geschickt hast, wenn du – selten genug – das Glück hattest, an der Ostsee deinen Urlaub zu verbringen. Eure Einheitsgewerkschaft hatte ja alles fest im Griff, organisierte der FDGB doch eure Freizeit.
Hier, in Bansin, komme ich jeden Tag an einem Anwesen vorbei, das Erich Honecker und seinen Gefolgsleuten mit ihren Familien beim Ostsee-Urlaub vorbehalten war, heute ein Hotelkomplex mit weiter Aussicht auf das Meer, damals durch hohe Mauern abgeschirmt von den Arbeitern und Bauern, die angeblich herrschten. Kennst du diese Honecker-Festung?
Zum anderen sind es die Gespräche am Frühstückstisch meines Hotels. Was soll ich dir erzählen? Ich sitze hier mit zwei Frauen, etwa meines Alters, die sich auf der Hinfahrt kennen gelernt haben. Meistens dreht sich ihr Gespräch um Banales, lässt aber schnell erkennen, dass sich eine geborene Ostberlinerin und eine geborene Westberlinerin gegenübersitzen. Während sich die Westberliner Dame sehr bestimmt, ja fast gebieterisch über den Badeort, das Hotel, die Bedienung und die Gäste auslässt, wirkt die Ostberlinerin zerfahren, wenn sie eher zurückhaltend und nach Zustimmung suchend in der Vergangenheit weilt. Wir erfahren, dass sie im DDR-Außenhandel gearbeitet hat, also bei KoKo und Schalck, als Assistentin eures Malers Willi Sitte. Du weißt, solche Namen lassen mich aufhorchen, weiß ich doch wenig über dieses Kapitel der DDR-Geschichte. Behutsam frage ich nach, während die Westberlinerin schweigt. Ich glaube, die Frau kann mit all dem wenig anfangen und will es auch nicht. Die Ostdeutsche erwähnt die guten Zeiten, die Reisen in die Ostblockländer, die Mitbringsel ihrer Kollegen, wie den begehrten Bohnenkaffee, die Begegnung mit osteuropäischen Künstlern. Mich können die beiden Damen offensichtlich nicht einordnen. Ungefragt gebe ich nichts von mir preis.
Dann, ich wandere am Strand, gerate ich über unser Frühstücksgespräch ins Grübeln: Als Kinder hatten wir drei Frauen ein gemeinsames politisches Schicksal, das Nazi-Deutschland, Krieg, Niederlage und ihre Folgen hieß. Erst durch die Teilung Deutschlands nahmen unsere Biographien einen unterschiedlichen Verlauf: Leben in Ostberlin, Leben in Westberlin und Leben in Westdeutschland. Das hat uns geprägt, die Unterschiede höre ich heraus.
Du, liebe Linde, hast eine vierte Biographie: Kindheit in Oberschlesien, Flucht in die DDR-Provinz und Leben in der Stadt, zuletzt Ostberlin. Vier deutsche Schicksale, heute wieder unter einem politischen Schirm. Wo haben sich die Trennungslinien verwischt, was trennt uns noch nach 25 Jahren Vereinigung? Fragen, die eine Antwort wollen.
Mir fällt ein, dass ich meine Arbeit in der frei gewählten Volkskammer der DDR – es ging ja alles so schnell – nie hinterfragt und auch das berufliche Kapitel »Innenministerium des neuen Bundeslandes Brandenburg« nicht aufgearbeitet habe. Die Erfahrungen aus jener Zeit liegen wie unbehauene Blöcke in meinem Gedächtnis. Ich bin fest entschlossen, diese Vergangenheit aufzurollen, das Material dazu liegt sozusagen auf meiner Straße. Dann kannst du irgendwann über deine Vergangenheit lesen. Bleib gesund und mutig. Liebe Grüße, deine Heli (Heli rufen mich meine ostdeutschen Freunde)
Wieder am Schreibtisch spann ich den Faden, den ich mit dem Brief an Linde aufgenommen hatte, weiter. Ein Wort auf dem blanken Papier – der Anfang ist gemacht. Wort folgt Wort, acht Jahre Wörter zusammengefügt mit zahlreichen, meist unfreiwilligen Pausen, dann endlich das ENDE. Das Stichwort der Wörteransammlung: die Suche nach der Einheit der Deutschen. Dabei kommt mir die Neugier zugute, die mich schon als Kind dazu verführte, auf Dachböden in alten Papieren und Truhen zu stöbern oder in verfallenen Waldhütten nach verschollenen Schätzen zu suchen. Jetzt wühle ich in der Truhe »Innerdeutsches« in der zerrütteten Hütte »DDR«. Welche Berührungspunkte gab es mit dem anderen deutschen Staat? Was hat mich bewegt, was abgestoßen, gleichgültig bleiben lassen? Wieder die Frage: Wo beginnen?
Heureka, ich hab’s! Weiträumig und zeitfern besehen bei meinen Ahnen und meiner Geburt: Beuthen in Oberschlesien (heute Bytom, Polen). Dort wurde ich 1936 unter dem Unstern des Nationalsozialismus geboren, bin also Ostdeutsche von Geburt. Nachweislich bis zum Dreißigjährigen Krieg ist das Schicksal meiner Vorfahren mit dem Osten verbunden. Seitdem siedelte die Familie meines Vaters in Schlesien. Im Grenzgebiet Oberschlesien, Hitlers Ostprovinz, verbrachte ich meine Kindheit. Dazwischen, von 1939 bis Anfang 1942, lebten wir in Goslar auf dem heutigen UNESCO-Weltkulturerbe Rammelsberg im Schatten des Erzbergwerks. Dort sollte unser Vater, von Beruf Bergbauingenieur, eine Lehrwerkstatt einrichten.
Meine Kindheit endete abrupt im Januar 1945 mit der Flucht aus Kattowitz (Katowice) vor den heranrückenden Russen. Wir flohen zu den Großeltern mütterlicherseits nach Clausthal-Zellerfeld im Harz, westlich des Brockens. Damit setzte sich mein Leben in einer von den westlichen Alliierten besetzten Zone fort. Nach zwei Jahren Harz waren wir 1947 weiter nach Westen gewandert, in den ländlichen Ortsteil Bokeloh von Wunstorf im Hannoverschen. Neben dem Kalibergwerk Sigmundshall, Vater baute dort mit anderen Bergleuten untertage Kalisalze ab, bezogen wir die ehemalige Villa des Bergwerkdirektors. Mit unserem noch kümmerlichen Mobiliar hausten wir in den Sälen eines herrschaftlichen Domizils, inmitten eines Parks.
Im Jahr 1949, als die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik gegründet wurden, war ich 13 Jahre alt. Die Familie machte sich erneut auf den Weg. Unser Vater, entnazifiziert, kehrte zurück zur Steinkohle. Wir zogen ins Ruhrgebiet. Im westfälischen Recklinghausen endete unsere Wanderung von Ost nach West, dort wurden wir heimisch. Zahlreiche uns bekannte Familien aus dem oberschlesischen Kohlenrevier hatten sich dort schon vor uns in einer Zechensiedlung niedergelassen. Für die westfälischen Einheimischen waren wir »Polacken«, als wir vom Umzugstransporter hinunterkletterten. Das änderte sich: Der Fleiß unserer Eltern brachte es zu schnellem Ansehen. Wir waren so sehr damit beschäftigt, wirtschaftlich wieder Fuß zu fassen und bei den Ruhrpott-Menschen Anschluss zu finden, dass wir die SBZ, Sowjetische Besatzungszone, spätere DDR, nur im Seitenblick hatten.
