Runaways - T. B. Brandl - E-Book

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T. B. Brandl

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Beschreibung

England, 1851. Angeführt von Thomas Myddelton, First Commissioner der Metropolitan Police, bereitet sich London auf das größte Ereignis der Geschichte des Königreiches vor: der ersten Weltausstellung im Crystal Palace. Die ganze Welt ist in den Hyde Park eingeladen - mit Ausnahme von Julie, Thomas' einziger Tochter. Von der Gesellschaft isoliert, hält ihr Vater sie zu Hause gefangen, aus Gründen, die er ihr niemals offenbaren kann. Bis Julie eines Tages davonläuft und damit ein Wettrennen durch das viktorianische London auslöst. Ein Wettrennen, in dem es um nicht weniger geht als ihre Freiheit.

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Für Jana

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

PROLOG

Die junge Frau stand allein in der Dunkelheit. Das Wasser vor ihr schimmerte still im Schein des vollen Mondes, der gerade wieder hinter dem Wolkendickicht hervorbrach. Es lag der Geruch von frischem Sommerregen in der Luft, der bis vor wenigen Augenblicken die Nacht in ein beruhigendes Rauschen getaucht hatte.

Die Frau strich sich die nassen Haare aus dem Gesicht. Obwohl es stark geregnet hatte, war sie ihrem Weg unbeirrt gefolgt und stand nun tropfend und frierend am Ufer des Sees. Sie fühlte sich unbehaglich allein hier in der Dunkelheit und trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. Unter ihren nackten Zehen spürte sie die feuchte, schlammige Erde und wie bei jeder Bewegung etwas davon zwischen ihnen hervorquoll. Sie wusste nicht, wieso sie hier war. Warum dieser Ort so wichtig war.

Sie fuhr zusammen, als in der Ferne ein Donnern unheilvoll anschwoll. Als sich der Himmel wieder beruhigt hatte, drehte sie sich um und starrte in die Dunkelheit.

Es dauerte nicht lange und die Gesichter, die sie besser kannte als alle anderen auf der Welt, schälten sich aus den Schatten. Ihre engsten Weggefährten und Vertrauten waren alle hier. Sie war keinesfalls überrascht. Immerhin waren sie es gewesen, die sie heute Abend hierhergerufen hatten.

"Ich bin hier", sagte sie unsicher.

"Sehr gut", antwortete Karl und trat einen Schritt auf sie zu.

Er sah aus wie immer. Seine smaragdgrünen Augen schauten sie voller Wärme und Vertrauen an. Die markanten Züge seines Gesichts kannte sie fast besser als die ihres eigenen. Seine langen schwarzen Haare hatte er wie üblich zu einem prächtigen Pferdeschwanz zusammengebunden, der unter seiner ebenfalls schwarzen Baskenmütze hervorschaute. Der Kragen an seinem langen schwarzen Mantel war hochgeschlagen, um ihn wenigstens etwas gegen den Regen zu schützen.

"Du fragst dich bestimmt, warum wir dich hergebeten haben", fuhr Karl fort und deutete mit einer ausladenden Handbewegung auf die anderen, die noch immer mehr im Schatten als im Licht des Mondes standen.

"Du musst etwas für uns tun. Etwas, das von größter Wichtigkeit ist, wenn wir das Wohl deines Kindes gewährleisten wollen."

Die junge Frau hörte aufmerksam zu und schwieg. Sie wusste, dass man Karl besser nicht unterbrach.

"Wie du weißt, ist dieses Kind für uns alle von größter Bedeutung. Dieses unschuldige Leben ist so viel mehr wert als alles andere. Deshalb dürfen wir unter keinen Umständen zulassen, dass es etwas gefährdet. Egal was. Das siehst du doch genau so, oder?"

Sie nickte stumm, war sich aber nicht ganz sicher, worauf er hinauswollte.

"Nun", fuhr Karl fort, "alle unsere Sorgen beginnen und enden mit dir. Ursache und Lösung für den Schmerz des Kindes liegen allein in deinen Händen." Sein Blick bohrte sich tief in ihre Augen.

"Es gibt nur eine Möglichkeit."

Ein kalter Schauer lief hier über den Rücken und sie trat unweigerlich einen Schritt zurück.

"Aber, aber, Liebes. Das kann dich doch unmöglich überraschen", sagte Karl mit einem freundlichen Ton, der ihr die Nackenhaare aufstellte.

"Bevor du jetzt auf die Idee kommst, wegzulaufen. Schau dich noch einmal um."

Ihr Herz schlug immer schneller und hektisch ließ sie ihren Blick über die Umgebung gleiten. Während Karl gesprochen hatte, waren die anderen rings um sie herum ausgeschwärmt und versperrten ihr jetzt jeden möglichen Ausweg.

"Wie du siehst, ist es unausweichlich. Aber keine Angst. Du musst nicht allein gehen. Ich komme mit dir." Bei den Worten streckte Karl seine Hand nach ihr aus und schaute sie auffordernd an.

Sie reagierte nicht auf seine Geste und zupfte nervös am Ärmel ihres Kleides. Wie war es so weit gekommen? Wann hatten ihre Freunde entschieden, dass sie das Problem war? Nach allem, was sie gemeinsam erlebt hatten? Wut machte sich in ihr breit, doch das Gefühl ließ unmittelbar nach, als sie an ihr Kind dachte.

Karl hatte Recht. Es war so offensichtlich. Ihr Kind war in Gefahr und um es zu schützen, musste sie tun, was getan werden musste. Wie sie es auch drehte und wendete, es war unausweichlich.

Sie schaute zurück in Karls Augen, die sie schon so oft studiert hatte. Vorsichtig schloss sie ihre Finger um seine erstaunlich kühle Hand.

"Also gut", hörte sie sich selbst sagen.

"Gut, Liebes. Ich bleibe bei dir. Bis zum Schluss."

Mit diesen Worten stiegen sie gemeinsam die steile Böschung hinab zum Wasser. Sie fröstelte, als sie ihre nackten Füße in das eiskalte, dunkle Nass eintauchte. Karl setzte seinen Weg unbeeindruckt fort und zog sie mit sich. Erst bis zu den Knöcheln, dann den Knien, der Brust, dem Hals. Sie schloss die Augen. Noch ein Schritt, bis sie beide vollständig von Wasser umgeben waren. Um sie wurde es still.

Die anderen traten in die Schatten zurück und der See lag wieder blank schimmernd da. Die nächste schwere Gewitterwolke verschlang den Mond und das Grollen des aufziehenden Unwetters schwoll zu ohrenbetäubender Lautstärke an.

1

"Setz dich, Junge."

Thomas hörte an dem Tonfall seines Vaters, dass er mal wieder getrunken hatte. Dafür musste er die große Flasche noch nicht einmal sehen, die vor ihm auf dem alten Küchentisch stand.

"Habe ich dir schon erzählt, wie ich zu unserer Tuchfabrik gekommen bin?"

"Unendlich oft", dachte Thomas, blieb aber stumm und schaute einfach in die benebelten Augen des Mannes vor ihm, während er sich langsam ihm gegenüber an den Tisch setzte.

Sein Vater, William Myddelton, führte die größte Tuchfabrik Lisburns. Und er war besonders stolz darauf, sie mit seinen eigenen Händen aufgebaut zu haben.

"Weißt du, Tommy, mein Vater hat mir lediglich einen alten, klapprigen Webstuhl hinterlassen. An dem hat er in Heimarbeit Tücher gewebt und sie anschließend selbst auf dem Markt verkauft. Eine mühsame Arbeit, die nur wenig Geld einbrachte", William nahm einen großen Schluck Whiskey aus einem schweren Kristallglas.

Thomas wusste genau, wie die Geschichte weiterging.

"Mein Vater war leider kein sehr kluger Mann", fuhr William fort. "Er hatte sich damit abgefunden, dass er immer nur ein armer, alter Weber sein würde. Aber ich wollte schon immer mehr. Ich wusste, dass ich für Großes bestimmt bin."

Thomas betete zum Himmel, dass ihn schnell ein Blitz treffen möge, damit er sich das immer gleiche Geschwafel seines betrunkenen Vaters nicht noch länger anhören müsste. Doch der Himmel erhörte ihn nicht und William fuhr sehr lebendig fort.

"Weißt du, Junge, ich bin schlau. Ich habe zunächst auch mit dem Webstuhl gearbeitet und mir ein wenig Geld verdient. Das habe ich alles gespart. Und als ich genug Geld beisammenhatte, habe ich den ersten dampfbetriebenen Webstuhl Lisburns gekauft. Darauf folgte ein zweiter und ein dritter, bis Myddelton Inc. schließlich zur größten Tuchfabrik diesseits von Dublin wurde."

"Jetzt gleich kommt es", dachte Thomas.

"Und das alles habe ich nur mit meinem brillanten Geschäftssinn geschafft, Thomas", beendete William seine Ausführungen und schüttete den Rest Whiskey aus seinem Glas in einem Zug hinunter. Hier endete die Geschichte normalerweise und William verfiel in ein geistesabwesendes Schweigen.

