Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Rubikon ist ein kleiner Fluss in Italien, der in die Weltgeschichte eingegangen ist. Gerade hier wurde seinerzeit über das Schicksal der römischen Zivilisation und damit auch das Schicksal so vieler Völker entschieden. Cäsar wollte das Feld des legalen politischen Kampfes bis zum Schluss nicht verlassen. Erst als er in die Enge getrieben worden war, sprach er - in einem Augenblick des Hochgefühls und der fast göttlichen Eingebung - sein Berühmtes: 'Die Würfel sind gefallen!', und gab den Befehl, den Rubikon (Grenze von Italien) zu überschreiten. Diese Entscheidung Cäsars ist für immer in das Schlagwort 'den Rubikon überschreiten' eingeprägt, das in fast allen Sprachen unseres Planeten verwurzelt ist, was bedeutet, eine mutige und unwiderrufliche Entscheidung zu treffen und umzusetzen.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 323
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
„Wer nie an seine Grenzen geht, wird schnell an seine Grenzen kommen.“ (Lothar Hüther)
„Nur wer Grenzen überschreitet, schafft neue Verbindungen.“ (Thomas Möginger)
„Es gibt keine Grenzen. Nicht für den Gedanken, nicht für die Gefühle. Die Angst setzt die Grenzen.“ (Ernst Ingmar Bergmann)
Vom Herausgeber
Sophia Benedict
Ilse Victoria Bösze
Hans Dama
Cornelia Divoky
Franz Forster
Andrea Glatzer
Bernhard Heinrich
Sonja Henisch
Ernst Karner
Ingrid Karner
Elfriede Klima
Eva Meloun
Gerhard Pauza
Ingrid Schramm
Rikki Seidl
Petra Sela
Hüseyin Simsek
Manfred Stangl
Michael Stradal
Hubert Thurnhofer
Horst Weber
Peter Paul Wiplinger
VOM HERAUSGEBER
Einmal, auf der Suche nach einem Campingplatz, fuhr ich die italienische Adriaküste entlang, da flog plötzlich ein Schild mit einem äußerst vertrauten Wort mir entgegen: ‚Rubikon‘. Als ich das Auto anhielt und mich umsah, war ich extrem überrascht: Ist das wirklich das Rubikon, an dem einst die berühmte Grenze entlangging? Eine kleine Brücke führte über einen Sumpf. Und das wohlgemerkt an der Mündung des Flusses, der in die Weltgeschichte eingegangen ist. Könnte es sein, dass gerade hier über das Schicksal der römischen Zivilisation und damit auch das Schicksal so vieler Völker entschieden wurde?
Flussaufwärts steht immer noch – wie ich später herausfand – eine Brücke aus der Römerzeit (Ponte Consolare), gebaut, als dieser Fluss noch wie ein richtiger Fluss aussah.
Zu Beginn des Jahres 49 v. Chr. hatten die Widersprüche zwischen Cäsar auf der einen Seite und Pompeius (unterstützt von der aristokratischen Partei, die den Senat dominierte) auf der anderen Seite einen Höhepunkt erreicht. Caesar, der sich dem Ende seiner prokonsularischen Amtszeit in Gallien näherte, forderte für sich das Recht, bei den konsularischen Wahlen in Abwesenheit zu kandidieren, ohne seine prokonsularische Macht aufzugeben oder seine Truppen aufzulösen. Pompeius und der Senat erhoben Einspruch und forderten von Caesar die bedingungslose Auflösung der Truppen, aber gleichzeitig behielt Pompeius selbst die prokonsularische Autorität in Spanien und damit die militärische Befehlsgewalt und Immunität vor der Gerichtsbarkeit. In der Zwischenzeit bereiteten sich Caesars senatorische Feinde offen darauf vor, ihn wegen angeblicher Missbräuche in Gallien (die er für Rom erkämpft hatte, was ihm neun Jahre seines Lebens kostete) vor Gericht zu stellen und warteten nur darauf, dass Caesar als Privatmann in Rom erschien.
Cäsar wollte das Feld des legalen politischen Kampfes bis zum Schluss nicht verlassen, was sein Zögern erklärt, bevor er den Befehl gab, den Rubikon zu überschreiten. Er suchte einen Kompromiss, indem er die gleichzeitige Auflösung auch der Truppen von Pompeius forderte. Erst als Cäsar sah, dass er in die Enge getrieben worden war, sprach er – in einem Augenblick des Hochgefühls und der fast göttlichen Eingebung – sein Berühmtes: „Die Würfel sind gefallen!“ und gab den Befehl, den Rubikon zu überschreiten.
Diese Entscheidung Cäsars ist für immer in das Schlagwort „den Rubikon überschreiten“ eingeprägt, das in fast allen Sprachen unseres Planeten verwurzelt ist, was bedeutet, eine mutige und unwiderrufliche Entscheidung zu treffen und umzusetzen.
SOPHIA BENEDICT
geboren in der UdSSR. Universitätsabschluss mit dem Diplom für Publizistik. Arbeitete in Zeitungen, Zeitschriften, Radio und Fernsehen. Weiterbildung in Wien, wo sie seit 1984 lebt und arbeitet. Langfristige Akkreditierung als Journalistin und Pressefotografin beim Österreichischen Bundeskanzleramt, zahlreiche Publikationen in Zeitungen und Fachzeitschriften, über 20 Buchveröffentlichungen in Deutsch und Russisch – Sachbücher, Übersetzungen, Lyrik und Prosa. Leiterin von Anima incognita Kulturverein
AUF DEM GIPFEL EINES HOHEN BERGES...
Anita, sich süß reckend, kam zum Fenster heran, öffnete die Gardine und ächzte begeistert. Der Morgen war wunderbar, seidig war der Morgen! Nach dem Dauerregen, der heftig an den Fenstern peitschte, liebkoste die Sonne die Dächer und das Grün des seit langem nicht gemähten Rasens, von denen die Gänseblümchen ihre winzigen Köpfe zutraulich zum Himmel zogen. Schnell öffnete sie das Fenster, atmete die reine Luft ein, und eine Empfindung der grundlosen Freude überflutete sie. Eine Minute später ging jedoch die Freude vorbei, nur die Fetzen hinterlassend. So rollt die Meereswelle zurück, und hinterlässt auf dem Sand „die Gaben“ des Menschen an das Meer. Bald jedoch ist die glückliche Welle zurückgekehrt. Anita wollte sie festhalten, sie wollte nicht zulassen, dass diese zarte Wärme wieder weggeht.