Die DDR umfasste geografisch Mitteldeutschland, das aber fälschlicherweise mit »Ostdeutschland« gleichgesetzt wird. Das eigentliche Ostdeutschland waren die Ostprovinzen im Dritten Reich: Oberschlesien, West- und Ostpreußen sowie Pommern. Die Ostprovinzen gehörten nicht zur DDR, sie wurden nach der Teilung Polen überlassen, mit der Enklave »Königsberg« in sowjetischer Hand. »Aus historischer, kulturgeschichtlicher und geografischer Sicht ist es« – wie Karlheinz Lau in der Zeitschrift »Deutschland Archiv« (DA) schreibt – »natürlich absurd, Thüringen oder Sachsen-Anhalt als Teil Ostdeutschlands zu bezeichnen, ebenso liegen Wismar und Rostock nicht in Norddeutschland«. Willy Brandt und Helmut Kohl haben wiederholt auf diese sprachlichen Unkorrektheiten hingewiesen, die sich vor allem nach der »Wende« breitmachten. Ich will mich hier nicht um des Kaisers Bart streiten. Nehmen wir »Ostdeutschland« als Bezeichnung für das ehemalige Staatsgebiet DDR. Aber vergessen wir nicht: Über 1000 Jahre haben Polen und Deutsche den Osten besiedelt und insgesamt friedlich zusammengelebt. Wir haben die ostdeutschen Provinzen nicht freiwillig verlassen, jedoch ihrem Verbleib in Polen zugestimmt, besiegelt durch den Friedensvertrag von 1990.
Um keine Verwirrung zu stiften, verwende ich für meine Geschichte die Begriffe »ostdeutsch«, »Ostdeutsche« und »Ostdeutschland« für mitteldeutsch, Mitteldeutsche und Mitteldeutschland. Die DDR nannte die Flucht aus Ostdeutschland »Umsiedlung«. »Offiziell waren wir weder Flüchtlinge noch Vertriebene, allenfalls Umsiedler«, erklärte mir Freundin Linde einmal, als ich sie nach dem Hergang ihrer Flucht mit der Mutter und den Geschwistern fragte. Ich kramte einen Ausweis hervor: »Schau mal, Linde.« Auf dem handtellergroßen lindgrünen, schon ausgefransten Dokument bin ich im Westen nach der Flucht als »Flüchtling A« erfasst worden.
»Denn sie säen Wind und sie werden Sturm ernten« (Altes Testament, Josua, Kapitel 8, Vers 7), so könnten wir das Kapitel Teilung überschreiben. Wir wollten »den totalen Krieg« – ein »Ja« auf die teuflische Frage des Nazi-Propagandisten Joseph Goebbels »Wollt ihr …?« Das war kein fairer Kampf. Hitlers »Endsieg« war eine schmachvolle Niederlage. Als Antwort auf deutsches unsägliches Verbrechen folgten Gebietsverluste und die Teilung der Deutschen. Der Keim der Teilung wurde nicht erst mit dem Zweiten Weltkrieg gelegt. Beginnen wir mit den Folgen des Ersten Weltkriegs. Schon damals gingen – mit dem Versailler Vertrag von 1919 – Teile Deutschlands an andere Staaten. So ging im Osten des untergegangenen Kaiserreichs Wilhelm II. ein Stück von Oberschlesien mit der Stadt Kattowitz an den wiedererstandenen Staat Polen. Damals wurde die Familie meiner oberschlesischen Großmutter getrennt. Wollten ihre Schwestern, die nach der Gebietsabtrennung von 1922 bis 1939 in der polnischen Wojewodschaft Schlesien wohnten, ihre Schwester im deutschen Beuthen besuchen, mussten sie den Grenzübergang Beuthen passieren. Macht- und Kriegsgelüste – die Frage, wer die Schuld am Ersten Weltkrieg trägt, ist in der Forschung umstritten – hatten den Krieg entfesselt. Deutsche Lüsternheit auf Revanche für die »Schmach« des Versailler Vertrags, getrieben von Hitlers Gier nach Landgewinn, führte, unbestritten, zum Zweiten Weltkrieg.
Pläne der Teilung haben die Alliierten schon 1941 geschmiedet, mitten im Zweiten Weltkrieg. Die Vorstellung, Nazideutschland, wenn besiegt, zu zerstückeln, variierte von Treffen zu Treffen der Großen Drei, Vereinigte Staaten von Amerika (USA), Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) und Vereinigtes Königsreich (UK). Das Ergebnis nach dem Sieg auf einen Nenner gebracht: ein in vier Besatzungszonen aufgeteiltes Deutschland mit dem Verlust der Ostprovinzen. Daraus wurden ein in Westeuropa integrierter und ein im östlichen Europa eingebetteter deutscher Teilstaat. Groß-Berlin erhielt Sonderstatus: Es wurde in vier Sektoren geteilt und stand unter alliiertem Vorbehalt.
Zwar stand die Teilung Deutschlands immer wieder auf dem Prüfstand, wurde aber durch Tatsachen untermauert. Die Adenauer-CDU, im westlichen Teil Deutschlands an die Macht gekommen, zog es westwärts, ostwärts den von UdSSR, SED und Ulbricht beherrschten Teil. Obwohl Osten wie Westen versuchte, miteinander ins Gespräch zu kommen, grenzten sie sich zusehends ab, auch im offiziellen Sprachgebrauch. Es herrschte der Kalte Krieg.
Wir Bundesdeutsche nannten die Sowjetische Besatzungszone »SBZ« »Zone« oder »Ostzone«. Als daraus die Deutsche Demokratische Republik entstand, verwendeten wir vorwiegend das Kürzel »DDR«. Mit den Gänsefüßchen sprachen wir dem ostdeutschen Teil die staatliche Existenz ab. Als mit der Neuen Ostpolitik die »Gänsebeinchen«, wie Helmut Schmidt apostrophierte, fielen, beharrte nur noch die Springer-Presse auf dieser sprachlichen Gemeinheit. Bei meinen Recherchen fiel mir auf, dass in der Bundesrepublik die ausgeschriebene Bezeichnung »Deutsche Demokratische Republik« bis zum Ende der DDR nur in offiziellen Dokumenten und allenfalls in wissenschaftlichen Schriften auftaucht. Sonst hieß es DDR. Privat sagten wir in der Bundesrepublik »drüben«, wenn von der DDR die Rede war. In der DDR verwendeten die Offiziellen das Kürzel BRD für »Bundesrepublik Deutschland«, die DDR-Bürgerinnen und DDR-Bürger sprachen von »Westdeutschland«.