Um die Geschichte vollständig zu erzählen, hätte er an dieser Stelle allerdings noch erwähnen müssen, dass er für jeden seiner dampfbetriebenen Webstühle ein so großes und hoch verzinstes Darlehen aufnehmen musste, dass die Familie es noch bis zu seinem Lebensende abbezahlen würde. Mit solchen unwichtigen Details hielt sich William in der Regel allerdings nicht auf, denn die Myddeltons waren zwar durchaus wohlhabend, aber bei weitem nicht so vermögend, wie er gerne behauptete. Wenn jemand von den Schulden wüsste, wäre dies für den Ruf der Familie nicht sehr förderlich und so verheimlichte William sie vor der Welt – seiner Frau und den vier Söhnen eingeschlossen.

Zu Thomas‘ großer Überraschung hatte sein Vater dieses Mal jedoch noch nicht genug von der Unterhaltung mit ihm.

"Wie alt bist du jetzt, Junge?", fragte er und musterte seinen Sohn angestrengt.

"Dreizehn, Vater."

"Ein gutes Alter", William goss sich ein zweites Glas Whiskey ein.

"Wie du weißt, bist du mein ältester Sohn. Aber nicht nur das. Du bist auch klüger als Billy, Fred und Abe zusammen. Ich möchte, dass, wenn ich nicht mehr bin, du Myddelton Inc. weiterführst. Mein Erbe soll weiterleben und ich glaube, dass nur du einen ähnlichen Weitblick besitzt, wie ich."

Thomas schaute seinen Vater an. Es schmeichelte ihm, dass er ihn als seinen Nachfolger auserkoren hatte. Er fand zwar nicht, dass er klüger war als seine Brüder, vor allem, weil alle drei noch deutlich jünger waren als er, aber es war ein schönes Gefühl, dass sein Vater sein Talent erkannte. In der Vergangenheit hatte er oft das Gefühl gehabt, für William unsichtbar zu sein. Er kam jeden Tag der Woche erst spät und betrunken aus der Fabrik nach Hause, nur um nach dem Abendessen direkt in seinem Arbeitszimmer zu verschwinden, wo er so lange trank, bis er einschlief.

"Aber, Tommy, es braucht Disziplin und Fleiß, um ein erfolgreicher Geschäftsmann zu sein. Man muss seine Maschinen kennen. Die Männer und Frauen, die für einen arbeiten. Und man muss gebildet sein. Du weißt, es gibt kein Thema, mit dem ich mich nicht auskenne."

Sein Vater übertrieb, aber in der Tat war William ein sehr belesener Mensch, der die Berichte der Wochenzeitungen stets mit größter Sorgfalt verfolgte.

"Das, was dir diese Kleingeister in der Schule beibringen, reicht nicht. Deshalb möchte ich, dass du künftig nach der Schule zu mir in die Fabrik kommst. Und nach der Arbeit, wirst du Bücher lesen, die dich in deinem Leben tatsächlich weiterbringen. Geschrieben von wahrlich großen Männern. Das wird harte Arbeit, aber es wird sich auszahlen, so wie bei mir. Meinst du, du bist Manns genug für so viel Verantwortung?"

Thomas wusste nicht, was er auf den Vorschlag seines Vaters antworten sollte. Natürlich war er das. Aber wollte er das überhaupt? Und spielte das eine Rolle? Er wusste, dass Vater ein Nein nicht akzeptieren würde. Gerade wenn er getrunken hatte, war der Grat zwischen einem normalen Gespräch und einem Tobsuchtanfall schmal. Und nicht selten endeten diese damit, dass er seinen Gürtel aus der Hose zog und die Kinder über das Knie legte. Besonders, wenn William der Meinung war, seine Kinder seien undankbar oder bewunderten seine Leistungen nicht ausreichend. Thomas wusste, dass er keine andere Wahl hatte und so nickte er zaghaft.

"Gut so, Junge. Ich wusste, dass du mich nicht enttäuschen würdest. Dein Unterricht beginnt morgen. Du solltest jetzt schlafen gehen."

"Aber Vater, wir haben doch noch nicht einmal zu Abend gegessen", antwortete Thomas überrascht.

"Das ist deine erste Lektion. Du wirst tun, was ich dir sage. Ob du es verstehst oder nicht. Jetzt geh ins Bett. Du brauchst morgen deine ganze Kraft."

"Aber, Vater, ich habe Hunger…", setzte er noch einmal an.

"SCHWEIG", brüllte William und sprang mit so viel Wucht auf, dass sein Stuhl lautstark umfiel. Thomas zuckte zusammen und zog den Kopf ein.

"Als meine Eltern arm waren, da hatte ich Hunger", fuhr er in Rage fort. "Du weißt überhaupt nicht, was Hunger bedeutet. Also stell dich nicht so an und geh zu Bett oder du wirst es bereuen."

"Verzeiht, Vater. Ihr habt Recht, so schlimm ist es nicht, ich habe ja heute Mittag gut gegessen", antwortete Thomas verängstigt.

William nickte streng und Thomas sah, wie der Zorn in seinen Augen etwas abflaute. Langsam schob er den alten Holzstuhl, auf dem er gesessen hatte, ein Stück von dem Küchentisch zurück und stand auf.

Gerade war Vater doch noch so stolz auf ihn gewesen und jetzt fühlte er sich, wie ein geschlagener Hund. Er würde sich anstrengen, damit Vater wieder stolz auf ihn sein konnte. Er würde ihm zeigen, dass er die zusätzliche Aufmerksamkeit verdiente. Mit hängendem Kopf trottete er langsam aus dem Esszimmer.

"Haltung", hörte er Williams Stimme hinter sich. Schnell straffte er die Schultern und hob das Kinn.

"Besser."

Noch bevor Thomas den Fuß auf die erste Stufe der Treppe setzte, die nach oben zu den Schlafzimmern führte, spürte er, dass sich sein Leben soeben verändert hatte.

Als am nächsten Tag der Unterricht in der kleinen Kapelle am Marktplatz von Lisburn beendet war, ging Thomas nicht wie sonst nach Hause, wo Mutter mit dem Mittagessen auf ihn wartete. Stattdessen hatte sein Vater ihm als Mahlzeit heute morgen ein Viertel Brot und einen Apfel auf den Küchentisch gelegt, bevor er zur Arbeit aufgebrochen war. Thomas aß im Gehen, während er sich den Weg durch die Stadt zu dem Gebäude der Myddelton Inc. bahnte. Er war noch nicht oft dort gewesen, denn Mutter betonte stets, dass eine Fabrik kein Spielplatz für kleine Jungen sei, doch er wusste ungefähr, wo sie sich befand. Zweimal bog er falsch ab und musste jedes Mal ein gutes Stück zurück laufen. Doch er war sehr stolz auf sich, als er endlich das große Gebäude mit den vielen Fenstern erreichte. Vater stand bereits vor dem Eingangstor und wartete auf ihn.

"Du bist zu spät", begrüßt er ihn barsch.

"Ich bin sofort nach Unterrichtsschluss hergelaufen", antwortete Thomas und schämte sich, dass er den Weg nicht besser gekannt hatte.

"Morgen bist du pünktlich, verstanden?"

"Aber, Vater, ich…"

"Werd‘ jetzt nicht noch frech, du Nichtsnutz. Ob du mich verstanden hast, habe ich dich gefragt." Kalter Zorn zeigte sich in Williams Augen und eine große Ader trat pulsierend auf seiner Stirn hervor.

"Ja, Vater", gab Thomas kleinlaut bei, um nicht schon wieder eine von Williams Schimpftiraden ertragen zu müssen.

"Gut. Die Arbeiter erwarten dich schon. Ich möchte nicht, dass sie glauben, mein ältester Sohn kenne den Wert von Pünktlichkeit nicht."

Thomas spürte, wie sich ein dicker Kloß in seinem Hals breit machte und wünschte, er könne einfach nach Hause zu Mutter laufen, etwas Warmes essen und in ihrem Arm Trost finden.

Doch statt der warmen Umarmung seiner Mutter, fühlte er die kräftige Hand seines Vaters auf dem Rücken, die ihn unsanft in die Fabrik hineinschob. Thomas musste allen Mitarbeitern seines Vaters die Hand schütteln und sich ihnen vorstellen. Die Männer waren sichtlich nicht erfreut darüber, dass der Sohn des Fabrikleiters von nun an zwischen ihren Füßen herumlaufen würde.

"Das soll der Nachfolger sein? Das ist doch noch ein Kind.", hörte er mehr als einen der Männer flüstern, wenn sein Vater ihnen den Rücken zudrehte.

William bugsierte Thomas in sein Büro, das hinter einer eisernen Treppe oberhalb der Fabrikhalle lag.

"Ich glaube, die Männer wollen nicht, dass ich hier bin", sagte Thomas vorsichtig.

"Unsinn", antwortete William scharf. "Hör zu, Junge, die meisten Männer sind dumm wie ein Laib Brot. Lass nicht zu, dass ihre Beschränktheit dich ausbremst. Lass mich dir eins sagen: Du kannst dich nur auf dich selbst verlassen. Wer bei anderen nach Hilfe sucht, wird nur enttäuscht. Echte Männer brauchen keine Hilfe."