Natürlich kam diese Freude nicht ohne Grund, entschied sich Anita. Sie neigte überhaupt dazu, in allen Ereignissen des alltäglichen Lebens, die schlechten oder die guten Vorzeichen zu sehen. Ihr schien es oft, als ob ihr Leben tatsächlich noch nicht angefangen hätte, dass alles, was sie bis jetzt erlebt hatte, nur eine Vorbereitung auf etwas Allerwichtigstes wäre. Und jetzt Schicksal oder Gott, es ist nicht wichtig, jemand schickte ihr dieses Zeichen: Ja, ja, gerade heute wird etwas Besonderes geschehen!
Aber was denn so Besonderes kann in ihrem nicht besonderen Leben geschehen, wo ein Tag dem anderen so ähnlich ist, wie die Konservenbüchsen auf dem Regal des Supermarktes? Dieser Tag wird ebenso unmerklich davon fliegen, wie eine gute Hälfte ihres Lebens unmerklich bereits davon geflogen ist. Dafür aber ist eine Einförmigkeit ein Beweis der Ruhe, tröstete sie sich.
Jedoch, an so einem Perlmuttmorgen, vom Regen abgewaschenen Tag, muss etwas Ungewöhnliches passieren! In Anitas Gedächtnis tauchten die Teile seit langem vergessener Gedichte auf, die ihre Vorahnung bestätigen sollten. Anita war eine belesene Frau, jeder Gedanke, jede erlebte Empfindung fand in ihrem Inneren eine Unterstützung der Klassiker, die den Lauf ihrer Gedanken entweder billigten oder nicht billigten. Das half Anita, sich weniger einsam zu fühlen, es war so, als ob es doch immer jemanden gab, der sich für sie interessierte. Diejenigen, die wir lieben, wenn sie einmal in unser Inneres eingedrungen sind, werden für immer ein Teil unserer Natur bleiben. In dieser trügerischen Symbiose fand Anita ihre Befriedigung. Es schien, sie existierte parallel in zwei Welten – in einer realen Welt der Sachen und in einer anderen, von ihr erfundenen Welt …
Unwillig ging sie vom Fenster in die Küche, schaltete die Kaffemaschine ein mit den erlernten Bewegungen, nahm aus dem Schrank Brot und Marillenmarmelade, dann ging sie ins Badezimmer. Heute duschte sie sich länger als sonst. Das Wasser ist das Schönste von allem, was von der Natur geschaffen wurde, das liebkoste ihre Haut, als Lebenselixier drang es in sie hinein, nährte ihren Körper mit Wärme und Energie. Sollte Anita irgendwann einen Schiffbruch erleiden, wird sie niemals ertrinken, Wasser ist ihr Element. In diesem Moment hat Anita sich fast gewünscht, einen Schiffbruch zu erleiden. Irgendein Abenteuer sollte schon einmal in ihrem langweiligen Leben passieren!
Anita zog einen Schlafrock an. Brot, Butter und eine Rosette mit Marillenmarmelade lagen auf der Spitzenpapierserviette, durch deren zarte Öffnungen das festliche Grün eines florentinischen Tabletts durchschimmerte. Das Tablett stellte sie auf das Nachttischchen und ging wieder unter die Decke. Die Sonne überflutete das Zimmer mit goldigem Licht. Heute ist Sonntag! Sie darf das! Das Nichtstun schien Anita so etwas wie ein mittelschweres Verbrechen zu sein, heute aber spürte sie so eine Freude der einfachen Existenz, dass es ihr auf alle Verbrechen nicht ankam. Die Sorge um andere – um ihren Mann, ihre Tochter, ihre Mutter, die im armen Russland blieb, um ihre kranke Schwiegermutter zu pflegen sowie um alle Freunde – wurde zu einem Teil ihrer Natur. Anita schien es, ihr Leben gehöre nicht ihr allein, sie fühlte sich verpflichtet, die regelmäßigen Beiträge zu leisten, um berechtigt zu werden, auf dieser Erde zu bleiben.
Anita war überzeugt, dass man die Liebe sich verdienen muss, dass die Liebe einfach so nicht kommen würde. Man muss sich nützlich für die Menschen machen, die einem teuer sind, nur dann kann man geliebt werden. Ihre Bekannte glaubte, sie hätte einfach Glück im Leben, in Wirklichkeit aber wusste sie sehr gut, dass ihr Glück allein das Werk ihrer Bemühungen war.
Seit einiger Zeit lebte Anita allein.
Ihr Töchterchen, ihr einziger Nestling, flog vorzeitig aus dem Nest. Ab und zu traf sie sich mit ihrem Ehemann zum Mittagessen, die beiden saßen da eine halbe Stunde, um „Anstand“ zu bewahren, und liefen dann weg.
Anita hatte eigentlich großes Glück – denn sie hatte einen Mann geheiratet, den sie heiß liebte, und noch dazu war dieser Mann nicht weniger als sozusagen ein „Prinz aus Übersee“, ein Europäer, und das war etwas, wovon alle russischen „Aschenputtel“ nur träumten. Sie konnte selbst an ihr Glück nicht glauben, und sie hat sich buchstäblich in Liebe aufgelöst, sie fand ihre wahre Berufung nur darin, dem geliebten Menschen zu dienen.
Ihr Mann war schön und intelligent, aber er war wortkarg. Es schien ein Zeichen des Mutes und des tiefen Verstandes zu sein, aber mit der Zeit fing seine Wortkargheit an, Anita stark zu belasten. In ihrer Bescheidenheit und Anspruchslosigkeit fand Anita in seiner Schweigsamkeit eine Rechtfertigung, und sogar dann, wenn er allein, ohne sich mit ihr zu beraten, alle Fragen betreffend der Familie regelte, protestierte sie nicht. So ermuntert unterstützt eine liebende Mutter die Unabhängigkeitstaten ihres Sohnes. Sie fürchtete, ihren Mann zu verlieren, wie sie in der Kindheit gefürchtet hatte, ihren Vater zu verlieren. Ihren Vater verlor sie jedoch, er hatte ihre Mutter verlassen und ging zu einer anderen Frau. Anita glaubte damals, dass es geschah, weil sie ihren Vater nicht genug geliebt hatte. Sich selbst, und weniger ihrer Mutter, gab sie die Schuld, als Kind war sie überzeugt, dass der Vater sie und nicht ihre Mutter verlassen hatte, es wäre sie und nicht ihre Mutter, die es nicht geschafft hatte, den am meisten geliebten Menschen festzuhalten.
