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Antony Beevor

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Beschreibung

80 JAHRE KRIEGSENDE - die glänzend recherchierte Erzählung einer entscheidenden Schlacht des Zweiten Weltkriegs

September 1944: Nach der erfolgreichen Invasion der Westalliierten am D-Day planen sie nunmehr die Errichtung eines Brückenkopfs über den Rhein, insbesondere durch die Einnahme der Brücke von Arnheim, der Hauptstadt der niederländischen Provinz Gelderland. Die Führung an Market Garden, so der Kommandoname, haben die Briten. Ihr riskanter Operationsplan sieht vor, dass rund 40 000 Fallschirmjäger hinter den deutschen Linien abgesetzt werden. Aber statt nur auf Volkssturm und Hitlerjugend treffen sie dort auf zwei Panzerdivisionen der Waffen-SS. Obendrein kommt es zu ständigen Kompetenzstreitigkeiten zwischen Montgomery und Eisenhower. Die auf sich gestellten Briten werden eingekesselt, der Wehrmacht gelingt einer ihrer letzten Siege.

Arnheim ist für viele Briten noch heute ein nahezu mythischer Ort von ungebrochener Faszination, verklärt als Stätte einer heroischen Niederlage, wo der Sieg doch in Reichweite war. Dagegen macht Antony Beevor deutlich, dass schon die Planung Montgomerys zum Scheitern verurteilt war. Für seine akribische Darstellung der Kriegsereignisse konnte er sich auf bislang unbeachtete und viele neue Quellen aus niederländischen, britischen, amerikanischen, polnischen und deutschen Quellen stützen.

Mit 32-seitigem Bildteil und Kartenmaterial

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Seitenzahl: 903

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Antony Beevor

ARNHEIM

Der Kampf um die Brücken über den Rhein 1944

Aus dem Englischen übertragenvon Helmut Ettinger

C. Bertelsmann

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Die Originalausgabe ist 2018 unter dem Titel »Arnhem. The Battle for the Bridges, 1944« bei Viking, London, erschienen.

© 2018 by Antony Beevor

© 2019 für die deutschsprachige Ausgabe by C. Bertelsmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Covermotive: Die britische Luftlandedivision in Arnheim und Oosterbeek © Sgt. D M Smith/IWM/Getty Images

Bildredaktion: Annette Baur

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-23765-3V004www.cbertelsmann.de

Das Buch

September 1944: Nach dem D-Day planen die Alliierten bei Arnheim einen Brückenkopf über den Rhein zu errichten, um bald nach Deutschland vorzustoßen. Operation Market Garden wird das größte Luftlandeunternehmen des 2. Weltkriegs mit 40000 hinter den deutschen Linien abgesetzten Fallschirmjägern. Doch der erbittert kämpfenden Wehrmacht gelingt einer ihrer letzten Siege: Der Vormarsch kommt zum Erliegen, es gibt unter den Alliierten weitaus mehr Gefallene, aber auch zahllose Opfer unter der holländischen Zivilbevölkerung, gegen die sich die Vergeltungswut der deutschen Besatzer richtet. Beevor at his best: erzählerisch dicht, multiperspektivisch, detailgenau in der Schilderung der monströs grausamen Kriegsereignisse und doch mitfühlend, unbestechlich und fesselnd.

Der Autor

Antony Beevor, Jahrgang 1946, hat sich mit mehrfach ausgezeichneten und in zahlreiche Sprachen übersetzten Büchern zur Geschichte, insbesondere der des Zweiten Weltkriegs, einen Namen gemacht. Auf Deutsch sind von ihm erschienen: »Stalingrad« (1999), »Berlin 1945 – Das Ende« (2002), »Die Akte Olga Tschechowa« (2004), »Der Spanische Bürgerkrieg« (2006), »Ein Schriftsteller im Krieg« (2007), »D-Day« (2010), »Der Zweite Weltkrieg« (2014) und »Die Ardennen-Offensive 1944« (2016).

Für Artemis

Inhalt

1 Die Jagd ist eröffnet!

2 Der »verrückte Dienstag«

3 Die 1st Allied Airborne Army

4 Zweifel in den Wind geschlagen

5Der Tag des Kriegsbeils

6 Der Feinschliff

7 Der Vorabend der Schlacht – Samstag, 16. September

8 Die Invasion aus der Luft – Sonntagmorgen, 17. September

9 Die Reaktion der Deutschen – Sonntag, 17. September

10 Die Landungen der Briten – Sonntag, 17. September

11Die Landungen der Amerikaner – Sonntag, 17. September

12 Nacht und Tag in Arnheim – 17.–18. September

13 Arnheim, das zweite Kontingent – Montag, 18. September

14 Die amerikanischen Divisionen und das britische XXX. Corps – Montag, 18. September

15 Arnheim – Dienstag, 19. September

16 Nimwegen und Eindhoven – Dienstag, 19. September

17 Nimwegen – Der Übergang über die Waal – Mittwoch, 20. September

18 Die Brücke von Arnheim und Oosterbeek – Mittwoch, 20. September

19 Nimwegen und Hell’s Highway – Donnerstag, 21. September

20 Oosterbeek – Donnerstag, 21. September

21Der Schwarze Freitag – 22. September

22 Samstag, 23. September

23 Sonntag, 24. September

24 Operation Berlin – Montag, 25. September

25 Oosterbeek, Arnheim, Nimwegen – Dienstag, 26. September

26 Die Evakuierung und Plünderung von Arnheim – 23. September bis November 1944

27 Die Insel der Männer – September bis November 1944

28 Der Hungerwinter – November 1944 bis Mai 1945

ANHANG

Dank

Kartenverzeichnis und -legende

Tabelle militärischer Dienstgrade

Abkürzungen

Anmkerungen

Bildteil

Bildnachweis

1Die Jagd ist eröffnet!

Am Sonntag, dem 27. August 1944, herrschte in der Normandie perfektes Sommerwetter. Von einem Spielfeld in Saint-Symphorien-les-Bruyères südwestlich von Evreux waren die einschläfernden Geräusche eines Kricket-Matchs zu hören. In dem angrenzenden Birnengarten waren die Sherman-Panzer der britischen Sherwood Rangers Yeomanry nach der Schlacht um den Kessel von Falaise, dem Höhepunkt des Kampfes um die Normandie, gerade instand gesetzt worden. Schläger, Bälle, Beinschutz und Fanghandschuhe für das Kricket-Spiel hatte die Einheit mit dem Nachschub an Land geschmuggelt. »Niemand soll uns nachsagen können, wir seien unvorbereitet auf dem Kontinent einmarschiert«, schrieb einer der Spieler.1

Bis zum geplanten Abmarsch des Regiments blieben noch 24 Stunden, doch nach dem Mittagessen ging der Befehl ein, dieser habe bereits in einer Stunde zu erfolgen. Siebzig Minuten später rollten die Panzer schon in Richtung Seine, welche die erste britische Einheit, die 43. Wessex Division, bereits am Vortag bei Vernon überquert hatte. Die britischen Truppen gönnten es der 3rd US Army unter General George Patton nicht, dass diese bereits sechs Tage zuvor über den Fluss gerollt war.

Am 29. August starteten die Armeen der Alliierten, inzwischen fast eine Million Mann, von ihren Brückenköpfen östlich der Seine in Richtung Belgien und deutsche Grenze. Die Schlacht um die Normandie war endgültig gewonnen, und die Wehrmacht befand sich auf einem chaotischen Rückzug. »An den wichtigsten Nachschubwegen«, schrieb ein amerikanischer Offizier in sein Tagebuch, »kann man die Spuren unserer Schläge gegen den Feind sehen. Von Bomben und Beschuss zerfetzte LKW-Wracks rosten, wild durcheinandergeworfen an den Straßenrändern, gelegentlich eine Ladung Gastanks wie ein Haufen aufgequollener toter Kühe, schwarz und verkohlt, dazu ein Eisenbahnzug mit jeder Menge verbeulter Kessel und den verbogenen stählernen Skeletten ausgebrannter Güterwaggons.«2

Für die britischen Panzerregimenter hatte die Jagd begonnen. Lieutenant General Brian Horrocks, der das britische XXX. Corps befehligte, stand im Turm des Kommandeurspanzers, weil er nicht widerstehen konnte, selbst dabei zu sein. »Das war die Art Krieg, die ich mochte«, schrieb er später. »Wer wohl nicht?« Die Guards Armoured Division, die 11th Armoured Division und die 8th Armoured Brigade mit über 600 Panzern – Shermans, Churchills und Cromwells – »gingen an einer Front von achtzig Kilometern vor und schlugen ganze Schneisen ins Hinterland des Feindes, wie wenn ein Mähdrescher durch ein Maisfeld rollt«.3

Die Gegend zwischen Seine und Somme war »offen und gewellt, hatte weite Felder ohne Hecken und gute Straßen«.4 Die gefährliche Bocage in der Normandie mit ihren von hohen Hecken gesäumten Feldern und tiefen Hohlwegen lag weit hinter ihnen. Das Panzerregiment der Sherwood Rangers ging immer noch in seiner alten Wüstenformation aus dem Nordafrika-Feldzug vor: eine Kompanie Sherman-Panzer als Vorhut, dahinter der Regimentsstab und je eine Sabre Squadron an den Flanken. »An einem schönen Morgen mit Höchstgeschwindigkeit über festes, offenes Gelände zu fahren«, schrieb ein Truppenführer, »wissend, dass die Deutschen vor uns flüchteten, war, gelinde gesagt, ein Anlass zur Freude, und überall herrschte Hochstimmung. Wir kamen uns vor wie bei einem Autocross.«5

Wo sie auftauchten, läuteten die Kirchenglocken. Nahezu jedes Haus war in den französischen Nationalfarben Rot, Weiß und Blau geschmückt. Die Dorfbewohner, überglücklich, dass ihnen die Verwüstungen der Normandie erspart blieben, erwarteten die Truppen der Alliierten mit Wein und Früchten. Unrasierte Résistance-Kämpfer mit Armbinden versuchten, auf die Führungsfahrzeuge zu klettern, um ihnen den Weg zu weisen. Einem Stabsoffizier der Guards Armoured Division in einem Spähpanzer Staghound fiel auf, »welch merkwürdige Mischung von Waffen die Männer trugen und ausgelassen schwenkten, ohne auf Sicherheit zu achten«.6