Unsere Jahre im Adenauer-Staat waren also westlich orientiert. Mein Leben war ständig in Bewegung, und ich musste mich immer wieder an neue Lebensumstände anpassen. Während wir in der Bundesrepublik auf dem Boden des Grundgesetzes heranwuchsen, beschäftigte mich die DDR nicht. Nur wenige Ereignisse, wie die Aufstände am 17. Juni 1953, ein kurzer Besuch 1958 im damals noch mauerfreien Berlin und 1961 der Mauerbau, erregten meine Aufmerksamkeit, rückten vor allem Ostberlin kurzfristig ins Bewusstsein, Randnotizen.
Den Beginn des Mauerbaus in Berlin habe ich aus der Ferne verfolgt. Am Strand von Nettuno in der Nähe von Rom, wo einst die römischen Senatoren lustwandelten, wenn sie in dem Badeörtchen Entspannung suchten. Jetzt suchten wir Bundesdeutsche, Touristinnen und Touristen aus dem rußigen Ruhrpott, dort unser Ferienglück. Damals zogen wir den sonnigen Süden dem grauen östlichen Land der »Schwestern und Brüder« vor. Ich saß mit Mutter und Geschwistern ahnungslos im Sand unter der italienischen Sonne, als Volkspolizisten schon eifrig dabei waren, durch Berlin den Stacheldraht zu ziehen. Um uns herum kampierten italienische Großfamilien, von der nonna (Großmutter) bis zum bimbo (bambino, Kind), südliches Temperament und laute Geselligkeit: La mamma stöberte in Mode-Illustrierten, aus dem obligatorischen Kofferradio drangen musikalische Hits, »Volare …«. Papà hörte Nachrichten vom Sport, la nonna döste unterm Sonnenschirm, die bambini balgten sich im Wasser. Dann kamen la zia (Tante) und lo zio (Onkel) mit ihren Zöglingen. Schließlich mischten sich gli amici (die Freunde) in das Familienmiteinander – Jahr für Jahr diese Szene: Die Familien flohen aus der heißen, staubigen Stadt ans Wasser. Wir Deutsche liebten das bunte »dolce far niente«. So vergnügten wir uns im August 1961 im südlichen Gefilde, als es am 13. des Monats plötzlich am späten Nachmittag aus dem Radio »Berlino« und »muro« schallte. Darauf konnten wir uns keinen Reim machen. Erst am Abend im Ferienhaus erfuhren wir aus der »Tagesschau«, was sich in Berlin ereignete.
Während ich in den Jahren meiner Ausbildung mehrfach Italien und Großbritannien besucht habe, lag die DDR im Dämmerschlaf. Im Jahr 1968, angeregt durch meinen damaligen Job, davon erzähle ich noch, tauchte in meiner Erinnerung meine Patentante Margarethe auf. Über den Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes ließ ich nach ihr forschen. Im März 1969 erhielt ich DRK-Post: Margarethe R. lebe mit ihrer Familie in Frankfurt an der Oder. Die Patentante war mit den drei Kindern auf ihrer Flucht in der späteren DDR hängengeblieben. Im SED-Staat wurde auch das Flüchtlingsproblem offiziell umgangen. Ich erwähnte, dass Flüchtlinge aus den Ostprovinzen, wie Lindes Familie, in der DDR als »Umsiedler« behandelt wurden. Dagegen konnten sich in der Bundesrepublik Flüchtlinge und Vertriebene, offiziell als solche anerkannt, zu einer mächtigen Lobby zusammenschließen, auf die Politik Rücksicht nehmen musste.
Tante Gretel, wie Margarethe ihre Post unterschrieb, antwortete erfreut auf meinen ersten Brief. Von da an schrieben wir uns bis zu ihrem Tod im Jahr 1992. Wiedergesehen haben wir uns, als Margarethe meine Mutter, ihre Freundin in Oberschlesien, 1974 in Bonn besuchte. Nach der »Wende« im Jahr 1990 suchte ich Tante Gretel in ihrer Plattenbauwohnung im ostdeutschen Frankfurt auf. Es wurde ein freundlicher Nachmittag, der uns über die Trennung hinweg von den gemeinsamen oberschlesischen Jahren plaudern ließ.
Anders mit Linde, ihrer Tochter. Obwohl wir uns, in Oberschlesien noch Kinder, nur flüchtig kannten, wurden wir im geteilten Deutschland Freundinnen durch regen Briefwechsel und meine gelegentlichen Besuche bei Linde in der DDR. Den Kontakt zu Linde hatte ihre Mutter angeregt.
Frankfurt, 1. Juni 1969
Liebe Ellen, vielleicht würde es Heli Freude bereiten, mit Linde in Briefwechsel zu treten. Linde ist nun 30 Jahre alt, geschieden, sie unterrichtet russisch und englisch, vielleicht können sie englisch miteinander korrespondieren. Altersmäßig passen sie vielleicht auch gut. Sprichst du Heli einmal darauf an? Sei herzlich gegrüßt, deine Gretel, schreibt die Patentante an meine Mutter.
Ich zögerte nicht lange und stellte mich mit einem Brief auf Englisch bei der drei Jahre jüngeren Linde vor. Am 4. Juli 1969 kam die Antwort aus Magdeburg:
Linde berichtet, wie ihr Alltag abläuft, über Schule und Freunde. Ihr Brief schließt mit dem Hinweis: »Ich könnte dir viel über unser Leben hier erzählen, und du wirst in jedem Brief etwas finden. Deine Fragen werde ich beantworten, aber ich muss vorsichtig sein.«
Der Freundin Einwand mahnte auch mich zur Vorsicht. Wegen möglicher Schikanen für Linde sollte ich mich mit DDR-kritischen Äußerungen zurückhalten. Aus meiner Arbeit, die sich um Politik drehte, habe ich keinen Hehl gemacht und Linde darüber freimütig erzählt. Die Briefe von »drüben« geben Einblick in das Alltagsleben der DDR-Bürgerin, des DDR-Bürgers, das stark von politischem Diktat bestimmt war. Was Linde betrifft, versuchte sie, sich den Schlingen der Einheitspartei zu entziehen. Ging es um den Lebensstandard und die bürgerliche Freiheit, sah die Mehrheit der Ostdeutschen die Bundesrepublik als Maßstab. Die DDR-Bürgerinnen und DDR-Bürger verließen sich auf die Nachrichten des westlichen Rundfunks, wie RIAS, Rundfunk im amerikanischen Sektor, und SFB, Sender Freies Berlin, auf das Erste und das Zweite Deutsche Fernsehen. Diese Sender konnten sie in der DDR empfangen, ausgenommen das »ahnungslose« Dresden. Westrundfunk war in der DDR zwar verboten, wurde aber später geduldet.
War die BRD Maß, so war sie nicht das Nonplusultra. Auch die DDR hatte in den sechziger Jahren ihr »Wirtschaftswunder«. Damals hatte der östliche Teil Deutschlands einen gewissen Wohlstand erreicht. Die Bruder-Staaten hinkten wirtschaftlich hinterher. Das stärkte das Selbstbewusstsein der DDR-Bürgerin, des DDR-Bürgers, die sich wie die Westdeutschen »etwas schaffen« konnten. Grund genug, sich gegen die wohlwollend-herablassenden Westdeutschen und ihr Mitleid für die »armen Verwandten drüben« zu wehren.