Wie man sagt, die Mängel der geliebten Menschen sind eine Fortsetzung ihrer Vorzüge. Wenn Anita sich bei ihren Freundinnen wegen ihres Mannes beklagte, so machte sie es mit jenem zutraulichen Humor, in den die russischen Frauen ihre ganze Mutterliebe zu ihren Ehemännern aufzeigen.
Zum ersten Mal wurde ihr Vertrauen richtig erschüttert, als Anita klar wurde, dass ihr schöner Prinz die Kinder nicht liebte. Als ihre Tochter geboren wurde, fühlte er sich fast betrogen, als ob seine Frau ihn nicht mit einer kostbaren Gabe beschenkte, sondern ihm hingegen etwas weggenommen hätte. Ihre ungeteilte Liebe, das war das, was er haben wollte. Noch ein Kind kam für ihn nicht in Frage. Anita konnte diesen Schmerz nicht überwinden. Schmerzlich wollte sie einen Sohn, sie träumte von einem blonden, blauäugigen Jungen, der ihrem Mann ähnlich wäre...
Bald wurde ihre Beziehung aus liebevoll einfach nur höflich, was in den Augen der anderen auch als Liebe betrachtet werden konnte.
Als die Tochter heiratete, spürte Anita eine Leere in sich. Stundenlang schlenderte sie durch die Stadt, ohne Wünsche, ohne Interessen. Einmal teilte sie beim Café Eduscho einen Tisch mit einem bejahrten Paar. Die Frau zählte lange das Kleingeld in ihrer Geldbörse und fragte ihren Mann, ob sie auch für seinen Kaffee bezahlen solle, jener sagte, er würde selbst zahlen, wonach die beiden ihren Kaffee ganz schweigend tranken. Der Mann drückte ganz nah seine Tasse an sich, als ob er fürchtete, sie könne ihm weggenommen werden, und schaute starr durchs Fenster. Seine Frau vermied es auch, an seine Seite zu schauen. Nichtsdestoweniger vergaßen sie nicht das gut erlernte „danke“ und „bitte“, und das war offensichtlich alles, was sie noch zu einander sagen konnten.
Wie von einem Alptraum wurde Anita von diesem Bild verfolgt. Plötzlich verstand sie, dass es eine Spiegelung ihres eigenen Lebens war. Was verbindet uns noch, meinen Mann und mich, fragte sich Anita.
Es verband sie aber eine gemeinsame Firma. Sie war ihr allgemeines Werk, nichtsdestoweniger konnte sie die beiden nicht wirklich vereinigen, es war doch nur ein Job. Ihr Mann traf nach wie vor alle Entscheidungen allein, und reagierte beleidigt auf jede beliebige Bemerkung. Da die Konflikte Anita erschreckten, ging sie nur schweigend ihren Verpflichtungen nach, die von ihrem Mann bestimmt wurden.
An jenem schrecklichen Abend räumte Anita das Geschirr in den Geschirrspüler und ging wieder ins Wohnzimmer zurück. Ihr Mann saß vor dem Fernseher. Vor ihm auf einem kleinen Tisch stand eine Flasche Weißwein und ein Tellerchen mit Käse.
Was ist von unserer Liebe geblieben, fragte sich Anita bitter. Vor ihren Augen erschien wieder die Szene aus dem Caféhaus. Das wäre auch unsere Zukunft, sagte Anita zu sich selbst und sofort korrigierte sie sich, nein, es ist bereits unsere Gegenwart! Wann zum letzten Mal haben wir einander in die Augen geschaut?
Eine tiefe Bitternis verwandelte sich plötzlich in so etwas wie Wut. Es war ein flüchtiges Gefühl, aber es erschreckte Anita. Dann drehte sich alles vor Anitas Augen – der Fernseher, die langweiligen Tapeten an den Wänden, das finstere Gesicht ihres Mannes mit kalten und auf die andere Seite gekehrten Augen. Dieses Gesicht … Es war einmal so schön ...
Die Weinflasche wurde leer. Ihr Mann schaltete den Fernseher aus, und im Zimmer wurde es ganz still. Ihre eigene Stimme nicht erkennend, sagte Anita in diese Stille:
„Was denkst du, vielleicht sollten wir uns trennen?“
Nie hat sie früher an Scheidung gedacht. Sie verstand selbst nicht, wie solche Worte aus ihrem Munde herauskommen konnten. Später wurde ihr klar, es war kein Vorschlag der Scheidung, eher ein Schrei um Hilfe: Hol‘ mich bitte ein, gestatte es mir nicht wegzulaufen, lass nicht zu, dass ich in dieser kalten Welt verlorengehe ... Ihr Mann war aber nicht im Begriff, sie einzuholen. Auf die Scheidung stimmte er mit derselben Gleichgültigkeit ein, wie er alles machte. Allerdings mit einer Bedingung: Die Firma wird nicht geteilt, Anita wird auch weiter mit den Kunden arbeiten, wie sie es bis jetzt tat. Seitdem lebte er in seinem Landhaus bei Wien, und Anita blieb in der Wohnung. Anita schmunzelte nur bitter. Ihr Mann war überzeugt, dass sie früher oder später selbst zu ihm zurückkehren würde.