Von Zeit zu Zeit ging einem Panzer der Treibstoff aus. Der musste dann am Straßenrand warten, bis einer der Dreitonner des Regiments neben ihm hielt. Dann wurden den Männern der Besatzung, die auf dem Fahrzeug standen, Kanister gereicht. Gelegentlich kam es zu kurzen, heftigen Scharmützeln, wenn eine Gruppe Deutscher, die bei dem Vormarsch überrollt wurden, sich nicht ergeben wollte. Die Beseitigung solcher Widerstandsnester wurde »Entlausung« genannt.7

Am Nachmittag des 30. August hatte Horrocks den Eindruck, dass der Vormarsch nicht schnell genug vonstattenging. Er befahl Major General »Pip« Roberts, über Nacht mit seiner 11th Armoured Division nach Amiens vorzustoßen und im Morgengrauen die Stadt samt den Brücken über die Somme einzunehmen. Obwohl den Panzerfahrern vor Erschöpfung fast die Augen zufielen, gelangten sie bis zu den Brücken. Im Morgengrauen traf eine Infanteriebrigade auf Dreitonnern ein und sicherte die Stadt. Kurz darauf folgte Horrocks, der Roberts zu dem Erfolg gratulierte. Nachdem Roberts über die Operation Meldung erstattet hatte, sagte er zu seinem Korpskommandeur: »General, ich habe eine Überraschung für Sie.« Ein deutscher Offizier in der schwarzen Uniform der Panzertruppen wurde hereingebracht. Er war unrasiert und hatte eine auffällige Narbe im Gesicht. Bei einer Verletzung im Ersten Weltkrieg hatte er fast die ganze Nase verloren. Roberts benahm sich »wie ein stolzer Bauer, der einen Prachtbullen vorführt«, schrieb Horrocks später.8 Der Gefangene war der General der Panzertruppe Heinrich Eberbach, der Befehlshaber der 7. Armee, den man in seinem Bett schlafend überrascht hatte.

Der nächste Tag, der 1. September, war der fünfte Jahrestag der deutschen Invasion in Polen, mit welcher der Krieg in Europa begonnen hatte. Aufgrund eines merkwürdigen Zufalls saßen die Befehlshaber beider alliierten Armeegruppen des Normandie-Feldzuges in ihren Stabsquartieren Modell für ein Porträt. Im Glanz des Sieges nach General George C. Pattons triumphalem Vorstoß zur Seine ließ sich sein Vorgesetzter, General Omar N. Bradley, in der Nähe von Chartres von Cathleen Mann malen, die mit dem Marquess of Queensberry verheiratet war. An diesem schönen Tag konnten die beiden zumindest kühle Getränke genießen. Denn der Oberbefehlshaber, General Dwight D. Eisenhower, hatte Bradley kurz zuvor einen Kühlschrank mit der Botschaft geschickt: »Verdammt, ich bin es leid, jedes Mal warmen Whisky trinken zu müssen, wenn ich zu Ihrem Stab komme.«9

Field Marshal Sir Bernard Montgomery ließ sich in seinem gewohnten Outfit – grauer Pullover mit Polokragen, Kordhose und schwarzes Barett mit zwei Kokarden – von dem schottischen Maler James Gunn porträtieren. Sein taktisches Stabsquartier und sein Wohnwagen befanden sich im Park des Château de Dangu auf halbem Weg zwischen Rouen und Paris. Obwohl er an diesem Morgen Glückwünsche zu seiner Beförderung zum Field Marshal erhalten hatte, war Montgomery so schlechter Stimmung, dass er sich weigerte, seinen Gastgeber, den Duc de Dangu, und Kämpfer der lokalen Résistance zu empfangen. Alle Hoffnung auf eine gemeinsame Offensive in Richtung Norddeutschland unter seinem Befehl war dahin, denn Eisenhower hatte ihn als Commander-in-Chief der Landstreitkräfte der Alliierten abgelöst. Bradley war jetzt nicht mehr sein Untergebener, sondern ihm gleichgestellt. Nach Montgomerys Auffassung verspielte Eisenhower durch seine Weigerung, die alliierten Truppen zu konzentrieren, gerade deren Sieg.10

Hohe amerikanische Offiziere hingegen erregten sich viel mehr über Montgomerys Beförderung. Der Brite trug nun fünf Sterne, während sein Vorgesetzter Eisenhower nur Vier-Sterne-General war. Patton, dessen 3rd Army inzwischen schon in Verdun in Ostfrankreich stand, schrieb an diesem Tag an seine Frau: »Die Sache mit dem Field Marshal macht uns – Bradley und mich – krank.«11 Selbst mehrere hohe britische Offiziere hielten diesen Versuch Winston Churchills, die britische Presse und Monty angesichts von dessen tatsächlicher Zurücksetzung zu besänftigen, für einen schweren Fehler. Admiral Sir Bertram Ramsay, der Commander-in-Chief der Marine der Alliierten, notierte in seinem Tagebuch: »Monty ist jetzt Field Marshal. Eine erstaunliche Sache, und ich bedaure das so sehr, dass mir die Worte fehlen. Ich vermute, darüber hat der Premierminister ganz allein entschieden. Das war verdammt dumm und höchst beleidigend für Eisenhower und die Amerikaner, da bin ich sicher.«12

Am nächsten Tag, es war Samstag, der 2. September, trafen sich Patton, Eisenhower und Lieutenant General Courtney H. Hodges, der Befehlshaber der 1st US Army, im Hauptquartier von Bradleys 12th Army Group, wo Lady Queensberry inzwischen den Pinsel beiseitegelegt hatte. Laut Bradleys Adjutant wirkte Hodges »in seinem Kampfanzug schick und elegant wie immer«, während Patton »mit Messingknöpfen und einem dicken Auto protzig wie stets« auftrat. Sie wollten über die Strategie und das große Nachschubproblem miteinander sprechen. Der unerwartet rasche Vormarsch überforderte selbst die Möglichkeiten der riesigen amerikanischen Militärtransportflotte. Patton flehte an diesem Morgen Bradley an: »Geben Sie mir 1,5 Millionen Liter Treibstoff, und ich bringe Sie in zwei Tagen nach Deutschland.«13

Bradley gefiel dieser Plan über alle Maßen. Er war so sehr bemüht, alle verfügbaren Flugzeuge für die Versorgung von Pattons Third Army einzusetzen, dass er es abgelehnt hatte, den Vormarsch der Alliierten durch den Abwurf von Nachschub aus der Luft zu beschleunigen. Patton, der davon träumte, »den Westwall zu durchstoßen wie die Scheiße den Arsch«14, bestach bereits die Piloten der Transportflugzeuge mit Kisten erbeuteten Champagners, aber das reichte nicht. Eisenhower ließ sich nicht umstimmen. Er wurde bereits von Montgomery bedrängt, der den größten Teil des Nachschubs für sich verlangte, um den Hauptstoß gegen die Deutschen im Norden zu führen.

Die Diplomatie unter den Alliierten erforderte es, dass der Oberbefehlshaber die rivalisierenden Forderungen der beiden Armeegruppen ausbalancierte, soweit das überhaupt möglich war. Er griff zu einer »Strategie der breiten Front«, mit der er keinen der beiden Befehlshaber zufriedenstellte.[1]15 Eisenhowers Stabschef, Lieutenant General Walter Bedell Smith, kommentierte die Probleme zwischen Montgomery und Bradley nach dem Krieg mit den Worten: »Es ist erstaunlich, wie sehr sich gute Kommandeure selbst demontieren können, wenn sie sich ein Publikum heranzüchten, vor dem sie posieren müssen. Dann werden sie zu Primadonnen.« Selbst der anscheinend so bescheidene Bradley »hatte ein solches Publikum, was uns einige Probleme mit ihm bescherte«.16

Eisenhowers Unvermögen, das Problem der konkurrierenden Strategien Montgomerys und Bradleys zu klären, wirkte sich aufgrund eines Unfalls noch nachteiliger aus. An diesem Nachmittag flog der Oberbefehlshaber vom Stab der 12th Army Group bei Chartres zu seinem Befehlsstand in Granville an der Atlantikküste der Normandie zurück. Jetzt stellte es sich als großer Fehler heraus, dass er einen von den rasch vorrückenden Fronten so weit entfernten Ort gewählt hatte. Für die Kommunikation wäre es in der Tat besser gewesen, er hätte sich in London aufgehalten, meinte Bradley. Kurz vor Granville hatte sein Leichtflugzeug einen Motorschaden und musste an einem Strand landen. Eisenhower, der bereits an einem verletzten Knie litt, lädierte sich auch noch das andere, als er dabei half, die Maschine im Sand zu wenden. Zu dem Zeitpunkt, da Bradley und Montgomery sich treffen sollten, musste er mit einem Gipsbein das Bett hüten. Er fiel eine ganze Woche lang aus – in einer Phase, die sich als entscheidend erweisen sollte.

Am selben Tag, dem 2. September, traf Horrocks im Stab der britischen Guards Armoured Division in Douai ein. Er war frustriert, weil er seine Einheiten an diesem Tag hatte zurückhalten müssen, um den Amerikanern den Einsatz von Luftlandetruppen bei Tournai zu ermöglichen. Dieser war aber wegen schlechten Wetters im letzten Moment gestoppt worden. Außerdem hatte das XIX. US Corps das Absprunggebiet bereits erreicht. Mit theatralischer Geste verkündete Horrocks nun den versammelten Offizieren, sie hätten am nächsten Tag bis nach Brüssel vorzustoßen, etwa 110 Kilometer entfernt. Das wurde mit freudigem Erstaunen aufgenommen. Der 11th Armoured Division von Roberts befahl Horrocks, im Rahmen von Operation Sabot unverzüglich in Richtung des großen Hafens Antwerpen vorzurücken.

Zwischen den Welsh Guards im Zentrum, dem 2nd Household Cavalry Regiment mit leichtem Vorsprung zur Rechten und den Grenadier Guards zur Linken »musste es unweigerlich zu einem Wettlauf kommen, und nichts konnte uns an diesem Tag aufhalten«, berichtete ein Offizier. Es wurde heftig gewettet, wer als Erster Brüssel erreichen werde. »Les jeux sont faits – rien ne va plus!«, soll um sechs Uhr morgens der Ruf eines Roulette-Croupiers erschallt sein, als die Konkurrenten starteten.17 Die Irish Guards folgten ein paar Stunden später als Reserve. »Es war unsere längste Fahrt, 130 Kilometer in dreizehn Stunden«, notierte deren 2nd (Armoured) Battalion im Kriegstagebuch.18 Doch für manche Einheiten geriet dieses überhastete Vorstürmen durchaus nicht zu einer rein sportlichen Angelegenheit. Bei einem brutalen Waffengang mit einer SS-Einheit verloren die Grenadier Guards mehr als zwanzig Mann.

