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Antony Beevor

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Beschreibung

»Ein Meisterwerk der Geschichtsschreibung und zugleich eine schmerzliche Lektion für die Gegenwart« (Daily Telegraph)

Beklemmend aktuell mutet die Geschichte Russlands von 1917 bis 1921 an – vom Zusammenbruch des Zarenreichs über die Oktoberrevolution bis zum Bürgerkrieg zwischen »Roten« und »Weißen« –, als sich auch auf dem Boden der Ukraine im Kampf um Vorherrschaft und Einflusssphären brutalste Gewalt entlädt. Gestützt auf eine Fülle neuester Archivfunde, zeichnet Antony Beevor ein ebenso dichtes wie weitgefasstes Panorama dieser welthistorischen Epoche mit einer kaum überschaubaren Zahl an Kombattanten, die sich auf einem Terrain von Warschau bis Wladiwostok, vom Polarkreis bis zu den Grenzen des Osmanischen Reiches gegenüberstanden. In seiner eindringlichen Gesamtschau dieser Jahre erweist sich Beevor erneut als fesselnder Erzähler, der die komplexen und monströs blutigen Ereignisse mit großer epischer Kraft ordnet und aus einer Vielzahl von Perspektiven lebendig werden lässt.

Mit zahlreichen Abbildungen und Karten.

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Seitenzahl: 995

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Buch

Beklemmend aktuell mutet die Geschichte Russlands von 1917 bis 1921 an – vom Zusammenbruch des Zarenreichs über die Oktoberrevolution bis zum Bürgerkrieg zwischen »Roten« und »Weißen« –, als sich auch auf dem Boden der Ukraine im Kampf um Vorherrschaft und Einflusssphären brutalste Gewalt entlädt. Gestützt auf eine Fülle neuester Archivfunde, zeichnet Antony Beevor ein ebenso dichtes wie weitgefasstes Panorama dieser welthistorischen Epoche mit einer kaum überschaubaren Zahl an Kombattanten, die sich auf einem Terrain von Warschau bis Wladiwostok, vom Polarkreis bis zu den Grenzen des Osmanischen Reiches gegenüberstanden. In seiner eindringlichen Gesamtschau dieser fünf Jahre erweist sich Beevor erneut als fesselnder Erzähler, der die komplexen und monströs blutigen Ereignisse mit großer epischer Kraft ordnet und aus einer Vielzahl von Perspektiven lebendig werden lässt.

Autor

Sir Antony Beevor, Jahrgang 1946, ist mit seinen in zahlreiche Sprachen übersetzten Büchern weltweit der erfolgreichste Autor zu historischen Themen. Er wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Wolfson History Prize, dem Samuel-Johnson-Preis und dem Pritzker Literature Award, und 2017 für seine Verdienste in den Adelsstand erhoben. Auf Deutsch sind von ihm die Bestseller erschienen: »Stalingrad« (1999), »Berlin 1945 – Das Ende« (2002), »Der Spanische Bürgerkrieg« (2006), »D-Day« (2010), »Der Zweite Weltkrieg« (2014), »Die Ardennen-Offensive 1944« (2016) und »Arnheim« (2019).

Antony Beevor

RUSSLAND

Revolution und Bürgerkrieg 1917–1921

Aus dem Englischen übertragen von Jens Hagestedt

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel Russia. Revolution and Civil War, 1917–1921bei Weidenfeld & Nicolson, London.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

© 2022 by Ocito Ltd.

© 2023 für die deutschsprachige Ausgabe by C.Bertelsmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-29905-7V003

www.cbertelsmann.de

Für Luba Winogradowa

Inhalt

Vorwort

TEIL EINS: 1912 bis 1917

1 Der Selbstmord Europas 1912 bis 1916

2 Die Februarrevolution Januar bis März 1917

3 Der Sturz des Doppeladlers Februar/März 1917

4 Von der Autokratie zum Chaos März/April 1917

5 Die schwangere Witwe März bis Mai 1917

6 Die Kerenski-Offensive und die Julitage Juni/Juli 1917

7 Kornilow Juli bis September 1917

8 Der Oktoberputsch September bis November 1917

9 Kreuzzug der Jungen – die Revolte der Junker Oktober/November 1917

10 Der Kindsmord an der Demokratie November/Dezember 1917

TEIL ZWEI: 1918

11 Die Form zerbrechen Januar/Februar 1918

12 Brest-Litowsk Dezember 1917 bis März 1918

13 Der Eismarsch der Freiwilligenarmee Januar bis März 1918

14 Die Deutschen marschieren ein März/April 1918

15 Feinde an der Peripherie Frühjahr/Sommer 1918

16 Die Revolte der Tschechen und der linken Sozialrevolutionäre Mai bis Juli 1918

17 Roter Terror Sommer 1918

18 Kämpfe an der Wolga und die Rote Armee Sommer 1918

19 Von der Wolga bis Sibirien Herbst 1918

20 Die Mittelmächte ziehen ab Herbst/Winter 1918

21 Das Baltikum und Nordrussland Herbst/Winter 1918

TEIL DREI: 1919

22 Der verhängnisvolle Kompromiss Januar bis März 1919

23 Sibirien Januar bis Mai 1919

24 Don-Region und Ukraine April bis Juni 1919

25 Murmansk und Archangelsk Frühling/Sommer 1919

26 Sibirien Juni bis September 1919

27 Baltischer Sommer Mai bis August 1919

28 Der Marsch auf Moskau Juli bis Oktober 1919

29 Baltische Überraschung Herbst 1919

30 Sibirischer Rückzug September bis Dezember 1919

31 Der Wendepunkt September bis November 1919

32 Rückzug im Süden November/Dezember 1919

TEIL VIER: 1920

33 Der große sibirische Eismarsch Dezember 1919 bis Februar 1920

34 Der Fall von Odessa Januar 1920

35 Der Schwanengesang der weißen Kavallerie Januar bis März 1920

36 Wrangel übernimmt das Kommando, die Polen erobern Kiew Frühling/Sommer 1920

37 Die Polen im Westen, Wrangel im Süden Juni bis September 1920

38 Das Wunder an der Weichsel August/September 1920

39 Die Riviera des Hades September bis Dezember 1920

40 Der Tod der Hoffnung 1920/1921

Nachwort: Des Teufels Lehrling

ANHANG

Dank

Kartenverzeichnis

Glossar

Abkürzungen/Transliteration

Anmerkungen

Literatur

Register

Vorwort

Im Januar 1902 berichtete der Herzog von Marlborough seinem Cousin ersten Grades Winston Churchill brieflich von einem Hofball, an dem er in Sankt Petersburg teilgenommen hatte. Marlborough äußerte seine Verwunderung über die anachronistische Vornehmheit, in der der Zar von ganz Russland sich zu gefallen schien. Er beschrieb Nikolaus II. als einen »freundlichen und liebenswürdigen Mann, der versucht, die Rolle eines Autokraten zu spielen«.1

Der Empfang sei all der pomphaften Pracht von Versailles würdig gewesen. »Für fast dreitausend Personen wurde Abendbrot serviert. Der Eindruck, den es macht, so viele Menschen gleichzeitig Platz nehmen zu sehen, ist schwer zu beschreiben. Du kannst aber die Großartigkeit der Veranstaltung erahnen, wenn ich Dir sage, dass die Gäste von insgesamt etwa zweitausend Dienern bedient wurden, unter denen sich neben Kosaken und Mamelucken auch Läufer [Lakaien] wie im England des 18. Jahrhunderts befanden, mit riesigen Straußenfederhüten auf dem Kopf. In jedem Raum befand sich eine Regimentskapelle, damit überall, wohin immer der Zar sich begeben mochte, die Nationalhymne gespielt werden konnte. […] Es gab noch eine weitere Ehrengarde, deren Aufgabe es offenbar war, fünf Stunden lang ununterbrochen die Schwerter zu präsentieren.«2