Lange trug sie diese Bitternis in sich. Sie fühlte sich ungeliebt und betrogen. Allmählich aber versumpfte der Schmerz. Dann, nach einiger Zeit, öffnete sich eine neue Seite der Einsamkeit, und diese Seite war gar nicht bitter, sie war sogar schön. Es sah so aus, als ob Anita sich selbst erneut kennenlernte. Sie entdeckte in sich eine Liebe nach Unabhängigkeit. Es war nicht mehr ganz sie, es wachte in ihr eine andere Frau, und sie begann, diese Frau zu mögen. Gleichzeitig fürchtete sie sich immer noch, glücklich zu sein, es sei nicht eine Frauensache, aus sich selbst, aus eigener Unabhängigkeit glücklich zu sein. Das weibliche Glück kann nur eine Ableitung des Glückes von anderen sein, von denjenigen, die sie liebt. Sogar ihre Mutter tadelte sie: „Was fällt dir denn ein“, sagte sie, „du hattest alles, dein Mann war kein Trinker, kein Schläger, kein Schürzenjäger, was wolltest du noch, hätte ich deine Sorgen!“ Großgezogen in einem traditionellen Verständnis der weiblichen Rolle in dieser Welt – zu füttern, aufzuräumen, sich um andere zu kümmern, zu verzeihen, sich aufzuopfern, – wünschte sie auch für ihre Tochter nichts anderes. Ach, liebe Mutti, von Armut rettet die Arbeit, von Krankheiten – die Ärzte, und wer kann deine Seele retten? Wenn sie keine Liebe bekommt, was bleibt dann von deiner Seele übrig? Sie wird verkümmern, vertrocknen und sich in Staub auflösen. Was wirst du dann, wenn deine Stunde kommt, dem Allmächtigen vorzeigen, wenn du schon in diesem Leben deine Seele verloren hast?
Seinerzeit absolvierte Anita eine Kunstakademie, und arbeitete in der Puppengestaltung für ein Moskauer Marionettentheater. Als sie nach Wien zog, sagte ihr Mann, dass so ein Beruf hier niemanden interessieren würde. Sie wollte ihrem Geliebten nicht widersprechen, und tat das, was er für wichtig hielt. Nun fand Anita endlich die Zeit, um zu ihrem alten Beruf zurückzukehren. Sie arbeitete abends und an Wochenenden, und sie tat das mit einer großen Begeisterung. Sie bekam auch immer wieder neue Bestellungen. Es war ihr ganz neues Leben, voller Freude und Inspiration. Sogar ihre Träume wurden heller, wie einst in der Kindheit, wenn sie so oft in ihren Träumen über der Erde flog.
Sie sehnte sich nach Männerliebkosung, aber die Angst, erneut enttäuscht zu werden, war viel zu groß. Das Leben schenkte ihr kleine Freuden. Doch wenn man richtig viel davon hat, können die kleinen Freuden auch das große Glück ersetzen. Die Männeraufmerksamkeit … Natürlich ist sie wichtig. Sie verlängert die Jugend. Anita hat bereits ihren vierzigsten gefeiert ... Ach, es ist egal, wie alt du bist, an das Alter muss man nicht denken, berühre dein Alter nicht, solange es dich nicht selbst berührt!
Heute hat Anita diesen wunderbaren Morgen verdient! Und diese Schönheit hinter dem Fenster! Und dieser aromatische Kaffee! Es schien, der Regen, der einige tagelang goss, wusch auch aus ihrem Herzen die Glassplitter, die dort so lange steckten.
Sich bekleidend, betrachtete sie sich im Spiegel ... Die Fältchen beim Mund wurden geglättet, und sogar die Augenbrauen sind anscheinend dichter geworden. Anita lächelte ihre Spiegelung an. Sie probierte ein Kleid, dann noch eines, und entschied sich dann doch für eines mit blauen Rosen, das sie vor kurzem für die Puppenbekleidung verwenden wollte.
Die an Wochenenden Lieblingsunterhaltung von Wienern ist ein Spaziergang durch die Flohmärkte. Wen man hier nur treffen kann! Berühmte Künstler, bekannte Anwälte, Professoren, türkische Gastarbeiter, und sogar Politiker, die sich auf diese Weise unter das Volk mischen. Selten kommt jemand hierher, um sich zu bereichern, Menschen gehen einfach spazieren, sie treffen einander und unterhalten sich miteinander. Anita aber schlenderte zwischen den Reihen, um einen brauchbaren Stoff für ihr Handwerk zu finden.
Auf den Tischen oder einfach auf dem Asphalt lagen wunderlich altertümliche Sachen, Berge von Kleidung, vollkommen brauchbar und kaum aus der Mode gekommen und einfach irgendwelcher Kram. Ein Koreaner verkaufte musikalische Kugeln – wenn man sie in der Hand drehte, erklangen melodische Töne, – der Besitzer versicherte, dass sie gegen irgendwelche Krankheiten helfen würden. Eine Zigeunerin mit braungebranntem Gesicht und auf ihrer Lippe hängenden Zigarette verkaufte eine rosarote Vase aus mattierten Glas, verziert mit Bambusmuster, wenn man sie abwaschen würde … Wie viel kostet sie? Zwanzigtausend? Oho! Die Verkäuferin ist offensichtlich nicht im Begriff, die Vase zu verkaufen.
Hinter ihrem Rücken hörte Anita in Englisch: „It’s a really Russian style!“ Sich umdrehend sah sie einen großen und sehr schlanken jungen Mann, der einen langen schwarzen Mantel anprobierte. Solche Mäntel trugen die Anarchisten in den alten sowjetischen Filmen. Der Mantel „des russischen Stils“ war ein englisches Erzeugnis, aus dem Stoff höchster Qualität gefertigt, und sehr alt, fast antik. Anita beobachtete die Anprobe. Sie liebte ungewöhnliche Kleidungsstücke. Der Mantel hing frei auf den engen Schultern des Mannes, und seine schlanken Hände standen ganz rührend nach außen ab wie bei einem Kind, das aus seinem Kleidungsstück bereits herausgewachsen war.
„Und wie finden Sie das?“
Die Frage wurde an Anita gerichtet.
Wie es oft in einer Menge vorkommt, hielt Anita sich für unsichtbar. Die Frage zerstörte ihre Illusion der Einsamkeit. Sie wusste nicht sofort, was sie antworten sollte. Die lächelnden blauen Augen des jungen Mannes schauten direkt in ihre Pupillen. Anita wurde von diesem Blick angeregt. Anstelle der Antwort hat sie nur gelächelt, und senkte ein wenig den Kopf zur Schulter.
„Alles klar!“, sagte der Mann, hob seine Schultern nach oben und ließ den schwarzen Mantel auf die Hände des Verkäufers hinunterfallen. Es war ersichtlich, dass er nicht wirklich etwas kaufen wollte.
Anita ging weiter mit einem seltsamen Gefühl – es wäre eigentlich schade, wenn sie diesen jungen Mann nie mehr sehen würde. Dieses zuströmende Gefühl wurde ihr kaum bewusst, als sie wieder hinter ihrem Rücken die bekannte Stimme hörte:
„Würden Sie mir sagen, wie Sie heißen?“
Anita wandte sich um. Der junge Mann schaute sie von der Höhe seiner fast zwei Meter Größe an, und seine Augen lächelten.