Den Rest des Tages verbrachte Thomas damit, unter dem ohrenbetäubenden Lärm der Maschinen zu versuchen, die Erläuterungen der Arbeiter zu den Funktionsweisen und Mechaniken der Dampfmaschinen zu verstehen. Doch, so sehr er sich auch anstrengte, nichts davon ergab für ihn irgendeinen Sinn und als die laute Pfeife den Feierabend verkündete, wusste er, dass er niemals eine Fabrik würde führen wollen. Doch er wusste auch, dass William niemals akzeptieren würde, dass er, sein goldenes Kind, einen anderen Weg einschlug.

Als er nach Einbruch der Dunkelheit endlich zu Hause war, ließ Thomas sich todmüde auf sein Bett fallen. Er fühlte sich elend und hätte umgehend einschlafen können. Doch aus der Küche roch es verführerisch und er wollte auf keinen Fall die erste vernünftige Mahlzeit des Tages verpassen. Während ihm das Wasser im Munde zusammenlief, hörte er die schweren Schritte seines Vaters vor der Tür des kleinen, stickigen Zimmers, das er sich mit seinen Brüdern teilte.

William trat ein, ohne zu klopfen.

"Hier, Junge", er warf ein schweres Buch mit schwarzem Ledereinband neben Thomas auf das Bett. "Ich möchte, dass du bis morgen früh die ersten beiden Kapitel liest. Ich werde dich vor dem Frühstück abfragen, was du davon behalten hast."

Damit drehte er sich wieder um und verließ das Zimmer.

Thomas verweilte kurz unschlüssig und starrte auf das Buch. Dann fegte er es mit einer schnellen Handbewegung von seinem Bett und vergrub das Gesicht in seinem Kopfkissen. Er weinte, bis er Mutters Rufe aus der Küche hörte. Schnell trocknete er seine Tränen, ordnete sein Äußeres und nahm Haltung an. Dann gesellte er sich zu seiner Familie an den Esstisch.

Thomas gewöhnte sich nur langsam an sein neues Leben und die unnachgiebige Härte mit der William ihn auf das Geschäftsleben vorbereitete. Mehr als einmal musste er die Demütigungen seines Vaters ertragen, der immer etwas zu kritisieren fand, ganz gleich, wie sehr Thomas sich bemühte. Die Wutanfälle seines Vaters wurden noch schlimmer, als auch ihm irgendwann klar wurde, dass sein Sohn für die Arbeit mit Maschinen schlicht nicht gemacht war. Thomas war zwar klug und konnte sich die Inhalte seiner abendlichen Lektüren schnell einprägen, doch für die körperliche und oft gefährliche Arbeit an den Maschinen fehlte ihm schlicht das Geschick.

Thomas Rettung lag in seinen herausragenden schulischen Leistungen, seiner Disziplin und beispiellosen Strebsamkeit, die auch seinen Lehrern nicht verborgen blieb. Mr. Henessey, ein untersetzter aber liebenswerter Mann und der Leiter der kleinen Schule in Lisburn, setzte sich dafür ein, dass Thomas zunächst ein Stipendium für die Dr. Bruce's Academy in Belfast und später das Trinity College in Dublin angeboten bekam, wo er zum Anwalt ausgebildet wurde. Nach dem Abschluss, den er mit Auszeichnung verliehen bekam, trat er in den Dienst der Krone in Indien, wo er sich einen Namen als Experte für das geschickte Umgehen oder praktische Neuinterpretationen von versteckten Details in Handelsverträgen machte. Thomas‘ besonderes Talent lag darin, kleine Ungenauigkeiten in den Formulierungen der Verträge zu finden und diese anschließend zu seinem Vorteil auszulegen. Durch seine juristische Finesse gelang es ihm in den nächsten fünf Jahren dutzende Male, der Krone große Mengen Geld zu beschaffen. Ein Umstand, der Thomas einen rasanten beruflichen Aufstieg ermöglichte und mit dem William gerne vor seinen Arbeitern prahlte, denn auch mit fast siebzig Jahren, führte er die Fabrik noch immer selbst.

Thomas selbst hatte kein Interesse daran, in Irland alt zu werden oder gar zu sterben und plante statt einer Rückkehr nach Hause, nach seiner Zeit in Indien nach London zu gehen und dort ein politisches Amt zu bekleiden. Er kehrte erst nach Lisburn zurück, als Mutter ihm in einem Brief berichtete, dass Williams Leben sich dem Ende näherte.

Sein Vater starb, noch bevor Thomas in Irland eintraf. Es betrübte ihn, dass er keine Möglichkeit gehabt hatte, sich von William zu verabschieden. Darüber hinaus erstaunte ihn jedoch, wie wenig ihn der Tod seines Vaters berührte. Er konnte sich nicht darüber beschweren, dass er sich nicht ausreichend mit ihm beschäftigt hatte und dennoch fehlte irgendwie die Traurigkeit, als er dabei zusah, wie der dunkle Sarg in der Erde verschwand.

Als die Beisetzung vorüber war, überquerte Thomas gedankenverloren die Hauptverkehrsstraße Lisburns. Wie zu erwarten, hatte William ihm den Großteil des Familienvermögens vermacht. Seine Brüder hatten den Kontakt zu der Familie in den Jahren Thomas‘ Abwesenheit abgebrochen und waren auch nicht zur Trauerfeier erschienen. Genau genommen wusste Thomas von Fred und Abe noch nicht einmal, wo sie sich aufhielten. Bobby hatte ihm vor gut zwei Jahren in einem Brief verkündet, dass er eine Laufbahn als Offizier bei der Marine anstrebte und fortan viel auf Reisen wäre. Nichtsdestotrotz würde es sicherlich weitere Zerwürfnisse in der Familie verursachen, wenn Thomas als einziger der Söhne an der Erbschaft beteiligt wäre. Er entschied, dass er die Fabrik an den Höchstbietenden verkaufen und das, was nach der Rückzahlung der Darlehen noch übrigblieb, in gleichen Teilen unter den Brüdern verteilen würde.

Ein lautes Scheppern riss Thomas aus seinen Gedanken und er fuhr herum, als er plötzlich den warmen Atem zweier Warmblüter in seinem Nacken spürte.

Eine große, dunkelbraune Kutsche mit roten Türen war unmittelbar neben ihm abrupt zum Stehen gekommen und erst jetzt realisierte Thomas, dass er mitten auf der Straße stand.

Sein Blick glitt vorbei an dem schimpfenden Kutscher, der ihm gerade jede Obszönität entgegenrief, die er kannte und blieb an dem wunderschönen blonden Mädchen haften, das seinen Kopf aus dem Kutschfenster reckte, um sehen zu können, was da vorne vor sich ging.

Sie trug ihr kräftiges blondes Haar in einem ordentlichen Zopf geflochten und mit einer dunkelblauen Schleife zusammengebunden. Ihren großen blauen Augen funkelten und Thomas sah ihnen an, dass dieses Mädchen gerne sagte, was es dachte. Sie trug eindrucksvolle Ohrringe, die auf ein wohlhabendes Elternhaus schließen ließen und ihre Lippen hatten einen sinnlichen Schwung. Thomas ertappte sich dabei, wie er sich fragte, wie es sich wohl anfühlte, sie zu küssen. Von sich selbst überrascht, versuchte er, den Gedanken beiseitezuschieben.

Ann musterte den jungen Mann vor ihr argwöhnisch. Er war groß gewachsen und schlank, wenn auch nicht sonderlich muskulös. Er trug sein dunkelbraunes, fast schwarzes Haar halblang, aber ordentlich gescheitelt. Sein Gesicht war makellos rasiert und betonte so seine harten Züge und dünne Lippen. Seine Augen strahlten vor Klugheit und Ann sah ihnen an, dass er zwar überheblich aber auch voller Wärme sein konnte. Der junge Mann war adrett gekleidet und trug einen schwarzen Mantel und darunter eine dunkelrote Weste. Er drückte eine große braune Aktentasche gegen seine Brust und sah so aus, als wäre er gerade erst aus einem Traum erwacht.

Ann fand, dass dieses Bild etwas unheimlich Komödiantisches hatte. Der fein gestriegelte, etwas schlaksige junge Mann, der mit den frisch polierten Schuhen halb in einem Pferdeapfel stand und geistesabwesend die Beschimpfungen des Kutschers ertrug.

Die Blicke der beiden trafen sich und Ann ertappte sich dabei, wie sie sich fragte, wie der junge Mann vor ihr wohl riechen mochte. Also von Pferdeapfel abgesehen. Sie kicherte und wandte den Blick ab.

Thomas trat beiseite und die Kutsche rollte langsam an ihm vorbei. Jetzt bemerkte auch er den Mist, in den er getreten war.

"Verdammter Mist, auch das noch", fluchte er leise.

"Welch unangemessene Wortwahl für einen Gentleman!“, rief Ann ihm im Vorbeifahren zu, die ihn offenbar gehört haben musste.

Thomas spürte, wie ihm die Hitze ins Gesicht stieg und wagte es nicht, zu dem hübschen Mädchen hinaufzuschauen.

"Erst springt Ihr uns vor die Kutsche und nun auch noch solch obszöne Worte", fuhr Ann fort und Thomas war sich unsicher, ob sie wirklich erbost war oder lediglich so tat.