Als Marlboroughs junge Ehefrau Consuelo Vanderbilt den Zaren bei einem späteren Abendessen fragte, ob es möglich sei, in Russland die Demokratie einzuführen, antwortete er: »In der Entwicklung unserer nationalpolitischen Einrichtungen sind wir zweihundert Jahre hinter Europa zurück. Russland ist immer noch eher asiatisch als europäisch und braucht darum eine autokratische Regierung.«3

Marlborough war auch über die Eigenheiten der Garderegimenter erstaunt, die das Militärsystem beherrschten. »Der Großherzog Wladimir, der einem Teil der Armee vorsteht, lässt sich die Rekruten vorführen. Männer mit Stupsnase kommen in das von Kaiser Paul, der eine Stupsnase besaß, geschaffene Pawlowski-Regiment.«4

Etikette, Protokoll und Bürokratie waren nicht nur am Hof, sondern auch in der Kaiserlich Russischen Armee archaisch. Hauptmann Archie Wavell, der spätere Feldmarschall, stellte als junger Offizier der Black Watch[1] bei einem Einsatz in Russland kurz vor dem Ersten Weltkrieg fest, dass selbst Stabsoffiziere Angst hatten, Initiative zu ergreifen. Als »Beispiel für den Konservativismus der russischen Armee« nannte er »die Gepflogenheit [der Soldaten], das Bajonett stets auf dem Gewehr befestigt zu tragen«.5 Dies ging auf einen Befehl zurück, den Marschall Suworow Ende des 18. Jahrhunderts gegeben hatte, nachdem eine russische Kolonne in einen Hinterhalt geraten und vernichtet worden war.

Russische Offiziere betrachteten es als Schande, ohne Uniform gesehen zu werden. Ein Dragonerhauptmann, der Wavell über die Gepflogenheiten in der britischen Armee befragte, konnte nicht glauben, dass deren Offiziere außerhalb des Dienstes Zivilkleidung trugen und in der Öffentlichkeit keine Schwerter mit sich führten. »Aber dann haben die Leute doch keine Angst vor Ihnen«,6 platzte er heraus. Ein zaristischer Offizier hatte auch das Recht, jedem seiner Soldaten zur Strafe ins Gesicht zu schlagen.

Wavell war nicht überrascht zu erfahren, dass die russische Intelligenzija die Herrscher als »bürokratische Unterdrücker« betrachtete; »sie misstraute der Polizei und verachtete die Armee«.7 Nach den demütigenden Katastrophen des Russisch-Japanischen Krieges von 1904/05 und dem an den Teilnehmern von Pater Georgi Gapons friedlichem Protestmarsch zum Winterpalast im Januar 1905 verübten Massaker hatte sie den Respekt vor dem Regime und den Streitkräften verloren. »Russland schwenkte über Nacht nach links«, schrieb Nadeschda Lochwizkaja unter ihrem Pseudonym »Teffi«. »Unter den Studenten kam es zu Unruhen, Arbeiter streikten. Selbst alte Generäle schnaubten, wenn die Rede darauf kam, wie unwürdig das Land regiert wurde; sie kritisierten auch den Zaren scharf.«8

Als Gegenleistung für seine großen Privilegien wurde vom Adel erwartet, dass er seine Söhne der Armee als Offiziere und der Verwaltung in Sankt Petersburg als Beamte zur Verfügung stellte. Und die dreißigtausend Grundbesitzer sollten durch lokale »Landeshauptmänner« die Ordnung auf dem Lande aufrechterhalten.

Die Befreiung der Leibeigenen 1861 hatte wenig zur Verbesserung von deren verzweifelter Lage beigetragen. »Unsere Landbevölkerung lebt unter schrecklichen Bedingungen und ohne organisierte medizinische Versorgung«, schrieb Maxim Gorki. »Die Hälfte aller Bauernkinder stirbt, bevor sie fünf Jahre alt sind, an Krankheiten. Fast alle Frauen auf dem Dorf leiden an Frauenkrankheiten. Die Dörfer verfaulen infolge von Syphilis; sie sind in Elend, Unwissenheit und Verwilderung versunken.«9 Die Frauen litten auch unter der Gewalttätigkeit ihrer Männer, vor allem wenn diese betrunken waren.

Die Vorstellung, der derbe russische Bauer könnte Teil einer unwiderstehlichen militärischen Dampfwalze werden, war eine Illusion. In Friedenszeiten wurden drei von vier jungen Bauern aus gesundheitlichen Gründen abgelehnt. Die Offiziere klagten über die Einstellung der Wehrpflichtigen, die während des Ersten Weltkriegs eintrafen. In einem Bericht der 2. Armee heißt es: »Es ist erbärmlich, kommt aber ziemlich häufig vor, dass sich die unteren Dienstgrade selbst Wunden zufügen, um dem Kampf zu entgehen. In vielen Fällen ergeben sie sich dem Feind.« Der Bericht bezeichnete sie als »ordinäre Muschiks«: »Sie starren gleichgültig, blöde und finster vor sich hin, statt ihrem Kommandeur fröhlich und vergnügt in die Augen zu schauen.«10 Im Grunde verhielt sich der russische Bauer in Uniform gemäß der Taktik, die die britische Armee als »stupide Unverschämtheit« zu bezeichnen pflegte.

Selbst aufgeklärte Angehörige der Oberschicht und des Adels fürchteten die »finsteren Massen« und ihre gelegentlichen Ausbrüche furchtbarer Gewalt, zu denen es etwa bei dem nach ihrem Anführer Jemeljan Pugatschow benannten Bauernaufstand von 1773 gekommen war. »Bewahre uns Gott vor einem russischen Aufstand, sinnlos und erbarmungslos!«, schrieb Alexander Puschkin.11 Während der Unruhen und Brandschatzungen, die 1905 auf die Katastrophen des Russisch-Japanischen Krieges folgten, bestand die einzige Hoffnung der Gutsbesitzer darin, dass der örtliche Gouverneur Truppen aus einer der zahlreichen Garnisonsstädte entsenden würde.

Die berühmt-berüchtigte Bemerkung, die Karl Marx und Friedrich Engels im Kommunistischen Manifest über die »Idiotie des Landlebens« gemacht haben, womit sie auch die Leichtgläubigkeit, Apathie und Unterwürfigkeit der Bevölkerung meinten, hatte auch über die Bauerndörfer hinaus ihre Berechtigung. Das Leben in kleinen Provinzstädten konnte fast genauso verblöden. Satiriker wie Saltykow-Schtschedrin und Gogol blickten unter die trübe Oberfläche des stehenden Gewässers. Saltykow, ironischerweise ein Lieblingsautor Lenins, beschwor auch »die verheerende Wirkung der legalisierten Sklaverei auf die menschliche Seele«,12 eines Phänomens, das sowohl in der zaristischen als auch in der sowjetischen Ära zu beobachten war. Leo Trotzki machte dafür die geistige Zwangsjacke der orthodoxen Kirche verantwortlich. Er behauptete, eine Revolution werde nur dann möglich sein, wenn das Volk von den »Ikonen und Kakerlaken« des Heiligen Russlands genug habe.