„Warum wollen Sie das wissen?“, fragte Anita nicht besonders höflich.
„Weil ich nicht gewöhnt bin, mich mit unbekannten Frauen zu unterhalten“, sagte der Mann in einem Tonfall eines Menschen, der sich an alles gewöhnt hätte.
Anita lachte wieder:
„Ich bin auch nicht gewöhnt, mit Unbekannten zu reden!“
Mit diesen Worten wendete sie sich in den Seitendurchgang, aber der Mann folgte ihr nach.
„Sehr gut! Gestatten Sie mir, mich vorzustellen? Ich heiße Rick.“
„Anita.“
„Ach, Anita!“, wiederholte Rick nach französischer Art, dann wieder in seinem Ton, „welch wunderbarer Name! Ich schwöre, Sie sind keine Österreicherin. Woher kommen Sie?“ „Ich komme aus Holland. Kennen Sie Holland? Es sind die Niederlande.“
Selbst wenn sein Deutsch tadellos gewesen wäre, hätte sie auch sofort erraten, dass er in diesem Land auch ein Fremdling war. Würde er sagen, er wäre vom Mond angeflogen, hätte sie das auch nicht gewundert, so anders war er, als die Menschen, die sie bis jetzt kannte. Seine bestechende Leichtigkeit im Gespräch verführte zur Akzeptanz. Anita schien, sie wären seit einer Ewigkeit bekannt. Rick war einfach ein Meister des Small Talks, er befreite seinen Gesprächspartner von der qualvollen Notwendigkeit, die Themen für das Gespräch zu finden, und gerade diese Notwendigkeit erschwert so sehr den Anfang von zufälligen Bekanntschaften.
Anita hat kaum bemerkt, wie sie den Flohmarkt verließen und über eine enge Gasse an antiquarischen Läden mit ihren verstaubten Fenstern vorbeigingen. An kleinen Tischen direkt am Fußweg tranken Wiener ihr Bier. Es war hier ein Stückchen von dem heil gebliebenen alten Wien, es schien, die Zeit wurde hier nicht der Herr der Dinge, sie wurde so wie auch die Gegenstände in den Schaufenstern der antiquarischen Läden, mit einer dicken Staubschicht bedeckt.
Als sie sich verabschiedeten, sagte Rick:
„Ich werde Sie unbedingt anrufen!“
Ja, ja, er wird mich anrufen! Er wird meine Rufnummer verlieren, dachte sich Anita, nichtsdestoweniger bemächtigte sie ein seit langem vergessenes Gefühl unruhiger und froher Erwartung.
Zwei Tage sind vergangen. Rick rief sie nicht an. Dumm, sagte sich Anita, hast du denn nicht bemerkt, er ist jünger, als du … Niemals imponierten ihr die jüngeren Männer, aber Rick … Sie wurde von ihm einfach verzaubert. Er hatte etwas … Seine fast bubenhafte Figur, seine blauen lachenden Augen, und sogar seine langen Hände, die aus den Ärmeln des schwarzen alten Mantels so rührend heraus standen, alles das erzeugte in Anita eine endlose Zärtlichkeit. Es schien, sie träumte schon lange von so einem Mann, und sogar seine leichte Glatze, die nur seine Stirn höher machte, rief in ihr ein Entzücken hervor.
Ach ja, es war sogar gut, dass er nicht anrief! Wenn er angerufen hätte, hätte sie ihn bitten müssen, sie nie mehr anzurufen …
Gerade in diesen Moment klingelte das Telefon.
„Ja“, sagte sie mit einer entfremdeten Stimme, „Natürlich. Ich habe Zeit. Heute Abend ...“
Sie gingen über die Danauinsel spazieren. In einem cremefarbenen Kleid sah sie jünger aus. Anita hatte immer noch eine schmale Taille und ihr Körper war schlank und geschmeidig.
Rick erzählte unterwegs, wie er nach Wien geraten war.
„Nach Holland schienen mir die Straßen von Wien so breit zu sein!“, sagte Rick begeistert.
Anita lächelte nur, ihr – nach Moskau – schien Wien im Gegenteil zu klein und zu gemütlich zu sein …
Rick kam aus einer kinderreichen, aber wohlhabenden bäuerlichen Familie. Bei der ersten Gelegenheit lief er vom Bauernhof davon, und versprach, nie wieder ins Dorf zurückzukehren. Er war damals kaum sechzehn. Er versuchte sich seitdem in mehreren Berufen. Mit seinen fünfunddreißig Jahren hatte er immer noch weder eine Frau, noch Kinder oder ein Haus, er hatte nichts, was ihn belasten könnte. Seine lebenswichtigen Pläne beschränkten sich auf eine Sache: Nie so zu werden, wie seine Eltern waren. Jetzt arbeitete Rick als Kameramann in einem Fernsehstudio, und es war endlich das, was er wirklich weitermachen wollte. Übrigens seine Größe war für diesen Beruf wie geschaffen, es ist doch sehr wichtig, eine Möglichkeit zu haben, die Kamera ganz oben zu halten.
„In Österreich gibt es viele Chancen, in Wien sind nicht nur die Straßen breit, hier sind auch lebenswichtige Perspektiven breiter. Übrigens, ich suche Kontakte mit wichtigen Menschen“, sagte er mit einem entwaffnenden Lächeln.
Die Stadt schlief bereits, nur auf der Donauinsel pulsierte das Leben. Hier donnerte die Musik, hier tanzte man. Die schokoladenfarbige Schönheit mit prächtigen Formen und im hautengen Kleid, unter dem es offensichtlich sonst gar nichts mehr gab, warf frivol im Tanz ihren runden Po nach oben. Anita war entzückt von ihrer Schamlosigkeit, sie empfand sogar so etwas wie ein Neidgefühl auf so viel Freiheit.
Sie gingen an Bars und den Tanzflächen vorbei, bald kamen sie in eine menschenleere Allee. Rick hat sie zu sich herangezogen und küsste ihre Lippen. Der Kuss war lang. Anitas Herz schlug rasend.