Zwei Jahre lang hat das Ministerium für Staatssicherheit der DDR(MfS), kurz: Stasi, unseren Briefwechsel kontrolliert, ehe der Krake seine Tentakel nach uns ausstreckte. Unvermittelt wurde Linde eines Tages vom Schuldirektor vorgeladen und ermahnt, »in ihrer Tätigkeit keinerlei Kontakt zu Westdeutschen oder Ausländern zu unternehmen und für jeden Besuch sowie jede Kontaktaufnahme zu Personen vorher die Genehmigung beim Direktor bzw. dem Stadtschulrat einzuholen«. Dies sei notwendig wegen »grundsätzlicher Fragen der Einhaltung der Wachsamkeit sowie der inneren Ordnung und Sicherheit«, wird die Verwarnung begründet. Dazu musste Linde einen mit auffälligen Korrekturen versehenen Text unterschreiben. Den erbärmlichen Wisch ließ sie in der Schublade verschwinden. Sollte sie deswegen den Kontakt zu mir abbrechen? Unbekümmert schrieben wir uns weiter.
Jetzt bei meiner Recherche fällt mir auf: Am 14. Januar 1972 bin ich laut Reisepass in die DDR zu Linde in Magdeburg »eingereist«. Am 23. Januar 1972 habe ich Magdeburg wieder verlassen, bin also »ausgereist« nach dem Stempel des DDR-Grenzkontrolleurs in meinem Pass. Linde musste die »Belehrung« der Schulleitung am 27. April 1972, also wenige Wochen nach meinem Besuch unterschreiben. Anlass dafür, so vermute ich, war mein Aufenthalt bei der Freundin.
DDR erforscht im Zwielicht von Propaganda, Fake und Kampfjargon der SED – Alltag der Ostdeutschen im Ausdruck innerdeutschen Briefwechsels
Mit dem Briefaustausch hatte sich ein privater Faden zur DDR gesponnen. Zu jener Zeit befasste ich mich auch beruflich mit dem ostdeutschen Teil Deutschlands. Als Dokumentalistin beim Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGfAP) war ich vier Jahre, von 1966 bis 1969, mit dem Auswerten von Schrifttum über deutsche Außenpolitik, Europa, Internationale Beziehungen und Deutschlandpolitik beschäftigt. Politik, diese Sparte interessierte mich bis dahin nicht. In meinem Elternhaus wurde wenig politisiert, außer es ging um Wahlen. Vater und Mutter wählten CDU. Nach Kriegsende war meine Familie, wie viele andere, bemüht, sich über Wasser zu halten. Dann, nach der Währungsreform 1948, war wirtschaftlicher Wohlstand Ziel der Westdeutschen. Der Nationalsozialismus war hinter dem Horizont des Bewusstseins verschwunden. Über das Verhältnis der Familie zum Hitler-Regime hatte sich Schweigen gelegt.
Auch im Geschichtsunterricht – ich besuchte von 1952 bis 1957 das Neusprachliche Mädchengymnasium in Recklinghausen – kam das Thema »Nationalsozialismus« nicht zur Sprache. Das war damals für die Lehrenden ein heißes Eisen. Der Unterricht unseres Geschichtslehrers, Herr I., litt unter Kriegsfolgen. Als Wehrmachtsangehöriger verlor er an der Front ein Bein. Zeitgeschichte war für ihn erlebter Krieg, das Geschehen an der Front. Nazi-Verbrechen, Judenvernichtung? Fehlanzeige. Wir hätten ebenso »Landser-Heftchen« lesen können. Selbst die Schulverwaltung ließ mit Richtlinien für die Behandlung des Nazi-Regimes und seiner Verbrechen im Unterricht auf sich warten.
Das Aufarbeiten dieses Kapitels deutscher Geschichte wurde damals weit und breit verdrängt. In den 50er Jahren existierte das Wort »Holocaust« an deutschen Bildungsstätten nicht. Dort seien »die Schwierigkeiten, unbelastete Personen zu finden, besonders groß gewesen«, berichtet der »Spiegel« am 26. April 2020 aus einer Studie an der Freien Universität in Berlin. Bis zu 90 Prozent der Lehrerinnen und Lehrer im Dritten Reich waren im nationalsozialistischen Lehrerbund organisiert. Nur nicht an der Vergangenheit rühren, war stiller Konsens. Zwar rückten die Nazi-Gräuel in den Blick der Öffentlichkeit, als in den 60er Jahren in Frankfurt am Main die »Auschwitz-Prozesse« gegen vielfachen Widerstand begannen. Doch die Auseinandersetzung mit »Auschwitz« und »Holocaust« kam erst in Gang, als die Generation der Achtundsechziger Fragen an Väter und Mütter stellte und anklagte.
Nach dem Staatsexamen 1964 an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main ging ich für ein Jahr nach Italien. Dort arbeitete ich als Sprachlehrerin, ein Gelegenheitsjob. 1966 kehrte ich zurück in die Bundesrepublik. Das Lehramt interessierte mich nicht mehr. Welcher Job kam für mich infrage? Meine sprachwissenschaftlichen Kenntnisse verhalfen mir zu meiner ersten festen Anstellung, und zwar am erwähnten Forschungsinstitut der DGfAP, damals mit Sitz in Bonn an der Adenauerallee. Noch war Politik, vor allem mein Wissen über Außen- und Deutschlandpolitik, über die täglichen Nachrichten in Presse und Rundfunk hinaus, so lückenhaft wie ein Sieb. Anders umschrieben: Mit dem neuen Job sprang ich ins kalte Wasser. Der Sprung sollte wegweisend für meine berufliche Laufbahn werden, die von da an nach Osten verlief.
Stapel von Büchern auf dem Schreibtisch – so begann mein erster Arbeitstag am Forschungsinstitut. Schriften über Außenpolitik und internationale Beziehungen türmten sich dort, Texte in den Sprachen Deutsch, Englisch, Französisch und Italienisch. Darunter Schriften über Deutschlandpolitik und die DDR. Ich sollte die Schriften lesen, auswerten und die daraus gewonnenen Erkenntnisse dokumentieren. In den ersten Wochen arbeitete ich wie eine tumbe Törin, die in dürftigem Mondlicht über ein holpriges Feld tappt.