"Kommt heute Nachmittag in den Central Park. Dort könnt Ihr standesgemäß bei mir um Verzeihung bitten", rief Ann ihm zu. Kurz danach bog die Kutsche um eine Straßenecke und verschwand aus Thomas‘ Blickfeld.

Er blieb allein zurück, mit einem Fuß noch immer in dem enormen Haufen Pferdemist. Es dauerte einen Moment, bis er verstand, was gerade geschehen war. Er war gleichermaßen schockiert und gereizt von diesem Mädchen. Noch nie hatte eine junge Dame auf eine solche Weise mit ihm gesprochen – was auch daran lag, dass sich seine Erfahrungen mit dem schöneren Geschlecht sehr in Grenzen hielten. Er war hin- und hergerissen, ob er der frechen Einladung folgen sollte. Doch es schien, als würde das Schicksal ihm die Entscheidung abnehmen und so fand er sich schließlich am Nachmittag tatsächlich in der Nähe des Parks wieder, ohne diesen gezielt angesteuert zu haben.

Er erkannte Ann sofort und noch bevor er sie sehen konnte, hörte er bereits ihr herzliches Lachen durch den Park schallen. Sie flanierte gerade in Begleitung einer Freundin um den großen See in der Mitte des Parks und schien, sich köstlich über etwas zu amüsieren. Thomas beschlich der Verdacht, dass es etwas mit dem Pferdedung zu tun haben könnte, den er gut dreißig Minuten lang aus den Nähten seiner Anzugschuhe gekratzt hatte.

Ann war noch schöner als in seiner Erinnerung.

Sie war größer als er vermutete hatte, aber noch immer damenhaft. Ihre schlanke Figur und attraktiven Rundungen passten so wunderbar zu ihrem hübschen Gesicht, dass Thomas nur das Wort perfekt als Beschreibung für sie einfiel.

Langsam näherte er sich den beiden Damen, unsicher, was er überhaupt zu dem bildschönen Mädchen sagen sollte. Er hoffte bloß, dass seine Stimme nicht wieder anfangen würde zu piepsen, wie damals, als er mit zwölf Jahren Lydia McMiller fragen wollte, ob er sie nach der Schule auf dem Heimweg begleiten durfte.

"Ihr seid gekommen", unterbrach Anns fröhliche Stimme seine Selbstzweifel.

"Lady Silvia, ich möchte Euch den Grund für meine Verspätung vorstellen", richtete Ann das Wort an ihre Freundin, die sogleich zu kichern begann.

"Bei allem Respekt, Mylady", erhob Thomas die Stimme, nachdem er sich gesammelt hatte. "Ich kann unmöglich der Grund für Eure Verspätung sein. Selbst wenn ihr mich überfahren hättet, was sehr gut möglich gewesen wäre, hätte das höchstens eine Verzögerung von wenigen Minuten bedeutet. Seien wir ehrlich, in Lisburn interessieren sich die Menschen wenig für Kollateralschäden des täglichen Kutschverkehrs, vermutlich hätte es nicht einmal wirklich jemand bemerkt. Nun stehe ich hier und bin offensichtlich nicht überfahren worden und kann darüber hinaus bezeugen, dass unsere Begegnung nur wenige Augenblicke andauerte. Da ihr offenbar jedoch derart merklich verspätet zu Eurem Treffen erschienen seid, dass ihr Eurer werten Begleitung eine Ausrede präsentieren musstet, bleibt nur die Annahme, dass Ihr bereits verspätet gewesen sein müsst, als Euer Kutscher derart rücksichtslos durch die Straßen gerast ist. Man könnte meinen, dass Eure Verspätung möglicherweise sogar der Grund für die übertriebene Eile gewesen sei und e contrario Ihr mich um Verzeihung bitten solltet."

Er richtete sich auf und spannte die Schultern an. Mit ernster Miene beobachtete er die Reaktion der Frauen und versuchte zu erkennen, ob er sie verärgert hatte.

Ann und Silvia schwiegen einen Moment. Dann prustete Ann los und begann so herzlich zu lachen, dass ihr die Tränen kamen.

"Ihr habt mich erwischt", brachte sie schließlich atemlos hervor. "Ich bitte um Verzeihung. Ich war tatsächlich bereits verspätet, weil ich dieses unsägliche Kleid nicht zubekommen habe. Und eventuell habe ich den armen George so lange getriezt, sich zu beeilen, bis er die Pferde in blanke Raserei versetzt hatte." Sie schob die Unterlippe vor und setzte einen offensichtlich übertrieben schuldbewussten Ausdruck auf, der Thomas umgehend weich werden ließ. Diese Frau spielte mit ihm. Und ihm gefiel es, sehr sogar.

"Was sagt Ihr, jetzt da wir das geklärt haben, begleitet Ihr uns ein wenig auf unserem Spaziergang?", frage Ann und lächelte ihn an.

"Sehr gerne, meine Damen", antwortete Thomas und verschränkte die Arme hinter dem Rücken.

"Sagt, wie lautet denn eigentlich Euer Name? Bei all der Aufregung haben wir diesen Teil ganz vergessen", lachte Ann.

"Thomas Myddelton, ich bin Anwalt und erst kürzlich aus Indien zurückgekehrt. Und wie lautet Euer Name?"

"Ann“, antwortete Ann und entzog sich seinem Blick, als Thomas kurz eine weitere Erläuterung ihrer Herkunft erwartete.

Doch sie schwieg und so lenkte er die Unterhaltung schnell auf ein anderes Thema, um ihr nicht langweilig oder übertrieben neugierig zu erscheinen.

Thomas und Ann verabredeten sie sich von hier an regelmäßig zu nachmittäglichen Spaziergängen. Auf ihren Runden um den See erzählte Thomas von seiner Arbeit und seiner Zeit in Indien und Ann hörte ihm zu, als wäre es das Spannendste, was sie in ihrem Leben je gehört hatte. Ihrerseits erzählte sie von ihrer Familie und warum sie diese zu Beginn ihrer Bekanntschaft verschwiegen hatte. Ann entstammte einer mittlerweile verarmten alten Adelslinie, die kaum noch über nennenswerte Mittel verfügte. Derzeit lebte sie mit ihrer Mutter und ihrer Schwester bei einem Cousin ihres Vaters, der sie unterstützte, während ihr Vater glücklos versuchte, zu Geld zu kommen. Das einzig Kostbare, das Ann von dem einstigen Vermögen der Familie geblieben war, waren die Diamant-Ohrringe, die sie bei ihrem Kennenlernen getragen hatte, sowie eine umfangreiche Büchersammlung, die sie eines nach dem anderen verschlang und von denen sie Thomas anschließend ausführlich berichtete.

Thomas wusste bereits nach ihrem ersten Spaziergang, dass er Ann liebte. Er liebte ihre Schönheit, ihre Furchtlosigkeit und ihre Tendenz sich über jede Regel hinwegzusetzen. Und sei es nur aus Prinzip. Und auch Ann empfand genauso. Sie liebte seine ruhige und bedachte Art, seinen blitzgescheiten Verstand und die Fähigkeit Details zu sehen, die andere auch nach Stunden nicht hätten erkennen können.

Die beiden waren ein wunderschönes Paar und heirateten im Sommer 1828 in kleinstem Kreise. Anns Familie konnte keine große Summe für die Trauung aufbringen, was Thomas wenig störte. Er hatte nie Sinn darin gesehen, große Feiern mit Menschen zu veranstalten, von denen er die meisten weder kannte, noch mochte. Und er wusste, dass ein solches Fest nur Ärger mit der konservativen Verwandtschaft geben würde, sobald Ann jemandem vor den Kopf stieß. Und, dass dies passieren würde, war so sicher, wie das Amen in der Kirche. Es war schlicht effizienter das Geld zu sparen und den Ärger mit der Verwandtschaft aufgrund der fehlenden Einladung zur Hochzeit in Kauf zu nehmen.

Frisch vermählt entschlossen Thomas und Ann, dass sie ihren Lebensmittelpunkt künftig nach London verlegen würden. Thomas hatte dort die Möglichkeit, als Mitglied des Parlaments einen einflussreichen Posten zu bekleiden. Zusammen zogen sie in ihr erstes gemeinsames Haus, ein bescheidenes Stadthaus in der Grays Inn Road, von dem aus sie direkt auf das Kings Cross Monument blicken konnten, das stolz König George IV. zeigte.

Doch das Leben in London war nicht immer so glamourös, wie Thomas es sich vorgestellt hatte. Besonders das Ende der 1820er Jahre war geprägt von der Jagd auf die Würger, wie sie in der Klatschpresse genannt wurden. Gleich mehrere Gangs in verschiedenen Vierteln der Stadt hatten begonnen, die Bevölkerung zu terrorisieren. Sie versteckten sich in dunklen Gassen oder hinter Häuserecken und warteten, bis Passanten an ihnen vorbeiliefen, um den Ahnungslosen dann von hinten einen Arm um den Hals zu legen und ihre Opfer so lange zu drangsalieren, bis sie das Bewusstsein verloren. Den Ohnmächtigen wurden daraufhin sämtliche Gegenstände von Wert und nicht selten sogar die Stiefel von den Füßen gestohlen.