Umarmt, sind sie weiter gegangen. Anita berührte mit ihrer Wange Ricks Hand, die auf ihrer Schulter lag. Sie stiegen zum Wasser auf den schaukelnden Brettersteg hinunter. Rick küsste sie wieder. Anita drückte ihre Augen zu. Es war ein wunderbarer Traum. Er wird aber bald enden, wie alles Schöne einmal endet. Wenn sie ihre Augen öffnet, wird alles das verlorengehen – das weiche Schaukeln, der warme samtige Abend, die zart strömende Musik und dieser Mann-Junge, der ihr plötzlich endlos teuer wurde. Rick zog sie fast wild an sich heran. Sie lagen schon auf den polierten Kieferbrettern, die die Wärme des vergangenen Tages immer noch bewahrten. Rick bedeckte ihre Wangen mit Küssen, ihre Augen, ihre Lippen.
Anita dachte plötzlich daran, dass er jetzt eine Frau küsst, die älter als er ist.
„Du liegst jetzt hier wie ein junges Mädchen“, sagte Rick, als ob er ihre Gedanken erraten hätte.
Sie fühlte sich wirklich wie ein junges Mädchen.
Wo sind plötzlich ihre Prinzipien, diese strengen Wächter, die ihre Ehre eifersüchtig bewachten? Sie sind weg, sie ließen sie allein mit diesem blauäugigen Engel. So glücklich und frei hatte Anita sich noch nie gefühlt. Die in ihr aufgestaute Zärtlichkeit überfüllte ihr Herz, und plötzlich verstand sie, wie kalt und leer ihr voriges Leben gewesen war.
Ricks Haut war glatt und etwas trocken, was ein zauberhaftes Gefühl der Sauberkeit hinterließ. Seine Haut duftete nach Veilchen. Anita atmete geizig die ihn umgebende Luft ein. Ihr Körper wachte langsam von einem Schlafe auf, er fühlte sich an, wie sich wahrscheinlich eine Birke im Frühling mit ihren neuen Säften fühlt.
Sie hörten Schritte und Gelächter und sind hinaufgestiegen. Jetzt saßen sie, schweigend, und schauten in das plätschernde Wasser an. Anita hob ihren schweren Blick und sie schauten lange einander in die Augen. Das Pärchen kam näher.
Ricks Blick glitt über Anitas Gesicht und blieb auf ihrem Ohrring stehen. Es waren Amethysten von kleinen Diamanten umgeben. Rick berührte den Ohrring mit seinem Finger und beobachtete, wie Spiegelungen von Lichtern in den Steinen zitterten.
Sie gingen den Fluss entlang. Die fast vergessene Trompete von Armstrong war von weitem zu hören. Rick erzählte nichts mehr über sich, stattdessen fragte er sie. Ihn interessierte alles aus Anitas Leben – ihre Scheidung, ihre Firma, ihre Beziehung mit ihrer Tochter ...
„Warum willst du nicht deine Hälfte der Firma verkaufen?“, fragte er dann und fügte hinzu, „Du könntest dein eigenes Geschäft haben, zum Beispiel, ein Filmstudio, dann wärst du ganz unabhängig. Wie viel Geld braucht man eigentlich für ein eigenes Filmstudio? Erstens könnten wir Hochzeiten, Taufen, Bar-Mizwas und so etwas Ähnliches aufnehmen, und später, wenn wir Glück haben, könnten wir auch in die große Kunst aufbrechen. Wir könnten auch Zeichentrickfilme oder Puppenfilme aufnehmen.“
Seine Worte ließen Anita an den Enthusiasmus erinnern, mit welchem sie zusammen mit ihrem Ehemann ihre Firma gegründet hatten. Sie glaubte damals, dass eine geschäftliche Partnerschaft sie zusammenschmelzen ließe, aber alles wurde ganz anders. Eine Firma bedeutet nur eine Ausdehnung der Konflikte. Ja, aber Rick ist doch ganz anders, er ist nett und gesprächig, er ist nicht so kalt und egoistisch ...
„Eine Firma wird alle unsere Kräfte fordern“, sagte Anita nachdenklich. Sie wollte dazu fügen, dass ihr „Puppentraum“ dann wieder zugrunde gehen würde, aber sie sagte nichts.
In dieser Nacht konnte Anita lange nicht einschlafen. Sie spürte immer noch auf ihren Lippen die Berührungen von Ricks Lippen, und ihr Herz stand fast still. Als sie sich verabschiedeten, küsste Rick sie zärtlich. Warum wagte sie es nicht, ihn auf eine Tasse Kaffee einzuladen?
Sie wartete auf seinen Anruf. Sie sehnte sich nach Rick. Wenn er nur anruft, wird sie alles machen, was er sich nur wünscht...
Anita schaltete den Computer aus und begann Skizzen für eine neue Puppe zu machen. Der Bleistift hörte ihr aber nicht zu. Sie öffnete den Kühlschrank, und sofort schlug sie ihn wieder zu. Sollte sie nur noch ein paar Gramm zunehmen, würde sie sich neben dem wunderschönen schlanken Rick nicht zeigen dürfen.
Anita schaltete die Kaffeemaschine ein und holte die Zeitung aus dem Briefkasten. Die ganze letzte Seite nahm eine Werbung eines Kasinos ein. Anita war noch nie in einer Einrichtung dieser Art gewesen.
Sie trank Kaffee und dachte an Rick. Sie las die Zeitung und dachte an Rick. Rick war überall. In der Hitze warf sie die Zeitung zur Seite, jene machte einen Bogen und lag auf dem Fußboden mit der Kasinowerbung nach oben. Anita stellte sich vor, wie Männer in Smokings und Damen in Brillanten an Spieltischen saßen, so etwa wie in den Filmen von James Bond.
Im Westen kann eine Frau immer dorthin gehen, wohin sie will, und keinen würde das wundern. Sie kann durch die Stadt spazieren gehen, ein Café oder ein Restaurant besuchen, und sogar zur Disko allein gehen und dort allein tanzen, wenn sie Lust dazu hätte. Das ist aber nicht für Anita. Warum eigentlich? Hauptsache weit weg vom Telefon! Um auf den Anruf nicht zu warten!