Damals wie heute soll die Denkfabrik DGfAP, nun als Stiftung sesshaft in Berlin, die außenpolitische Meinungsbildung fördern und »die Bundesregierung in Fragen der operativen Außenpolitik beraten«, so die Visitenkarte der Stiftung. Die Dokumentationsstelle des Forschungsinstituts, mein Arbeitsfeld, diente Studierenden und Forschenden zur deutschen Außenpolitik mit den Schwerpunkten »Sicherheit« und »Europa«. Dazu nutzten sie unsere Hinweise, Zusammenfassungen und Bibliographien. Wie kamen wir in der Dokumentationsstelle, ein Team aus drei Mitarbeiterinnen und einem Mitarbeiter, an die auszuwertenden Materialien? Wir sammelten die relevante Primär- und Sekundärliteratur. Wir nahmen uns Zeitungen, Zeitschriften, Bücher, Reden, Vorträge und Aufsätze vor. Wir suchten danach in Katalogen, Börsenblättern des deutschen Buchhandels und auf Buchmessen. Nebenbei übersetzte ich politische Dokumente für das »Europa-Archiv«, eine Schrift, die mit der »Zeitschrift für Außenpolitik« von der DGfAP herausgegeben wurde. Zu meiner Zeit arbeiteten am Forschungsinstitut namhafte Historiker und Historikerinnen, Politikwissenschaftlerinnen und Politikwissenschaftler: Ulrich Scheuner, Joachim Kaiser, Karl Dietrich Bracher, Hans Rothfels, Hans-Adolf Jacobsen, Eberhard Schulz, Helga Haftendorn, Helga Grebing und Gerhard Wettig. Ebenso der Völkerrechtsexperte und Diplomat Wilhelm Grewe, zeitweise Geschäftsführender Direktor der DGfAP. Grewe war bekannt durch die Hallstein-Doktrin und den Deutschlandvertrag. Der Diplomat hat sich mehrfach publizistisch mit dem geteilten Deutschland befasst.
Das, was auf dem Sondergebiet DDR erforscht wurde, blieb nicht geheim. Es wurde veröffentlicht. Ich erinnere mich an den Titel »Braucht der Osten die DDR?«, verfasst von Eberhard Schulz und Hans Dieter Schulz. Die Frage wird mit einem »Jein« beantwortet, Ausdruck für die Schwierigkeit, die DDR einzuordnen. Darauf weist ebenso die 1968 erschienene Publikation des Forschungsinstituts »Anerkennung der DDR. Die politische und rechtliche Problematik« hin. Hier kommt eine Gruppe von Politikwissenschaftlern zu dem Schluss: Das Hauptproblem, das vor einer Anerkennung der DDR gelöst werden müsste, sei die Sicherung Westberlins, seiner Lebensfähigkeit und seiner Bindungen an den Bund. Unter diesem Blickwinkel blieb die Teilung Deutschlands in der westdeutschen Forschung bis zur Einheit die »offene deutsche Frage«.
Die DDR-Forschung im Westen litt an Auszehrung. Das, was druckstark über die Mauer hinweg zu uns in den Westen schallte, war Propaganda, Fake News. Ich erlebte es täglich beim Auswerten des Blattes »Neues Deutschland« (ND), Sprachrohr der Sozialistischen Einheitspartei. Oder des »Allgemeinen Deutschen Nachrichtendienstes« (ADN), mit dem die SED ihre »Informationen« als Meldung auf dem Ticker vorkaute. Was davon war Müll aus dem Lügenschrank der DDR, was Tatsache? Schwierig für die Forschenden, darauf eindeutige Antworten zu finden.
Anders gesagt: Die DDR als Gegenstand westlicher Forschung war bis zur »Wende« ein Knochen ohne Fleisch. Daran verbissen sich die Forscherinnen und Forscher. Ihre Ergebnisse seien »einseitig« und »schöngefärbt«, wurde kritisiert. »De-De-Errologen« nannte der Redakteur Ernst-Otto Maetzke am 25. September 1967 in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« spöttisch-herablassend die Wissenschaftler, die sich mit der DDR befassten. Der von mir schon erwähnte Rainer Eppelmann argwöhnt, dass die westliche DDR-Forschung auf die Propaganda und Desinformation hereingefallen ist, die von »Spezialisten des Staatssicherheitsdienstes und der SED überaus geschickt verbreitet« wurden. »Alles in allem« – so Eppelmann – »ist dem DDR-Regime so sicherlich eines der größten Täuschungsmanöver aller Zeiten gelungen.«
Erst als sich 1990 Archive im Osten und Westen sowie geheime Kanäle öffneten, wurden Quellen erschlossen, die ein reelles Bild der untergegangenen DDR vermitteln. Bis dahin war der Westen vor allem auf die offiziellen Verlautbarungen des Politbüros angewiesen. Die Forscher hatten keinen Zugriff auf geheime Absprachen westdeutscher Politiker mit den Pankower Akteuren. Heute zum Teil zugänglich geben sie Einblick in eine Geheimdiplomatie, die das Verhältnis der beiden deutschen Staaten zueinander differenzierter zeichnet, als es die öffentliche und veröffentlichte Meinung vermitteln konnte.
Für mich waren die Mitteilungen der SED ein unappetitlicher, zäher Teig, den ich nicht kauen mochte. Ätzend war die Sprache in den offiziellen Organen der Partei. Noch heute bekomme ich spitze Finger, wenn mir ein »ND«-Exemplar in die Hände fällt. »Neues Deutschland«? Nein danke! Zugegeben: Ich bin voreingenommen. Damals war das ND überwiegend Kampfblatt: Dort wurde gekämpft gegen den »Kapitalismus«, die »Bürgerklasse« und den »Idealismus«. Gefeiert wurden der Sieg des »Sozialismus«, die »Arbeiterklasse« und der »Materialismus«. Gestanzte Berichte mit Wortungetümen und rätselhaften Abkürzungen gespickt füllten die Politik-Seiten des »ND«.
Das Wort »Freiheit« ist mir in den DDR-Blättern nicht begegnet, oder ich habe es übersehen. Was verstand der Realsozialismus darunter? Wolfgang Bergsdorf weist im »Deutschland Archiv« darauf hin, dass die DDR auf dieses positiv besetzte Wort nicht verzichten konnte. Jedoch sei der Sinn, entsprechend der kommunistischen Ideologie, in sein Gegenteil verkehrt worden. »Wirkliche Freiheit gab es daher nur im Sozialismus. Sie bestand darin, das zu tun, was notwendig war«, so Bergsdorf. Neugierig suchte ich im »Philosophischen Wörterbuch der DDR« von 1975 nach der Definition von Freiheit. Verkürzt heißt es dort: »Die Freiheit besteht in der Einsicht in die objektive Notwendigkeit und in der darauf beruhenden Fähigkeit, die Gesetzmäßigkeiten der Natur und Gesellschaft mit Sachkenntnis anzuwenden und auszunutzen, um eine wachsende Herrschaft über sie zu erlangen.« Was sollte die DDR-Bürgerin, der DDR-Bürger darunter verstehen? Etwa ihr eingesperrtes Dasein?
Dem Diktat der Partei waren nicht nur ihre Sprachrohre »ND« und »ADN« unterworfen, sondern auch die Politik-Seiten der Bezirks-Presse und die politischen Sendungen des DDR-Rundfunks. Auffällig die Phrasen, die sich unermüdlich und gezielt auf den »Feind« im Westen durch die Texte winden. Fast täglich, so hieß es im Forschungsinstitut, wurden die Chefredakteure mit Weisungen der SED-Abteilung »Agitation« berieselt – per Telefon oder Fernschreiber. Später wurden die Redaktionsleiter jeweils am Donnertag ins Zentral-Komitee (ZK) zitiert. Bloß nichts veröffentlichen, was den Zielen der Partei widersprach oder dem Westen in die Hände spielen konnte. Mit der Umschreibung »Es gibt so große Worte, die sind so leer, dass man darin ganze Völker gefangen halten kann«, trifft der polnische Autor Stanislaw Jerzy Lec ins Schwarze der kommunistischen Phraseologie Stalin’scher Prägung.