Bemühungen um eine Bodenreform führten nur in einigen Gebieten zu Ergebnissen. Im Unterschied zum Landbesitz von Graf Dmitri Scheremetew, dem großen Magnaten des 19. Jahrhunderts, der rund 760000 Hektar mit etwa dreihunderttausend Leibeigenen besaß,13 waren die meisten Ländereien klein und verarmt. Selbst wenn sie es gewollt hätten, hätten nur sehr wenige Gutsbesitzer es sich leisten können, die Wohnverhältnisse zu verbessern oder auch nur die einfachste Form der Mechanisierung einzuführen. Viele sahen sich stattdessen gezwungen, ihren Besitz zu verkaufen oder zu verpfänden. Die persönlichen Beziehungen wurden zunehmend künstlich und angespannt. Die ärmeren Bauern blieben Analphabeten, was bedeutete, dass sie sowohl von den Dorfältesten als auch von den Getreidehändlern ausgebeutet und von vielen Grundbesitzern, die ob ihres Machtverlusts voller Ressentiments waren, schlecht behandelt wurden. Unterwürfige Pächter, die sich vor ihren adligen Herren verneigten, nutzten infolgedessen jede Gelegenheit, sie zu betrügen, sobald jene ihnen den Rücken kehrten.

Die Abwanderung in die Städte beschleunigte das Wachstum der Arbeiterklasse, des Proletariats, das die Marxisten als Vorhut der Revolution betrachteten. Die Einwohnerzahl von Sankt Petersburg, die um die Jahrhundertwende nur gut eine Million betrug, stieg bis Ende 1916 auf mehr als drei Millionen. Die Arbeitsbedingungen in den Fabriken waren haarsträubend, und sie waren gefährlich. Die Arbeiter wurden von den Eigentümern als austauschbar angesehen, da so viele Bauern darauf warteten, ihren Platz einzunehmen. Es gab kein Streikrecht und keine Entschädigung bei Entlassung. Bei Streitigkeiten schlug die Polizei sich stets auf die Seite der Fabrikbesitzer. Viele sahen darin eine Art Leibeigenschaft in der Stadt. Die Arbeiter schliefen in Kasernen, billigen Absteigen und Mietshäusern inmitten von Schmutz und Krankheit. »In den Städten gibt es keine Kanalisation«, schrieb Gorki. »Die Fabrikschornsteine haben keine Rauchfänge; der Boden im Freien ist durch das Miasma verrottender Abfälle vergiftet, die Luft durch Rauch und Staub.«14 Das dicht gedrängte Zusammenwohnen erleichterte die Verbreitung von Tuberkulose und Geschlechtskrankheiten, gelegentlich brachen sogar Cholera- und Typhusepidemien aus. Die Lebenserwartung war so niedrig wie in den ärmsten Dörfern. Die einzige Freiheit lag im untersten Kreis der Hölle, den das Lumpenproletariat der Arbeitslosen bewohnte – das Leben in dieser unterirdischen Welt der Kinderprostitution, der kleinen Diebstähle und der Schlägereien unter Alkoholeinfluss war schlimmer als alles, was Dickens, Hugo und Zola je beschrieben haben. Die einzige Katastrophe, die das Leben der Armen in Russland weiter verschlimmern konnte, war ein großer europäischer Konflikt.

[1] Bataillon des Royal Regiment of Scotland, eines Infanterieregiments der britischen Armee. (Anm. d. Übers.)

Teil eins 1912 bis 1917

2 Die Februarrevolution Januar bis März 1917

Dass das Geschehen auf eine Revolution zusteuerte, war allen klar – außer denen, die bewusst die Augen schlossen. Fraglich war nur, ob sie während des Krieges oder erst nach dessen Ende kommen würde. General Michail Alexejew, der Chef des Generalstabs, hatte dem Zaren einen Bericht vorgelegt, in dem er empfahl, die Fabriken samt ihren Arbeitern aus der Hauptstadt zu verlegen. Nikolaus II. schrieb auf diesen Bericht, der auf dem speziellen blauen »Zaren-Papier« des Oberkommandos getippt worden war: »Die gegenwärtige Situation rechtfertigt diese Maßnahme nicht, die im Hinterland nur Panik und Unruhe auslösen könnte.«1 Alexejews einfache Lösung war kaum praktikabel, da mehr als dreihunderttausend Industriearbeiter aus Petrograd hätten umgesiedelt werden müssen,2 aber weder er noch der Zar ahnten damals, dass die eigenen Truppen in der Hauptstadt eine ähnliche Gefahr darstellten.

Aufgrund der enormen bisherigen Verluste während des Krieges waren viele Fähnriche der Reserve antimonarchistisch eingestellt, hatten also nichts mehr mit der Vorkriegsarmee gemein. »Die meisten waren ehemalige Studenten«, stellte ein Berufsoffizier fest. »Es gab unter ihnen viele junge Juristen. Die Brigade wurde zu einem Studentenwohnheim, mit Kundgebungen, Resolutionen und Protesten. Den Berufsoffizier betrachteten diese Leute als eine Art prähistorisches Tier.«3 Die meisten Fähnriche oder Praporschtschiki4 waren ehemalige, in ihren jetzigen Rang beförderte einfache Soldaten und stammten aus kleinbürgerlichen Verhältnissen, was ihren Unmut über die Arroganz des Offiziers alter Schule eher noch verstärkte.

Informierte Kreise in Petrograd schlossen die Möglichkeit einer größeren Meuterei nicht aus. Bei einem Abendessen, zu dem die Mätresse eines Fürsten geladen hatte, diskutierten Großfürsten, hohe Offiziere und der französische Botschafter Maurice Paléologue darüber, bei welchen Garderegimentern in der Hauptstadt mit Loyalität zu rechnen sei. Optimismus war an diesem Abend Mangelware. »Zum Abschluss tranken wir auf das Wohl des Heiligen Russland«, notierte der Botschafter in seinem Tagebuch.5

Am nächsten Tag hörte Paléologue bedrückt, aber nicht überrascht, mit an, wie die Zarin jeden Versuch zurückwies, ihr die existenzielle Bedrohung der Monarchie vor Augen zu führen. »Im Gegenteil«, erwiderte sie der Großfürstin Viktoria Fjodorowna, »ich weiß jetzt zu meiner großen Freude, dass ganz Russland, das wahre Russland, das Russland der einfachen Leute und der Bauern, hinter mir steht.«6 Dieser Glaube beruhte auf (zum Teil vielleicht gefälschten) unterwürfigen Briefen, die ihr auf Anweisung von Innenminister Alexander Protopopow täglich von der Geheimpolizei Ochrana übergeben wurden. Protopopow, der auf Empfehlung Rasputins ernannt worden war, galt aufgrund einer fortgeschrittenen Syphilis als psychisch labil.

Die Schwester der Zarin, die Äbtissin des Moskauer Martha-und-Maria-Klosters, wurde vom Zarenpaar sogar aufgefordert, das Haus zu verlassen, als sie »die wachsende Verärgerung der Moskauer Gesellschaft« erwähnte. Mitglieder der erweiterten Romanow-Familie waren entsetzt über diese Weigerung zu sehen, was geschah. Sie kamen zusammen, um einen gemeinsamen Brief an den Zaren und die Zarin zu verfassen.

In der russischen Silvesternacht suchte der hochgewachsene und elegante britische Botschafter Sir George Buchanan den Zaren auf. Seine kaiserliche Majestät hatte offenbar eine klare Vorstellung von dem, was Buchanan zu sagen beabsichtigte. Statt ihn in sein Arbeitszimmer zu bitten, um dort gemeinsam mit ihm zu sitzen und zu rauchen, wie er es gewöhnlich tat, empfing er ihn steif und stehend im Audienzsaal.