Die Kärntnerstraße war wie immer festlich und schön. Es leuchteten die Schaufenster, die Straßenmusiker unterhielten die Touristen. Was ist aber das? Es ist etwas Neues. Ein altes Barockgebäude mit einem verunstalteten Eingang – eine Konstruktion aus Papiermache, Flammenzungen imitierend, es war Anita neu und sie blieb stehen. Mit vielfarbigem Feuer spielend, öffnete sich ein gefräßiger Rachen, aber der Weg in die Hölle führte nicht nach unten, sondern nach oben, über die geflochtene Treppe, bedeckt mit einem roten, samtenen Teppich.
Anita machte einen Schritt hinein …
Leise spielte Musik, auf dem schwarzen Plafond glänzten Sterne aus winzigen Lämpchen. Barmänner mischten Cocktails. Es sah wirklich Hollywood ähnlich, nur die Besucher waren hier ganz alltäglich gekleidet, keine Abendkleider, keine Diamanten.
Schüchtern blieb Anita auf der Schwelle des Saals mit den Spielautomaten stehen. Die Gesichter der Männer und Frauen – ihrer war es hier ungefähr die gleiche Zahl – waren gleichzeitig konzentriert und angeregt, einige waren ganz blass, auf den Wangen von anderen spielte eine fiebrige Röte. Es schien, als wäre hier sogar die Luft angespannt. „Die einarmigen Banditen“, – so nennt man diese Spielautomaten – leuchteten, zwinkerten, klingelten so, als ob sie Lebewesen wären. Einige der Spieler tauschten von einem Automaten zum anderen, andere dagegen glaubten an ihr Schicksal und blieben auf ihren hohen Hockern fest sitzen. Sie alle fütterten mit mechanischen Bewegungen die sich amüsierenden Ungeheuer.
Versuchend zu verstehen, was hier wohin gehörte, folgte Anita den Aktionen der Besucher. Die Dame mit dem ausdrucksvollen und nervösen Gesicht hielt in einer Hand einen ein-Liter-großen Papierbehälter voller Münzen, und mit der anderen warf sie mit auffallender Schnelligkeit die Münzen in eine Öffnung. Der Becher leerte sich rapide. Also wie viel Geld hat sie bereits verfüttert? Sie wartete nicht bis die Symbole ihren Lauf beendeten, sondern senkte bereits eine neue Münze in die Maschine. Auf ihrem Gesicht spielte ein fiebriges Lächeln. Plötzlich klang es laut, es hat geklappert, geklirrt, gesungen! Alle Anwesenden vergaßen ihr eigenes Spiel und wendeten sich in die Richtung der Lärmquelle. „Der einarmige Bandit“ wurde wie durchgerissen, er zitterte und kreischte irgendwie unanständig, dabei schütteten sich Münzen wie ein Wasserfall in die metallische Untertasse. Die Dame stieg von ihrem Hocker herab und wendete sich zum Publikum, das sie mit hunderten Augen auffraß. Sie sah nach links und lächelte, dann sah sie nach rechts und wieder lächelte sie mit einem glücklichen und verlegenen Lächeln. Sie verbeugte sich sogar ein wenig, wie eine Schauspielerin, die bereits einen „Oskar“ gewonnen hatte. Die Aufmerksamkeit des Publikums schmeichelte ihr, es schien, sie würde jetzt das berühmte „Ich liebe Euch alle!“ ausrufen und Kusshände schicken. Das alles dauerte nicht lange. Eine Minute später, ohne auf das Ende des Geldregens zu warten, saß sie bereits bei einem anderen Automaten, und es ging wieder los!
Anita bekam auch einen heißen Wunsch, etwas zu gewinnen. Bis jetzt hatte sie noch nie – nicht einmal bei einer Tombola – etwas gewonnen. Gott liebt mich nicht, sagte sie zu sich selbst, dann aber korrigierte sie sich, nein, der Teufel liebt mich nicht. Das Spiel ist doch keine Gottessache! Aber… liebes Teufelchen …
Zweihundert Schilling, das sind zwanzig Münzen per zehn Schilling, sie bedeckten kaum den Boden des Papierbechers. Anita steckte die Münzen ungeordnet in verschiedene Automaten, und beobachtete gespannt die sich drehenden Symbole. Die eisernen Spötter haben die Bewirtung aufgefressen, ohne ihre Dankbarkeit zu zeigen. Als der Becher sich leerte, war Anita nicht betrübt, sie erwartete sowieso nichts anderes.
Kartenspieler saßen an Tischen in einem anderen Saal. Hier gab es keine Frauen, und Männer spielten mit solch ernsten Gesichtern, dass Anita sofort verstand, hier hätte sie nichts verloren.
Dafür aber hat das Roulette Spiel sie bezaubert. Die Bewegung der Kugel war hypnotisierend. Anita dachte heimlich an die Zahl „18“. Die Kugel drehte sich lange, und lag endlich in der Zelle mit der Zahl „18“. Anita wurde von einem seltsamen Gefühl erfasst, ihr schien es, als ob sie wirklich gewonnen hätte. Es war die anziehende und sündhafte Welt des Erfolges! Sie holte aus ihrer Tasche eine der gelben Marken, die sie beim Eingang anstatt der Eintrittskarte bekommen hatte, und stellte sie auf „33“. Ein bejahrter Herr hatte einen ganzen Turm von Marken daneben auf „32“ geschoben, und der Croupier sagte:
„Keine Sätze mehr!“
Die Kugel drehte sich lange im Kreis. Alles in Anita strengte sich an, die Anregung wuchs mit jeder Wendung, ihr wurde sogar heiß. Erlöschend, die letzte Kraft der Trägheit verschwendend, ist die Kugel nach unten gerollt, in Unentschlossenheit zog sie noch ein paar Runden, und legte sich in die Zelle mit der Zahl „17“. Der Croupier mit blitzschnellen Bewegungen verteilte die Gewinne, und der Rest der Marken flog in eine Öffnung in seinem Tische. Anita beobachtete seine Aktionen und lächelte, warum, wusste sie selbst nicht.
Dann stellte sie auf Rot und gewann einen doppelten Satz. Auf Schwarz, und verlor. Warum heißt es eigentlich schwarz, wenn es grün ist? Die Gewinne wurden von Verlusten abgewechselt, nichtsdestoweniger wuchs die Anzahl der Marken in Anitas Tasche. Dem Beispiel des Nachbarn, dem bejahrten Herrn, folgend, schob sie auf „Zero-3“ auch einen ganzen Turm, ohne zu zählen. Anita verstand auch nicht, warum man auf einen Grenzstreifen stellt, aber wenn das andere tun … Die Kugel ist in die Nullzelle gefallen und der Croupier schob Anita einen ganzen Haufen von Marken zu, es waren vielleicht dreitausend, dachte sich Anita. Ein Teufelchen hat sie liebgewonnen! Anitas Hände zitterten, als sie ihren Gewinn in die Hosentaschen steckte. Der elastische Stoff gab nach. Also, du siehst jetzt wie eine schwangere Ziege aus, sagte Anita zu sich selbst und lächelte.