Nachdem die Nichte eines Abgeordneten des Unterhauses bei einem dieser Raubüberfälle tragisch zu Tode kam, wurde Innenminister Robert Peel von König George IV persönlich damit beauftragt, das Problem endlich in den Griff zu bekommen. So gründete Peel die Metropolitan Police, Londons erste organisierte Polizeieinheit.

Die Gründung dieser Truppe von Ordnungshütern gestaltet sich für Peel jedoch schwieriger als gedacht und hätte ihn beinahe seine eigene Karriere gekostet.

Die erste Wahl für die Position des Senior Commissioner war Lieutenent-Colonel James Shaw, ein bulliger Kriegsveteran, der für sein gnadenloses Vorgehen bekannt war. Kurz vor seiner Ernennung verwickelte sich Shaw jedoch in eine Verkettung skandalöser Vorfälle, die neben drei jungen Dirnen und zwei Ziegen auch noch ein Mitglied der königlichen Familie betrafen. Um einen Aufschrei in der Bevölkerung und einen Gesichtsverlust des Königs zu verhindern, wurde der Vorfall vertuscht und geräuschlos aus der Welt geschaffen. Für die Dirnen bedeutete dies, London auf Lebzeiten zu verlassen. Die Ziegen traf es noch härter, denn sie wurden bei lebendigem Leibe im erst kurz zuvor eröffneten Londoner Zoo verfüttert. James Shaw zog sich auf seinen Landsitz zurück und ließ später verlautbaren, dass er den Posten als Senior Commissioner aus gesundheitlichen Gründen ablehnen müsse.

Noch am gleichen Tag erhielt Lieutenent-Colonel Charles Rowan das Angebot, den Posten zu übernehmen, nachdem sich General Wellington, sein früherer Kommandant in der Schlacht bei Waterloo, für ihn eingesetzt hatte. Er nahm den Posten an.

Doch die Misere von Robert Peel hielt weiter an. Denn neben Charles sollte noch eine zweite Führungsposition bei der Met, wie die Metropolitan Police kurz genannt wurde, geschaffen werden. Ein junger, ambitionierter Anwalt wurde gesucht, um die rechtlichen Voraussetzungen zu schaffen und die Einheit auch per Gesetz langfristig zu etablieren. Schnell war auch hier ein Wunschkandidat gefunden. Richard Mayne war ein vielversprechender aufstrebender Anwalt aus gutem Hause. Doch an dem Tag, an dem ihm das Angebot zugestellt werden sollte, traf ihn ein Polo-Stick am Kopf. Mayne stürzte vom Pferd und geriet unter die Hufe seiner Araber-Stute. Roberts Sekretär verbreitete später hinter vorgehaltener Hand, der Minister habe sich hinlegen müssen, nachdem er davon erfahren hatte, dass er dem König einen weiteren Fehlschlag berichten musste.

Thomas‘ Fleiß und Engagement sowie seine bildschöne und kluge Frau, hatten ihm sowohl beim Wählervolk als auch der politischen Elite des Landes schnell große Sympathien eingebracht und so war es wenig überraschend, dass nach dem Ableben Richard Maynes, er die Position als Junior Commissioner der Metropolitan Police angeboten bekam. Thomas nahm das Angebot noch am selben Abend an.

Von da an arbeitete er noch mehr als je zuvor, oft nächtelang, ohne zu schlafen oder zu essen. Durch die viele Arbeit und die Nächte, die er im House of Parliament und nicht bei seiner Frau verbrachte, dauerte es ganze sechs Jahre, ehe Ann ihm eines morgens freudestrahlend um den Hals fiel.

"Ach, Thomas, etwas wundervolles ist geschehen", sprudelte es aus ihr hervor.

"So?", entgegnete er irritiert und wollte sich schon wieder der Wochenzeitung zuwenden, die vor ihm auf dem kleinen Beistelltisch lag.

Ann legte demonstrativ eine Hand auf die Zeitung und schob sich in Thomas‘ Blickfeld.

"Die Zeitung kann warten, ich nicht", sagte sie und lächelte ihren Mann trotzig an. "Und Ihr, Sir Thomas, 1st Baronet of Myddelton, von König Wilhelm dem IV. höchstselbst in den Adelsstand erhoben, Ihr bereitet Euch besser darauf vor, dass es in diesem Haus bald deutlich unruhiger zugehen wird."

"Wieso unruhiger? Was meinst du, Ann? Was soll das ganze Theater hier?", fragte Thomas, der langsam die Geduld verlor.

"Ich versuche dir gerade zu sagen, dass ich ein Kind von dir erwarte. Von wegen genialer Anwalt, seid Ihr sicher, dass Ihr kein Scharlatan seid, Sir Myddelton?"

Thomas war schlagartig hellwach. Er starrte zunächst Ann an, dann wanderte sein Blick auf ihren Bauch.

"Da sieht man noch nichts, du Tölpel", lachte Ann, ehe ihr Mann sie in einer so feste Umarmung umschlang, dass ihr die Luft wegblieb.

Thomas nahm ihr Gesicht in seine Hände und schaute ihr in die Augen.

"Ist das wahr? Bekommen wir tatsächlich ein Kind?"

Ann nickte und Thomas küsste sie leidenschaftlich auf den Mund. Nachdem sie sich voneinander gelöst hatten, wurde Anns Blick auf einmal ernst.

"Ich bin überglücklich, dass du dich so sehr freust, Thomas. Aber ich muss dich um etwas bitten."

"Alles, was du willst, meine Liebste."

"Ich möchte, dass wir auf den Landsitz ziehen, der dir gemeinsam mit dem Adelstitel überschrieben wurde. Es ist ein wunderschönes Grundstück, mitten in der Natur und ein viel besserer Ort, um ein Kind großzuziehen, als dieses kleine Haus mitten in einer großen Stadt."

Ann sah ihrem Mann tief in die Augen. Sie wusste, dass er den Vorschlag nicht guthieß. Seine Arbeit erforderte seine Anwesenheit in London. Ein Umzug aufs Land wäre für ihn ausgesprochen unpraktisch und wenn Thomas eines nicht mochte, dann war es Inneffizienz.

"Annie, …", setzte Thomas an.

"Es ist nicht nur das, Thomas", fiel Ann ihm ins Wort. "Ich fühle mich hier in der Stadt, wie ein kleiner Spatz in einem viel zu engen Käfig. Ich möchte nicht den Rest meines Lebens zwischen Pferdemist und schlecht gelaunten Menschen verbringen. Verstehst du das? Bitte lass uns aufs Land ziehen." Sie nahm seine Hand und schmiegte sich eng an ihn.

"Ich werde darüber nachdenken", antwortete Thomas und setzte sich wieder an seine Zeitung.

"Mehr will ich gar nicht", antwortete Ann und schenkte ihm ihr bezauberndes lächeln.

Thomas konnte der Vorstellung eines Lebens fernab von London nur wenig abgewinnen, doch ihnen war beiden klar, dass er es nicht schaffen würde, Ann ihren Wunsch abzuschlagen.

So zogen Thomas und Ann kurz vor Weihnachten 1834 in das markante Herrenhaus, direkt am Wald. Ein halbes Jahr später, im Mai, gebar Ann schließlich ihre erste und einzige Tochter. Sie sollte Julie heißen, nach dem Monat, in dem Thomas und Ann sich kennengelernt hatten.

2

Julie hatte noch nie wirklich Angst gehabt. Doch noch bevor der Tag zu Ende war, wusste sie, wie es war, um ihr Leben zu fürchten.

Es knackte laut, als Julie mit beiden Füßen auf den kräftigen Ast sprang, der nur zum Teil aus dem dichten Laubwerk herausragte. Im nächsten Moment rollte der Ast unter ihrem Gewicht ein paar Inches nach vorne und Julie verlor das Gleichgewicht. Mit rudernden Armen plumpste sie rückwärts auf die Erde und landete auf dem nass-kalten Untergrund. Sie spürte, wie die Feuchtigkeit aus dem laubbedeckten Boden unmittelbar in ihr himmelblaues Kleid und die darunter liegenden Unterkleider eindrang. Schnell rappelte sie sich auf und versuchte ihren Allerwertesten mit den Händen trocken zu reiben. Dabei verteilte sie allerdings vor allem den Dreck an ihren Fingern auf dem feinen Stoff, sodass ihr Kleid nun nicht nur nass, sondern auch noch schmutzig war.

Es hatte dieses Mal vergleichsweise lange gedauert, bis Julie ihr Kleid ruiniert hatte. Normalerweise brauchte sie dafür nur wenige Minuten. Doch da sie heute mit Mutter durch den Wald spazierte und nicht mit einem der Dienstmädchen, hatte sie sich besonders bemüht, sauber zu bleiben. Julie drehte sich um und schaute beschämt in die Richtung, in der sie Mutter vermutete. Sie war noch immer damit beschäftigt, Bucheckern aufzulesen. Zu ihrer großen Erleichterung strahlte Ann sie mit ihren großen blauen Augen freundlich an und begann herzlich zu lachen, als sie Julies beschämten Blick bemerkte.

"Ach Julie, mein Spätzchen, hast du es wieder geschafft?", lachte Ann.