Das unerwartete Auftauchen der britischen Guards Armoured Division in der belgischen Hauptstadt löste an diesem Abend noch größeren Jubel aus als bei der Befreiung von Paris. »Das Hauptproblem war die Belagerung durch die Menschenmassen«, notierte ein Offizier der Household Cavalry, deren Fahrzeuge dauernd von überglücklichen Belgiern gestoppt wurden, die dicht gedrängt an den Straßen standen, »Tipperary« sangen und die Hände mit dem Victory-Zeichen hochstreckten. »Außerdem haben die Befreiten sich angewöhnt, die Fahrzeuge, die sich nur langsam den Weg durch die Menge bahnen können, über und über mit Willkommensgrüßen zu bekritzeln«, schrieb derselbe Offizier. »Bei jedem Stopp klettern sie auf unsere Fahrzeuge und strecken uns Obst, Blumen und Wein entgegen.« Die Household Cavalry und die Welsh Guards »gewannen das Rennen mit geringem Vorsprung. Das war eine abenteuerliche Angelegenheit, denn jedes Mal, wenn sie anhielten, um nach dem Weg zu fragen, wurden sie herausgeholt und abgeküsst – von beiden Geschlechtern.«

Die deutschen Truppen hielten nach wie vor den Flughafen außerhalb der belgischen Hauptstadt besetzt, von wo sie »fünf Salven hochexplosiver Geschosse« in den Park vor dem Königspalast feuerten, wo Major General Allan Adair gerade unter Zeltbahnen seinen Stab einrichtete. Eine große Hilfe waren den britischen Truppen die Angehörigen der Armée Blanche des belgischen Widerstands, »weil sie die vielen versprengten Deutschen festnahmen, die zu entkommen suchten«.19 Wenn die Zivilbevölkerung nicht gerade ihre Befreier küsste, empfing sie jeden deutschen Gefangenen, den sie erblickte, mit Pfiffen, Buhrufen und Fußtritten.

Viele britische Soldaten waren erstaunt über den Unterschied zur Normandie, wo sie die Bevölkerung mitten in den furchtbar zerstörten Städten und Dörfern meist nur halbherzig begrüßt hatte. »Die Menschen hier sind besser gekleidet«, schrieb ein Offizier, »scheinen mehr anzuziehen zu haben, sehen sauber und gesund aus, während sie in Frankreich allesamt abgerissen und erschöpft wirkten.«20 Doch der Anschein von relativem Wohlstand konnte täuschen. Die deutschen Besatzer hatten sämtliche Vorräte an Lebensmitteln, Kohle und anderen Ressourcen beschlagnahmt und über eine halbe Million Belgier zur Zwangsarbeit in deutsche Fabriken deportiert. Doch das rasche Vorrücken der Alliierten kam Belgien zugute. So blieben dem Land verheerende Gefechte, Plünderungen der Besatzer in letzter Minute und die für die Wehrmacht so typische Taktik der verbrannten Erde erspart. Im Südosten des Landes hatten unbesonnene Attacken des belgischen Widerstands gegen abziehende deutsche Einheiten allerdings heftige, ausgedehnte Vergeltungsaktionen vor allem von SS-Einheiten zur Folge.

Das Tempo des Vorrückens der Alliierten an diesem Tag war für die Deutschen ein Schock. Ein Unteroffizier beschrieb es in seinem Tagebuch als »einen Vorgang, der alle Erwartungen und Berechnungen übertraf und selbst unsere ›Blitzkriege‹ vom Sommer 1940 in den Schatten stellt«.21 Oberstleutnant Fullriede notierte »die Besprechung der Offiziere in der Kaserne. Die Westfront ist hin; die Gegner stehen bereits in Belgien und an der deutschen Grenze. Rumänien, Bulgarien, die Slowakei und Finnland bitten um Frieden. Es ist genau wie 1918.«22 Andere machten vor allem den engsten Verbündeten verantwortlich. »Die Hauptschuld trifft den Italiener«, schrieb Unteroffizier Oskar Siegl an seine Familie.23 Einige verglichen Italiens »Verrat« an Deutschland mit dem Österreichs im Ersten Weltkrieg. In manchen Fällen hatte das verwundertes Selbstmitleid zur Folge: »Wir Deutschen besitzen in der ganzen Welt nur Feinde, man fragt sich, warum sind wir überall so verhasst? Es gibt keine Nation, welche von uns etwas wissen will.«24

Auch Generale der Alliierten zogen Parallelen zum Ende des Ersten Weltkrieges. Der Optimismus war so groß, dass der Stab von Bradleys 12th Army Group bereits 25 Tonnen Kartenmaterial »für Operationen in Deutschland« bestellt hatte.25 Dazu bemerkte Bradleys Adjutant, Major Chester B. Hansen: »Alle waren so aufgeregt wie eine Horde Zehntklässler vor einem Tanz.«26 Im Stab der 12th Army Group »sprechen wir jetzt über alles mit der Einschränkung ›wenn der Krieg noch so lange dauert‹«.27

In diesen Kreisen wurden die Folgen des versuchten Bombenanschlags Graf Schenk von Stauffenbergs gegen Hitler am 20. Juli grundlegend missverstanden. Die Befehlshaber der Alliierten gingen davon aus, dass dieser den Beginn des Zerfalls der deutschen Wehrmacht signalisiere. Tatsächlich aber bewirkten dessen Fehlschlag und die Repressalien, die danach folgten, genau das Gegenteil. Nazi-Partei und SS übten jetzt die totale Kontrolle aus, der Generalstab und alle Wehrmacht-Einheiten wurden gezwungen, bis zum letzten Atemzug des Führers zu kämpfen.

Während die Vorausabteilungen der Alliierten in Richtung Antwerpen, Brüssel und Maastricht rollten, flogen die Generale Bradley und Hodges am Morgen des 3. September zum Stab von General Miles Dempseys 2nd British Army. Dort wollten sie mit Montgomery »künftige Operationen in Richtung Ruhr« erörtern.28 Außer Eisenhower, der mit einem verletzten Bein in Granville lag, fehlte auch General Henry Crerar, der Befehlshaber der 1st Canadian Army. Er hatte darauf bestanden, in Dieppe zu bleiben, wo er eine Gedenkparade für seine bei dem Desaster vom August 1942 getöteten Landsleute abzuhalten gedachte. Er hätte auf die Schwierigkeiten der Eroberung der Häfen an der Kanalküste und der Auseinandersetzung mit der 15. Armee der Wehrmacht hingewiesen, die sich vom Pas de Calais in einen Raum im Schelde-Mündungsgebiet westlich von Antwerpen zurückgezogen hatte. Der Hafen von Antwerpen war auch von entscheidender Bedeutung für das Vorhaben, über den Rhein nach Deutschland vorzustoßen. Doch Montgomery und Bradley waren völlig auf ihre divergierenden Pläne fixiert: Die Briten wollten nach Norden marschieren, die Amerikaner nach Osten.

Bei dieser Besprechung wurde nicht ordentlich Protokoll geführt, und später war Bradley überzeugt, dass Montgomery ihn absichtlich getäuscht habe. Bradley erklärte, der für den nächsten Tag geplante Einsatz von Luftlandetruppen bei den Brücken über die Maas bei Lüttich sollte abgesagt werden, und Montgomery habe dem zugestimmt. Der Field Marshal sagte später: »Wir beide sind der Meinung, dass alle vorhandenen Flugzeuge für Transporte genutzt werden sollen, damit wir den Schwung des Vormarsches aufrechterhalten können.«29 Doch noch am selben Nachmittag um 16.00 Uhr befahl Montgomery seinem Stabschef, er möge die 1st Allied Airborne Army in England auffordern, einen anderen, weitaus ambitionierteren Plan auszuarbeiten. Jetzt hatte er die Idee, die Brücken »zwischen Wesel und Arnheim« zu erobern, um seine 21st Army Group nördlich des Ruhrgebiets über den Rhein marschieren zu lassen.30 Montgomery spekulierte offenkundig darauf, dass Eisenhower, sollte ihm als Erstem der Brückenschlag über den Rhein gelingen, ihm den Löwenanteil des Nachschubs zusprechen und ihn mit amerikanischen Truppen unterstützen werde.

Dass Eisenhower bei dieser Besprechung nicht anwesend war, erwies sich als sehr bedauerlich. Als Bradley klar wurde, dass Montgomery ohne Absprache mit ihm davon abgerückt war, was beide vereinbart hatten, geriet er in hellen Zorn. Montgomery weigerte sich anzuerkennen, was fast allen anderen hohen britischen Offizieren längst klar war: Großbritannien galt im Bündnis jetzt weitgehend als Juniorpartner, denn die Amerikaner stellten den größten Teil der Truppen, der Technik und des Treibstoffs. Die Vorstellung, Großbritannien sei weiterhin eine Macht ersten Ranges, war ein Fantasiebild, das Churchill verzweifelt aufrechtzuerhalten suchte, obwohl er im Grunde wusste, dass dies nicht der Fall war. Man kann durchaus das Argument anführen, dass das verheerende Klischee, welches Großbritannien bis heute veranlasst, in einer zu hohen Gewichtsklasse zu boxen, in jenem September 1944 entstanden ist.

[1]Eisenhowers Strategie der breiten Front wurde vom Oberkommando der Wehrmacht (OKW) mit Erleichterung aufgenommen. Nach deutschen Vorstellungen, so schrieb ein Stabsoffizier, war es ein Rätsel, weshalb der Gegner nicht alle seine Truppen an einem Punkt konzentrierte und dort einen Durchbruch erzwang. Stattdessen habe er dem deutschen Oberkommando einen Gefallen getan, als er seine Kräfte fächerförmig über die ganze Front verteilte.