Diese Art von Gehirnwäsche änderte sich je nach politischer Wetterlage. In den Ulbricht-Jahren richteten sich die Angriffe gegen die BRD. Unter Honecker wurde, infolge der Entspannungspolitik der Brandt/ Scheel-Koalition, weniger gegen Westdeutschland polemisiert. Immer standen die Interessen der Partei im Vordergrund.
Pressefrühling: Nach der Herbstrevolution befreiten sich Presse und Rundfunk in der DDR aus der Klammer »Bevormundung«. Sie gingen mit Eifer daran, ihre Blätter zu demokratisieren, nicht ahnend, dass westdeutsche Politik und Wirtschaft die Weichen längst anders gestellt hatten. In den Vorgang der Demokratisierung griffen, mit Rückendeckung der Bonner Regierung, die westdeutschen Medien massiv ein. Die finanzstarken Verlage der BRD wollten sich den auflagenstarken Markt an DDR-Druckerzeugnissen nicht entgehen lassen. Springer, Gruner & Jahr, Bauer und Burda schlossen sich zusammen und drängten im Dezember 1989 auf einen Zeitungsaustausch der beiden Staaten. Die DDR musste passen, weil ihr das Papier knapp wurde. Darauf entschlossen sich die Verleger, ihre eigenen Blätter in der DDR zu verkaufen. So konnten wir am Kiosk in Ostberlin »Zeit«, »Spiegel« oder »Frankfurter Allgemeine Zeitung« zum selben Preis in DDR-Mark wie in Westberlin zum Preis von D-Mark kaufen. Nach und nach verschwanden die ostdeutschen Zeitungen aus den Ständern. Statt sich frei entfalten zu können, wurde der Zeitungsmarkt in der DDR zerschlagen.
Nach den Volkskammerwahlen im März 1990 gelang es den westdeutschen Großverlegern mit Jointventure-Abkommen in der DDR Fuß zu fassen. Doch sie wollten mehr. Nach der Wiedervereinigung am Ziel ihres Begehrens, kauften die Verlage die auflagenstarken, aber klammen Bezirkszeitungen, ehemals in der Hand von SED und ihrer Blockparteien. Der SPD-Fraktionsvorsitzende in der Volkskammer, Richard Schröder, hier greife ich vor auf ein späteres Kapitel meiner Geschichte, hat die Entwicklung des DDR-Zeitungsmarkts im »Wendejahr« verfolgt und das Thema »Presse« auf die Tagesordnung einer Vorstandssitzung der SPD-Fraktion gesetzt. Nach längerer Diskussion über das profitorientierte Vorgehen westdeutscher Verlage zog der Vorstand den bedenklichen Schluss: »Was wir jetzt auf unserem Pressemarkt erleben, das geschieht in einer Grauzone, ohne rechtlichen Rahmen.« Heute sehen wir klar: Demokratisieren konnten sich die DDR-Medien, wie Bürgerrechtler und Sozialdemokratische Partei in der DDR (SDP) forderten, nur im Ansatz. Darauf nahmen die westdeutschen Verlage, die um Auflage buhlten, keine Rücksicht.
Jetzt, nachdem ich einige Seiten gefüllt habe, kurz zur Frage: Wie soll die Leserin, der Leser meine Erzählung verstehen? Ausdrücklich: Ich halte mich zwar an Tatsachen, Dokumente und zeitgeschichtliche Daten, berufe mich auf Zeitzeugen. Ich schreibe aber keine wissenschaftliche Arbeit. Ich gebe allein meine Sicht der Geschichtsstrecke »Teilung und Wiedervereinigung der Deutschen« wieder, im Besitz jahrelanger Erfahrungen auf dem politischen Feld und in der Einfalt meiner laienhaften geschichtswissenschaftlichen Erkenntnisse.
Ich kehre zurück zum Kauderwelsch der SED auf den Politikseiten ihrer Presse. So hölzern und abweisend diese Sprache auf uns Westdeutsche wirkte, so verfehlte sie ihr Ziel auch bei der DDR-Bevölkerung. Propaganda-Sprüche in gestanzten Phrasen konnten nicht überzeugen und die Menschen zu politischem Handeln im Sinne von Marx und Lenin bewegen. Als wir auf das Thema zu sprechen kommen, wehrt sich Linde: »Die meisten von uns ließen die dafür angesagte Betriebsversammlung und Parteischulung, von denen sich niemand ausschließen konnte, innerlich unbeteiligt über sich ergehen. Dazu gehörte auch Wehrkunde. ›Rotlichtbestrahlung‹ nannten wir das. Erinnere mich nicht daran.« Das Sinnen der Partei, die Bevölkerung sozialistisch, das hieß militärisch zu erziehen, ging nicht auf. Die so genannte Volksbildung sollte jede DDR-Bürgerin, jeden DDR-Bürger auf den Dienst an der Waffe oder im Zivilschutz vorbereiten. Darauf war die Kampfsprache der SED-Organe ausgerichtet. Das geschah unter dem begrifflichen Deckmantel »Friedensstaat DDR«. Grauenvoll die dissonante Losung der SED: »Der Frieden muss bewaffnet sein«. Damit befasst sich eine Veranstaltung des Berlin-Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes:
Auch die Meinungsforscher bestätigen: Die SED scheiterte mit ihrem Dogma, das Denken, Wollen und Handeln der Bevölkerung in Richtung Sozialismus und Militarisierung zu lenken. Was die Partei predigte, erwies sich als wenig glaubwürdig. Erlebten die Bürgerinnen und Bürger nicht alltäglich den Widerspruch zwischen ideologischer Lehre und DDR-Wirklichkeit? Beispiel Berliner Mauer, von der SED verbrämt als »antifaschistischer Schutzwall« und als »Friedensgrenze«. Wer den Wall überwinden wollte, musste damit rechnen, festgenommen oder erschossen zu werden. War es demnach nicht eher ein Schusswall, ein Kriegswall? Die Sprache der Partei war kein Vorbild für jeder frau/jedermanns Sprachgebrauch. Der DDR-Satiriker Matthias Wedel formuliert: »Die politische Sprache war ein Stammesidiom im Dunstkreis der Macht. Beruhigend für uns, dass sie nach Feierabend verstummte und nicht geeignet war für Liebesgeflüster oder Familienknatsch.« In den eigenen vier Wänden verständigten sich die Menschen so, wie ihnen der Schnabel gewachsen war. »Der Sozialismus endet bei uns am Werkstor«, hörte ich einen Industriearbeiter.