Sir George brachte zunächst zum Ausdruck, wie besorgt König Georg V. und die britische Regierung über die Lage in Russland seien. Dann fragte er, ob er offen sprechen dürfe. »Ich höre«, antwortete der Zar knapp.7 Buchanan sprach also offen, und zwar über die chaotische Kriegsführung, die zu so vielen Opfern geführt hatte. Er mahnte, ein Politiker aus der Duma sollte an der Spitze der Regierung stehen, nicht ein vom Zaren ernannter. Die einzige Überlebenschance des Regimes bestehe darin, »die Schranke, die Sie von Ihrem Volk trennt, niederzureißen und das Vertrauen der Nation wiederzugewinnen«. Der Zar wurde noch steifer. »Meinen Sie, ich müsse das Vertrauen meines Volkes wiedergewinnen, oder mein Volk habe mein Vertrauen wiederzugewinnen?«8[9] Buchanan warf sogar, wenn auch mit erlesener Höflichkeit, die Frage nach feindlichen Agenten und germanophilen Einflüssen im Umfeld der Zarin auf. Er sagte, es sei seine Pflicht, »Euere Majestät vor dem Abgrund zu warnen, der sich vor Ihnen auftut«.9 Plötzlich bemerkte er, dass die Tür zu den Privatgemächern einen Spalt offen stand. Er spürte, dass die Zarin jedes Wort mithörte.

Der Tanz unter dem Vulkan ging in diesem eisigen Petrograder Januar weiter. Paléologue sah am nächsten Abend in einem angesagten Restaurant eine bekannte geschiedene Frau an einem Nachbartisch, umgeben von nicht weniger als drei jungen Offizieren der Chevaliergarde des Zaren. Sie war inhaftiert gewesen, weil man sie verdächtigt hatte, an der Ermordung Rasputins beteiligt gewesen zu sein, und gerade entlassen worden. Von der Polizei um den Schlüssel zu ihrem Schreibtisch gebeten, hatte sie gesagt, die Beamten würden nur Liebesbriefe finden. »Jeden Abend, oder besser gesagt: jede Nacht«, schrieb der Botschafter in sein Tagebuch, »wird bis zum Morgengrauen gefeiert: Theater, Ballett, Abendessen, Zigeuner, Tango, Champagner.«10

Während sich viele der Reichen in der Hauptstadt vergnügten, als gäbe es den Krieg nicht, führte die Brotknappheit in den ärmeren Vierteln Petrograds zu Unruhen. »Es bildeten sich Schlangen«, berichtete ein Marinekadett. »Wenn eine Schlange von etwa zehn Personen anstand und der Bäcker seinen Laden nicht öffnete, flogen Ziegelsteine, und man hörte das Geräusch von splitterndem Glas. Kosakenpatrouillen, die kamen, um den Schein zu wahren, lachten nur.«11

In Russland herrschte damals kein Mangel an Getreide. Das Problem war das überlastete Eisenbahnsystem, das an diesem rauen Jahresbeginn mit bitteren Frösten und starken Schneefällen zu kämpfen hatte. Etwa 57000 Waggons konnten nicht bewegt werden, und viele Lokomotiven waren festgefroren.12 Auch waren die Preise für Lebensmittel und Brennstoffe viel schneller gestiegen als die Löhne. Dennoch hatte das Jahr 1917 mit weniger Streiks begonnen als das Jahr davor. Generalmajor Konstantin Iwanowitsch Globatschow, der Leiter der Ochrana, erklärte, die Regierung habe Glück gehabt, dass die Arbeitskämpfe nicht koordiniert gewesen seien. »Wir waren nie mit einem Generalstreik konfrontiert«, schrieb er.13 Auf den brauchte er nicht mehr lange zu warten.

Globatschow musste mit dem zunehmend labilen Innenminister Alexander Protopopow auskommen, der abergläubisch war und völlig unter dem Einfluss der Zarin stand, dem es aber im Vormonat nicht gelungen war, Rasputin eindringlich genug vor dem tödlichen Hinterhalt zu warnen, der ihn im Jussupow-Palast erwartete. In Petrograd war Protopopow eine Witzfigur. Da seinem Ministerium das Gendarmeriekorps unterstellt war, hatte er sich eine Gendarmerie-Uniform schneidern lassen – allerdings mit zivilen Schulterstücken. Ein Auftritt in der Duma in dieser Tracht hatte schallendes Gelächter ausgelöst.

Protopopow begriff den Unterschied zwischen politischen Parteien und revolutionären Gruppierungen in der Hauptstadt nicht, mochten seine Untergebenen sich noch so viel Mühe geben, ihn ihm zu erklären. Er musste auch an den bevorstehenden Jahrestag des Blutsonntags am 9. Januar 1905 erinnert werden, ein wichtiges Ereignis im Kalender der Linken, das mit einem größeren Streik begangen werden sollte. Dieser Jahrestag erinnerte an den Tag, an dem an den Teilnehmern des friedlichen Marsches von Pater Georgi Gapon zur Überreichung einer Petition für Reformen ein Massaker durch schweres Gewehrfeuer verübt worden war.

Die Ochrana war sich auch der Loyalität der riesigen Petrograder Garnison, die insgesamt etwa 180000 Mann umfasste, nicht sicher. Protopopow erklärte sich bereit, ein Treffen mit den Kommandeuren des Petrograder Militärbezirks, General Chabalow, einem Offizier, der nicht klar denken konnte, und Generalleutnant Tschebikin, der von seinen Aufgaben nur vage Vorstellungen hatte, abzuhalten. Auf Globatschows Frage, ob die Soldaten loyal seien, antwortete Tschebikin, der Chef der Reserveeinheiten: »Da bin ich sicher«,14 obwohl er offensichtlich keine Ahnung hatte.

Globatschow war sich des Mangels an erfahrenen Offizieren und Unteroffizieren durchaus bewusst. Die meisten guten Offiziere waren an der Front gefallen oder zu Krüppeln geworden. Die Reservebataillone der Garde in Petrograd litten unter dem, was der Schriftsteller Wiktor Schklowski als »Kasernentrübsinn« und »schwarze Langeweile« bezeichnet hat. Der Petrograder Soldat von 1917 »war ein unzufriedener Bauer oder ein unzufriedener Kleinbürger«. Er fand sich in überfüllten Kasernen wieder, die »nur mehr gemauerte Pferche« waren und deren Erkennungszeichen »der saure Geruch der Unfreiheit« war.15

Globatschow verfasste einen Bericht über die Stimmung der Soldaten in der Petrograder Garnison. Eine Abschrift ging an die Stawka. General Alexejew erklärte sich bereit, einige Einheiten durch ein Gardekavalleriekorps zu ersetzen, was jedoch aufgrund einer deutschen Offensive an der rumänischen Front nicht verwirklicht wurde. Verschlimmert wurde die Lage dadurch, dass die Temperaturen im Februar weiter, bis auf minus 20 Grad, gefallen waren. Infolge des Treibstoffmangels in Petrograd kamen Gerüchte auf, Brot solle rationiert werden. Das führte zu Panikkäufen, so dass Frauen bei hartem Frost gezwungen waren, in Schlangen anzustehen, für die dann nie genügend Brot vorhanden war. Die Treibstoffknappheit hatte auch zur Folge, dass in vielen Fabriken Arbeiter ohne Lohn entlassen wurden – so auch im riesigen Putilow-Werk, das am 21. Februar seine Tore schloss.