2Der »verrückte Dienstag«

Am Montag, dem 4. September, dem zweiten Tag, an dem in Brüssel gefeiert wurde, sendete Königin Wilhelmina der Niederlande aus London über den Rundfunk folgende Botschaft: »Landsleute, ihr wisst, dass unsere Befreiung nahe ist. Ich teile euch mit, dass ich Prinz Bernhard zum Kommandeur der Niederländischen Truppen unter dem Oberbefehlshaber General Eisenhower ernannt habe. Prinz Bernhard wird den bewaffneten Widerstand befehligen. Bis bald. Wilhelmina.«1

Der Rückzug der Deutschen durch die Niederlande ins Reich hatte am 1. September eingesetzt und erreichte vier Tage später seinen Höhepunkt. Dieses Datum ist in den Niederlanden als Dolle Dinsdag, der »verrückte Dienstag«, berühmt geworden.2 Gerüchte wollten wissen, Montgomerys Armeen stünden bereits an der deutschen Grenze. Am Abend des 4. September wurde in einer Reportage des niederländischen Dienstes der BBC sogar irrtümlich behauptet, die Alliierten hätten schon Breda und Roermond erreicht. Daraufhin strömten am nächsten Morgen die Menschen in Amsterdam auf die Straßen, um die Panzer der Alliierten bei ihrer Einfahrt willkommen zu heißen.

Rückzüge bieten meist einen traurigen Anblick, doch die heruntergekommene, deprimierte Masse verstreuter Wehrmacht-Soldaten aus Frankreich und Belgien löste bei der niederländischen Bevölkerung nach den Demütigungen durch die arroganten Besatzer ein ungewöhnliches Maß an Jubel, Entrüstung und höhnischem Gelächter aus. »Nie haben wir etwas so genossen wie den Anblick dieses chaotischen Rückzugs einer einst großen Armee«, schrieb eine Frau aus Eindhoven.3 In improvisierten Einheiten hatten einige von ihnen, wie etwa Matrosen der Kriegsmarine, die in Schiffs-Stamm-Abteilungen gegliedert waren, den größten Teil der Strecke von der Atlantikküste aus zu Fuß zurückgelegt. Andere hatten sich auf jedes Fahrzeug gestürzt, dem sie unterwegs begegneten, wie uralte Citroëns mit Trittbrettern oder Holzvergasern mit Rauchabzügen.

Das Schauspiel, das die Niederländer faszinierte und begeisterte, schien den Eindruck des totalen Zusammenbruchs zu bestätigen. Sie setzten sich auf Stühlen an die Straßen, um dem Schauspiel beizuwohnen. Die einst so unbesiegbar erschienene hochtechnisierte Wehrmacht, die ihr Land im Sommer 1940 so leicht überrannt hatte, musste sich jetzt alle Arten denkbarer Fortbewegungsmittel, vor allem Fahrräder, zusammenstehlen.

Bei Kriegsbeginn hatte es im Land vier Millionen Fahrräder gegeben, halb so viele wie die Bevölkerungszahl. Anfang Juli 1942 hatte die Wehrmacht 50000 beschlagnahmt. Jetzt waren weitere Tausende nach Deutschland unterwegs. Zumeist mit Soldatenausrüstung und Beutestücken beladen, wurden sie über die Straßen geschoben. Ohne Gummireifen war das Fahren mit den Holzrädern außerordentlich anstrengend. Doch der Verlust der Fahrräder war ein schwerer Schlag. Die Untergrundbewegung brauchte sie für ihre Kuriere, und die Familien waren darauf angewiesen, um damit auf dem Land Lebensmittel zu organisieren.

Auch die meisten Kraftfahrzeuge, die in Frankreich und Belgien erbeutet wurden, hatten keine Reifen mehr. Lediglich auf den Felgen unterwegs, machten sie beim Fahren Geräusche, bei denen jeder zusammenzuckte. Den größten Teil davon hatten sich deutsche Offiziere ergattert. Einem Bewohner von Eindhoven fiel auf, dass »in vielen Wagen junge Frauen saßen – von der Sorte, wie sie sich den Deutschen angedient hatten«.4 Diese französischen, belgischen und niederländischen Frauen, wahrscheinlich der collaboration horizontale schuldig, wollten ihrem absehbaren Schicksal in der Heimat entrinnen. Auch in Arnheim sah der Neurologe Louis van Erp ein paar deutsche Offiziere »mit Frauen auf dem Schoß, teils Deutsche, teils Französinnen«.5 Die Männer schwenkten Weinbrandflaschen und tranken daraus. In einigen Städten nannte man diesen Tag deshalb den »Cognac-Dienstag«.6 Deutsche Soldaten versuchten einige von diesen Flaschen und andere geplünderte Waren zu verkaufen. Darunter waren Nähmaschinen, Fotoapparate, Armbanduhren, Kleidung und Vögel in Käfigen, die die Fahrt sicher nicht überlebt hätten. Nur wenige Niederländer nutzten dieses Angebot.

Einige der Autos gehörten den niederländischen Sympathisanten der Nazis von der Nationaal-Socialistische Beweging (NSB). Sie wussten, dass die Provinz Brabant im Süden des Landes ohne den Schutz der Deutschen für sie zu gefährlich war. Auf der Flucht vor Vergeltung waren auch Kollaborateure aus Frankreich und erzkatholische, pronazistische Royalisten aus Belgien. Patriotisch eingestellte Niederländer nannten die Mitglieder der NSB »falsche« Niederländer oder »schwarze Kameraden«. Für sie waren die noch schlimmer als die Deutschen.7 »Die Einstellung der holländischen Bevölkerung zur NSB bleibt total ablehnend«, berichtete ein deutscher Offizier aus Utrecht. »Lieber 10 Deutsche als 1 NSBer ist die Meinung, und das will bei der Ablehnung, die allem Deutschen entgegengebracht wird, schon etwas heißen.«8

Befremdlich wirkten Omnibusse und Krankenwagen des Roten Kreuzes, in denen sich Soldaten mit ihren Waffen drängten, was allen Regeln der Kriegführung widersprach. Soldaten saßen auf von Pferden gezogenen Bauernwagen, die mit Hühnern, Enten und Gänsen in hölzernen Verschlägen beladen waren, und auf Lastwagen mit gestohlenen Schafen und Schweinen. Jemand sah zwei Ochsen, die in einem Bus hin und her liefen; eine Nonne erblickte eine Kuh in einem Krankenwagen. Solche Szenen schamlosen Diebstahls von Nahrungsgütern in besetztem Gebiet lösten nur bitteres Lächeln aus. Auch ein Feuerwehrfahrzeug, ja sogar ein staubiger Leichenwagen, die Pferde mit Straußenfedern geschmückt, wurden gesichtet. Wehrmacht-Fahrzeugen hatte man Kiefernzweige an die Stoßstangen gebunden, um Reißzwecken und Nägel wegzufegen, die Untergrundkämpfer auf die Straßen gestreut hatten.

Die erschöpften Fußsoldaten, die »Moffen«, wie die Niederländer die deutschen Besatzer verächtlich nannten, waren abgerissen, unrasiert und vom Straßenstaub geschwärzt.[2] Ihr Anblick und derjenige der Offiziere, die sich in Wagen fahren ließen, erregten Aufsehen, als der trostlose Zug über die Grenze des Reichs kam. Wilde Gerüchte und zahlreiche hämische Witze machten die Runde. Ein Gefreiter hörte von seiner Familie: »Die gestern Abend kamen, erzählten, dass in Kaiserslautern der Führer selbst die Autos kontrolliert habe.« Die Zivilbevölkerung empörte sich darüber, welche Privilegien die Offiziere genossen und wie sie die einfachen Landser behandelten. »Die ›Herren‹ gingen mit ihren vollbepackten Autos durch die Latten und ließen den Landser im Stich.«9

In Deutschland hatte sich ein deutlicher Unterschied in der Haltung zu den Soldaten an der Ostfront im Vergleich zu deren Gegenstück, den Westfrontkämpfern, herausgebildet. Allgemein verbreitet war der Verdacht, die Wehrmacht im Westen sei in den vier Jahren bequemer Besatzungszeit in Frankreich und den Niederlanden arg verweichlicht. »Die Stimmung der Bevölkerung gegen Westfrontkämpfer ist nicht allzu gut«, schrieb eine Ehefrau an ihren Mann, »und auch ich bin der Überzeugung, wenn die Ostfrontkämpfer im Westen gestanden hätten, wäre der Durchbruch nicht gelungen.«10

Ein Artillerist bestätigte in einem Brief an seine Verwandten den Eindruck des Zusammenbruchs im Westen: »Ihr könnt Euch kein Bild machen, wie es dort aussieht. Das ist kein Rückzug, sondern eine Flucht.« Er bekannte aber auch, dass man sich dabei gut mit Beute eingedeckt hatte. »Schnaps, Zigaretten, Fett und Fleisch in Büchsen zu Hunderten haben die Autos geladen.«11 Auch die deutschen Besatzungsbehörden plünderten bis zur letzten Minute. Die Kirchenglocken waren bereits eingeschmolzen, nun schaffte man eilig weitere Rohstoffe, vor allem Kohle und Eisenerz, mit allen erreichbaren Lokomotiven und Waggons ins Reich. Solche Aktionen wurden damit gerechtfertigt, dass man den Alliierten keinen »wirtschaftlichen Vorteil« verschaffen dürfe.12 In bestimmten Fällen wurde auch die Taktik der verbrannten Erde angewandt. In Eindhoven zeugte eine Reihe gewaltiger Explosionen davon, dass die Deutschen Anlagen des Flugplatzes zerstörten und Munitionslager in die Luft sprengten. Riesige Rauchwolken verdüsterten die Sonne.13

Alle diese Ressourcen ins Reich zu transportieren war nicht einfach. In der ersten Septemberhälfte verübte der niederländische Untergrund zahlreiche Sabotageakte. Doch ein deutscher Offizier bemerkte: »Dass der Eisenbahnverkehr ruht, ist nun weniger eine Energiefrage, sondern mehr dem Wirken der englischen Flieger zuzuschreiben, die den größten Teil der Lokomotiven kaputt geschossen haben.«14 Zur Entrüstung und zum großen Ärger der niederländischen Exilregierung in London konnten Piloten von RAF-Jagdbombern nicht der Versuchung widerstehen, Lokomotiven aus ihren Bordkanonen zu beschießen, weil die Detonation eine so spektakuläre Dampfwolke auslöste.15