Selbst an den Gewinn dachte sie nicht, sie wurde von dem Zauber des Spielprozesses und von der Tatsache, dass sie doch gewann, erfasst. Es war ein Erfolg, und es hatte eine symbolische Bedeutung. Ab jetzt wird ihr Leben sicher von Erfolg gezeichnet!
Anita stellte auf Rot und auf Schwarz, auf „13“ und wieder auf „Zero“, sie gewann und verlor wieder, nur der Anstrengung des Momentes lebend. Die Erwartung des Gewinnes wurde wichtiger als der Gewinn selbst, nur in diesen Momenten hatte sie das Gefühl, das sie am meisten brauchte. Bald leerten sich ihre Hosentaschen, und die Aufregung legte sich. So kommt es immer nach einer Befriedigung vor; so verflüchtigt sich auch die Trunkenheit. Anita, fast kraftlos, ging weg vom Tisch weg. Nach einer kleinen Erholungspause beobachtete sie wieder die Spielenden, aber weiter zu spielen hatte sie keinen Wunsch. Ihr Kopf war leer, das verlorene Geld bedauerte sie nicht, hingegen spürte sie eine gewisse trockene Befriedigung.
Am nächsten Tag rief Rick an.
Sie trafen sich am Abend. Anita erzählte vom gestrigen Abenteuer. Rick hörte aufmerksam zu, und erst als sie eine ungefähre Summe des Verlustes nannte, sagte er fast verärgert:
„Es ist immer sehr wichtig zu wissen, wann man aufhören muss!“
Das Gespräch drehte sich dann wieder um Geschäftliches. Rick sprach über seine Zukunftspläne. Anita fragte sich, warum sollen wir über die Zukunft reden, wenn wir noch keine Gegenwart haben, laut aber sagte sie nur:
„Schau, welch ein schöner Abend! Über Ernstes können wir später reden, wenn die Zeit reif ist.“
Rick beeilte sich, heute hatte er Nachtaufnahmen.
„Geh‘ nicht weg“, bat Anita.
Er küsste sie. Sie standen, umarmt, die Aufmerksamkeit von Passanten auf sich lenkend. Eine bejahrte Dame mit einem hinkenden Dackel an der Leine murmelte etwas Unfreundliches.
„Du bist mein Schatz“, flüsterte Anita, „du bist so lieb … Wann endlich …“
„Nicht so schnell …“, antwortete Rick lächelnd und fügte hinzu, als ob er zu jemandem anderen sprach. „Ihr alle wollt alles zu schnell.“ Er besann sich aber plötzlich und schaute ihr in die Augen, „Meine Liebe, bald kommt die Zeit …“
Er küsste sie mit einem langen Kuss und ging fort.
Anita blieb stehen.
Sie schlief in dieser Nacht sehr schlecht, wachte oft auf und dachte an Rick. Ihr Wunsch nach Nähe war überwältigend. Selbst wenn ihre Beziehung ganz kurz dauern würde, selbst wenn er sie sehr bald verlassen würde, selbst wenn sie dann krank nach Liebe wird...
Erst vor dem Sonnenaufgang fiel sie in einen schweren Schlaf.
Als sie aufwachte, begann Anita fieberhaft ihre Reisetasche zu packen. Es klingelte das Telefon. Anita zuckte zusammen. Dann blieb sie in der Mitte des Zimmers stehen.
Nein, sie wird den Hörer nicht abnehmen.
Für das ganze Wochenende fährt sie fort aus der Stadt ...
Es blies ein starker Wind. Der See schäumte und über der schwankenden Wasserfläche liefen größere Wellen. Die Knie mit ihren Händen umfassend, schaute Anita in die Ferne. Die Bewegung des Wassers beruhigte sie, das Wasser verleiht immer neue Kraft. Wer zwingt dich, auf seine Anrufe zu warten? Wer zwingt dich, an ihn zu denken? Sie bemühte sich, über Rick nicht nachzudenken, aber er war hier, er war unsichtbar anwesend, er entließ sie nicht von sich. Anita fühlte sich wie eine Gefangene, die ihrem Gefängnis entlaufen war, aber sie wusste, dass sie früher oder später wieder zurückkehren musste. Bis dann aber …
Der Sonnenuntergang entflammte sich in Gold und Purpur. Die Berge in der Ferne strahlten dunkelblau. Der See, lang und eng, von den Bergen in die Enge getrieben, atmete schwer. Die weißen Spitzen der Wellen leckten das Ufer. Ohne Liebe kann man auch leben … Tränen strömten über Anitas Wangen, sie wischte sie nicht ab. Wie kann ich dich nur vergessen, mein teurer Verlust?
Beim Morgen beruhigte sich der Wind. Der Himmel war wieder blau, und die Berge gewannen wieder ihre rosaroten Schattierungen. Der Sand war goldig. Auf dem grünen Rasen schimmerten bunte Riesenschmetterlinge wie Sonnenschirme. Darunter genossen Ehepaare ihr Leben – mit Kindern und ohne. Ihre Gesichter waren aber gar nicht glücklich. Anita dachte an die Krise des sogenannten Eheinstituts nach, über Grimassen der Emanzipation und über andere freudlose Sachen.
Der See war sehr tief und wie man sagt, wäre das Wasser trinkbar. Seltsamerweise gab es hier weder Rettungstürme noch Rettungsschwimmer, auch keine Bojen, die die Grenzen für die Schwimmer zeigen sollten. Offensichtlich ist da die Rettung der Ertrinkenden eine Privatsache. So ist die westliche Gesellschaft, sie respektiert deine Freiheit, auch wenn du ertrinken willst, keiner würde dich von deiner eigenen Dummheit abhalten. Ein junger Jugoslawe mietete voriges Jahr ein Surfbrett, keiner aber fragte ihn, ob er schwimmen konnte. Das Surfbrett fand man sofort, den Jugoslawen erst später, leblos.