[9] Buchanan hatte unmittelbar nach seinem Gespräch mit dem Zaren seinem befreundeten Kollegen Paléologue davon erzählt. Es fällt auf, dass die Version, die Paléologue in seinem Tagebuch niederschrieb, viel kühler ist und damit endet, dass der Zar Buchanan entlässt: »Adieu, Monsieur l’ambassadeur« (Paléologue, S. 563). Buchanans Bericht in seinen Memoiren endet eher weniger überzeugend mit herzlichem Dank und einem sehr herzlichen, gefühlvollen Händedruck. Der Zar hat das Treffen in seinem privaten Tagebuch nicht erwähnt; Gespräche mit Botschaftern notierte er allerdings nur selten.

Nachdem er etwas mehr als zwei Monate im Alexander-Palast in Zarskoje Selo verbracht hatte, begab sich Nikolaus II. am Mittwoch, dem 22. Februar, erneut in die Stawka im weißrussischen Mogiljow. Im kaiserlichen Zug las er in einer französischen Übersetzung von Cäsars Gallischem Krieg. Er hatte in den letzten Wochen mehrfach Versuche Michail Rodsjankos, des Präsidenten der Staatsduma, zurückgewiesen, ihn zur Ernennung von Ministern des Progressiven Blocks zu bewegen, um einen Aufstand abzuwenden. Der absonderliche Protopopow hatte ihm einmal mehr versichert, die Hauptstadt sei in sicheren Händen.

Der nächste Tag, der 23. Februar, war der Internationale Frauentag.16 Er markierte den Beginn des revolutionären Prozesses. Ein plötzlicher Wetterumschwung hatte Sonnenschein gebracht, so dass die Straßen Petrograds nach Wochen bitterer Kälte und bewölkter Himmel noch stärker bevölkert waren als sonst. An der organisierten Demonstration beteiligten sich verschiedene Frauengruppen. Einige protestierten gegen die Lebensmittelknappheit und skandierten »Brot! Brot! Brot!«, aber auch die russische Liga für die Gleichberechtigung der Frauen verschaffte sich Gehör; sie versammelte sich auf dem Znamenskaja-Platz. Die Russinnen kämpften schon neun Jahre für das Frauenwahlrecht, doch nur vier Wochen später, nach einer Großdemonstration von fast vierzigtausend Frauen, sollte es ihnen von der kommenden provisorischen Regierung zugestanden werden. Sie bekamen es damit eher als die Frauen in Großbritannien und den Vereinigten Staaten und sogar siebenundzwanzig Jahre früher als die Frauen in Frankreich.[10]

Die beiden längsten Demonstrationszüge am 23. Februar zogen aus unterschiedlichen Richtungen zum Newski-Prospekt. Abgesehen davon, dass es zu kleineren Tumulten kam und dass Straßenbahnfenster eingeschlagen wurden, schienen die berittenen Kosaken und die verhassten Polizisten in ihren schwarzen Uniformen die Lage unter Kontrolle zu haben. GlobatschowsOchrana stellte jedoch eine veränderte Haltung der Kosaken fest. Diese schienen Konfrontationen jetzt aus dem Weg zu gehen, was untypisch für sie war. Einige Soldaten stellten eine Gruppe von Kosaken, die in ihrer Kaserne verköstigt wurden, zur Rede: »Werdet ihr Arbeiter und jene Soldaten, die sich den Massen anschließen, wieder auspeitschen und erschießen wie 1905?« Die Antwort überraschte sie: »Nein! 1905 wird sich niemals wiederholen! Wir werden nicht gegen die Arbeiter vorgehen. Wofür denn? Für diese Linsensuppe und den verfaulten Hering?«, fragten sie und deuteten angewidert auf ihre Schüsseln.17

Am Freitag, dem 24. Februar, war die Stimmung anders. Mehr als hundertfünfzigtausend Arbeiterinnen und Arbeiter – manche sprechen von fast zweihunderttausend – traten in Streik, und die Läden wurden mit Brettern vernagelt. Zehntausend Demonstranten aus dem Bezirk Wyborg versammelten sich am Nordufer der Newa, aber die Behörden hatten die Brücken gesperrt. Da der Fluss zugefroren war, gingen viele auf dem Eis hinüber, um die Kosaken- und Polizeiposten zu umgehen. Die Wagemutigsten nahmen es mit den Polizeiketten auf. Einige krabbelten oder gingen geduckt unter den Bäuchen der kleinen Kosakenponys hindurch; sie hatten gesehen, dass die Kosaken ihre tödlichen Nagaika-Peitschen aus Bullenhaut nicht dabeihatten.

Sergei Prokofjew, der Komponist, schrieb in sein Tagebuch: »Auf der Anitschkow-Brücke befand sich eine Ansammlung von Menschen, meist Arbeitern, die kurze Jacken und hohe Stiefel trugen. Kavalkaden von Kosaken zogen vorbei; jede Gruppe bestand aus etwa zehn mit Lanzen bewaffneten Kosaken. […] Ich überquerte die Anitschkow-Brücke und ging in Richtung Liteiny-Prospekt. Hier war das Zentrum der Kundgebung. Hier waren Massen von Arbeitern versammelt – die Straße war völlig verstopft von dieser Menschenmenge. […] Die Kosaken drängten die Menge mit ihren Pferden sanft zurück. Manchmal ritten sie auf den Bürgersteig und verjagten die Schaulustigen, wenn es zu viele geworden waren. […] Eine Frau mit einem dummen Gesicht, die überhaupt nicht begriff, worum es hier ging, forderte die Leute auf: ›Verprügelt die Juden!‹ Währenddessen versuchte ein Arbeiter ihr sehr intelligent die Ziele seiner Bewegung zu erklären, verschwendete seine Beredsamkeit aber offenkundig.«18

Am nächsten Tag waren die Menschenmassen, ermutigt durch die abwartende Reaktion der Ordnungskräfte, noch größer – und aggressiver. An einigen Orten wurden Bäckereien gestürmt und geplündert. Die radikaleren Arbeiter trugen rote Spruchbänder mit Slogans, die »die Deutschen«19 attackierten. Arbeiter und Studenten sangen die Marseillaise in einer Version, die düsterer war als das französische Original mit seiner lyrischen Gewalt. Sie skandierten auch »Nieder mit dem Zaren!« und »Nieder mit dem Krieg!« und bewarfen die Polizei mit Eisbrocken.

Graf Louis de Robien, einer der jungen Diplomaten von Paléologue, beobachtete, wie eine Menschenmenge den zugefrorenen Fluss vom Petrograder Stadtteil Wyborg aus überquerte, und erblickte dann eine Abteilung Kosaken, die am Ufer entlanggaloppierte, um ihnen den Weg zu versperren. »Mit ihren kleinen Pferden und den in Netzen am Sattel befestigten Heubündeln sehen sie sehr malerisch aus«, schrieb Robien später in sein Tagebuch, »sie sind mit Lanzen und Karabinern bewaffnet.«20

Robien fand das Spektakel offenkundig ziemlich aufregend, ja sogar romantisch. Von den zaristischen Polizisten schrieb er, dass sie »auf ihren prachtvollen Pferden und in ihren ganz einfachen schwarzen Umhängen mit roten Tressen, Astrachanmützen mit schwarzen Federbüschen auf dem Kopf, sehr elegant aussehen«.21 Die als »Pharaonen« bezeichneten Polizisten waren jedoch noch verhasster als die Kosaken, nicht zuletzt deshalb, weil sie vom Dienst an der Front befreit waren. Wenig später sah Robien vor der Kasaner Kathedrale Infanterie in Reih und Glied und eine Menschenmenge, die mit roten Fahnen und Spruchbändern näher kam. Als sich eine berittene Abteilung formierte, wahrscheinlich vom 9. Kavallerieregiment, drängte die Polizei die Schaulustigen zurück. »Die Kavalleristen«, schrieb Robien, »gehen mit Bravour zum Angriff über, stürmen über den Kasan-Platz und galoppieren mit gezogenem Säbel zum Newski-Prospekt auf die Demonstranten zu.«22 Robien wusste nicht, dass es in der Garnison gerade zur ersten Meuterei gekommen war. Soldaten des Pawlowski-Garderegiments hatten ihrem Kommandeur den Gehorsam verweigert, hatten ihn angegriffen und tödlich verwundet.23 Die Anstifter wurden später verhaftet und vor ein Kriegsgericht gestellt.