Die einzige Freude der Zivilbevölkerung war es zu sehen, wie die dadurch verursachten Verzögerungen die Mitglieder der NSB und ihre Familien, die nach Deutschland zu fliehen versuchten, zur Verzweiflung brachten. In einer Stadt südwestlich von Arnheim löste deren Bedrängnis höchste Schadenfreude aus. »Es war ein herrliches Bild«, schrieb ein Bewohner namens Paul van Wely. »Der Wartesaal des Bahnhofs wirkte wie eine Ansammlung von Landstreichern. Alles heulte und ließ die Köpfe hängen.«16 Etwa 30000 NSB-Mitglieder samt Familien flüchteten nach Deutschland, wo sie im Chaos der letzten Kriegsmonate weitgehend sich selbst überlassen waren. Ein Historiker formulierte es so: »Mit dem 5. September wurde ein vorläufiger Schlussstrich unter den organisierten Faschismus in den Niederlanden gezogen.«17

In diesen Tagen des Interregnums, als die niederländische Polizei wegen ihrer zweifelhaften Rolle während der Besatzung mehr oder weniger untergetaucht war, entführten Untergrundgruppen Mitglieder der NSB und sogar ein paar deutsche Beamte. Einige wurden später von der deutschen Polizei befreit. An diesem »verrückten Dienstag« rief Reichskommissar Dr. Arthur Seyß-Inquart den Ausnahmezustand aus.[3] In der Bekanntmachung hieß es, die deutschen Truppen hätten Befehl, jeden Widerstand gegen die Besatzungsmacht mit Waffengewalt zu brechen. Für die geringste Verletzung der Bestimmungen wurde die Todesstrafe angedroht.18

Viele deutsche Offiziere waren erbost darüber, dass die Niederländer ihre angelsächsischen Befreier offenbar mit Fahnen und Blumen empfangen wollten. Wieder einmal vertauschten die Nazis auf für sie typische Weise Ursache und Wirkung. Obwohl sie ein neutrales Land heimtückisch überfallen und besetzt hatten, erwarteten sie nach wie vor von der Bevölkerung, sich ihnen gegenüber loyal zu verhalten. »Die Holländer sind nicht nur feige, sondern auch faul und träge«, schrieb Oberleutnant Helmut Hänsel verbittert.19

Viele einfache Soldaten sahen das jedoch anders. Jene, die den Krieg satt hatten, meinten ironisch: »Mein Bedarf an Heldentod ist völlig erledigt.«20 Reichsdeutsche, die in Holland wohnten oder arbeiteten, wurden, selbst wenn sie über sechzig Jahre alt waren, während dieser Krise zu ihrem Schrecken noch eingezogen. »Sie tragen Zivilkleidung unter ihren Uniformen und hoffen, flüchten zu können«, stellte ein mitfühlender Niederländer fest, »aber man lässt sie keinen Augenblick ohne Aufsicht.«21

»Ein sehr nasser, stürmischer Tag«, schrieb Admiral Ramsay in sein Tagebuch. »Die Briten in Brüssel und Antwerpen. Letzterer Hafen kaum beschädigt, aber nutzlos, solange die Mündung und die Zugänge noch nicht vom Feind gesäubert sind.«22 Ramsays Sorge teilten seine Kollegen von den Bodentruppen nicht. Sie waren nach wie vor in Hochstimmung über ihren erfolgreichen Vormarsch.

Das Einrücken der britischen 11th Armoured Division in Antwerpen »war äußerst schwierig wegen der großen Freude und Begeisterung der riesigen Menschenmassen«. Die Deutschen waren so überrascht, dass sich nur wenige entschlossen zur Wehr setzten. Doch am wichtigsten war, dass es der Widerstandsbewegung gelang, die Hafenanlagen zu sichern und ihre Zerstörung durch die Deutschen in letzter Minute zu verhindern. Ihre Kämpfer waren auch »sehr hilfreich bei der Ausschaltung von Scharfschützen und dem Umgang mit Gefangenen«.23 Die sperrte man in die leeren Käfige des Antwerpener Zoos, ohne zwischen deutschen Offizieren, Unteroffizieren und Soldaten zu unterscheiden. Getrennt wurden Verräter und Kollaborateure und in einem weiteren Käfig deren Frauen und Kinder sowie junge Frauen eingeschlossen, denen man vorwarf, mit Deutschen geschlafen zu haben. Die Tiere des Zoos waren verhungert oder während der Besatzungszeit aufgegessen worden.

Um den schmalen Korridor der Alliierten nach Antwerpen zu sichern, wurden Truppen an Nebenstraßen postiert. Die Sherwood Rangers erreichten Renaix südlich von Gent nach einer Fahrt von 400 Kilometern, die sie in den acht Tagen seit ihrem Kricket-Spiel zurückgelegt hatten. Mit ihren Sherman-Panzern kesselten sie ein deutsches Regiment von 1200 Mann ein. Der deutsche Kommandeur, »ein gepflegter, untersetzter Kerl mit Stiernacken«, bestand in langen Verhandlungen darauf, seine Offiziersehre verlange von ihm, wenigstens den Eindruck von Gegenwehr zu erwecken. Das kostete Zeit, aber die Sherwood Rangers wussten, dass dies besser war als eine längere, wenn auch einseitige militärische Auseinandersetzung.

Der deutsche Kommandeur willigte schließlich ein, dass er und seine Männer an diesem Abend unter Waffen ausrücken und sich ergeben wollten, wenn kein einziger deutscher Soldat an den Widerstand ausgeliefert werde. Der Oberst bestand darauf, fünfzehn Minuten lang zu seinen Männern zu sprechen, um ihnen zu versichern, dass dies eine ehrenvolle Kapitulation sei. Dann gab er seinem Stabsfeldwebel ein Zeichen. Der brüllte einen Befehl, und alle Soldaten knallten fast gleichzeitig die Gewehrkolben auf das Pflaster. »Danach hoben sie den rechten Arm und riefen dreimal ›Sieg Heil!‹, was sich für eine Kapitulation reichlich paradox anhörte. Die Angehörigen der Untergrundbewegung, denen man die Möglichkeit genommen hatte, Rache zu üben, sahen zornig zu, wie die ehemaligen Okkupanten in ein Gefangenenlager geführt wurden.«24

Nachdem Horrocks’ zwei Panzerdivisionen ihren dramatischen Vorsturm beendet hatten, blieben sie in Antwerpen und Brüssel, um die Fahrzeuge zu warten und ein wenig auszuruhen. Horrocks war auf dem Weg nach Brüssel von einem deutschen Panzer beschossen worden, den sie beim Vormarsch überrollt hatten. Daraufhin wurden Spähpanzer der 2nd Household Cavalry zurückgelassen, um auf der Straße zu patrouillieren, während der Corps Commander seinen Stab im Park des Königspalastes von Laeken einrichtete. Auch hier folgte ein Festtag mit Triumphzug durch die ganze Stadt. Der britischen Guards Armoured Division folgte eine Brigade belgischer Truppen, welche in die Feierlichkeiten einbezogen wurde. Ein Offizier der britischen Einheit nannte es einen außergewöhnlichen Anblick, da buchstäblich ganz Brüssel an den Straßen stand und den Truppen zujubelte. Die Armée Blanche des belgischen Widerstands führte Gruppen von Gefangenen in dem Zug mit und feuerte Freudenschüsse in die Luft.25

Kurz darauf verließen ein Bataillon Infanterie und eine Panzerabteilung der Grenadier Guards Brüssel in östlicher Richtung, um Löwen einzunehmen. Bei vielen Angehörigen des Regiments wurden Erinnerungen an eine Aktion während des Rückzugs nach Dünkirchen gut vier Jahre zuvor wach. Auch Field Marshal Montgomery wurde von alten Albträumen heimgesucht. Er richtete seinen Befehlsstand im Château d’Everberg fünfzehn Kilometer östlich von Brüssel an der Straße nach Löwen ein. Den Ort kannte Montgomery gut. Dieses Haus aus dem 18. Jahrhundert, das man später ausgebaut hatte, war vier Jahre zuvor, im späten Frühjahr 1940, der Befehlsstand seiner 3rd Division gewesen. Jetzt war die Schlossherrin, Prinzessin de Merode, nicht sonderlich erfreut, die Besucher wiederzusehen. Offenbar erinnerte sie sich daran, wie Montgomerys Stabsoffiziere bei der letzten Gelegenheit ihren Weinkeller geplündert hatten. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass das Militär ihr Haus »wie ein Hotel« behandelte. Erst an diesem Vormittag waren Jagdflieger der Luftwaffeneinheit JG 51, des berühmten Jagdgeschwaders Mölders, überstürzt geflohen, und kaum drei Stunden später belegten die Briten das Haus erneut mit Beschlag.26

[2]Das niederländische Wort »Moffen« für die Deutschen entsprach den »Krauts« oder »Boches« im Englischen bzw. Französischen. Es stammt vom Anfang des 17. Jahrhunderts, als die deutschen Gebiete östlich der Niederlande »Muffe« genannt wurden. Die damals wesentlich reicheren und höher entwickelten Niederländer sahen auf deren Bewohner als grob und ungebildet herab. Während der deutschen Besatzung besann man sich wieder auf diese Bezeichnung.

[3]Seyß-Inquarts voller Titel, »Reichskommissar für die besetzten niederländischen Gebiete«, bezeugt, dass die Nazis geplant hatten, die Niederlande dem Reich einzuverleiben.

Gegen Ende der ersten Septemberwoche zeigte der Treibstoffmangel sowohl in Montgomerys 21st Army Group als auch in Bradleys 12th Army Group erste Auswirkungen. Bradleys Adjutant Hansen notierte am 6. September, dass selbst Korpskommandeure »gezwungen sind, sich kanisterweise Benzin zu leihen, um ihre Fahrzeuge am Laufen zu halten«. Da noch keiner der Häfen am Ärmelkanal geöffnet war, musste der gesamte Nachschub über den langen Weg aus der Normandie im Westen herangebracht werden. Das geschah mithilfe eines »Red Ball Express« genannten permanenten Konvois Tausender Lastwagen, die zumeist von afroamerikanischen Soldaten gefahren wurden. »Riesige Konvois des Red Ball Express«, ergänzte Hansen, »mit Tausenden Tonnen Benzin rollen die ganze Nacht hindurch mit einer Geschwindigkeit von 50 Meilen pro Stunde die Highways entlang und tauchen sie in helles Scheinwerferlicht.«27

Die Guards Armoured Division in Brüssel erhielt Befehl, bis zum Albert-Kanal, von dort nach Leopoldsburg nahe der niederländischen Grenze vorzustoßen und schließlich Eindhoven einzunehmen. Man »erwartete nur geringen Widerstand«, der höchstens »bei den Kanälen und Brücken« heftiger sein konnte.28 Ein großes Getränkelager der Wehrmacht wurde entdeckt, die Irish Guards schickten einen Lkw und beluden ihn mit 28 Kisten Champagner, dazu Schnaps und Wein, um ihren bevorstehenden Triumphzug zu befeuern. Der Guards Armoured Division gelang es, sich bei Beringen auf der gegenüberliegenden Seite des Albert-Kanals festzusetzen, obwohl die Deutschen die Brücke gesprengt hatten. Noch während der Nacht hatte ihre Pionierkompanie eine Behelfsbrücke errichtet.