Das führt mich zur Frage: Wie entwickelte sich die Kommunikation zwischen Ost- und Westdeutschen? Ich fand dazu die Studie »Einheit als Vokabel-Problem« von Ralf Rytlewski im Berliner »Tagesspiegel« vom 27. September 2020. Ein Zitat aus dieser Studie weist auf Differenzen zwischen West und Ost hin. Rytlewski: »Vertrackt für die Kommunikationspraxis sind semantische Differenzen bei einer Bezeichnung, die sich dann bemerkbar machen, wenn das geäußerte mit dem gemeinten Wort und den damit verbundenen Bildern verglichen wird. Stand zum Beispiel das Wort Imperialismus im ostdeutschen Gebrauch häufig für das Wort Kapitalismus, so meinte es in westdeutscher Verwendung die Herrschaftsform territorialer Expansion. Ostdeutsche übersetzten das aus den Westmedien bekannte Wort Arbeitsloser zunächst missverstehend mit Arbeitsverweigerer und/oder Arbeitsunfähiger, denn es fehlte ihnen die im Westen übliche Konnotation Arbeitsmarkt mit den Akteuren Arbeitgeber und Arbeitnehmer.« Rytlewski nennt diesen Vorgang »Kommunikationsstörung«, die »unterschiedliche Wortneubildungen« und »unterschiedliche Fachsprachen« herausgebildet hat. Darunter könne jedoch nicht eine »Sprachspaltung« der Deutschen und damit auch nicht eine »Spaltung der gemeinsamen literarischen Tradition« verstanden werden. Rytlewski kommt zu dem Schluss: »Wir haben es demnach in Deutschland auf der Basis der einen Sprache mit zwei Kommunikationssystemen beziehungsweise -kulturen zu tun …« Der Sprachforscher stellt fest, dass diese »Störung« noch heute die Verständigung erschwert. Jetzt frage ich mich, ob ich Linde immer verstanden habe und sie mich. Vermutlich haben wir uns manches Mal in dem Glauben geirrt, wir hätten uns verstanden, obwohl wir Wörter gebrauchten, die in ihrer Bedeutung voneinander abwichen.
Nicht alle DDR-Presseerzeugnisse trugen den Stempel des politischen Diktats. Davon ausgenommen war die Literaturzeitschrift »Sinn und Form«, die nicht der Vorzensur unterlag. Gerne gelesen wurde das Bunte in Witz, Karikatur, Satire und Comic im DDR-Blätterwald. Darin versuchte sich die Satire-Schrift »Eulenspiegel«, unter der Qual des SEDDiktums »den Finger nur nicht in die offene Wunde legen!«. Frauen kauften die Zeitschrift für Mode und Kultur »Sibylle«. Das Blatt, gehandelt als »Ost-Vogue«, war immer schnell vergriffen und wurde als Bückware abgegeben. Ich fand diese Zeitschriften oft in Lindes Päckchen, zwar abgegriffen, denn »drüben« waren sie schon durch viele Hände gegangen. Mit Gedrucktem geizte die DDR nicht. So sind im Jahr 1981 etwa 1770 verschiedene Zeitungen, Zeitschriften, Journale und Magazine in einer Gesamtauflage von 40 Millionen erschienen. Die DDR war »Leseland«.
Für uns am Forschungsinstitut der DGfAP war das SED-Schrifttum berufliche Zwangslektüre. Das war ideologische Propaganda, die weder etwas über das wirkliche Denken und Verhalten der Bürgerinnen und Bürger zu ihrem Staat aussagte, noch echte Daten über Wirtschaft und Finanzen lieferte. Ein Blick in den Giftschrank des Politbüros hätte uns ein anderes Bild vermittelt. Dort lagerten Analysen der wirtschaftlichen und finanziellen Realzustände, die DDR-Wirtschaftsexperten dem engsten SED-Zirkel mahnend auf den Tisch gelegt hatten. Doch sie verschwanden ohne Reaktion in den Panzerschrank. Diese Dokumente sind frühe, ungeschminkte Hinweise auf die Stufen des Untergangs der DDR. Ein differenziertes Bild über den jeweiligen gesellschaftlichen Zustand der DDR hätten uns auch die kontinuierlichen Informationen der Stasi an das Politbüro vermittelt. Davon im Detail später.
Die SED-Verlautbarungen als Quelle unserer Erkenntnis über die DDR konnten nur in die Irre führen. Um mehr über das politische System der DDR, die Organisation seiner Verwaltung und über die Gesellschaft zu erfahren, mussten wir nach westdeutschen Druckerzeugnissen greifen. Informativ waren die SBZ-Handbücher, später DDR-Handbücher des Bundesministeriums für Gesamtdeutsche Fragen/Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen. Dazu gehören die jährlichen »Deutschland-Berichte« der Bundesregierung. Schließlich nutzte ich als Quelle Schriften der Friedrich-Ebert-Stiftung und vor allem Magazine. Aus ihnen zitiere ich in meiner Geschichte: aus »Spiegel« und »Deutschland Archiv« (DA), für mich Fundgruben mit reichem Repertoire an Dokumenten, Berichten, Analysen, Diskussionen, Rezensionen und Annotationen.
Welche Quellen hatten wir noch? Was vermittelten uns die westdeutschen Medien? Die Deutschland-Korrespondenten konnten sich erst nach Inkrafttreten des Grundlagenvertrags mit der DDR in Ostberlin akkreditieren lassen. Auch dann blieb ihr Berichtsfeld auf dem Gebiet des zweiten deutschen Staats eingeschränkt, wurde ständig von der Stasi kontrolliert und überwacht. Wer es wagte, Missstände in der DDR aufzudecken, musste umgehend mit Sanktionen wie Rauswurf und Entzug der Akkreditierung rechnen. Umfassende Berichte in den 60er Jahren sind an einer Hand abzuzählen. Es mangelte an Reportagen über das Leben, die Mentalität der Menschen »drüben« und ihr Verhältnis zum SED-Regime.
Eine der wenigen Ausnahmen ist der Journalist Hanns Werner Schwarze, der sein Handwerk beim »RIAS« gelernt hatte. Schwarze arbeitete für das »Zweite Deutschen Fernsehen«. Im Westberliner Studio des Senders moderierte er die Sendereihe »drüben«, die sich ab 1966 als erster Sendebeitrag mit gesamtdeutschen Fragen beschäftigte. Aus »drüben« entwickelte Schwarze die Sendereihe »Kennzeichen D«, Gegenwurf zum »ZDF-Magazin« des erzkonservativen Gerhard Löwenthal. »Kennzeichen D« ging am 1. September 1971 erstmalig über den Äther und wurde mehrfach ausgezeichnet. Der Journalist berichtete über die innerdeutschen Beziehungen mit Biss und Ironie. »Letzter Giftzahn« nannte ihn der »Spiegel«. Dabei schonte Schwarze weder die DDR noch die BRD. Für konservative Kräfte wie CDU/CSU und die ihr gewogene Presse war er ein Ärgernis. Für die DDR-Führung war der Journalist ein »Aggressor auf Filzlatschen«. Ich bekam das 1969 von ihm erschienene Werk »Die DDR ist keine Zone mehr« zum Auswerten auf den Schreibtisch. Erstaunt las ich, dass Schwarze schon in den sechziger Jahren, entgegen allgemein anderer Meinung, die DDR als funktionsfähiges Staatswesen beschreibt.