Obwohl Berichte über die Plünderung von Bäckereien eintrafen, war die Zarin nicht besorgt und erklärte, »dass ›die Armee treu sei und dass man sich auf sie verlassen könne‹«.24 Niemand informierte sie vom Sinneswandel der angeblich loyalen Kosakenstaffeln. Wladimir Sensinow, ein Anwalt der Sozialrevolutionäre, berichtete: »Die Kosaken ritten mit erhobenen Gewehren durch die Menge und riefen, sie würden nicht auf das Volk schießen; sie stünden auf der Seite des Volkes. Und die Menge grüßte sie, indem sie rief: ›Urrra! Lang leben die Kosaken!‹«25

An diesem Nachmittag gab es auch die ersten zivilen Todesopfer – eine Abteilung des 9. Kavallerieregiments hatte auf dem Newski-Prospekt in Panik das Feuer eröffnet. Ich »erblickte meinen ersten Toten«, berichtete der spätere Schriftsteller Wladimir Nabokow. »Er wurde auf einer Bahre weggetragen, und trotz aller Knuffe und Schubser der Bahrenträger versuchte ein schlecht beschuhter Genosse den Stiefel von einem herabbaumelnden Bein zu zerren – all dies im eiligen Laufschritt.«26 Zu einem Zusammenprall kam es auch, als eine große Menschenmenge den Znamenskaja-Platz mit dem riesigen, als »Nilpferd« verspotteten Reiterstandbild Alexanders III. erreichte. Sie stieß dort auf eine Kompanie des Wolynski-Garderegiments. Als die Dunkelheit hereinbrach, soll ein Kosake einen Polizisten getötet haben, der einen Demonstranten angegriffen hatte. Einige Augenzeugen berichteten, er habe ihn mit seinem Säbel niedergestreckt, andere, er habe ihn erschossen. Die Nachricht von diesem bedeutsamen Ereignis verbreitete sich rasch.

Dennoch glaubten viele – sogar einige Bolschewiki –, Zeugen eines Protests wegen Nahrungsmittelknappheit zu werden, der in sich zusammensinken würde, wenn genügend Brot verteilt worden war. Protopopow und General Chabalow erwähnten in ihren Berichten an den Zaren in Mogiljow zwar das Ausmaß der Unruhen, behaupteten aber, die Situation sei unter Kontrolle. Der Zar wies Chabalow an, sofort die Ordnung wiederherzustellen (er hat dies in seinem Tagebuch allerdings nicht erwähnt). Chabalow war mehr als besorgt. Das Feuer auf große Menschenmengen zu eröffnen, kam einer Kriegserklärung an die Zivilbevölkerung gleich. Ein Abflauen der Proteste war danach nicht mehr zu erwarten. Dem Zaren war offenbar nicht in den Sinn gekommen, dass sein Befehl seine Soldaten zwingen würde, sich für eine Seite zu entscheiden. Protopopow suchte in einer Séance den Rat des toten Rasputin. In dieser Nacht verloren die Behörden den Bezirk Wyborg. Polizeistationen wurden belagert und in Brand gesteckt.

Am Sonntag, dem 26. Februar, einem weiteren kalten, klaren Tag, strömten morgens erneut Massen von Arbeitern über das Eis der Newa. Sie rissen die von General Chabalow unterzeichneten Plakate herunter, auf denen verkündet wurde, dass Demonstrationen verboten seien, die Soldaten die Erlaubnis hätten, das Feuer zu eröffnen, und es bald Brot geben würde. Viele Angehörige der Oberschicht in Petrograd glaubten, der massive Einsatz von Infanterie und Kavallerie an diesem Tag werde die Unruhen beenden. Doch Globatschow warnte General Chabalow: Die Proteste seien im Begriff, auf eine politische Ebene überzugehen. Die Arbeiter hätten vor, am Montag in ihre Fabriken zurückzukehren, um Wahlen für einen Sowjet (Rat) der Arbeiterdeputierten abzuhalten.

Obwohl die Sicherheitskräfte an diesem Sonntagmorgen mehr oder weniger die Stellung hielten, drangen die Demonstranten in großer Zahl ins Zentrum Petrograds vor. Zwar befolgte die große Mehrheit der Soldaten den Befehl, in die Menge zu feuern, nicht, doch auf dem Newski-Prospekt wurde geschossen. Die ersten Schüsse kamen von Polizisten, die sich verteidigen wollten, aber mindestens eine Unteroffiziersausbildungskompanie – die der Pawlowski-Garde – war bereit, das Feuer zu eröffnen, als sie vom Moika-Kanal her bedrängt wurde. Später schoss eine Kompanie der Wolynski-Garde unter der Führung eines betrunkenen Offiziers auf dem Znamenskaja-Platz fast vierzig Zivilisten nieder (in einigen Berichten wurde allerdings behauptet, sie hätten in die Luft geschossen). Auch kam es zu einem beide Seiten verwirrenden Zusammenstoß, als eine große Gruppe der Pawlowski-Garde, die aus ihrer Kaserne gestürmt war, um den Demonstranten zu helfen, auf eine Kompanie des Preobraschenski-Leibgarderegiments[11] stieß.

An diesem Abend erhielt der Zar – er spielte gerade Domino in Mogiljow – von Rodsjanko, dem Präsidenten der Staatsduma, eine weitere Aufforderung, die Regierung umzubilden, um eine Katastrophe zu verhindern. Er antwortete nicht, sondern beschloss, eine Verschiebung des Zusammentretens der Duma anzuordnen, weil dies liberal-konservative Kräfte wie Rodsjanko zum Schweigen bringen würde. Die Botschaft sollte Fürst Nikolai Golizyn, der alte, gebrechliche Ministerpräsident des Zaren, überbringen. Rodsjanko war zwar Adliger und ehemaliger Offizier der Gardekavallerie, hatte aber den Hass der Zarin und das Misstrauen des Zaren auf sich gezogen, weil er entschiedener Gegner Rasputins gewesen war. Seine Frau, eine Golizyn, hatte Fürst Jussupow sogar schriftlich zu dem Mord gratuliert, und Protopopow hatte ihren abgefangenen Brief der Zarin gezeigt.27

In Petrograd rief Protopopow nach dem Abendessen Globatschow zu sich – nicht um mit ihm die katastrophale Lage zu besprechen, sondern um sich vor ihm mit seiner Audienz bei der Zarin zu brüsten. Noch am selben Sonntagabend strömten die Gäste in Abendgarderobe zum Palast der Fürstin Radziwill an der Fontanka, obwohl das Militär alles abgesperrt hatte. »Zunächst verlief der Abend ziemlich düster«, so Robien.28 Die Menschen mussten sich überwinden, um zum Spiel eines Orchesters zu tanzen, dem viele Musiker fehlten. Und die Heimfahrt war »beklemmend«: »Alle Straßen waren voll von Militär; mehrmals wurden wir von Soldaten angehalten, die um riesige Feuer herum Wache schoben. Es waren so viele, dass man das Empfinden hatte, ein Heerlager zu durchqueren.«29 Eine Sotnja von Kosaken zog auf ihren zotteligen Ponys an ihnen vorbei. »Der Schnee dämpfte den Hufschlag der Pferde, und wir hörten nur das Klirren der Waffen.«30