"Verzeiht, Mutter", antwortete Julie kleinlaut. "Mir ist ein Missgeschick passiert, aber das wollte ich gar nicht."

"Kein Grund für Groll, Engelchen", sagte Ann und nahm ihre Tochter in den Arm. "Sollen wir zurück gehen oder möchtest du noch etwas länger nach den kleinen Vögeln suchen?"

"Vögel, Vögel, piep, piep, piep", rief Julie mit kindlicher Begeisterung und hatte ihren kleinen Unfall bereits wieder vergessen.

Ann lachte erneut und ließ den kleinen blonden Wirbelwind aus ihren Armen wieder im Wald herumtoben. Sie genoss diese kleinen Spaziergänge mit ihrer Tochter und war jedes Mal aufs Neue fasziniert davon, dass vor etwas mehr als drei Jahren dieser kleine Mensch wie durch ein Wunder das Licht der Welt erblickt hatte. Sie war erst spät Mutter geworden und umso glücklicher, dass sie diesen Teil des Lebens doch noch erleben durfte. Auch wenn Julie wohl ihr einziges Kind bleiben sollte. Ihr Gatte war häufig schlicht zu sehr in seine Arbeit vertieft, um über weitere Nachkommen nachzudenken.

Ann schlenderte weiter durch den Wald und wo auch immer ein größerer Laubhaufen auf sie wartete, schoss sie die bunten Blätter begeistert in die Luft. Manchmal war es schwierig zu entscheiden, wer von ihnen beiden verspielter war. Doch Ann war der Meinung, dass gerade dies die gemeinsamen Ausflüge mit Julie nur noch spaßiger machte.

Julie fegte an ihr vorbei, sprang über umgestürzte Bäume, und drehte sich wie ein Kreisel um sich selbst. Bald war ihr so schwindelig, dass sie erneut hinfiel und ihr Kleid so nach und nach von allen Seiten verdreckte.

"Du siehst aus, wie ein kleines Wildschweinferkel", lachte Ann, als Julie schließlich von oben bis unten mit Schlamm bedeckt war.

"Meint Ihr, Mrs. Myers wird böse auf mich sein?", fragte Julie verlegen.

"Lass das ruhig meine Sorge sein, Spätzchen. Schau mal da vorne, der kleine Vogel mit dem roten Bauch. Das ist ein Rotkehlchen. Siehst du es?"

Ann deutete zu einem wilden Brombeerstrauch, auf dessen Spitze ein kleiner Vogel fröhlich vor sich hin zwitscherte.

"Ja, ich sehe ihn", antwortete Julie fasziniert und lief dann in vollem Tempo auf den Strauch zu.

"Nicht so schnell, dann bekommt er Angst", rief Ann ihr hinterher. Doch noch bevor Julie den Strauch erreichte, flog der kleine Vogel erschrocken davon.

"Auf Wiedersehen, Vogel", rief Julie ihm strahlend hinterher und winkte ihm mit ihrer kleinen Kinderhand nach.

Ann machte sich wieder daran, zwischen den bunten Blättern nach den kleinen Bucheckern zu suchen, die sie so gerne aß. Es war gar nicht so leicht, sie zu finden und wenn sie endlich eine entdeckte, hatte sie oftmals den Wettstreit mit der Natur verloren und fand nur bereits verdorbene Nüsse. Es war aber auch gar nicht so einfach, sich auf die müßige Suche zu konzentrieren, denn es erforderte einiges an Aufmerksamkeit, den kleinen Wirbelwind in dem schmutzigen, blauen Kleid nicht aus den Augen zu verlieren.

Ann hatte gerade eine noch genießbare Buchecker gefunden und versuchte sich daran, sie mit ihren Zähnen zu öffnen, da hörte sie auf einmal Stimmen, die durch das Unterholz zu ihr drangen und immer lauter wurden.

Es war ungewöhnlich, dass sich so weit draußen jemand abseits der Wege aufhielt, und ein mulmiges Gefühl machte sich in Anns Magen breit. Sie sah sich instinktiv nach Julie um und winkte sie schnell zu sich herüber. Das kleine Mädchen hüpfte unbeschwert auf Ann zu und schaute sie mit schiefgelegtem Kopf fragend an. Die blieb stumm und legte den Zeigefinger an die Lippen.

"Was meinst du, wie weit ist es noch?", hörte Ann eine tiefe Männerstimme fragen.

"Kann nicht mehr weit sein. Das Haus steht direkt am Waldrand. Ich bin sicher, dass wir es bald sehen können", antwortete eine zweite Stimme.

"Und was ist dann der Plan?", fragte ein dritter Mann.

"Verdammt nochmal, Nick", die erste Stimme schien nicht glücklich mit der Frage zu sein. "Hast du dir gestern wieder die Erinnerung weggesoffen, oder was? Wir warten, bis es dunkel wird und dann schleichen wir uns zum Hintereingang. Der führt direkt durch die Küche in das Haus. Will macht uns auf und dann räumen wir die Bude aus."

"Was machen wir, wenn jemand wach wird?", fragte Nick nach.

"Dafür haben wir unsere Schießeisen dabei, du elender Armleuchter", antwortete die zweite Stimme ungeduldig. "Damit jagen wir allen, die uns im Weg stehen, eine Kugel zwischen die Augen. Wisst ihr was? Ich hoffe der Commissioner ist so dämlich und versucht uns aufzuhalten. Ich würd‘ ihm nur zu gerne ein paar Kugeln reinjagen, für das, was er Dickie und den anderen angetan hat."

"Immer mit der Ruhe, Jacky", beschwichtigte ihn die erste Stimme. "Myddelton wohnt dort mit seiner Frau und seiner Tochter. Ich bin sicher, der dreht völlig durch, wenn in seinem Haus rumgeballert wird. Wir sollten lieber vorsichtig sein."

"Ach komm schon. Hier draußen bekommt das doch eh keiner mit. Wir legen den Drecksack einfach als erstes um und dann haben wir etwas Spaß mit seiner Frau. Die soll eine richtige Granate sein. Ich wette, die mag's richtig versaut", antwortete Jacky mit ekelerregendem Ton in der Stimme.

Ann kauerte sich hinter den Stamm einer alten Buche und drückte Julie so fest sie konnte an sich. Sie hatten sich gerade hinter dem Baum verkrochen, da sah sie die drei Gestalten unmittelbar neben ihnen durch die Büsche treten.

Die drei Männer sahen ziemlich heruntergekommen aus und trugen alte Mäntel, die schon vor Jahren aus der Mode gekommen waren. Ihre langen, ungepflegten Haare waren von schmutzigen Schiebermützen bedeckt und auch ihre Stiefel hatten die besten Zeiten bereits hinter sich.

Ann presste Julie die Hand auf den Mund.

Die Männer waren nur noch wenige Schritte von ihnen entfernt. Sie mussten unbedingt nach Hause und Thomas Bescheid geben. Er würde wissen, was zu tun war.

Ann hatte immer die Befürchtung gehabt, dass Thomas' Position sie irgendwann in Schwierigkeiten bringen würde. Jetzt war es so weit und sie und alle, die sie liebten, schwebten in größter Gefahr.

Sie hatten Glück, dass die Männer nicht genau wussten, wo sich Myddelton Manor befand. Sie liefen zwar in die richtige Richtung, doch es gab noch einen anderen Weg, quer durch den Wald, der deutlich kürzer war. Als sie weit genug von ihnen entfernt waren, beugte sich Ann zu Julie und flüsterte ihr ins Ohr.

"Komm, Spätzchen, wir machen ein Rennen. Aber ein ganz besonderes. Ein Leise-Rennen. Wer zuerst ganz leise zu Hause ist hat gewonnen. Auf drei."

Julie nickte aufgeregt. Sie liebte es, durch den Wald zu jagen und endlich durfte sie so schnell rennen, wie sie konnte. Ann zählte leise bis drei und gab Julie dann einen leichten Schubs in die richtige Richtung. Nach wenigen Schritten stolperte Julie und riss sich das Kleid an einem heruntergefallenen Ast auf. Sie gab einen leisen Schrei von sich und Ann gefror das Blut in den Adern. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie die drei Männer schlagartig stehen blieben. Der größte von ihnen, ein grobschlächtiger Kerl mit finsteren Augen und zotteligem Bart, drehte sich langsam in ihre Richtung.

Panik machte sich in ihr breit und blind vor Angst, begann Ann zu rennen. Als sie bei Julie ankam, zog sie sie im Vorbeirennen hastig auf die Füße.

"Lauf, Kind, nicht stehen bleiben", zischte sie ihr ins Ohr und auch Julie rannte so schnell ihre kurzen Beine sie trugen.

Ann lief und lief. Sie fühlte nur noch Angst. Wie im Rausch sah sie nur noch die Äste und Steine, über die sie hinwegspringen musste, um in dem Labyrinth aus Bäumen nicht zu stürzen. Sie kannte den Weg zum Haus gut und es dauerte nicht lange, bis sie den großen Baum erreichte, den vor vielen Jahren ein Blitz gespalten hatte. Von hieran war es nicht mehr weit. Ann nahm all ihre Kräfte zusammen und lief noch ein wenig schneller.