Doch bereits am nächsten Mittag wurde den Guards klar, dass »wir jetzt aufhören müssen, an Blumen, Obst und Küsse zu denken, und uns wieder mit handfesteren Dingen zu beschäftigen haben«. Die Gegenwehr der Deutschen war eindeutig stärker geworden. »Einmal an diesem sehr komplizierten Tag sah es so aus, als könnten wir die Behelfsbrücke einbüßen. Ein SS-Offizier mit vierzig Mann kletterte auf Lastkähne in der Nähe, nachdem sie bereits nicht weniger als vierzig Nachschubfahrzeuge ausgeschaltet hatten.« »Für die Welsh und die Coldstream [Guards] war das ein schwerer Schlag«, hielt der Schreiber des Kriegstagebuchs fest und fügte hinzu: »SS-Truppen müssen entweder getötet oder verwundet werden, besser das Erstere.«29

Aufmerksame niederländische Zivilisten hatten bereits eine Veränderung im Verhalten der deutschen Truppen bemerkt. Während nach wie vor ganze Kolonnen entmutigter Soldaten durch ihre Stadt zogen, hielt eine Augenzeugin in Eindhoven fest: »Der Rückzug der Deutschen ging am Montag weiter, doch zur gleichen Zeit kam auch eine Gegenbewegung in Gang: Große Gruppen von Soldaten marschierten, stark mit Baumzweigen getarnt, durch die Stadt in Richtung belgische Grenze.«30

Die Einnahme von Antwerpen durch britische Truppen am 4. September hatte in der Wolfsschanze, dem Führerhauptquartier in Ostpreußen, einen Sturm ausgelöst. Als Hitler davon erfuhr, vergaß er kurzerhand die Gründe, weshalb er Generalfeldmarschall Gerd von Rundstedt Ende Juni entlassen hatte, rief ihn zurück und ernannte ihn erneut zum Oberbefehlshaber West. Generaloberst Kurt Student befand sich in Berlin auf der Insel Wannsee im Hauptquartier der Fallschirmjäger der Luftwaffe, als er aus der Wolfsschanze angerufen wurde. Student, der Architekt der Fallschirmtruppe, hatte bereits 1940 in den Niederlanden und im Jahr danach auf Kreta Luftlandeoperationen befehligt. Jetzt befahl ihm Hitler, »sofort eine neue Abwehrfront im Zuge des Albert-Kanals aufzubauen und diese Front nachhaltig zu verteidigen«.31 Dafür erhielt Students Truppenverband den aufgeblasenen Namen 1. Fallschirm-Armee. Laut einem seiner besonders zynischen Offiziere wählte Hitler Student für diese Aufgabe aus, denn »der Führer, der größte Feldherr aller Zeiten, fragte sich: ›Wer soll Holland verteidigen? Das kann nur der machen, der Holland erobert hat.‹ So kam Student nach Holland.«32

Student musste jede Luftlandeeinheit einsetzen, die für ihn greifbar war, darunter das Fallschirmjäger-Regiment 6 unter dem Befehl von Oberstleutnant Friedrich Freiherr von der Heydte. Er beorderte auch neu aufgestellte Einheiten herbei, die sich noch in Ausbildung befanden, ja sogar Bodenpersonal der Luftwaffe, aus dem man Infanterie-Bataillone gebildet hatte. Heydte, ein Veteran der von der Luftwaffe getragenen Invasion auf Kreta im Jahre 1941, war angewidert von der Art, wie unausgebildete Angehörige der Luftwaffe zu Fallschirmjägern erklärt wurden. »Diese neuen Fallschirmjäger-Divisionen sind schlechtere Flak-Felddivisionen«, sagte er zu Offizierskameraden. »Ja, das ist nun eine Eitelkeit vom guten Göring. Die soll damit zusammenhängen, dass er sagt: ›Wenn der Friede ausbricht, dann sehe ich nicht ein, warum nur der Himmler seine Privatarmee haben soll.‹«33

Das Sicherungs-Bataillon VI der Luftwaffe (für Sondermissionen) war im Grunde ein Strafbataillon, das aus Italien herangeführt wurde. Es bestand aus Männern des Luft- und Bodenpersonals, die wegen krimineller Vergehen vorbestraft waren, und wegen Inkompetenz entlassenen Offizieren. Ihre Bewaffnung war kläglich, und sie trugen immer noch Tropenuniform. Selbst Heydtes berühmtes Regiment war nach den Kämpfen gegen die amerikanische 101st Airborne Division in der Normandie nur noch ein Schatten seiner selbst. »Die Kampfkraft des Regiments war gering«, berichtete er. »Die Truppe war noch nicht zusammengeschweißt, der junge Ersatz – 75 Prozent des Regiments – nicht oder kaum ausgebildet. Hunderte von Regimentsangehörigen hatten noch nie ein Gewehr in der Hand gehabt und feuerten den ersten Schuss ihres Lebens im ersten Gefecht ab!«34

Drei der neuen Regimenter wurden zur 7. Fallschirmjäger-Division zusammengefasst. Student befahl seinem Stabschef, Generalleutnant Erdmann, den Befehl zu übernehmen.35 Außerdem erhielt Student die 719. Infanterie-Division des Küstenschutzes und die 176. Infanterie-Division. Beide bestanden in der Hauptsache aus Bataillonen von Rekonvaleszenten und chronisch Kranken. Den Befehl übergab er an den Stab des LXXXVIII. Korps unter dem General der Infanterie Hans-Wolfgang Reinhard, »einem ruhigen und erfahrenen Truppenführer«. Zwar erhielt er eine Brigade Sturmgeschütze, darunter mehrere schwere Panzerjäger vom Typ Jagdpanther, doch insgesamt hatte seine »kleine und wenig bewegliche« Armee ganze 25 Panzer an einer Front zur Verfügung, die sich fast 200 Kilometer von der Nordseeküste bis nach Maastricht erstreckte.

Students 1. Fallschirm-Armee sollte der Heeresgruppe B unterstehen. Da er über keine Artillerie verfügte, forderte er von der Luftflotte Reich Flakeinheiten an, denn deren 88-mm-Fla-Kanonen waren mit verheerender Wirkung auch gegen Panzer einzusetzen. »Und nun konnte man wieder einmal die erstaunliche Präzision deutscher Organisations- und Generalstabsarbeit bewundern«, schrieb Student mit nur wenig Übertreibung. »Alle diese Truppen, die über Deutschland weit verstreut lagen, von Güstrow in Mecklenburg bis Bitsch in Lothringen, wurden in Blitztransporten an den Albert-Kanal gefahren. Hier trafen sie bereits am 6. und 7. September ein, also 48 bis 72 Stunden nach ihrer Alarmierung. Auf den Ausladebahnhöfen – und das ist das Bemerkenswerteste – lag aber schon die Bewaffnung und Ausrüstung für die neu aufgestellten fünf Fallschirmjäger-Regimenter bereit, die aus irgendwelchen anderen Teilen Deutschlands herangebracht worden war.«36

Es kam auch zu einzelnen spontanen Reaktionen gegen den überstürzten Rückzug. Am 4. September erfuhr Generalleutnant Kurt Chill, der mit den Resten seiner 85. Infanterie-Division in Turnhout einen Zwischenstopp einlegte, dass die Briten in Antwerpen und Brüssel einmarschiert waren. Sofort ließ er seine Einheiten wenden und längst des Albert-Kanals Aufstellung nehmen. In der Normandie war Chills Division auf weniger als ein Regiment zusammengeschrumpft. Auf dem Rückzug über Brüssel hatte sie ein Bataillon kaum bewaffneter Ersatzleute aufgenommen. Zufällig begegnete General Reinhard dem Funkoffizier der 85. Division und hörte hocherfreut, dass Chill begonnen hatte, Versprengte und Artillerieeinheiten aufzufangen, die sich auf dem Rückzug befanden. Mit diesen baute er am Albert-Kanal zwischen Hasselt und Herentals eine Verteidigungslinie auf.37

So wurde die 85. Division zu einem der Grundbausteine von Students Fallschirm-Armee. Vielerorts hielten Offiziere und die verhassten Feldgendarmen, wegen des Metallschilds an einer Kette um den Hals auch »Kettenhunde« genannt, Versprengte mit vorgehaltener Waffe auf und zwangen sie in neue, bunt zusammengewürfelte Einheiten. Für den weiteren Rückzug wurde ein Kampfkommandant ernannt, der das Recht hatte, jeden Offizier bis zum Rang eines Obersten jederzeit und, wenn notwendig, auch mit vorgehaltener Waffe anzuhalten und unverzüglich zum Einsatz zu zwingen.38

Am Dienstag, dem 5. September, flog Student nach Verviers bei Lüttich, um dort Model zu treffen. Er erklärte, seine einzige Hoffnung, genügend Truppen konzentrieren zu können, um die Frontlinie zu halten, sei die 15. Armee unter General Gustav-Adolf von Zangen. Dank der Entscheidung der Briten, ihren Vormarsch in Antwerpen zu stoppen und die Scheldemündung nicht zu sichern, konnte Student in der Tat Verstärkung von der 15. Armee erhalten. Um Luftangriffen der Alliierten zu entgehen, brachte man die Männer und Waffen nachts mit Lastkähnen über die Schelde. Dass man es versäumte, einen so großen Verband einzukesseln, sollte gegen Ende des Monats beträchtliche Wirkung zeigen. Dieser war nun in der Lage, die westliche Flanke der amerikanischen Luftlandetruppen anzugreifen, welche die Straße nach Norden in Richtung Arnheim zu sichern suchte.