Die Hoffnung, am Montagmorgen würden wieder Ruhe und Ordnung einkehren, währte nicht lange. Einem berühmt gewordenen Bericht zufolge hatte Unteroffizier Kirpitschnikow von der Wolynski-Garde seine Kameraden in der Nacht davon überzeugt, dass das Regiment den Befehl, gegen die Arbeiter vorzugehen, nicht befolgen dürfe.[12] Als die Offiziere kamen und die Soldaten auf dem schneebedeckten Exerzierplatz der Tawritscheski-Kaserne zum Dienst angetreten vorfanden, gab er ein Zeichen, worauf die Reihen riefen: »Wir werden nicht schießen.« Als die Offiziere ihnen drohten, begannen die Männer ihre Gewehrkolben rhythmisch auf den Boden zu schlagen. Die Offiziere erkannten, dass sie es mit einer Meuterei zu tun hatten, machten kehrt und rannten davon. Ein einziger Schuss fiel – er tötete ihren Kommandeur.31

In der kommunistischen Legendenbildung war dies der Vorfall, der die Petrograder Garnison für die Revolution gewann. Die Entschlossenheit der Soldaten, den Arbeitern beizustehen, war jedoch nicht ihr einziges Motiv. Keiner von ihnen wollte nämlich an die Front geschickt werden, und sie wussten, dass für eine Reihe von Reservebataillonen in Petrograd ein entsprechender Befehl geplant war.

Seit dem frühen Morgen waren Schüsse zu hören, erst vereinzelte, dann einige Salven – vielleicht aus Freude in die Luft gefeuert, als die Soldaten feststellten, dass ihre Offiziere die Nerven verloren hatten. Rodsjanko schickte ein weiteres Telegramm an »Sa Majesté Impériale le Souverain-Empereur« nach Mogiljow. Darin hieß es: »Die Lage verschlechtert sich. Es müssen unverzüglich Maßnahmen ergriffen werden, denn morgen wird es zu spät sein. Die Stunde, in der sich das Schicksal des Landes und der Dynastie entscheidet, ist gekommen.«32 Nachdem der Zar die Nachricht gelesen hatte, bemerkte er lediglich: »Dieser dicke Rodsjanko hat mir schon wieder einen solchen Unsinn telegrafiert, dass ich ihm darauf nicht einmal eine Antwort geben werde.«33

Die Demonstranten hatten sich an diesem Morgen auf den Weg zur Staatsduma im Tawritscheski- beziehungsweise Tauridenpalast gemacht, der unmittelbar neben der von der Wolynski-Garde gesicherten Kaserne lag. Derweil hatten sich die Rebellen zu den Linien der Preobraschenski-Garde im selben riesigen Komplex begeben und die Kameraden aufgefordert, sich ihnen anzuschließen. Beide Regimenter hatten daraufhin begonnen, den Arbeitern Waffen aus ihren Arsenalen auszuhändigen. Das war der Augenblick, in dem die Menschen begriffen, dass aus einer Revolte eine Revolution geworden war.

Sergei Prokofjew war bei der Kostümprobe einer Schulaufführung von Tschaikowskis Oper Eugen Onegin im Konservatorium gewesen und hatte beim Verlassen des Hauses festgestellt, »dass beim Arsenal am Liteiny-Prospekt eine regelrechte Schlacht mit einer furchtbaren Schießerei stattfand, da einige Soldaten bereits die Seiten gewechselt hatten«. »Als vom Liteiny her heftiges Gewehrfeuer zu hören war, blieb ich auf der Brücke über die Fontanka stehen. Neben mir stand ein Arbeiter. Ich fragte ihn, ob ich über die Fontanka gehen könne, und er antwortete mir ermutigend: ›Ja, gehen Sie. Diesen Bereich haben unsere Männer unter Kontrolle gebracht.‹

›Unsere Männer? Was meinen Sie damit?‹, fragte ich ihn.

›Mit Gewehren bewaffnete Arbeiter und Soldaten, die zu uns übergelaufen sind‹, antwortete er. Das war mir neu.«34

Einige Gruppen hatten sich schon auf den Weg gemacht, um Häftlinge aus der Peter-und-Paul-Festung, dem Litowski- und anderen zaristischen Gefängnissen zu befreien. Andere waren losgezogen, um Ministerien zu plündern und Akten zu vernichten. Das Petrograder Bezirksgericht, Polizeireviere und die Dienststelle der Kriminalpolizei wurden in Brand gesteckt. Armeekommandos, die diese Örtlichkeiten eigentlich bewachen sollten, schlossen sich den Aufständischen einfach an. Etwa dreitausend Personen plünderten die Brennerei am Alexandrowski-Park und begannen, das Gebrannte zu konsumieren.

Eine halbe Kompanie des 3. Gardeschützenregiments unter dem Kommando eines Leutnants sollte das Hauptquartier der Ochrana verteidigen. Globatschow fragte den Leutnant, ob er glaube, dass man seinen Männern trauen könne. Der Leutnant schüttelte den Kopf, weshalb Globatschow ihn bat, seine Männer in die Kaserne zurückzubringen. Es machte kaum einen Unterschied. Noch vor Einbruch der Dunkelheit stand das Gebäude in Flammen. Nachdem der Schriftsteller Maxim Gorki zusammen mit dem Menschewiken Nikolai Suchanow die ausgebrannten Ruinen besichtigt hatte, prophezeite er, die Revolution werde zu »asiatischer Grausamkeit« führen.35 Im Unterschied zu den slawophilen Liberalen und Lenin hatte Gorki unter den Armen gelebt und machte sich daher keine Illusionen, dass das russische Volk die »Inkarnation spiritueller Schönheit und Güte« sei.36 Gorki, »ein hochgewachsener, leicht gebeugter, sehr kräftig wirkender Mann mit Igelhaarschnitt und blauen Augen«, wie Wiktor Schklowski schrieb,37 war eindrucksvoll – physisch ebenso wie intellektuell.

*

Der jüngere Bruder des Zaren, Großfürst Michail, drängte »Nicki« auf Anraten von Fürst Golizyn und Rodsjanko, das gesamte Kabinett durch eines zu ersetzen, das der Duma verantwortlich wäre und an dessen Spitze der bekannte liberale Fürst Lwow stehen sollte. Mogiljow erreichten weitere Botschaften aus Petrograd, sogar eine von der Zarin, die – zu spät – Zugeständnisse empfahl. Der Zar war schockiert, dass seine Garderegimenter in die Unruhen verwickelt waren, zumal Protopopow ihm gesagt hatte, sie seien alle loyal. Er schrieb in sein Tagebuch: »Zu meinem großen Bedauern haben sich sogar die Soldaten beteiligt.«38 Dennoch glaubte er weiterhin, der Aufstand könne niedergeschlagen werden. Er weigerte sich zu erkennen, dass er es mit einer wirklichen Revolution zu tun hatte.