Ergiebiger Informant war der renommierte Journalist und erste Leiter der Ständigen Vertretung Bonns in Ostberlin, Günter Gaus. Gaus wie Schwarze wurde vorgeworfen, sie hätten sich täuschen lassen. Ihre Werke hinterließen den Eindruck, der Alltag in der DDR sei ein, bei aller Gängelung durch die Partei, normales, an die politischen Forderungen angepasstes Leben. So, wie ich es verstand, spiegelten sich ihre Erfahrungen in Lindes Briefen wider. Danach verhielten sich die Menschen im zweiten deutschen Staat in der Öffentlichkeit zwangsweise »regimeduldend«. Es gab Einzelne, die mutig mit ihrer Kritik auftraten und das Risiko der Haft eingingen. Oder die Regime-Zustimmenden, entweder aus Überzeugung oder wegen der Vorteile, die mit der SED-Mitgliedschaft und Funktionärsarbeit verbunden waren. So durften stramme Parteifunktionäre in alle Welt reisen.
In Erinnerung habe ich den Leiter des ARD-Büros in Ostberlin, Fritz Pleitgen. Der Auslandskorrespondent hatte zunächst aus Moskau berichtet, ehe er 1977 nach Ostberlin wechselte. Als er jüngst vom »Tagesspiegel« (Ausgabe vom 9. Mai 2021) befragt wurde, erzählt er von den Bedingungen, unter denen ein Journalist in der DDR gearbeitet hat. Wie kam er mit den Menschen im SED-Staat zurecht? Pleitgen: »Ich kam mit DDR-Bürgern zusammen, dann hing es von mir ab, mache ich etwas daraus oder nicht, nehme ich Rücksicht darauf, dass sie eventuell Schwierigkeiten bekommen. Wir mussten ja die Leute im Bild zeigen. Das gefährdete unsere Gesprächspartner. Aber die haben mir gesagt, wie erbärmlich die Versorgungsverhältnisse waren. Ich wusste schon, wie die Lage war. Nur, ich konnte es nicht belegen, mit Bildern von Menschen, die darunter litten, das war unser Problem.«
Auf die Frage, wie er auf den Apparat und die ständige Kontrolle reagiert hat, antwortet Pleitgen: »Einige Grenzer waren unerträglich, die hat man dann missachtet, andere waren ganz nett … Ansonsten hatte ich keinen Grund, mich eingesperrt zu fühlen, ich konnte ja raus. Aber es war schon ein Riesenunterschied, von dort nach Amerika zu gehen. Ich wurde nur bestimmte Verhaltensweisen nicht los. Ich habe immer in den Rückspiegel geguckt, ob jemand hinter mir her ist. Dafür bekam man ja ein Gespür, wenn Leute, die dir unbekannt waren, dicht dran bleiben oder ihren Knirps auf dich gerichtet haben. Die hatten Regenschirme mit Richtmikrofonen. Wir haben uns dann einen Spaß gemacht, die Kameras rumgerissen und die schnell gefilmt. Wir hatten diebische Freude daran, dass die im Schweinsgalopp davon preschten. Das gab uns so ein falsches Gefühl der Überlegenheit. Später an den Akten habe ich festgestellt, wie gefährlich die uns im Griff hatten. Das Sinnen und Trachten von Erich Mielke, Chef der Stasi (Anm. der Verf.) und Co. war, uns strafrechtliche Entgleisungen nachzuweisen. Da konnte man leicht Fallen stellen, denn es war ja im Grunde alles verboten. Ich plusterte mich etwas auf.«
Schließlich wird Pleitgen gefragt, was die Medien zur Wiedervereinigung beigetragen hätten. Dazu Pleitgen: »Wir wollten nicht als Missionare auftreten, wir hatten ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit, weil wir nicht wie die Kommunistenfresser durch die Gegend gelaufen sind. Wir haben uns gesagt, die können uns kreuzweise, denn wir werden die Politik jetzt nicht zur Hauptsache machen, wir können sowieso nichts aufdecken. Wir wenden uns Land und Leuten zu. Ich habe ja später sehr eng mit dem Kollegen Jürgen Engert /_langjähriger Chefredakteur Fernsehen des SFB und Gründungsdirektor des ARD-Hauptstadtstudios in Berlin, Anm. der Verf._/ zusammengearbeitet. Dem habe ich gesagt, wenn Helmut Kohl wüsste, dass wir einen ebenso großen Anteil an der Deutschen Einheit haben wie er, dann würde der demütiger. Dies ist ein Musterbeispiel für die Bedeutung einer freien Berichterstattung in einer Demokratie, das sei all den Querdenkern ins Stammbuch geschrieben.« Pleitgen weiter: »Nach meiner Meinung hätte man gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern der DDR unser Grundgesetz überarbeiten sollen.«
Erwähnen sollte ich die Journalistin Marlies Menge. Menges Berichte über die DDR, sie war von 1977 bis 1990 als Korrespondentin der »Zeit« in der DDR akkreditiert, fielen aus dem üblichen Rahmen der Berichterstattung. Die Journalistin hatte eine Art Narrenfreiheit bei der Chefredakteurin der »Zeit«, Marion Gräfin Dönhoff. Jetzt im Rückblick auf jene Jahre bemerkt Menge in der Wochenschrift »Die Zeit« vom 1. Juli 2021, dass sie »vielleicht alles viel zu positiv dargestellt habe«, ein Vorwurf, den sie sich nach der »Wende« gefallen lassen musste. Aber das Negative hätten ihre Kollegen so ausgiebig bedient, dass es ihr um ein Gegengewicht ging«, verteidigt sich Menge. Das, was sie über die DDR und die Ostdeutschen schreibt, zeugt von ihrer Sympathie für das Land und seine Menschen. Selbst das politische System DDR wurde von ihr verteidigt: »Ich glaube, es gibt immer noch Leute, die denken, dass der Sozialismus humaner ist als der Kapitalismus. Ich finde das auch.«
DDR in Forschung und Bericht: Dass ich mich damit befasst hatte, kam mir später mehrfach zugute. Zum einen, als ich beim Italienischen Rundfunk tätig wurde und die Ostpolitik der Brandt/Scheel-Koalition im Mittelpunkt unserer Berichterstattung stand. Zum anderen als Pressereferentin der SPD-Bundestagsfraktion, die den Grundlagenvertrag mit der DDR mit Leben zu erfüllen versuchte. Diese Kapitel meines Berufslebens kommen noch zur Sprache …
Die Arbeit auf dem Gebiet der Deutschlandpolitik verlangte neues Lernen und Korrektur meines zeitgeschichtlichen Wissens. Zum Beispiel hatte ich Deutschlandpolitik als Außenpolitik eingestuft. Irrtum! Auch das gehört zu den vielen Besonderheiten im Verhältnis der beiden deutschen Staaten zueinander. Da der ostdeutsche Staat für die BRD kein Ausland war, wurde die DDR als Sondergebiet behandelt und erforscht. Damit traf der Westen einen wunden Punkt bei den DDR-Machthabern. Nichts wurde so sehr vom SED-Staat ersehnt und gebetsmühlenartig gefordert wie die völkerrechtliche Anerkennung. Die DDR machte ihrerseits kein Hehl daraus, die BRD als Ausland zu deklarieren, obwohl dies – laut Vier-Mächte-Statut – rechtlicher Grundlage entbehrte.