Ihre Lungen brannten und ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie endlich zwischen den Bäumen hervorbrach und auf die roten Ziegel von Myddelton Manor zulief. Sie sprang die drei kleinen Stufen zum Eingangsportal hinauf und stürzte durch den langen Flur in den Speisesaal, wo Thomas gerade noch bei einer Tasse Tee über der Zeitung saß.

"Thomas", kreischte sie aufgebracht und völlig außer Atem.

Ihr Mann erschrak und ließ beinahe seine Tasse fallen.

"Um Himmels Willen, Ann, warum erschreckst du mich denn so?", fragte er und trocknete mit einer Serviette seine Hose, auf der er etwas von dem Tee verschüttet hatte.

"Im Wald. Drei Männer. Auf dem Weg hierher. Sie wollen uns alle töten", keuchte Ann atemlos.

Thomas Lippen wurden zu einer dünnen Linie und seine Augen weiteten sich.

"Im Wald?", fragte er und erhob sich.

"Ja", Anns Atmung normalisierte sich langsam. "Julie und ich waren draußen Vögel beobachten. Da sind sie an uns vorbeigekommen. Wir haben uns versteckt und gehört, wie sie planten uns zu überfallen und umzubringen, wenn wir sie bemerkten."

Thomas erstarrte und wurde kreidebleich.

"Annie. Wo ist Julie?", fragte er mit zitternder Stimme.

"Na, bei mir", antworte Ann und schaute sich überrascht um. Ihr Herzschlag setzte aus, als sie bemerkte, dass Julie nicht neben ihr stand.

Blitzartig lief Ann wieder nach draußen, dicht gefolgt von Thomas. Doch Julie war auch vor dem Haus nirgendwo zu sehen.

"Oh Gott, Thomas. Sie muss noch irgendwo im Wald sein", entfuhr es Ann. "Was, wenn sie sie gefunden haben?"

Thomas starrte sie an. Er verlor nur selten die Beherrschung, doch dieses Mal sah sie pure Panik in seinen Augen.

"MURPHY!", brüllte Thomas. "Wir werden sie finden, Ann. Und um diese Banditen kümmere ich mich persönlich."

Ann warf sich ihrem Mann um den Hals und begann, leise zu weinen.

Julie krabbelte auf allen Vieren über den Waldboden. Irgendwo hier musste ihr Schühchen liegen. Sie hatte es verloren, als ihr Fuß im schlammigen Boden stecken geblieben war. Das Leise-Rennen war eine Zeit lang lustig gewesen, doch dann war sie müde geworden und Mutter einfach zu schnell. Da hatte Julie die Lust verloren. Und dann war sie schon wieder hingefallen. Julie war traurig und ihr Knie tat weh. Wieso war ihr Spaziergang nur auf einmal so blöd geworden?

Endlich sah Julie ihren Schuh zwischen den Blättern. Sie sammelte ihn ein und zog ihn mühsam wieder an. Sonst half ihr Mrs. Myers immer beim Anziehen und so wusste sie nicht genau, wie man die kleinen Riemchen öffnete, um den Fuß hineinzubekommen. Doch nach einer Weile hatte sie es auch so geschafft und wackelte stolz mit den Zehen.

"Schaut mal, Mutter. Ich habe mir allein den Schuh angezogen", rief sie in den Wald, ohne aufzusehen.

Sie hob erst den Blick, als Mutter nicht antwortete und sah sich suchend um. Sie war weder vor noch hinter ihr und auch zwischen den Büschen und Sträuchern konnte Julie ihre Mutter nicht ausmachen. Sie bekam es mit der Angst zu tun.

"Mutter?", rief sie noch einmal etwas lauter. "Mutter, wo seid Ihr?"

Noch immer bekam sie keine Antwort.

Julie stand langsam auf. Aus welcher Richtung war sie gekommen? Und wohin hatte sie Mutter laufen sehen? Sie wusste es nicht mehr.

Ängstlich drehte Julie sich um sich selbst. Wohin sie auch schaute, sie fand keinen Anhaltspunkt, der ihr geholfen hätte, den Weg zurück zum Haus zu finden.

"Mutter", rief sie noch einmal mit ängstlicher Stimme. Wo war sie nur hin? Hatte sie nicht gemerkt, dass Julie nicht mehr weiterspielen wollte?

Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie war allein und wusste nicht, was sie tun sollte. Langsam stolperte sie in die Richtung, in der sie das Haus vermutete.

Ein Baum sah aus wie der Nächste und nachdem sie eine Weile gelaufen war und noch immer kein Zeichen vom Haus oder Mutter fand, fing sie verzweifelt an zu weinen.

"Mutter, helft mir doch", schluchzte sie und Tränen trübten ihre Sicht. Sie stolperte über eine große Wurzel und blieb wimmernd am Boden liegen.

Julie wusste nicht, wie lange sie schon im Wald war. Selbst wenn sie eine Uhr gehabt hätte, hätte ihr das nicht geholfen, denn sie konnte die Zahlen auf dem Ziffernblatt noch nicht lesen. Sie bemerkte erst, dass sie schon eine ganze Weile hier sein musste, als langsam die Dämmerung einsetzte. Man würde sie sicher nicht finden können, wenn sie es nicht vor Einbruch der Dunkelheit nach Hause schaffte. Außerdem hatte sie schreckliche Angst vor den Ungeheuern, die nachts durch den Wald schlichen und wollte auf keinen Fall mit ihnen allein sein.

Julie kämpfte sich wieder auf die Beine und setzte ihren Marsch fort. Sie wusste nicht, wohin sie laufen sollte, aber die Angst trieb sie weiter. Plötzlich hörte sie hinter sich das Knacken eines brechenden Astes. Julie erstarrte. Es war doch noch viel zu früh für die Ungeheuer. Oder wollten sie sie so gern fressen, dass sie dafür sogar schon in der Dämmerung herauskamen? Schnell verkroch sie sich hinter einem Baum und wagte nicht, dahinter hervorzuschauen. Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen wartete. So würde das Monster sie sicher nicht finden können.

Plötzlich hörte sie neben sich ein leises Rascheln im Gebüsch. Julie sprang auf und konnte sich einen Schrei nicht verkneifen. Sie stolperte rückwärts und fiel erneut auf ihren Allerwertesten.

"Jetzt frisst mich das Ungeheuer gleich", dachte Julie und kniff ängstlich die Augen zusammen.

Im nächsten Moment spürte sie ein feuchtes Kitzeln an der Hand. Neugierig öffnete sie ein Auge.

Neben ihr schnüffelte ein kleines Wildschwein an ihren Fingern und wühlte dann mit dem Rüssel durch das bunte Laub, wobei es laut raschelte. Julie kicherte. So nah war sie einem solchen Tier noch nie gewesen. Vorsichtig streckte sie ihre Finger aus und streichelte dem Schwein langsam über das borstige Fell. Es fühlte sich ganz anders an, als sie es sich vorgestellt hatte. Bislang hatte Julie Wildschweine nur dann gesehen, wenn Vater und seine Freunde eines bei ihrer jährlichen Jagdgesellschaft hier im Wald erlegten. Das tote Tier wurde anschließend auf einem eigenen Pferd zurück zum Haus gebracht, wo Mrs. Humphries, die Köchin der Myddeltons, es direkt in die Küche bringen ließ. Julie fand, dass die großen Wildschweine ganz schön unheimlich aussahen. Vor allem die mit den großen Zähnen. Aber das kleine hier neben ihr war eigentlich ganz niedlich.

Julie schaute dem Ferkel fasziniert bei der Futtersuche zu und freute sich, als sich plötzlich zwischen den Sträuchern noch zwei weitere Jungtiere zu ihnen gesellten. Julie sammelte eine Buchecker auf, so wie Mutter es ihr gezeigt hatte und hielt sie einem der Ferkel hin. Das Schwein schnupperte daran und schnappte sie sich aus Julies flacher Hand. Sie lachte, als die feuchte Zunge des Tieres über ihre Hand schleckte.

Plötzlich hörte sie ein erneutes Knacken hinter sich. Dieses Mal aber deutlich lauter. Julie drehte sich um und starrte geradewegs in die Augen des größten Wildschweins, das sie jemals gesehen hatte. Es war bestimmt doppelt so groß, wie das Tier, das Vater im letzten Jahr erlegt hatte.

In den Augen des Wildschweins funkelte es gefährlich und von seinen riesigen Hauern tropfte ein langer Speichelfaden. Das Tier erstarrte, als es Julie bemerkte und für einen Moment schauten sich Mädchen und Keiler direkt in die Augen.

Dann atmete das Wildschwein mit einem lauten Grunzen aus und scharrte mit dem Vorderhuf über den Waldboden. Erneut bekam Julie es mir der Angst zu tun. Vater hatte ihr erzählt, dass die großen Wildschweine sehr gefährlich und viel schneller waren als sie.

Julie sprang instinktiv auf und begann zu rennen. Hinter sich hörte sie, wie sich das Wildschwein ebenfalls in Bewegung setzte. Mit jedem Schritt kam der rasselnde Atem des Tieres näher. Es würde nicht lange dauern und es hätte sie eingeholt.