Globatschow zufolge war es ein großer Fehler von General Chabalow, statt der Polizei und der Gendarmerie die Reserve-Infanteriebataillone in Petrograd einzusetzen. Zwar wurden an diesem Montag elf Demonstranten niedergeschossen, aber meistens kam es zu Verbrüderungen. Die Absperrungen der Infanterie ermutigten die Demonstranten, auf die Soldaten zuzugehen und mit ihnen zu sprechen. »Kavalleriepatrouillen erlaubten es den Arbeitern, die Pferde zu streicheln und zu füttern.«39 Auf dem Znamenskaja-Platz hielt die Kosaken-Sotnja eine Einheit der berittenen Polizei auf, als diese die Menge zerstreuen wollte.

General Chabalow »begriff schließlich, dass er sich auf die Bajonette, von denen er angenommen hatte, sie würden ihm gehören, nicht verlassen konnte«, schrieb Globatschow. (Das »begriff schließlich« war eine beträchtliche Untertreibung, da Chabalow den Kopf verloren hatte und hysterisch wirkte.) »Jede entsandte Einheit schloss sich den Rebellen an«, so Globatschow weiter. »Am Abend verfügte er [Chabalow] nur noch über die Soldaten seines Hauptquartiers. Und der Aufstand griff weiter um sich. Die Plünderung von Geschäften und Privatwohnungen hatte begonnen. Auf der Straße wurden Offiziere ergriffen und entwaffnet, Polizisten geschlagen und ermordet, Angehörige der Gendarmerie verhaftet oder getötet. Kurz, um 17 Uhr war klar, dass es keine Obrigkeit mehr gab.«40

Am späten Abend desselben Tages befahl der Zar, den kaiserlichen Zug bereitzustellen. Die neuesten Nachrichten von General Chabalow aus Petrograd bewiesen, dass Rodsjanko mit seinen Warnungen nicht übertrieben hatte. In diesem Moment der Krise wollte der Zar bei der Zarin und, vor allem, bei seinen an Masern erkrankten Kindern in Zarskoje Selo sein. Er befahl General N. I. Iwanow während des Abendessens, sich nach Petrograd zu begeben, um Chabalow abzulösen und das Kriegsrecht zu verhängen.

Iwanow sollte in einem anderen Zug ein Bataillon von Soldaten mitnehmen, die alle mit dem Sankt-Georgs-Kreuz für Tapferkeit ausgezeichnet worden waren. Von der Front sollten je vier Infanterie- und Kavallerieregimenter folgen, mit der Aufgabe, »den Aufstand der Einheiten in der Petrograder Garnison niederzuschlagen«.41 General Lukomski, der Generalquartiermeister, warnte den Zaren, dass es für ihn und sein Gefolge äußerst gefährlich sei, sich in die Hauptstadt zu begeben, wenn diese sich in offener Rebellion befinde, doch der Herrscher blieb bei seinem Entschluss. Es kam ihm nicht in den Sinn, dass die Eisenbahner einfach beschließen könnten, seinen Zug zu blockieren, so dass er gestrandet und von den Ereignissen völlig abgeschnitten wäre.

[10] In Deutschland trat das allgemeine aktive und passive Wahlrecht für Frauen am 30. November 1918 in Kraft. (Anm. d. Übers.)

[11] Seit Peter dem Großen die Leibgarde der russischen Kaiser, benannt nach dem Dorf Preobraschenskoje bei Moskau. (Anm. d. Übers.)

[12] Die Wolynski-Garde hatte im 19. Jahrhundert vor allem der Unterdrückung von Aufständen in Polen gedient.

3 Der Sturz des Doppeladlers Februar/März 1917

Der 28. Februar, ein Dienstag, war ein weiterer strahlender Tag. »Die Straßen waren voll von Menschen«, schrieb Prokofjew. »Da weder Straßenbahnen noch Taxis fuhren, füllten die Menschen die Straßen von der einen Seite bis zur anderen. Unmengen von roten Schleifen waren zu sehen.«1 Sowohl in Petrograd als auch in Moskau verkauften die Straßenhändler rote Kattunschleifen für fünf Kopeken das Stück und machten damit schnelle Geschäfte. »Sie [die Schleifen] waren nach wenigen Minuten ausverkauft«, schrieb ein künftiger Rotgardist in Moskau. »Leute, die nach Reichtum aussehen, haben Schleifen, die fast so groß sind wie Servietten. Aber man sagt ihnen: ›Seid nicht gierig, jetzt herrschen Gleichheit und Brüderlichkeit!‹«2

An der Fontanka sah Prokofjew »ein großes Freudenfeuer, dessen Flammen bis zum ersten Stock eines Gebäudes emporschlugen«. »Fensterrahmen wurden zerbrochen und ins Feuer geworfen. Sie landeten mit ohrenbetäubendem Krach, und ihnen folgten alle möglichen Haushaltsgegenstände und Möbel. […] Ein grünes Sofa, Tischtücher und ganze Schränke voller Papiere wurden herausgeschleudert. Die Wohnungen der Chefs der Bezirkspolizei wurden geplündert. […] Einen besonders starken Eindruck machten auf mich die Schränke, wie sie langsam über die Fensterbank rutschten, dann hinabstürzten und schwer auf dem Bürgersteig, direkt im Feuer, aufschlugen. Die Menge lärmte schadenfroh. Rufe wurden laut: ›Blutsauger! Unser Blut!‹«3

Ein Versuch, aus verschiedenen, bei der Admiralität und am Winterpalast stationierten Einheiten eine loyale Truppe zusammenzustellen, scheiterte kläglich. Chabalow konnte nur eingestehen, dass er vollkommen außerstande war, die Ordnung wiederherzustellen. Auf einem Fragebogen der Stawka gab er an, vielleicht auf vier Kompanien der Garde-Infanterie, fünf Schwadronen der Kavallerie und zwei Batterien der Artillerie seiner hundertachtzigtausend Mann umfassenden Petrograder Garnison zählen zu können.4 Das bedeutete nicht, dass sich alle anderen Einheiten auf die Seite der Revolution geschlagen hatten. Vielleicht hatte sich die Mehrheit der Soldaten nur geweigert, den Befehlen ihrer Offiziere zu gehorchen, hatte auf aktive Rebellion aber verzichtet. Sie hatten sich lediglich an den Plünderungen und anschließenden Saufereien beteiligt.

Den Mythos von der »unblutigen Revolution« widerlegte die Zahl der Opfer, die sich allein in der Hauptstadt auf insgesamt fast tausendfünfhundert Tote und sechstausend Verwundete belief. Die Kämpfe endeten mit der Erstürmung des Hotels Astoria, in das sich viele Offiziere und Generäle geflüchtet hatten; diese fielen jedoch, nachdem Scharfschützen der Polizei auf dem Dach die Menge provoziert hatten, einem Massaker zum Opfer.

Der kaiserliche Zug hatte Mogiljow in den frühen Morgenstunden des 28. Februar verlassen. Er nahm jedoch nicht den direkten Weg nach Zarskoje Selo, um den Zug von General Iwanow nicht aufzuhalten. Das führte dazu, dass der Zug des Zaren, als die Bahnarbeiter in der folgenden Nacht die Strecke blockierten, nach Pskow ausweichen musste, wo das Hauptquartier der Nordfront unter dem Kommando von General Nikolai Russki über einen Hughes-Apparat verfügte, mit dem nach Mogiljow telegrafiert werden konnte.

Der Zar war der Verzweiflung nahe, als er hörte, dass die Rebellen Gattschina und Luga westlich von Zarskoje Selo eingenommen hatten. »Was für eine Schmach!«, schrieb er am 1. März in sein Tagebuch. »Es ist nicht möglich, nach Zarskoje