Student fuhr zu General Reinhard vom LXXXVIII. Korps. Unterwegs kam er an Wagen der 719. Division vorbei, die von Pferden gezogen wurden. Das erinnerte ihn daran, dass Deutschland jetzt einen Krieg des armen Mannes führte. Als Generalleutnant Chill am nächsten Tag, dem 6. September, endlich Gelegenheit hatte, Student Meldung zu machen, erfuhren beide, dass britische Panzer bei Beringen den Kanal überschritten hatten. Student befahl Chill, einen Gegenangriff mit Heydtes Fallschirmjäger-Regiment 6 und einem Bataillon der 2. Fallschirmjäger-Division zu koordinieren. Sie erhielten Unterstützung von einem Panzerjäger-Bataillon des Heeres. Bei Beverlo, nördlich von Beringen, kam es zu schweren Gefechten, bei denen mehrere Panzer der Guards Armoured Division von deutschen Panzerfäusten abgeschossen wurden.

Die Befehlshaber der Alliierten unterschätzten die Energie von Generalfeldmarschall Walter Model, dem Hitler gegen Ende der Normandie-Krise die Heeresgruppe B anvertraut hatte. Model, ein untersetzter, kräftiger Mann mit Monokel, glich so gar nicht dem Typ der aristokratischen Stabsoffiziere, die Hitler zuwider waren. Aus einfachen Verhältnisse stammend und sich sehr volkstümlich gebend, war Model ein absolut treuer Anhänger Hitlers, der ihn bereits bei Krisen an der Ostfront als Feuerwehrmann eingesetzt hatte.

Bei seinen Offizieren genoss Model unterschiedliches Ansehen. Während ein Regimentskommandeur in einer SS-Panzergrenadier-Division meinte, »der Model ist der Totengräber der Westfront«39, bewunderte ihn ein anderer aus derselben Division uneingeschränkt: »Er ist ein Improvisationskünstler ersten Ranges. Er ist ein ausgesprochen kalter Hund, der bei den Landsern außerordentlich beliebt ist, und zwar deswegen, weil er ein gewisses Herz für den Landser hat, ohne dass er sich irgendwie propagandistisch in den Vordergrund stellt, der aber bei seinem eigenen Oberkommando so verhasst ist wie nur irgendein Mann. Und zwar deswegen, weil er von denen genau dasselbe verlangt wie von sich selbst …« Er sei arrogant und hochfahrend, habe ständig neue Ideen, in jeder misslichen Lage mindestens drei Lösungen, sei aber auch ein Autokrat durch und durch. Er lasse keinen Widerspruch zu.40 Ein anderer hoher Offizier bestätigte, dass Model keinerlei Widerworte von Untergebenen dulde41und »ein kleiner Hitler sei.«42

Die aus Frankreich zurückflutenden Versprengten waren ein Horrorbild für den General der Flieger Friedrich Christiansen, den Wehrmacht-Befehlshaber in den besetzten Niederlanden. Er war der Meinung, diese abgerissenen Gestalten demoralisierten seine eigenen Truppen. An Brücken, die über die großen Flüsse führten, besonders an der Waal, wurden diese Männer aufgehalten, um aus ihnen sogenannte Alarmeinheiten zu bilden.

Christiansen, einer von drei Männern, welche die Macht in den besetzten Niederlanden ausübten, war im Ersten Weltkrieg ein Marineflieger-Ass gewesen. Er galt als nicht besonders intelligent, jedoch als leidenschaftlicher Bewunderer des Führers und unterwürfiger Gefolgsmann von Reichsmarschall Hermann Göring. Sein Stellvertreter war Generalleutnant Heinz-Hellmuth von Wühlisch, ein altes preußisches Schlachtross, der einen Stab von Gleichgesinnten um sich versammelt hatte. Doch Christiansen war ein zutiefst misstrauischer Mann. Nach dem Bombenanschlag auf Hitler suchte er Spitzel in Wühlischs Umgebung unterzubringen, den er für einen tatsächlichen oder potenziellen Verräter hielt. Wühlisch sei schuldig gewesen, behauptete Christiansen nach dem Krieg. Er habe Selbstmord begangen, fügte er hinzu, als wäre das ein Beweis für seine Vermutung.43

Theoretisch lag die Leitung der deutschen Verwaltung der Niederlande in den Händen eines Österreichers, des Reichskommissars Dr. Arthur Seyß-Inquart. Der bebrillte Rechtsanwalt hatte im März 1938 den Anschluss Österreichs an Hitlerdeutschland organisiert und damit sein Vaterland zur Ostmark von Großdeutschland gemacht. Seyß-Inquart wurde deren Gouverneur und ordnete als Erstes die Beschlagnahme allen jüdischen Eigentums an. Nach der Invasion in Polen wurde er Stellvertreter von Hans Frank, dem berüchtigten Nazi an der Spitze des Generalgouvernements. Als die neutralen Niederlande im Mai 1940 erobert und besetzt wurden, initiierte dieser überzeugte Antisemit die Verfolgung aller Juden im Land. Tragischerweise versäumten es die niederländischen Beamten, alle Meldeakten zu vernichten, bevor die Wehrmacht die öffentlichen Gebäude besetzte. In den Meldeakten der großen Mehrheit der 140000 Juden niederländischer oder anderer Staatsangehörigkeit war deren religiöses Bekenntnis vermerkt und machte sie damit leicht identifizierbar. Im September 1944 befürchtete Seyß-Inquart in beträchtlicher Überschätzung der Stärke der niederländischen Untergrundbewegung einen allgemeinen Aufstand. Daher wollte er in Rotterdam, Amsterdam und Den Haag Zentren der Gegenwehr schaffen.

Der dritte und in mancher Hinsicht mächtigste Mann des Nazi-Triumvirats in den Niederlanden war ein weiterer Österreicher, SS-Obergruppenführer Hanns Albin Rauter, der Höhere SS- und Polizeiführer des Landes. Auf dem Höhepunkt der Judenverfolgung durch die Deutschen im Juni 1942 kam es zu Streiks und Protesten, die zwar eine Demonstration großen Mutes waren, die Repressionsmaßnahmen aber nur verschärften. Von den 140000 niederländischen Juden wurden etwa 110000 deportiert. Nur circa 6000 von ihnen überlebten den Krieg. Die 30000 im Lande verbliebenen Juden wurden in den meisten Fällen von einfachen niederländischen Bürgern versteckt oder ins Ausland gebracht. Mehr als 1500 der insgesamt 1700 Juden, die in Arnheim gelebt hatten, wurden in deutsche KZs deportiert und dort ermordet. Eine gewisse Zahl von ihnen wurde von der Untergrundbewegung versteckt und gerettet, vor allem durch Johannes Penseel und seine Familie.44

Menschen, ob Juden oder nicht, die sich vor den Deutschen verbargen, wurden onderduiker – »Taucher« – genannt. In manchen Gegenden gelang es Juden besser, sich zu verstecken. So tauchten zum Beispiel über die Hälfte der 500 Juden Eindhovens unter und konnten gerettet werden.45 Da in einem Land ohne Berge und große Wälder offene Widerstandsaktionen nahezu unmöglich waren, konzentrierte sich der niederländische Untergrund darauf, gefährdete Menschen mit falschen Ausweisen und Rationierungsbüchlein zu unterstützen, wichtige Nachrichten an die Alliierten zu übermitteln und abgeschossene Piloten über Belgien und Frankreich nach Spanien zu schmuggeln.

Polizeichef Rauter war gnadenlos. Am 2. März 1944 meldete er stolz, die Judenfrage in den Niederlanden sei im Wesentlichen gelöst. Er kündigte an, die letzten Volljuden würden in den nächsten zehn Tagen vom Lager Westerbork nach Osten gebracht.46 Rauter ordnete auch zahlreiche Vergeltungsmaßnahmen gegen Widerstandskämpfer an, die man später als »systematischen Terrorismus gegen das niederländische Volk« bewertete. Prominente Niederländer wurden als Geiseln festgehalten und erschossen. Als der niederländische Untergrund einen Eisenbahnzug in die Luft gejagt hatte, nahmen die Deutschen Graf Otto van Limburg Stirum, einen Onkel Audrey Hepburns, der damals bei Arnheim lebte, als Geisel. Er wurde am 15. August 1942 mit vier weiteren Personen hingerichtet. Gern wurden Ärzte und Lehrer von den deutschen Behörden zu Geiseln gemacht. Als sie 1944 die Landung der Alliierten erwarteten, reagierten sie mit wachsender Nervosität und Brutalität. Vergeltungsaktionen für Sabotage oder die Tötung deutscher Besatzer waren an der Tagesordnung.

Der verrückte Dienstag hatte seine eigenen tragischen Folgen. In der allgemeinen Panik entschied die SS, die verbliebenen 3500 Häftlinge des Konzentrationslagers Vught (unter dem deutschen Namen KZ Herzogenbusch bekannt) zu evakuieren.47 Zu jener Zeit gab es nur noch wenige Juden im Land, die meisten KZ-Häftlinge waren Nichtjuden: Niederländer, Franzosen oder Belgier. 2800 Männer wurden nach Sachsenhausen und über 650 Frauen nach Ravensbrück geschickt.48[4]

Das Besatzungsregime in den Niederlanden gilt als das brutalste in ganz Westeuropa. Die deutschen Nationalsozialisten hatten gehofft, dass sich dieses ebenfalls arische Volk ihrer Sache anschließen werde. Rauter bestand sogar darauf, die niederländische SS als »germanische SS« zu titulieren. Daher versetzte der entschlossene Widerstand der großen Mehrheit der Bevölkerung die deutschen Behörden zuerst in Erstaunen und dann in helle Wut. Den Studenten wurde befohlen, ihre Unterstützung für das Nazi-Regime öffentlich zu erklären. Alle, die sich weigerten, wurden bei Massenrazzien am 6. Februar 1943 festgenommen. Wer ihnen entkam, musste untertauchen. Fast 400000 niederländische Bürger wurden zum »Arbeitseinsatz«, faktisch zur Zwangsarbeit, ins Reich geschickt.

Die Nahrungsmittelvorräte des Landes wurden systematisch geplündert. Aus den Küstengebieten wurden die Menschen zwangsweise vertrieben und große Ackerflächen durch die Zerstörung von Deichen geflutet. Mit diesen Maßnahmen, die der Durchsetzung der Pläne Hitlers von einer »Festung Europa« dienten, wurde die durch deutsche Plünderungen bereits beträchtlich reduzierte Lebensmittelversorgung weiter untergraben. Mangelernährung, besonders bei Kindern, breitete sich aus. Die Fälle von Diphtherie und sogar Typhus häuften sich.