Julie schlug einen Haken und rannte um den nächsten großen Baum. Das Schwein bremste rutschend ab und verlor kurz an Geschwindigkeit. Bereits im nächsten Augenblick hatte es sie aber wieder fest im Blick und rannte mit voller Kraft auf sie zu. Julie kroch unter einem umgestürzten Baum hindurch. Das Schwein folgte ihr. Jetzt war es nur noch wenige Schritte von ihr entfernt. Julie wechselte noch einmal die Richtung, dieses Mal nach links. Sie hörte die schweren Hufe des Schweins hinter sich auf den Erdboden trommeln. Das Grunzen war lauter als alles, was sie bis dahin je gehört hatte. Ihre Kräfte ließen nach und sie wurde immer langsamer. Gleich würde das Schwein sie einholen und niedertrampeln.

Sie stolperte und spürte einen brennenden Schmerz an ihrer Wade. Dann war nur noch Chaos. Alles um sie herum dreht sich. Mal war der Waldboden über ihr, mal unter ihr. Mal sah sie Baumwipfel, mal nicht. Immer weiter und weiter purzelte sie, bis sie irgendwann mit einem dumpfen Aufprall liegen blieb.

Ihr ganzer Körper tat weh und obwohl sie spürte, dass sie auf dem Boden lag, drehte sich noch immer alles um sie herum. Ihre Hände und Knie waren aufgeschürft. Ihr Bein brannte wie Feuer. Und als sie schluckte, schmeckte sie Blut. Vorsichtig öffnete Julie die Augen.

Sie lag am Ende eines großen Abhanges, den sie gerade heruntergefallen sein musste. Oben, am Rand des Hügels, stand wild schnaubend das riesige Wildschwein und starrte sie noch immer an. Für den Moment war sie in Sicherheit, denn offensichtlich traute sich das Tier nicht den Abhang hinab.

Julie versuchte aufzustehen, doch ihr verletztes Bein trug sie nicht. Sie fiel wieder zu Boden und begann bitterlich zu weinen. Die Schatten wurden immer länger und bald war es Nacht. Das war der Moment in dem Julie sich sicher war, dass sie nie wieder nach Hause finden würde. Sie würde hier heute Nacht im Wald sterben.

Julie weinte, bis die Dunkelheit alles um sie herum verschluckte. Es war so finster, dass sie die eigene Hand vor den Augen kaum noch erkennen konnte. Langsam rappelte sie sich auf und schleppte sich mehr kriechend als gehend zu dem nächsten Baum. Überall um sie herum knackte und raschelte es. Der Wind ließ die Bäume rauschen und Julie war sicher, dass jetzt gleich bestimmt die Ungeheuer des Waldes erwachen mussten. Sie zog die Knie eng an sich heran und umschlang ihre Beine mit den Armen. Ihr war kalt und sie zitterte am ganzen Leib.

Plötzlich hörte sie Stimmen. Erst leise, dann immer lauter. Jemand war hier im Wald. Sie erkannte die Stimmen nicht. Warum sollte so spät in der Nacht jemand hier draußen sein? Ängstlich drückte sich Julie so eng an den Baum, wie sie konnte. Etwas entfernt flackerte zwischen den Bäumen ein kleines Licht. Dann noch eins. Und noch eins. Wie Gespenster kamen die Lichter von allen Seiten immer näher und umzingelten sie. Julie hielt den Atem an und wagte nicht, auch nur ein Laut von sich zu geben.

"Hier drüben, schnell", hörte sie eine tiefe Männerstimme rufen. Wer auch immer hier durch den Wald schlich, hatte sie entdeckt. Julie versuchte aufzustehen und wegzulaufen, doch die Schmerzen waren einfach zu groß.

Im nächsten Augenblick spürte sie eine Hand an ihrem Oberarm. Dann packten sie zwei kräftige Arme und zogen sie nach oben.

Im pulsierenden Licht der Fackeln, die nun überall um sie herumstanden, erkannte sie den vertrauten Haarkranz von Mrs. Myers.

"Schnell, holt den Lord und lasst nach dem Doktor schicken. Sie ist verletzt."

Julie war unendlich erleichtert. Sie war in Sicherheit. Sie drückte ihr Gesicht in die Schulter der Hausdame und brach in herzzerreißende Tränen aus.

Mrs. Myers drückte sie so eng an sich, wie sie konnte und erhob sich langsam. Eng umschlungen trug sie Julie vorsichtig die Böschung hinauf.

"Gott sei Dank, ihr habt sie gefunden", hörte Julie die Stimme ihres Vaters. Sie spürte, wie sie zwei große Hände unter den Achseln griffen und nach oben auf ein Pferd zogen. Sofort erkannte sie Thomas' markanten Geruch. Vater legte ihr behutsam eine Hand auf den Bauch und gab dann seinem schwarzen Hengst die Sporen. Sie preschten durch den Wald und nach wenigen Minuten sah Julie durch die Bäume endlich die vertrauten Lichter des großen Hauses.

Thomas ritt noch am gleichen Abend wieder in den Wald, gefolgt von gut einem Dutzend Männer aus dem Dorf. Zuvor hatte er den Stallburschen, Will, höchstselbst hinausgeworfen und von dem Grundstück der Myddeltons verbannt. Der Junge beteuerte verzweifelt seine Unschuld, doch Thomas, rasend vor Wut, ließ nicht mit sich verhandeln.

Die drei Ganoven im Wald mussten sich bei all der Aufregung aus dem Staub gemacht haben. Es fehlte jede Spur von ihnen und auch über die nächsten Tage, sollte es keine weiteren Vorkommnisse geben, die auf ihre Anwesenheit hindeuteten.

3

John wusste nicht mehr, wie lange er schon in dieser Wanne saß. Stunden, Wochen, es könnten auch Monate sein. Er hatte schon lange jegliches Zeitgefühl verloren. Alles, was er wusste, war, dass er, wenn er nicht in dieser Wanne sitzen musste, Medikamente verabreicht bekam und dann einschlief. Bis er wenig ausgeruht geweckt und wieder in die Wanne gesetzt wurde. Tag für Tag für Tag.

Bis auf seinen Kopf steckte sein gesamter Körper in dem übergroßen gusseisernen Eimer, der bis oben hin mit warmen Wasser gefüllt war. Er spürte bereits, wie sich nach all der Zeit in dem Wasser, die Haut langsam von seinen Füßen löste. Auf der Wanne war eine Art Deckel, der an den Seiten mit Lederriemen befestigt wurde. So konnte er weder seine Arme noch seine Beine heben. Nur für den Hals gab es eine scharfkantige Aussparung, die den Eindruck machte, als wäre sie mit roher Gewalt aus dem Metall gerissen worden. Ein breiter Lederriemen drückte unangenehm auf seiner Stirn und fixierte seinen Kopf, so dass er sich kaum umsehen konnte. Das Einzige, was sich von seiner Position aus erspähen ließ, waren die kleinen weißen Fliesen an der Wand gegenüber. Die Decke lag außerhalb seines Sichtfelds, doch sie schien recht hoch zu sein. Den Fußboden, der ebenfalls weiß gefliest war, verfolgte er jedes Mal, wenn die beiden kräftigen Männer ihn an den Armen aus der Wanne zogen und seinen schlaffen Körper in das Bett schleppten. Ob es Fenster in dem Raum gab, vermochte er nicht mit Sicherheit zu sagen. Das Licht schien konstant gleich zu bleiben. Doch da er nicht wusste, ob er erst seit ein paar Minuten oder schon Tagen hier drin war, konnte er nicht einschätzen, ob er den Sonnenstand am Lichteinfall hätte ablesen können müssen oder es in seiner Zelle schlicht kein natürliches Licht gab.

Wo er war, wusste John aber. Und auch, wie es so weit hatte kommen können.

Alles begann an dem Tag, an dem er Lucas und Matthew kennenlernte. John war zu der Zeit ungefähr sechs Jahre alt und spielte im Hof mit den Murmeln, die Mutter ihm von Tante Meredith mitgebracht hatte. Johns Familie war nie wohlhabend gewesen. Sein Vater arbeitete als einfacher Fabrikarbeiter in einer großen Stahlfabrik, die Schienen für die Eisenbahnstrecke herstellte, welche später einmal London mit Cardiff verbinden sollte. Seine Mutter kümmerte sich um ihn und seine fünf Geschwister. Vor allem die beiden jüngsten, die Zwillinge, nahmen dabei viel von Mutters Aufmerksamkeit in Anspruch, da sie ständig vor sich hin kränkelten. Dadurch musste sich John schon früh um sich selbst kümmern und verbrachte viel Zeit allein in den Straßen des East Ends.

Die Brüder Lucas und Matthew hatten wenige Jahre zuvor ihre Eltern an ein Fieber verloren. Als John sie kennenlernte, war Matthew zehn Jahre alt und Lucas sieben-Dreiviertel, wie er jedes Mal betonte, wenn ihn jemand nach seinem Alter fragte. Die beiden Jungen lebten von gestohlenen Lebensmitteln und schliefen, um nicht aufzufallen, jeden Tag an einer anderen Stelle in der Stadt. Eigentlich suchten sie gerade einen geeigneten Schlafplatz, als sie auf John stießen.