Zu noch viel schlimmeren Brutalitäten kam es an gewissen geheimen Orten. Generalleutnant Walter Dornberger, der »Inspekteur der Fernraketentruppe«, berichtete später in einem britischen Gefangenenlager Mithäftlingen vertraulich von den Taten seines Kollegen, SS-Standartenführer Behr, was heimlich abgehört wurde. Danach ließ Behr die niederländischen Arbeiter, welche die Abschussrampen für die V2 bauten, zusammentreiben und mit Maschinengewehren niedermähen. Für seine Soldaten richtete er Bordelle mit je zwanzig niederländischen Frauen und Mädchen ein. Nach zwei Wochen wurden sie durch neue ersetzt und anschließend erschossen, damit sie nicht berichten konnten, was sie eventuell von deutschen Soldaten erfahren hatten.49

Leider litten die Niederländer sowohl unter ihren Verbündeten als auch unter den ihnen feindlich gesinnten Besatzern. Die unverzeihlichsten Sicherheitspannen des ganzen Krieges, die der Geheimdienst Special Operations Executive (SOE) in London zuließ, hatten zur Folge, dass niederländische Agenten, die man per Fallschirm im Land absetzte, um der Widerstandsbewegung zu helfen, reihenweise festgenommen wurden. Mit ihrer Operation Englandspiel täuschte die deutsche Abwehr die verantwortlichen SOE-Offiziere und setzte damit die Beziehungen zwischen Großbritannien und den Niederlanden einer schweren Belastungsprobe aus.50 Am 22. Februar 1944 kam es zu einem weiteren verhängnisvollen Fehler. Als ein Teil des US-Bombergeschwaders, das die Messerschmitt-Werke in Gotha angreifen sollte, zurückberufen wurde, entschied man, die Bomben stattdessen über einer anderen deutschen Stadt abzuwerfen. Dabei wurde übersehen, dass die Maschinen bereits die niederländische Grenze passiert hatten. So zerstörten amerikanische Bomber einen großen Teil der Altstadt von Nimwegen, wobei über 800 Menschen ums Leben kamen.51 Leider sollten die Schlachten zur Befreiung von Südholland der Bevölkerung des Landes noch größere Leiden bringen. Doch die Niederländer, die so sehr nach Freiheit dürsteten, erwiesen sich nicht nur als bemerkenswert tapfer, sondern auch als überaus nachsichtig.

[4]Es heißt, dass von allen Nationalitäten die Niederländer die geringste Überlebensrate in den Konzentrationslagern hatten, da sie an eine Ernährung mit einem hohen Fettanteil aus Milchprodukten gewöhnt waren. Daher wirkte sich der Wechsel zur Lagernahrung fast gänzlich ohne Fett für sie verheerend aus.

3Die 1st Allied Airborne Army

Während Briten und Amerikaner von der Seine her in Richtung deutsche Grenze vorstießen, war die 1st Airborne Division in Großbritannien zutiefst frustriert, da eine Operation nach der anderen abgesetzt wurde. »Samstag, 2. September«, schrieb Major J. E. Blackwood vom 11th Parachute Battalion in sein Tagebuch. »Einweisung für Absprung südöstlich von Courtrai, um Hunnen am Rückzug über Fluss Escaut zu hindern, abgesagt. Wegen Sturm. Verdammter Sturm! Sonntag, 3. September, Einweisung für Absprung bei Maastricht. Operation abgesagt, weil Yankee-Panzer zu schnell vorgegangen sind. Verdammte Yankees!«1

Die Angehörigen der 1st Airborne Division waren besonders verärgert, weil man sie bei Operation D-Day außen vor gelassen hatte. Als Reserve für Nachfolgeoperationen und günstige Gelegenheiten zurückgehalten, wurde für sie so viele Male Alarmbereitschaft erklärt und wieder aufgehoben, dass sich unter den Männern Zynismus breitmachte. Einige Male wurde ihr Einsatz erst abgesagt, als sie bereits auf der Startbahn in den Maschinen und den Lastenseglern saßen.

Als Erstes hatte Montgomery in der zweiten Juni-Woche geplant, die Division bei Évrecy abzusetzen, damit bei der Einnahme von Caën der Durchbruch gelang. Doch aus mehreren Gründen wandte sich der Oberbefehlshaber der Royal Air Force (RAF), Air Chief Marshal Sir Trafford Leigh-Mallory, entschieden gegen diese Idee. Damit hatte er fast sicher recht, aber da er für den Einsatz von Luftlandetruppen beim D-Day irrtümlich ein totales Desaster vorausgesagt hatte, fühlte sich Montgomery in seiner Meinung bestärkt, der Fliegermarschall sei nichts anderes als ein »feiges Arschloch«.2

Als General Patton im August der Ausbruch aus der Normandie gelang, hofften die Luftlandetruppen ein ums andere Mal auf ihren Einsatz, doch die Transportflugzeuge waren voll damit beschäftigt, den Treibstoff für dessen Vormarsch heranzuschaffen. Daraufhin beschwerte sich Lieutenant General Lewis H. Brereton, der Kommandeur der Fliegerkräfte der neu gebildeten 1st Allied Airborne Army, beim Oberbefehlshaber: »Ich muss darauf hinweisen, dass ständige Einsätze für den Gütertransport das Troop Carrier Command für erfolgreiche Luftlandeaktionen untauglich machen.«3 Da hatte er nicht unrecht. Schließlich hatte Eisenhower bei Breretons Ernennung darauf bestanden, dass für das IX. Troop Carrier Command Navigationstraining höchste Priorität haben müsse, damit die Transportflugzeuge die Luftlandetruppen nicht mehr an den falschen Orten absetzten, wie es beim Einmarsch auf Sizilien 1943 und auch soeben erst in der Normandie geschehen war.

Als Nächstes plante man, die Übergänge über die Seine zu besetzen. Aber das hatte General Patton bereits erledigt. Am 17. August sollte ein Absprung im Pas de Calais östlich von Boulogne stattfinden. Aber dann kamen Brereton und Montgomerys Stabschef, Major General Francis de Guingand (Spitzname »Freddie«), überein, diese Aktion gegen die Hauptrückzugswege des Feindes zu richten. Operation Linnet, geplant für den 3. September, sollte Tournai jenseits der belgischen Grenze zum Ziel haben, wo man auf der Gegenseite des Flusses Escaut einen Brückenkopf errichten wollte. Linnet wurde am 2. September abgesagt, dabei wurde auf die Möglichkeit hingewiesen, bei einer Operation Linnet II vor der amerikanischen 1st Army mit drei britischen Luftlandedivisionen Brückenköpfe an der Maas zu schaffen. Dieser Plan wiederum wurde bei einem Treffen von Montgomery und Bradley am nächsten Tag verworfen.4

Die 1st Allied Airborne Army war von General Eisenhower erst am 2. August 1944 ins Leben gerufen worden. Zwar trat der für ein ausgewogenes Verhältnis der Alliierten ein, doch der Stab von US-General Lewis Brereton bestand in der Hauptsache aus Offizieren der US Air Force. In ihrem Stabsquartier Sunninghill Park bei Ascot genossen sie an den Wochenenden in ihrem eigenen Klub Tanzabende und sahen die neuesten amerikanischen Filme wie Kansas City Kitty und Louisiana Hayride an.5

Der einzige hohe britische Offizier bei der 1st Allied Airborne Army war Breretons Stellvertreter Lieutenant General Frederick Browning. Die ganze Struktur, die Tatsache, dass ein General und ein Stab der USAAF zwei so bedeutende Einheiten wie das American XVIII. Airborne Corps und das britische I. Airborne Corps befehligten, musste die Prioritäten der Einsätze und die Rollen der Personen kompliziert gestalten. Hinzu kam eine starke wechselseitige Antipathie zwischen Brereton und »Boy« Browning. Die einzige Eigenschaft, die beide Männer gemeinsam hatten, war ihre Eitelkeit. Brereton, ein kleiner, schwieriger Mann, war ein so triebhafter Frauenheld, dass er sich mit seinen Kapriolen eine strenge Zurechtweisung von General George C. Marshall holte, dem amerikanischen Generalstabschef, einem Mann von hohen moralischen Grundsätzen.

Browning, ein Offizier der Grenadier Guards mit Adlernase und dem Aussehen eines Filmstars, war mit der Schriftstellerin Daphne du Maurier verheiratet. (Sie hatte für die Barette der Paratrooper Weinrot gewählt, »eine der Lieblingsfarben des Generals«.)6 Browning war ohne Zweifel sehr tapfer, aber auch äußerst empfindlich. Wenn er aufgeregt war, zupfte er ständig an seinem Schnurrbart. Mit kaum verhohlenem Ehrgeiz, seinem stets tadellosen Outfit und höchst kategorischen Auftreten machte er sich bei den anderen hohen Offizieren, besonders den amerikanischen Paratrooper-Kommandeuren, nicht gerade beliebt. Bei ihnen galt »der aalglatte und stets auf Hochglanz polierte Boy Browning« als herablassend und manipulativ, ein typischer Vertreter des britischen Empire.7

Als die Spannungen ihren Höhepunkt erreichten, wählte Browning unglücklicherweise das falsche Thema für einen Streit mit Brereton und drohte mit Rücktritt. Am 3. September wandte er sich schriftlich gegen Operation Linnet II, mit der Bradleys Vormarsch unterstützt werden sollte. »Sir, ich habe die Ehre, meinen Protest schriftlich einzureichen …«, leitete er sein Schreiben in sehr offiziellem Ton ein. Dann führte er seine Gründe dafür an, dass der Absprung von drei Luftlandedivisionen, einer britischen und zwei amerikanischen, um die Übergänge über die Maas zwischen Maastricht und Lüttich zu besetzen, aus seiner Sicht scheitern musste. Das ganze Unternehmen sollte in weniger als 36 Stunden starten. Die 1st Allied Airborne Army besaß kein Kartenmaterial von der Gegend, um die Truppen einzuweisen, keinerlei Informationen über die Aufstellung der feindlichen Truppen und deren Flak-Stellungen. Die Alliierten konnten auch nicht das gesamte Einsatzgebiet durch Jagdflugzeuge absichern.8